Zweiter Teil

Erstes Kapitel

Einen Augenblick darauf lachten wir alle wie die Unsinnigen.

»So laßt mich doch erzählen, so laßt mich doch erzählen!« rief Aljoscha, dessen helle Stimme uns alle übertönte. »Ihr denkt, daß es dieselbe Geschichte ist wie früher... daß ich bloß mit gleichgültigen Nachrichten hergekommen bin... Aber ich sage euch, ich habe etwas höchst Interessantes. So seid doch endlich einmal still!«

Er hatte die größte Lust zu erzählen. Man konnte ihm am Gesicht ansehen, daß er wichtige Neuigkeiten hatte. Aber durch die Art, wie er in dem naiven Stolz auf den Besitz solcher Neuigkeiten sich wichtig tat, war Natascha sofort zum Lachen gebracht worden. Und ich hatte mich unwillkürlich von ihr anstecken lassen. Und je zorniger er über uns wurde, um so mehr lachten wir. Aljoschas Ärger und seine darauffolgende kindliche Verzweiflung brachten uns schließlich auf jenen Grad der Heiterkeit, wo man einem, wie dem Midshipman bei Gogol, nur einen Finger zu zeigen braucht, um ihn sogleich dahin zu bringen, daß er sich vor Lachen wälzt. Mawra, die ihre Küche verlassen hatte, stand in der Tür und sah uns mit ernstlicher Empörung an; sie ärgerte sich darüber, daß diesem Aljoscha nicht durch Natascha eine gehörige Kopfwäsche zuteil wurde, wie sie es diese ganzen fünf Tage her mit Genuß erwartet hatte, und daß wir statt dessen alle so vergnügt waren.

Endlich hörte Natascha auf zu lachen, da sie sah, daß Aljoscha sich durch unser Lachen gekränkt fühlte.

»Nun, was willst du also erzählen?« fragte sie.

»Soll ich den Samowar zurechtmachen?« fragte Mawra, indem sie ohne den geringsten Respekt Aljoscha das Wort nahm.

»Geh nur, Mawra, geh nur!« sagte er und scheuchte sie durch eifrige Bewegungen beider Arme eilig fort. »Ich werde alles erzählen, was war und was ist und was sein wird; denn ich weiß es alles. Ich sehe, meine Teuren, ihr möchtet gern wissen, wo ich diese fünf Tage über gewesen bin; und gerade das will ich euch ja auch erzählen; aber ihr laßt mich nicht dazu kommen. Na, also erstens, ich habe dich diese ganze Zeit über getäuscht, Natascha, diese ganze Zeit über; schon lange, lange Zeit habe ich dich getäuscht, und das ist die Hauptsache.«

»Du hast mich getäuscht?«

»Ja, ich habe dich getäuscht, schon einen ganzen Monat lang; schon vor der Ankunft meines Vaters habe ich damit angefangen; aber jetzt ist die Zeit für vollständige Aufrichtigkeit gekommen. Vor einem Monat, als mein Vater noch nicht angekommen war, erhielt ich auf einmal von ihm einen gewaltig langen Brief und verheimlichte ihn euch beiden. In dem Brief erklärte er mir geradezu (und wohlgemerkt in so ernstem Ton, daß ich ganz erschrocken war), die Angelegenheit meiner Brautwerbung sei nun zum Ende geführt; die mir bestimmte Braut sei der Gipfel der Vollkommenheit; ich sei ihrer selbstverständlich nicht würdig, müsse sie aber doch unbedingt heiraten. Deshalb solle ich mich darauf vorbereiten und mir alle Dummheiten aus dem Kopf schlagen; na, ihr könnt euch schon denken, was er mit den ›Dummheiten‹ meinte. Diesen Brief also habe ich euch verheimlicht.«

»Du hast ihn uns ganz und gar nicht verheimlicht!« unterbrach ihn Natascha. »Solche Prahlerei! Die Wahrheit ist, daß du uns alles sofort erzählt hast. Ich erinnere mich noch, wie du auf einmal so fügsam und zärtlich wurdest und gar nicht von mir weggehen wolltest, als ob du dir einer Schuld bewußt wärest, und wie du uns den ganzen Inhalt des Briefes stückweise erzählt hast.«

»Das ist nicht möglich; die Hauptsache habe ich bestimmt nicht erzählt. Vielleicht habt ihr beide etwas erraten; das ist dann eure Sache; aber erzählt habe ich es nicht. Ich verheimlichte es euch und litt darunter schrecklich.«

»Ich erinnere mich, Aljoscha, daß Sie mich damals fortwährend um Rat fragten und mir alles erzählten, allerdings nur bruchstückweise und als handle es sich nur um Vermutungen«, fügte ich hinzu, indem ich Natascha anblickte.

»Du hast alles erzählt! Bitte, prahle nur nicht!« fiel sie ein. »Was kannst du denn überhaupt verbergen? Kannst du jemanden betrügen? Sogar Mawra hat alles erfahren. Hast du es gewußt, Mawra?«

»Na, wie werde ich es nicht gewußt haben!« versetzte Mawra, die vor der Tür stand und den Kopf zu uns hereinsteckte. »Gleich in den drei ersten Tagen haben Sie alles erzählt. Auf Listen verstehen Sie sich nicht!«

»Ach, wenn man mit euch redet, muß man sich auch immer ärgern! Du tust das alles aus Böswilligkeit, Natascha! Und du, Mawra, irrst dich ebenfalls. Ich erinnere mich, ich war damals wie ein Unsinniger; besinnst du dich wohl noch darauf, Mawra?«

»Wie sollte ich mich nicht darauf besinnen? Sie sind auch jetzt wie ein Unsinniger.«

»Nein, nein, was ich da eben sagte, gehört nicht hierher. Aber du erinnerst dich: wir hatten damals gerade kein Geld, und du gingst, mein silbernes Zigarrenetui zu versetzen; aber was die Hauptsache ist: gestatte mir, Mawra, dich darauf aufmerksam zu machen, daß du dich mir gegenüber in einer schrecklichen Weise vergißt. Das hat dich alles Natascha gelehrt. Na also, gesetzt auch, daß ich euch wirklich gleich damals alles bruchstückweise erzählt habe (jetzt besinne ich mich darauf), so kennt ihr doch den Ton des Briefes nicht, den Ton; und gerade der Ton ist bei einem Brief die Hauptsache. Und davon eben spreche ich.«

»Nun, was war es denn für ein Ton?« fragte Natascha.

»Höre einmal, Natascha, du fragst, wie wenn du darüber scherztest. Aber scherze nicht! Ich versichere dich: die Sache ist sehr ernst. Es war ein solcher Ton, daß mir die Arme schlaff herabsanken. Noch nie hatte mein Vater so mit mir gesprochen. Es klang, wie wenn eher der Himmel einstürzen als sein Wille nicht in Erfüllung gehen sollte, so ein Ton war das!«

»Nun, so erzähle doch: warum wolltest du denn den Brief vor mir verheimlichen?«

»Ach du mein Gott, um dich nicht zu erschrecken. Ich hoffte, ich würde alles selbst in Ordnung bringen können. Na also, zuerst erhielt ich diesen Brief, und als dann mein Vater selbst angekommen war, da begannen meine Leiden. Ich hatte mich darauf vorbereitet, ihm eine feste, klare, ernste Antwort zu geben; aber merkwürdigerweise wollte mir das gar nicht gelingen. Der Schlaufuchs fragte mich überhaupt gar nicht! Er benahm sich im Gegenteil so, als ob die ganze Sache schon entschieden sei und es zwischen uns gar keinen Streit und gar keine Mißhelligkeiten geben könne. Hörst du wohl: als ob es das gar nicht geben könne; ein solches Selbstvertrauen! Gegen mich aber wurde er überaus freundlich und liebenswürdig. Ich war geradezu erstaunt. Wenn Sie wüßten, wie klug er ist, Iwan Petrowitsch! Alles hat er gelesen, alles weiß er, und wenn er jemanden nur ein einziges Mal anblickt, so kennt er all dessen Gedanken so gut wie seine eigenen. Darum hat man ihn auch gewiß einen Jesuiten genannt. Natascha hat es nicht gern, wenn ich ihn lobe. Werde nicht böse, Natascha! Nun also... aber apropos: anfangs hat er mir kein Geld gegeben; aber jetzt hat er es getan, gestern. Natascha, mein Engel! Jetzt hat unsere Armut ein Ende! Da, sieh! Alles, was er mir in diesem halben Jahr zur Strafe zuwenig gegeben hatte, das hat er alles gestern nachgezahlt; seht mal, wieviel es ist; ich habe es noch nicht gezählt. Mawra, sieh mal, wieviel Geld! Jetzt brauchen wir keine Löffel und Hemdknöpfe mehr zu versetzen!«

Er zog ein ziemlich dickes Päckchen Banknoten, etwa tausendfünfhundert Rubel, aus der Tasche und legte es auf den Tisch. Mawra betrachtete es erstaunt und lobte Aljoscha. Natascha drängte auf schnelle Fortsetzung der Erzählung.

»Na also...«, fuhr Aljoscha fort, »ich dachte: ›Was soll ich tun? Wie soll ich mich seinem Willen widersetzen?‹ Das heißt, ich schwöre euch beiden: wäre er schroff gegen mich gewesen und nicht so gutherzig, so hätte ich mich nicht lange besonnen. Ich hätte ihm geradezu gesagt, daß ich nicht wolle, daß ich bereits selbst ein erwachsener Mensch sei, und damit basta! Und ihr könnt mir glauben, daß ich meinen Willen durchgesetzt hätte. So jedoch, was sollte ich ihm sagen? Aber brecht nicht den Stab über mich! Ich sehe, du machst ein unzufriedenes Gesicht, Natascha. Warum wechselt ihr beide miteinander Blicke? Ihr denkt gewiß: er hat sich gleich einwickeln lassen und besitzt nicht die Spur von Charakterfestigkeit. Aber ich besitze Charakterfestigkeit, wirklich, und mehr als ihr denkt! Und der Beweis dafür ist, daß ich trotz meiner mißlichen Lage mir sogleich sagte: »Es ist meine Pflicht; ich muß meinem Vater alles sagen, alles!« Und so fing ich denn an zu reden und sprach mich aus, und er hörte mich an.«

»Aber was hast du ihm denn gesagt, was?« fragte Natascha beunruhigt.

»Daß ich keine andere Braut will, sondern bereits eine habe, nämlich dich. Das heißt, so geradezu habe ich ihm das bisher noch nicht gesagt; aber ich habe ihn darauf vorbereitet, und morgen werde ich es ihm sagen; dazu bin ich fest entschlossen. Ich begann damit, ihm zu sagen, nach Geld zu heiraten sei unanständig und zeuge von unvornehmer Gesinnung; wenn wir uns für Aristokraten hielten, so sei das einfach eine Dummheit (ich rede mit ihm völlig offenherzig, als ob er mein Bruder wäre). Dann erklärte ich ihm sofort, ich sei ein Angehöriger des tiers-état[6], und der tiers-état c'est l'essentiel[7]; ich sei stolz darauf, allen ähnlich zu sein, und wolle mich vor niemand auszeichnen... kurz, ich setzte ihm alle diese vernünftigen Ideen auseinander. Ich sprach mit Eifer und Enthusiasmus. Ich wunderte mich über mich selbst. Ich bewies es ihm schließlich auch von seinem eigenen Gesichtspunkt aus; ich sagte geradezu: was seien wir denn für Fürsten? Doch nur der Geburt nach; was hätten wir aber in Wirklichkeit Fürstliches an uns? Erstens, besonderen Reichtum besäßen wir nicht, und Reichtum sei doch die Hauptsache. Heutzutage sei der größte Fürst Rothschild. Zweitens, in der richtigen vornehmen Gesellschaft sei von uns schon seit langer Zeit nichts mehr zu hören gewesen. Der letzte sei der Onkel Semjon Walkowski gewesen, und auch der habe nur in Moskau Aufsehen erregt, und nur dadurch, daß er seine letzten dreihundert Seelen durchgebracht habe, und wenn der Vater nicht selbst Geld erworben hätte, so würden seine Enkel vielleicht eigenhändig den Acker pflügen müssen, wie es denn solche Fürsten wirklich gebe. Mithin hätten wir keinen Grund, hochmütig zu sein. Kurz, ich sprach alles aus, was in mir kochte, alles, mit Feuer und Offenherzigkeit; ich fügte sogar noch dies und das hinzu. Er entgegnete mir nichts darauf, sondern machte mir nur Vorwürfe, daß ich den Verkehr in dem Haus des Grafen Nainski eingestellt hätte, und sagte dann, ich müsse mich um die Gunst der Fürstin K., meiner Patin, bemühen; wenn diese mich gut aufnehme, so würde ich überall Zutritt haben, und meine Karriere sei gemacht, was er mir dann näher ausmalte! Das sind alles Anspielungen darauf, daß ich seit der Verbindung mit dir, Natascha, alle anderen Beziehungen abgebrochen habe; er führt das auf deinen Einfluß zurück. Aber geradezu hat er bisher noch nicht von dir gesprochen; er vermeidet es sogar offenbar. Wir sind beide schlau, wir warten ab und belauern einander; aber du kannst überzeugt sein, daß auch für uns der Tag des Glücks kommen wird.«

»Nun, schon gut; wie endete die Sache? Was hat er beschlossen? Das ist doch die Hauptsache. Du bist ein Schwätzer, Aljoscha...«

»Meines Vaters Sinn und Gedanken kennt nur Gott; es ist gar nicht daraus klug zu werden, was er eigentlich vorhat. Ein Schwätzer aber bin ich ganz und gar nicht; ich sage nur, was zur Sache gehört. Er hat nichts Bestimmtes gesagt, sondern auf alle meine Darlegungen nur mit einem Lächeln geantwortet, als ob er mich bemitleide. Ich fühle ja, daß das für mich demütigend ist; aber ich schäme mich nicht. Er sagte: ›Ich bin mit dir vollkommen einer Ansicht; aber wir wollen zum Grafen Nainski fahren. Sprich aber dort nichts von dieser Art; ich für meine Person verstehe dich ja; aber die dort würden dich nicht verstehen.‹ Es scheint, daß auch er selbst dort nicht besonders gut aufgenommen wird; man ist aus irgendwelchem Grund auf ihn erzürnt. Überhaupt ist mein Vater in der vornehmen Welt jetzt nicht beliebt. Der Graf behandelte mich zunächst sehr hochmütig und von oben herab, als ob er ganz vergessen hätte, daß ich in seinem Haus aufgewachsen bin. Er zürnt mir wegen Undankbarkeit; aber wahrhaftig, es liegt von meiner Seite keine Undankbarkeit vor; es ist eben in seinem Haus schrecklich langweilig; na, und da bin ich nicht mehr hingegangen. Er empfing auch meinen Vater in sehr nachlässiger Manier, so nachlässig, daß ich gar nicht verstehe, warum mein Vater den Verkehr fortsetzt. Das alles versetzte mich in Empörung. Mein armer Vater krümmte sozusagen den Rücken vor ihm; ich verstehe ja, daß er das alles in meinem Interesse tut; aber ich brauche nichts. Ich wollte nachher meinem Vater schon alle meine Empfindungen aussprechen; aber ich beherrschte mich und schwieg. Wozu auch? Seine Anschauungen würde ich doch nicht umändern; ich würde ihn nur ärgern, und er hat ohnehin schon genug Sorgen. ›Na‹, dachte ich, ›ich will es mit Schlauheit versuchen; ich werde sie alle überlisten; ich werde den Grafen zwingen, mich zu achten!‹ Und was geschah? Ich habe sofort alles erreicht; an einem einzigen Tag hat sich die ganze Lage geändert! Graf Nainski weiß jetzt gar nicht, was er mir für einen Ehrenplatz anweisen soll. Und all das habe ich bewirkt, ich allein, durch meine eigene Schlauheit, so daß mein Vater vor Erstaunen die Hände über dem Kopf zusammenschlug!...«

»Hör mal, Aljoscha, du solltest doch lieber zur Sache kommen!« rief Natascha ungeduldig. »Ich hatte geglaubt, du würdest uns etwas über unsere eigene Angelegenheit mitteilen; aber dir macht es nur Spaß, zu erzählen, wie vortrefflich du dich bei dem Grafen Nainski benommen hast. Was geht mich dein Graf an!«

»Was dich der Graf angeht! Hören Sie wohl, Iwan Petrowitsch, sie fragt, was sie der Graf angeht! Aber darin steckt ja gerade der Kern der Sache. Das wirst du selbst sehen; das wird alles am Ende meiner Erzählung klarwerden. Laßt mich nur erzählen... Nun ja (denn warum soll ich nicht offen reden?), ihr wißt ja, sowohl du, Natascha, als auch Sie, Iwan Petrowitsch, ich bin vielleicht wirklich manchmal sehr, sehr urteilslos, na, meinetwegen auch einfach dumm (auch das ist ja mitunter vorgekommen). Aber in diesem Fall, das kann ich euch versichern, habe ich viel Schlauheit bewiesen... na... ich kann wohl sagen, sogar Verstand; ich glaubte daher, ihr würdet euch selbst darüber freuen, daß ich nicht immer... unverständig bin.«

»Ach, was redest du nur, Aljoscha; hör doch auf damit, Liebster!«

Natascha konnte es nicht ertragen, wenn Aljoscha für unverständig gehalten wurde. Wie oft war sie, ohne es mit Worten auszusprechen, böse auf mich gewesen, wenn ich, ohne viele Umstände zu machen, ihrem Aljoscha bewies, daß er irgendeine Dummheit begangen habe; dies war ein wunder Punkt in ihrem Herzen. Sie konnte eine Herabsetzung Aljoschas nicht ertragen, und wahrscheinlich um so weniger, da sie seine geistigen Fähigkeiten im stillen selbst nur für beschränkt hielt. Aber sie brachte diese ihre Meinung ihm gegenüber nicht zum Ausdruck und scheute sich, sein Ehrgefühl zu verletzen. Er seinerseits bewies in solchen Fällen einen besonderen Scharfsinn und erriet immer ihre geheimen Gedanken. Natascha merkte dies, betrübte sich sehr darüber und überschüttete ihn sofort mit Schmeichelworten und Liebkosungen. Dies war der Grund, warum sie jetzt seine Worte schmerzlich berührten.

»Rede nicht so, Aljoscha; du bist nur leichtsinnig, aber gar nicht von solcher Art«, fügte sie hinzu. »Warum machst du dich selbst schlecht?«

»Nun gut; dann laßt mich also zu Ende erzählen! Nach dem Besuch bei dem Grafen war mein Vater ordentlich böse auf mich. Ich dachte: ›Warte du nur!‹ Wir fuhren darauf zur Fürstin; ich hatte schon lange gehört, daß sie infolge ihres hohen Alters geistesschwach geworden sei, außerdem sehr schwer höre und eine große Freundin von Stubenhunden sei. Sie hält sich ein ganzes Rudel dieser Tiere und ist in sie ganz vernarrt. Trotz alledem besitzt sie in der vornehmen Welt großen Einfluß, so daß sogar Graf Nainski, le superbe[8], bei ihr antichambriert. Unterwegs entwarf ich mir einen Plan für alle meine weiteren Aktionen, und was meint ihr wohl, worauf ich dabei baute? Auf den Umstand, daß mich alle Hunde gern haben, bei Gott! Ich habe das beobachtet. Entweder steckt in mir eine Art Magnetismus, oder es kommt daher, daß ich selbst alle Tiere sehr gern habe; ich weiß es nicht; aber die Hunde lieben mich, das ist Tatsache! Apropos, Magnetismus: ich habe dir noch nicht erzählt, Natascha, wir haben neulich Geister zitiert; ich war bei einem Geisterbeschwörer; es war höchst interessant, Iwan Petrowitsch; es hat mich sehr in Erstaunen versetzt. Ich habe Julius Cäsar zitiert.«

»Ach mein Gott! Was wolltest du denn mit Julius Cäsar?« rief Natascha, die sich vor Lachen ausschütten wollte. »Das ist köstlich!«

»Aber wieso denn?... Als wäre ich ein... Warum soll ich nicht das Recht haben, Julius Cäsar zu zitieren? Was ist denn dabei? Nun sehe bloß einer, wie sie lacht!«

»Natürlich ist gar nichts dabei... ach, mein liebster Aljoscha! Nun also, was sagte denn Julius Cäsar zu dir?«

»Gesagt hat er nichts. Ich hielt nur einen Bleistift in der Hand, und der Bleistift fuhr von selbst über das Papier und schrieb. Es wurde gesagt, da schriebe Julius Cäsar. Ich glaube nicht daran.«

»Was hat er denn geschrieben?«

»Er schrieb etwas, das sah aus wie ›Werde naß!‹, wie es bei Gogol heißt... Aber so hör doch auf zu lachen!«

»Nun, dann erzähle von der Fürstin!«

»Na ja, aber ihr unterbrecht mich ja immer. Wir kamen also zu der Fürstin, und ich begann damit, ihrer Mimi den Hof zu machen. Diese Mimi ist eine alte, häßliche, greuliche Hündin, dazu noch eigensinnig und bissig. Die Fürstin ist ganz in das Tier vernarrt; ich glaube, die beiden sind Altersgenossinnen. Zuerst fütterte ich Mimi mit Konfekt und brachte ihr in zehn Minuten bei, die Pfote zu geben, was man ihr in ihrem ganzen Leben nicht hatte beibringen können. Die Fürstin geriet geradezu in Entzücken, sie weinte beinahe vor Freude: ›Mimi! Mimi! Mimi gibt das Pfötchen!‹ Wenn ein Besucher kam, so hieß es: ›Mimi gibt das Pfötchen! Hier, mein Patenkind hat es sie gelehrt!‹ Graf Nainski kam; sofort mußte er hören: ›Mimi gibt das Pfötchen.‹ Mich blickte die alte Dame beinahe mit Tränen der Rührung an. Sie ist ein seelengutes Wesen; sie tat mir ordentlich leid. Nach diesem glücklichen Erfolg griff ich zur Schmeichelei: auf ihrer Tabaksdose ist ihr eigenes Bild gemalt, als sie noch ein junges Mädchen war, vor sechzig Jahren. Diese Tabaksdose fiel ihr auf den Fußboden. Ich hob sie auf und sagte, als ob ich nicht erkenne, wen das Bild vorstellt: ›Quelle charmante peinture![9] Ein ideal schönes Gesicht!‹ Na, da war sie ganz hin; sie redete mit mir von diesem und jenem, und wo ich studiert hätte, und bei wem ich verkehrte, und was ich für schönes Haar hätte, und in dieser Art immer weiter. Ich tat auch das meinige, indem ich sie durch eine Skandalgeschichte, die ich ihr erzählte, zum Lachen brachte. Sie hört so etwas gern: sie drohte mir nur mit dem Finger, lachte aber herzlich. Beim Abschied küßte sie mich, bekreuzte mich und verlangte, ich solle alle Tage zu ihr kommen, um sie zu erheitern. Der Graf drückte mir die Hand und gab seinem Blick einen Ausdruck von besonderer Liebenswürdigkeit; und mein Vater − er ist ja der beste, ehrenhafteste, edelste Mensch, ihr mögt es nun glauben oder nicht -, er weinte beinahe vor Freude, als wir beide nach Hause fuhren; er umarmte mich und schüttete mir sein ganzes Herz aus, all seine geheimen Gedanken über Karriere, Konnexionen, Geld, Heirat, so daß ich vieles davon gar nicht verstand. Und dabei gab er mir auch Geld. Das war gestern. Morgen bin ich wieder bei der Fürstin; aber mein Vater ist doch der edelste Mensch, denkt von ihm nichts Schlechtes; und wenn er mich auch von dir losreißen möchte, Natascha, so will er das doch nur, weil er verblendet ist und nach Katjas Millionen Verlangen trägt, die dir fehlen; und die möchte er einzig und allein für mich haben, und nur weil er dich nicht kennt, ist er gegen dich ungerecht. Aber welcher Vater wünscht nicht das Glück seines Sohnes? Er kann ja nichts dafür, daß er gewohnt ist, das Glück in den Millionen zu sehen. So sind sie eben alle. Man muß ihn nur von diesem Gesichtspunkt aus beurteilen, dann erscheint er sofort als gerechtfertigt. Ich bin absichtlich zu dir hergeeilt, Natascha, um dir das auseinanderzusetzen, weil ich weiß, daß du gegen ihn eingenommen bist, wofür du natürlich nichts kannst. Ich gebe dir keine Schuld...«

»Also weiter ist dir nichts begegnet, als daß du dir die Gunst der Fürstin erworben hast? Darin besteht deine ganze Schlauheit?« fragte Natascha.

»Nicht doch! Was redest du da! Das ist nur der Anfang... Das von der Fürstin habe ich deswegen erzählt, weil ich durch sie meinen Vater in der Hand habe, verstehst du; aber meine Hauptgeschichte hat noch nicht angefangen.«

»Nun, dann erzähle doch!«

»Heute habe ich noch ein Erlebnis gehabt, sogar ein sehr seltsames Erlebnis, von dem ich noch jetzt ganz ergriffen bin«, fuhr Aljoscha fort. »Ich muß vorausschicken, daß zwar mein Vater und die Gräfin unsere Verheiratung beschlossen haben, daß aber bis jetzt absolut nichts Offizielles stattgefunden hat, so daß wir uns jeden Augenblick trennen könnten, ohne daß irgendwelches Gerede darüber entstände; nur Graf Nainski weiß es; aber der gilt ja als Verwandter und Gönner. Überdies bin ich ja zwar in diesen beiden Wochen sehr viel mit Katja zusammen gewesen, aber doch haben wir bis auf diesen Augenblick keine Silbe von der Zukunft gesprochen, das heißt von der Ehe und... na, und von Liebe. Außerdem ist beschlossen worden, vorher noch die Einwilligung der Fürstin K. zu erbitten, von der man bei uns alle mögliche Protektion und einen goldenen Regen erwartet. Was sie sagen wird, das wird auch die vornehme Gesellschaft sagen, denn ihre Verbindungen sind von solcher Art. Und sie wollen mich durchaus in die Gesellschaft einführen und mich protegieren. Wer aber besonders auf diesem Verfahren besteht, das ist die Gräfin, Katjas Stiefmutter. Die Sache ist die, daß die Fürstin der Gräfin vielleicht wegen all der Extravaganzen, die diese im Ausland begangen hat, den Zutritt zu ihrem Salon noch nicht gestatten wird, und wen die Fürstin nicht empfängt, den empfangen wohl auch die andern nicht; daher würde meine Bewerbung um Katja eine gute Gelegenheit zur Annäherung bieten. Und darum hat die Gräfin, die früher gegen diese Partie war, sich heute außerordentlich über meinen Erfolg bei der Fürstin gefreut. Das nur beiläufig; die Hauptsache aber ist dies: ich habe Katerina Fjodorowna zwar schon seit dem vorigen Jahr gekannt, aber damals war ich noch ein Knabe und hatte kein Verständnis und fand daher an ihr nichts Besonderes...«

»Die Sache ist einfach die: damals liebtest du mich mehr«, unterbrach ihn Natascha; »darum fandest du an ihr nichts Besonderes; aber jetzt...«

»Sprich nicht weiter, Natascha!« rief Aljoscha mit warmer Empfindung; »du bist vollständig im Irrtum und kränkst mich sehr! Ich werde dir nicht einmal etwas darauf erwidern; höre nur weiter, und du wirst alles erkennen, wie es ist. Ach, wenn du Katja kenntest! Wenn du wüßtest, was für ein zartfühlendes, reines, seelengutes Wesen sie ist! Aber das wirst du sogleich erkennen; höre nur zu Ende! Als sie vor zwei Wochen angekommen waren, führte mich mein Vater zu Katja, und ich fing an, sie mir genau anzusehen. Ich merkte, daß auch sie mich musterte. Das erregte nun vollends mein Interesse, ganz abgesehen davon, daß ich die besondere Absicht hatte, sie näher kennenzulernen, eine Absicht, die schon durch jenen Brief meines Vaters angeregt worden war, der mich so überrascht hatte. Ich werde weiter nichts zu ihrem Lob sagen als das eine: sie bildet unter den Damen jenes ganzen Gesellschaftskreises eine glänzende Ausnahme. Sie hat einen so eigenartigen Charakter, eine so starke, redliche Seele, stark eben durch ihre Reinheit und Redlichkeit, daß ich ihr gegenüber geradezu ein Knabe bin, ihr jüngerer Bruder, trotzdem sie nur siebzehn Jahre alt ist. Noch eins bemerkte ich: sie scheint einen schweren, geheimen Kummer zu haben; aber sie ist nicht gesprächig, zu Hause schweigt sie fast immer, wie wenn sie eingeschüchtert wäre. Es ist, als ob sie über etwas nachsänne. Vor meinem Vater scheint sie Furcht zu haben. Zu ihrer Stiefmutter hegt sie keine Liebe, das merkte ich; die Gräfin selbst allerdings sucht in bestimmter Absicht die Meinung zu verbreiten, daß die Stieftochter sie schrecklich liebhabe; aber das ist völlig unwahr. Katja gehorcht ihr nur ohne Widerrede, das ist zwischen ihnen eine Art von Verabredung. Nachdem ich alle diese Beobachtungen gemacht hatte, beschloß ich vor vier Tagen, meine Absicht zur Ausführung zu bringen, und das habe ich heute abend auch wirklich getan. Meine Absicht war nämlich die: Katja alles zu erzählen, ihr alles zu bekennen, sie auf unsere Seite zu bringen und dann mit einem Schlag die ganze Sache zu erledigen...«

»Wie! Was denn zu erzählen? Was zu bekennen?« fragte Natascha beunruhigt.

»Alles, schlechterdings alles«, antwortete Aljoscha; »und ich danke Gott, der mir diesen Gedanken eingegeben hat. Aber hört zu, hört zu! Vor vier Tagen faßte ich folgenden Entschluß: mich von euch fernzuhalten und die Sache allein zu erledigen. Wenn ich mit euch zusammengewesen wäre, so wäre ich schwankend geworden, ich hätte auf euch hingehört und wäre zu keinem Entschluß gelangt. Nun aber, da ich allein war und mich expreß in eine Lage versetzt hatte, in der ich mir jeden Augenblick sagen mußte, daß ich die Sache zu Ende bringen müsse, daß es meine Pflicht sei, sie zu Ende zu bringen, da faßte ich Mut, und siehe da: ich habe sie zu Ende gebracht! Ich hatte mir vorgenommen, nicht eher zu euch zurückzukehren, ehe ich nicht die Entscheidung hätte, und da bringe ich nun die Entscheidung!«

»Was denn? Was denn? Was hat denn die Sache für einen Verlauf genommen? So erzähle doch schnell!«

»Es machte sich ganz einfach! Ich wandte mich offen, ehrlich und mutig an sie... Aber zuerst muß ich euch etwas erzählen, was ich vorher erlebte und was einen starken Eindruck auf mich machte. Ehe wir hinfuhren, hatte mein Vater einen Brief erhalten. Ich trat in diesem Augenblick gerade in sein Arbeitszimmer und blieb an der Tür stehen. Er sah mich nicht. Er war durch diesen Brief in eine solche Erregung geraten, daß er mit sich selbst sprach, irgendwelche Ausrufe ausstieß, ganz außer sich im Zimmer auf und ab ging und schließlich auf einmal laut auflachte; dabei hielt er immer den Brief in der Hand. Ich fürchtete mich ordentlich, hineinzugehen, wartete noch ein Weilchen und trat dann zu ihm. Mein Vater war über etwas hocherfreut; er begann mit mir in einer ganz seltsamen Art zu reden; dann brach er plötzlich ab und befahl mir, mich sogleich zum Wegfahren fertig zu machen, obgleich es noch sehr früh war. Bei ihnen war heute kein Fremder; die beiden waren allein; du hast mit Unrecht geglaubt, Natascha, daß dort eine Gesellschaft stattfände. Da bist du falsch unterrichtet gewesen.«

»Ach, bitte, schweife nicht ab, Aljoscha; sage, wie du es angefangen hast, Katja alles zu sagen!«

»Es war ein Glück, daß wir ganze zwei Stunden lang allein blieben. Ich erklärte ihr einfach, obwohl man aus uns ein Paar machen wolle, so sei unsere Verheiratung doch ein Ding der Unmöglichkeit; ich empfände eine herzliche Zuneigung zu ihr, und sie allein könne mich retten. Dann entdeckte ich ihr alles. Stelle dir vor: sie wußte nichts von unseren Erlebnissen, von meinen Beziehungen zu dir, Natascha! Wenn du hättest sehen können, wie gerührt sie war; zuerst hatte sie sogar einen Schreck bekommen. Sie war ganz blaß geworden. Ich erzählte ihr den ganzen Hergang: wie du um meinetwillen dein Elternhaus verlassen hättest, wie wir eine Wohnung für uns allein bezogen hätten, von was für Leid und Befürchtungen wir jetzt gequält würden und daß wir jetzt unsere Zuflucht zu ihr nähmen (ich sprach auch in deinem Namen, Natascha); sie möchte selbst unsere Partei ergreifen und ihrer Stiefmutter geradezu sagen, daß sie nicht meine Frau werden wolle; darauf beruhe unsere ganze Rettung, und wir hätten von keiner anderen Seite Hilfe zu erwarten. Sie hörte mit solchem Interesse, mit so herzlicher Teilnahme zu! Was hatte sie in diesem Augenblick für schöne Augen! Ihre ganze Seele kam in ihrem Blick zum Ausdruck. Sie hat ganz himmelblaue Augen. Sie dankte mir, daß ich nicht an ihr gezweifelt hätte, und gab mir ihr Wort darauf, daß sie uns aus aller Kraft helfen wolle. Dann erkundigte sie sich nach dir, sagte, sie wünsche sehr, deine Bekanntschaft zu machen, bat mich, dir zu bestellen, daß sie dich schon jetzt wie eine Schwester liebe und daß auch du sie wie eine Schwester lieben möchtest; und als sie erfuhr, daß ich schon seit fünf Tagen nicht bei dir gewesen sei, schickte sie mich sofort weg, damit ich zu dir ginge.« Natascha war gerührt.

»Und du konntest vorher von deinen Großtaten bei einer schwerhörigen Fürstin erzählen! Ach, Aljoscha, Aljoscha!« rief sie, ihn vorwurfsvoll anblickend. »Nun, und wie benahm sich Katja? War sie froh und heiter, als sie dich entließ?«

»Ja, sie freute sich darüber, daß sie eine gute Tat tun konnte; aber sie weinte. Denn sie liebt mich ja ebenfalls, Natascha! Sie gestand, daß sie bereits angefangen habe, mich zu lieben; sie komme nur mit wenigen Menschen zusammen, und ich hätte ihr schon längst gefallen; sie schätze mich besonders deswegen hoch, weil um sie herum alles List und Lüge sei, ich ihr aber ein aufrichtiger, ehrlicher Mensch zu sein scheine. Sie stand auf und sagte: ›Nun, Gott stehe Ihnen bei, Alexei Petrowitsch; ich hatte gedacht...‹ Sie sprach nicht zu Ende, fing an zu weinen und ging hinaus. Wir haben verabredet, daß sie gleich morgen ihrer Stiefmutter sagen soll, sie wolle nicht meine Frau werden, und daß auch ich gleich morgen meinem Vater alles sagen und mit Mut und Festigkeit sprechen soll. Sie machte mir Vorwürfe, weshalb ich nicht schon früher mit ihm geredet hätte; ›ein rechtschaffener Mensch darf sich vor nichts fürchten!‹ sagte sie. Sie hat eine so edle Denkungsart. Meinen Vater mag sie ebenfalls nicht leiden; sie sagt, er sei listig und trachte nach Geld. Ich suchte ihn zu verteidigen, aber sie glaubte mir nicht. Wenn es mir morgen bei meinem Vater nicht gelingt (und sie hält es für sehr wahrscheinlich, daß es mir nicht gelingen wird), dann ist sie damit einverstanden, daß wir meine Gönnerin, die Fürstin K., um ihren Schutz zu bitten. Wenn sie ihn uns gewährt, dann wird niemand von ihnen wagen, gegen uns anzukämpfen. Wir beide haben einander das Wort darauf gegeben, daß wir zueinander wie Bruder und Schwester sein wollen. Oh, wenn du auch ihre Geschichte kenntest, wie unglücklich sie sich fühlt, mit welchem Widerwillen ihr Leben bei der Stiefmutter und diese ganze Umgebung sie erfüllt! Sie hat mir das nicht geradezu gesagt; es machte den Eindruck, als ob sie sich auch vor mir scheute, das auszusprechen; aber ich habe es aus einigen Worten entnommen. Ach, Natascha, du mein Herz! wie entzückt würde sie von dir sein, wenn sie dich sähe! Und was hat sie für ein gutes Herz! Es verkehrt sich mit ihr so leicht! Ihr beide seid dazu geschaffen, einander Schwestern zu sein, und müßt einander lieben. Ich habe immer darüber nachgedacht. Und wirklich: ich müßte euch beide zusammenführen und würde dann selbst danebenstehen und euch voll Entzücken betrachten. Denke nichts Schlechtes, Nataschenka, und erlaube mir, von ihr zu reden! Es macht mir eine besondere Freude, mit dir von ihr zu sprechen und mit ihr von dir. Du weißt ja, daß ich dich mehr liebe als jeden anderen Menschen, auch mehr als sie... Du bist mein ein und alles!«

Natascha blickte ihn, ohne ein Wort zu sagen, freundlich und mit einer Art von stiller Traurigkeit an. Seine Worte schienen sie zu erfreuen und ihr gleichzeitig Pein zu bereiten.

»Und schon seit längerer Zeit, schon vor zwei Wochen, habe ich Katja schätzengelernt«, fuhr er fort. »Ich bin ja jeden Abend bei ihnen gewesen, und wenn ich dann nach Hause zurückgekehrt war, dann habe ich oftmals immerzu an euch beide gedacht und euch miteinander verglichen.«

»Und welche von uns beiden erschien dir dann als die bessere?« fragte Natascha lächelnd.

»Manchmal du, manchmal sie. Aber du trugst doch schließlich immer den Sieg davon. Wenn ich aber mit ihr spreche, so habe ich immer die Empfindung, daß ich selbst gewissermaßen besser, verständiger und edler werde. Aber morgen, morgen wird sich alles entscheiden.«

»Und tut sie dir nicht leid? Sie liebt dich ja; du sagst, daß sie das selbst ausgesprochen habe?«

»Ja, sie tut mir leid, Natascha! Aber wir werden alle drei einander lieben, und dann...«

»Und dann lebe wohl!« sagte Natascha leise, wie vor sich hin.

Aljoscha blickte sie erstaunt an.

Aber unser Gespräch wurde auf einmal in einer ganz unerwarteten Weise unterbrochen. Aus der Küche, die zugleich als Vorzimmer diente, wurde ein leichtes Geräusch vernehmbar, wie wenn jemand hereinkäme. Einen Augenblick darauf öffnete Mawra die Tür und winkte mit dem Kopf Aljoscha verstohlen zu, er möchte herauskommen. Wir alle wandten uns zu ihr hin.

»Da fragt jemand nach Ihnen; bitte, kommen Sie heraus!« flüsterte sie geheimnisvoll.

»Wer kann jetzt nach mir fragen?« sagte Aljoscha, sie erstaunt anblickend. »Ich komme!«

In der Küche stand ein Diener des Fürsten, seines Vaters, in Livree. Dieser teilte ihm mit, der Fürst habe auf der Rückfahrt nach Hause die Equipage bei Nataschas Wohnung halten lassen und ihn hinaufgeschickt, um sich zu erkundigen, ob Aljoscha da sei. Nach dieser Mitteilung ging der Diener sogleich wieder fort.

»Sonderbar! Das ist noch nie dagewesen!« sagte Aljoscha, uns verwirrt anblickend. »Was hat das zu bedeuten?«

Auch Natascha sah ihn beunruhigt an. Plötzlich öffnete Mawra wieder die Zimmertür.

»Er kommt selbst, der Fürst!« sagte sie hastig flüsternd und verschwand sofort wieder.

Natascha wurde blaß und erhob sich von ihrem Platz. Ihre Augen fingen auf einmal an zu glühen. Sie stand, sich leicht auf den Tisch stützend, da und blickte aufgeregt nach der Tür, durch die der unerwartete Gast eintreten mußte.

»Natascha, fürchte dich nicht; ich bin bei dir! Ich werde dich nicht beleidigen lassen«, flüsterte Aljoscha, der zwar verwirrt war, aber nicht die Fassung verloren hatte.

Die Tür öffnete sich, und auf der Schwelle erschien Fürst Walkowski in eigener Person.

Zweites Kapitel

Er überschaute uns mit einem schnellen, forschenden Blick. Aus diesem Blick war noch nicht zu entnehmen, ob er als Feind oder als Freund gekommen war. Aber ich will sein Äußeres eingehend beschreiben. Er machte an diesem Abend auf mich einen besonders starken Eindruck.

Ich hatte ihn schon früher gesehen. Er war ein Mann von etwa fünfundvierzig Jahren, nicht älter, mit regelmäßigen, außerordentlich schönen Gesichtszügen, deren Ausdruck sich nach den Umständen veränderte, aber in schroffer Art, vollständig und mit auffälliger Schnelligkeit, so daß er von der größten Freundlichkeit zur ärgsten Verdrossenheit und Unzufriedenheit überging, gerade als ob ein innerer Mechanismus in Bewegung gesetzt wäre. Das regelmäßige Oval des etwas gebräunten Gesichtes, die vorzüglichen Zähne, die kleinen, ziemlich schmalen Lippen, die schön geformte, gerade, etwas längliche Nase, die hohe Stirn, auf der noch nicht die kleinste Runzel sichtbar war, die grauen, ziemlich großen Augen: alles dies zusammen ließ ihn beinah als einen schönen Mann erscheinen; aber dabei wirkte sein Gesicht dennoch nicht angenehm. Dieses Gesicht machte dadurch einen abstoßenden Eindruck, daß sein Ausdruck nicht echt, sondern immer erkünstelt, beabsichtigt, angenommen erschien; es bildete sich bei einem die dunkle Vorstellung, daß man niemals den wahren Gesichtsausdruck zu sehen bekommen werde. Wenn man schärfer hinsah, so begann man zu argwöhnen, daß hinter der stets getragenen Maske Bosheit, List und ärgster Egoismus stecken. Besonders zogen die auf den ersten Blick so schönen, offenen, grauen Augen die Aufmerksamkeit auf sich. Sie waren das einzige Stück, das er, wie es schien, durch seinen Willen nicht zu völligem Gehorsam zwingen konnte. Auch wenn er mild und freundlich aussehen wollte, waren die von seinen Augen ausgehenden Strahlen zwiefacher Art, und zwischen milden und freundlichen blitzten strenge, mißtrauische, forschende, böse auf... Er war von ziemlich hoher Statur, von elegantem Aussehen, etwas hager und schien jünger zu sein, als er wirklich war. In seinem dunkelblonden, weichen Haar war kaum ein Ansatz von Grau zu bemerken. Seine Ohren, seine Hände, seine Füße waren erstaunlich wohlgebildet. Er war von einer durchaus rassigen Schönheit. Seine Kleidung war stets von auserlesener Eleganz und Frische, hatte aber etwas Jugendliches, was ihm indessen gut stand. Er schien Aljoschas älterer Bruder zu sein. Wenigstens konnte ihn niemand für den Vater eines so erwachsenen Sohnes halten.

Er ging gerade auf Natascha zu und sagte, indem er sie fest anblickte:

»Mein Erscheinen bei Ihnen zu einer solchen Stunde und ohne Anmeldung ist allerdings seltsam und läuft den üblichen Regeln zuwider; aber hoffentlich trauen Sie mir wenigstens zu, daß ich mir des Ungewöhnlichen meiner Handlungsweise in vollem Umfang bewußt bin. Ich weiß auch, mit wem ich es zu tun habe; ich weiß, daß Sie scharfsichtig und hochgesinnt sind. Schenken Sie mir nur zehn Minuten, und ich hoffe, Sie selbst werden mich verstehen und mein Benehmen erklärlich finden.« Er sagte das alles höflich, aber in kräftigem, energischem Ton.

»Bitte, nehmen Sie Platz!« erwiderte Natascha, die sich von der ersten Verwirrung und einer gewissen Angst noch nicht hatte frei machen können.

Er machte eine leichte Verbeugung und setzte sich. »Gestatten Sie mir zunächst, ein paar Worte zu ihm zu sagen«, begann er, auf seinen Sohn zeigend. »Aljoscha, als du weggefahren warst, ohne auf mich zu warten und sogar ohne dich von uns zu verabschieden, wurde der Gräfin gemeldet, daß Katerina Fjodorowna sich nicht wohl fühle. Sie wollte zu ihr eilen; aber Katerina Fjodorowna kam plötzlich selbst zu uns herein, ganz verstört und in großer Aufregung. Sie sagte uns geradezu, sie könne nicht deine Frau werden, und fügte hinzu, sie werde in ein Kloster gehen; du habest sie um Hilfe gebeten und ihr selbst bekannt, daß du Natalja Nikolajewna liebst. Diese überraschende Erklärung von seiten Katerina Fjodorownas, und noch dazu in einem solchen Augenblick, war selbstverständlich durch das äußerst sonderbare Gespräch veranlaßt worden, das du mit ihr hattest. Sie war ganz außer sich. Du kannst dir mein Erstaunen und meinen Schreck denken. Als ich jetzt hier vorbeifuhr, bemerkte ich in Ihren Fenstern Licht«, fuhr er, zu Natascha gewendet, fort. »Da gewann ein Gedanke, der mir schon lange im Kopf herumgegangen war, dermaßen Gewalt über mich, daß ich nicht imstande war, mich meinem ersten Impuls zu widersetzen, und zu Ihnen hereinkam. Warum? Das werde ich sogleich sagen, bitte Sie aber im voraus, sich über eine gewisse Schärfe meiner Mitteilung nicht zu wundern. Das alles ist so plötzlich gekommen...«

»Ich hoffe, daß ich imstande bin, das, was Sie sagen werden, zu verstehen und... gebührendermaßen zu würdigen«, erwiderte Natascha stockend.

Der Fürst blickte sie unverwandt an, wie wenn er in einem Augenblick ihr ganzes Wesen ergründen wolle.

»Ich hoffe auf Ihren klaren Verstand«, fuhr er fort, »und wenn ich mir erlaubt habe, jetzt zu Ihnen zu kommen, so habe ich es namentlich deswegen getan, weil ich wußte, mit wem ich es zu tun habe. Ich kenne Sie schon lange, wiewohl ich ehemals ungerecht gegen Sie gewesen bin und Ihnen unrecht getan habe. Hören Sie zu: Sie wissen, daß zwischen mir und Ihrem Vater seit langer Zeit ein unerfreuliches Verhältnis besteht. Ich will mich nicht rechtfertigen; vielleicht bin ich ihm gegenüber mehr im Unrecht, als ich bisher geglaubt habe. Aber wenn es so ist, so bin ich selbst getäuscht worden. Ich bin mißtrauisch und bin mir dessen bewußt. Ich neige dazu, eher Schlechtes als Gutes zu vermuten, ein unglücklicher Charakterzug, der auf Rechnung meines ausgetrockneten Herzens kommt. Aber ich bin nicht gewohnt, meine Fehler zu verheimlichen. Ich habe allem möglichen Gerede Glauben geschenkt, und als Sie Ihre Eltern verließen, habe ich um Aljoscha gebangt. Aber damals kannte ich Sie noch nicht. Die von mir eingeholten Erkundigungen haben mich allmählich vollständig beruhigt. Ich habe Sie beobachtet, Sie studiert und mich schließlich überzeugt, daß mein Verdacht unbegründet war. Ich erfuhr, daß Sie sich mit Ihren Eltern überworfen haben; ich weiß auch, daß Ihr Vater mit aller Kraft gegen Ihre Ehe mit meinem Sohn ist. Und schon allein der Umstand, daß Sie trotz Ihres Einflusses auf Aljoscha, ja man kann sagen, trotz Ihrer Gewalt über ihn, doch bisher von dieser Gewalt keinen Gebrauch gemacht und ihn nicht veranlaßt haben, Sie zu heiraten, schon allein dieser Umstand zeigt Sie von einer sehr guten Seite. Und doch (ich will Ihnen alles offen bekennen) nahm ich mir damals vor, jede Möglichkeit Ihrer Verheiratung mit meinem Sohn mit aller Kraft zu verhindern. Ich weiß, daß ich mich zu offenherzig ausspreche; aber in diesem Augenblick ist Offenherzigkeit von meiner Seite durchaus notwendig; Sie werden mir darin selbst zustimmen, wenn Sie mich bis zu Ende angehört haben werden. Bald nachdem Sie Ihr Elternhaus verlassen hatten, fuhr ich aus Petersburg weg; aber als ich wegfuhr, war mir um Aljoscha nicht mehr bange. Ich setzte meine Hoffnung auf Ihren edlen Stolz. Ich begriff, daß Sie selbst die Heirat nicht vor der Beendigung unseres Familienzwistes wünschten; daß Sie das gute Einvernehmen zwischen mir und Aljoscha nicht stören wollten, weil ich ihm niemals die Verheiratung mit Ihnen verziehen haben würde; daß Sie auch die üble Nachrede zu vermeiden wünschten, als hätten Sie es auf einen fürstlichen Bräutigam und auf eine Verbindung mit unserem Haus abgesehen gehabt. Im Gegenteil, Sie legten sogar eine gewisse Geringschätzung gegen uns an den Tag und warteten vielleicht auf den Augenblick, wo ich selbst zu Ihnen kommen und Sie bitten würde, uns die Ehre zu erweisen und meinem Sohn Ihre Hand zu reichen. Aber trotzdem blieb ich hartnäckig Ihr Gegner. Ich will mich nicht zu rechtfertigen suchen, möchte Ihnen aber meine Gründe nicht verheimlichen. Es sind folgende: Sie sind nicht von vornehmer Herkunft und nicht reich. Ich meinerseits besitze zwar ein gewisses Vermögen, aber wir brauchen noch mehr. Unsere Familie befindet sich im Verfall. Wir müssen nach Konnexionen und Geld trachten. Die Stieftochter der Gräfin Sinaida Fjodorowna hat zwar keine Konnexionen, aber sie ist sehr reich. Hätte ich gezögert, so wären andere Bewerber auf dem Plan erschienen und hätten uns die Braut weggefischt; wir durften uns aber eine so günstige Gelegenheit nicht entgehen lassen, und obgleich Aljoscha noch sehr jung ist, beschloß ich dennoch, ihn zu verheiraten. Sie sehen, ich verberge Ihnen nichts. Sie können mit Geringschätzung auf einen Vater blicken, der selbst eingesteht, daß er aus Habsucht und Vorurteil seinen Sohn zu einer schlechten Handlung verleiten wollte; denn ein hochgesinntes Mädchen zu verlassen, das ihm alles zum Opfer gebracht hat und demgegenüber sein Vergehen ein so großes ist, das ist in der Tat eine schlechte Handlung. Aber ich will mich nicht zu rechtfertigen suchen. Der zweite Grund für die beabsichtigte Verheiratung meines Sohnes mit der Stieftochter der Gräfin Sinaida Fjodorowna war der, daß dieses junge Mädchen im höchsten Grad liebenswürdig und achtenswert ist. Sie ist schön und besitzt eine ausgezeichnete Bildung, einen vorzüglichen Charakter und einen guten Verstand, obwohl sie in vielen Dingen noch ein Kind ist. Aljoscha ist charakterlos, leichtsinnig, sehr unverständig, mit zweiundzwanzig Jahren noch vollständig Kind und besitzt vielleicht nur einen Vorzug: ein gutes Herz, eine Eigenschaft, die aber neben solchen Mängeln sogar gefährlich ist. Ich hatte schon lange gemerkt, daß mein Einfluß auf ihn im Schwinden begriffen ist: jugendliche Hitze und Schwärmerei machen sich geltend und tragen sogar über manche wirklichen Pflichten den Sieg davon. Ich liebe ihn vielleicht zu sehr; aber ich bin überzeugt, daß meine alleinige Leitung für ihn nicht ausreichend ist. Aber dabei muß er unbedingt unter jemandes beständiger, wohltätiger Einwirkung stehen. Er ist seinem ganzen Wesen nach fügsam, schwach, liebevoll und mag eher lieben und gehorchen als befehlen. Und so wird er sein ganzes Leben lang bleiben. Sie können sich vorstellen, wie ich mich freute, als ich in Katerina Fjodorowna das Ideal des Mädchens fand, das ich meinem Sohn zur Frau wünschte. Aber meine Freude kam zu spät; über ihn herrschte bereits unerschütterlich ein anderer Einfluß, der Ihrige. Ich beobachtete ihn genau, als ich vor einem Monat nach Petersburg zurückkehrte, und bemerkte an ihm mit Erstaunen eine bedeutende Veränderung zum Besseren. Der Leichtsinn und die Kindlichkeit sind bei ihm noch fast dieselben geblieben; aber gewisse edle Instinkte haben in seiner Seele an Kraft gewonnen; er beginnt sich für andere Dinge als für bloße Spielereien zu interessieren, für Hohes, Edles, Ehrenhaftes. Seine Anschauungen sind sonderbar, unsicher und mitunter absurd; aber seine Wünsche, seine Bestrebungen, sein Herz sind besser; und das ist doch die Grundlage für alles; und alles dies, was in seiner Seele Besseres vorhanden ist, rührt unstreitig von Ihnen her. Sie haben ihn umgewandelt. Ich gestehe Ihnen, es huschte mir gleich damals der Gedanke durch den Kopf, daß Sie vielleicht mehr als sonst jemand imstande seien, ihn glücklich zu machen. Aber ich verscheuchte diesen Gedanken; ich mochte derartiges nicht denken. Ich wollte ihn um jeden Preis von Ihnen losreißen; ich begann in diesem Sinn zu operieren und glaubte schon, mein Ziel erreicht zu haben. Noch vor einer Stunde meinte ich, daß der Sieg auf meiner Seite sei. Aber der Vorfall im Haus der Gräfin hat mit einem Male alle meine Annahmen umgestoßen, und vor allem hat mich eine unerwartete Tatsache frappiert: diese auffällige Energie bei Aljoscha, die Festigkeit, Hartnäckigkeit und Lebenskraft seiner Neigung zu Ihnen. Ich wiederhole Ihnen: Sie haben ihn endgültig umgewandelt. Ich sah auf einmal, daß die Veränderung bei ihm noch weiter ging, als ich angenommen hatte. Heute hat er plötzlich mir gegenüber einen Verstand an den Tag gelegt, den ich in keiner Weise bei ihm vorausgesetzt hatte, und gleichzeitig eine außerordentliche Feinfühligkeit, einen Scharfsinn des Herzens. Er hat an die edelste Fähigkeit des Menschenherzens appelliert, nämlich an die Fähigkeit, zu verzeihen und Böses mit Gutem zu vergelten. Er hat sich in die Gewalt eines Wesens gegeben, das er gekränkt hatte, und gerade zu diesem Wesen mit der Bitte um Teilnahme und Hilfe seine Zuflucht genommen. Er hat den ganzen Stolz eines Mädchens aufgeregt, das ihn bereits liebte, indem er ihr geradezu bekannte, daß sie eine Rivalin habe, und hat sie gleichzeitig dahingebracht, für diese Rivalin eine herzliche Teilnahme zu empfinden, ihm selbst aber zu verzeihen und ihm eine selbstlose schwesterliche Freundschaft zu versprechen. Eine solche Auseinandersetzung vorzunehmen und gleichzeitig dabei jede Kränkung und Beleidigung zu vermeiden, dazu sind manchmal selbst die klügsten, gewandtesten Leute nicht fähig, wohl aber gerade ein frisches, reines, gut geleitetes Herz wie das seinige. Ich bin überzeugt, daß Sie Natalja Nikolajewna, bei seiner heutigen Handlung mit keinem Wort und keinem Rat mitgewirkt haben. Sie haben vielleicht alles erst soeben aus seinem Mund gehört? Ist es nicht so?«

»Sie irren sich nicht«, erwiderte Natascha; ihr ganzes Gesicht glühte, und ihre Augen strahlten wie die einer Begeisterten in einem eigentümlichen Glanz. Die Beredsamkeit des Fürsten begann ihre Wirkung zu tun. »Ich habe Aljoscha fünf Tage lang nicht gesehen«, fügte sie hinzu. »Diesen ganzen Plan hat er allein ausgesonnen und allein zur Ausführung gebracht.«

»Sicherlich ist es so«, stimmte ihr der Fürst bei; »aber trotzdem ist sein unerwarteter Scharfsinn, seine Entschlossenheit, sein Pflichtgefühl und endlich diese seine ganze edle Festigkeit, das alles ist die Folge Ihres Einflusses auf ihn. All dies habe ich soeben auf der Fahrt zu mir nach Hause gründlich erwogen und überlegt; nachdem ich aber diese Überlegung angestellt hatte, fühlte ich plötzlich in mir die Kraft, eine Entscheidung zu treffen. Unsere Brautwerbung im Haus der Gräfin ist zerstört und läßt sich nicht wieder in Gang bringen; aber selbst wenn dies möglich wäre, so soll es doch jetzt nicht mehr geschehen. Habe ich mich doch selbst überzeugt, daß Sie die einzige sind, die ihn glücklich machen kann, daß Sie die richtige Führerin für ihn sind, daß Sie bereits das Fundament zu seinem künftigen Glück gelegt haben! Ich habe Ihnen nichts verheimlicht und will es auch jetzt nicht tun: ich liebe sehr eine gute Karriere, Geld, Vornehmheit, sogar hohen Rang; mit vollem Bewußtsein halte ich vieles davon für Vorurteil; aber ich liebe diese Vorurteile und habe entschieden keine Neigung, mich ihrer zu entäußern. Aber es gibt Situationen, wo man auch andere Erwägungen zur Geltung kommen lassen muß und wo man nicht alles mit demselben Maß messen darf... Außerdem liebe ich meinen Sohn von ganzem Herzen. Kurz, ich bin zu dem Resultat gelangt, daß Aljoscha nicht von Ihnen getrennt werden darf, da er ohne Sie zugrunde gehen würde. Und soll ich es gestehen? Es ist vielleicht schon einen ganzen Monat her, daß ich mir das gesagt habe, und erst jetzt habe ich selbst erkannt, daß ich damit das Richtige getroffen hatte. Allerdings hätte ich, um Ihnen dies alles auszusprechen, Sie auch morgen besuchen können, statt Sie fast um Mitternacht zu stören. Aber meine jetzige Eile wird Ihnen vielleicht ein Beweis dafür sein, mit welchem Eifer und vor allen Dingen mit welcher Offenheit ich in dieser Sache vorgehe. Ich bin kein Knabe; es wäre mir in meinen Jahren unmöglich, mich zu einem unüberlegten Schritt zu entschließen. Als ich hier eintrat, war alles schon erwogen und beschlossen. Aber ich fühle, daß ich noch lange werde warten müssen, bis es mir gelingt, Sie völlig von meiner Aufrichtigkeit zu überzeugen... Aber zur Sache! Brauche ich Ihnen jetzt erst noch zu erklären, wozu ich hierhergekommen bin? Ich bin gekommen, um Ihnen gegenüber meine Pflicht zu erfüllen, und feierlich und mit unbegrenzter Hochachtung bitte ich Sie, meinen Sohn dadurch glücklich zu machen, daß Sie ihm Ihre Hand reichen. Oh? glauben Sie nicht, daß ich hier wie ein grausamer Vater erschienen bin, der sich endlich entschlossen hat, seinen Kindern zu verzeihen und seine gnädige Zustimmung zu ihrem Glück zu geben. Nein, nein! Sie würden mir unrecht tun, wenn Sie eine solche Gesinnung bei mir annähmen. Glauben Sie auch nicht, daß ich im Hinblick auf alles, was Sie für meinen Sohn zum Opfer gebracht haben, schon im voraus von Ihrer Einwilligung überzeugt war; auch das ist nicht richtig! Ich werde der erste sein, der da laut erklärt, daß mein Sohn Ihrer nicht würdig ist, und... (er hat ja ein gutes, reines Herz) er selbst wird das bestätigen. Aber das ist noch nicht alles. Dies ist nicht der einzige Grund, der mich zu solcher Stunde hierhergeführt hat... ich bin hergekommen« (hier erhob er sich respektvoll und mit einer gewissen Feierlichkeit von seinem Platz), »ich bin hergekommen, um Ihr Freund zu werden! Ich weiß, daß ich darauf nicht das geringste Recht habe, im Gegenteil! Aber... gestatten Sie mir, dieses Recht zu verdienen! Gestatten Sie mir, zu hoffen!...«

Er verbeugte sich respektvoll vor Natascha und wartete auf ihre Antwort. Die ganze Zeit über, während er sprach, hatte ich ihn aufmerksam beobachtet. Er hatte dies bemerkt.

Er hatte in kühler Manier gesprochen, mit einer Art von rhetorischer Färbung und an manchen Stellen selbst mit einer gewissen Lässigkeit. Der Ton seiner Rede hatte sogar mitunter nicht zu dem Impuls gepaßt, der ihn zu einer für einen ersten Besuch und namentlich unter solchen Verhältnissen unpassenden Stunde zu uns geführt hatte. Einige Ausdrücke, derer er sich bedient hatte, hatte er sich augenscheinlich vorher zurechtgelegt, und an manchen Stellen seiner langen und durch ihre Länge befremdenden Rede hatte er sich künstlich den Anschein eines wunderlichen Kauzes gegeben, der das hervorbrechende Gefühl unter der Maske des Humors, der Ungeniertheit und des Scherzes zu verbergen sucht. Aber das alles legte ich mir erst später zurecht; damals war es mir noch nicht so klargeworden. Die letzten Worte hatte er mit solcher Lebhaftigkeit und mit so tiefer Empfindung, mit einer solchen Miene der aufrichtigsten Hochachtung vor Natascha gesprochen, daß wir alle davon überwältigt waren. An seinen Wimpern schimmerte sogar etwas wie Tränen. Nataschas edles Herz hatte er vollständig besiegt. Nach ihm erhob auch sie sich von ihrem Platz und streckte ihm schweigend in tiefer Erregung die Hand hin: Er ergriff dieselbe und führte sie zärtlich und gefühlvoll an seine Lippen. Aljoscha war vor Entzücken ganz außer sich.

»Was habe ich dir gesagt, Natascha? rief er. »Du hast mir nicht geglaubt! Du hast nicht geglaubt, daß er der edelste Mensch der Welt ist! Nun siehst du es selbst, nun siehst du es selbst!«

Er stürzte zu seinem Vater hin und umarmte ihn feurig. Dieser erwiderte die Umarmung ebenso, beeilte sich aber dann, die empfindsame Szene abzukürzen, als ob er sich schäme, seine Gefühle zum Ausdruck zu bringen.

»Nun genug!« sagte er und griff nach seinem Hut. »Ich gehe jetzt. Ich hatte Sie nur um zehn Minuten gebeten und habe eine ganze Stunde hier gesessen«, fügte er lächelnd hinzu. »Aber ich gehe, voll der heißesten Ungeduld, Sie möglichst bald wiederzusehen. Wollen Sie mir erlauben, Sie so oft wie möglich zu besuchen?«

»Ja, ja!« antwortete Natascha; »so oft wie möglich! Ich möchte Sie recht schnell... liebgewinnen...«, fügte sie in ihrer Verwirrung hinzu.

»Wie aufrichtig und ehrlich Sie sind!« sagte der Fürst, über ihre Worte lächelnd. »Nicht einmal um eine einfache Höflichkeit zu sagen, mögen Sie sich verstellen. Aber Ihre Aufrichtigkeit ist mehr wert als all diese falschen Höflichkeiten. Ja! Ich bin mir bewußt, daß es lange, lange dauern wird, bis ich Ihre Liebe werde verdient haben!«

»Hören Sie auf, loben Sie mich nicht... Lassen Sie es genug sein!« flüsterte Natascha verlegen.

Wie schön sie in diesem Augenblick war!

»Nun gut!« sagte der Fürst abschließend. »Aber noch ein paar Worte zur Sache. Können Sie sich vorstellen, wie unglücklich ich bin! Ich kann nämlich morgen nicht zu Ihnen kommen, weder morgen noch übermorgen. Heute abend habe ich einen für mich außerordentlich wichtigen Brief erhalten; er verlangt meine unverzügliche Mitwirkung bei einer gewissen Angelegenheit, und ich kann mich dem auf keine Weise entziehen. Morgen vormittag reise ich von Petersburg weg. Bitte, glauben Sie nicht, daß ich eben deshalb so spät zu Ihnen gekommen bin, weil ich morgen und übermorgen keine Zeit dazu gehabt hätte. Selbstverständlich glauben Sie das ja auch gar nicht; aber da haben Sie eben gleich ein Pröbchen meines argwöhnischen Wesens! Warum habe ich gedacht, daß Sie das jedenfalls glauben würden? Ja, dieses argwöhnische Wesen ist mir in meinem Leben schon oft hinderlich gewesen, und mein ganzes Zerwürfnis mit Ihrer Familie ist vielleicht nur die Folge dieses meines bedauerlichen Charakterzuges!... Heute haben wir Dienstag. Mittwoch, Donnerstag und Freitag werde ich nicht in Petersburg sein. Am Sonnabend aber hoffe ich bestimmt zurückzukehren und werde mich gleich an diesem Tag bei Ihnen einstellen. Sagen Sie, darf ich auf den ganzen Abend zu Ihnen kommen?«

»Gewiß, gewiß!« rief Natascha. »Ich werde Sie Sonnabend abends erwarten! Mit Ungeduld werde ich Sie erwarten!«

»Wie glücklich ich doch bin! Ich werde Sie immer näher kennenlernen! Aber nun gehe ich! Und doch kann ich nicht fortgehen, ohne auch Ihnen die Hand gedrückt zu haben«, fuhr er, sich plötzlich zu mir wendend, fort. »Entschuldigen Sie! Wir reden jetzt alle so ohne rechten Zusammenhang... Ich hatte schon mehrmals das Vergnügen, mit Ihnen zusammenzutreffen, und wir sind einander sogar einmal vorgestellt worden. Ich kann nicht von hier fortgehen, ohne es Ihnen auszusprechen, wie angenehm es mir sein würde, die Bekanntschaft mit Ihnen zu erneuern.«

»Ich bin mit Ihnen bereits zusammengetroffen, das ist richtig«, antwortete ich, indem ich seine dargebotene Hand ergriff; »aber, Pardon, ich erinnere mich nicht, mit Ihnen bekannt geworden zu sein.«

»Beim Fürsten R. im vorigen Jahr.«

»Pardon, ich habe es vergessen. Aber ich versichere Sie, dieses Mal werde ich es nicht vergessen. Dieser Abend wird mir ein besonders denkwürdiger sein.«

»Ja, Sie haben recht; auch mir. Ich weiß schon seit langer Zeit, daß Sie Natalja Nikolajewnas und meines Sohnes wahrer, aufrichtiger Freund sind. Ich hoffe, zu Ihnen dreien der vierte zu sein. Nicht wahr?« fügte er, zu Natascha gewendet, hinzu.

»Ja, er ist unser aufrichtiger Freund, und wir müssen alle zusammenbleiben!« antwortete Natascha mit tiefer Empfindung.

Die Ärmste! Sie strahlte nur so vor Freude, als sie sah, daß der Fürst nicht vergessen hatte, sich auch an mich zu wenden. Wie sie mich liebte!

»Ich habe schon viele Verehrer Ihres Talentes getroffen«, fuhr der Fürst fort, »und kenne zwei Damen, welche Ihre aufrichtigen Gönnerinnen sind. Es wird ihnen sehr angenehm sein, Sie persönlich kennenzulernen. Es ist dies die Gräfin, meine beste Freundin, und ihre Stieftochter Katerina Fjodorowna Filimonowa. Lassen Sie mich hoffen, daß Sie mir das Vergnügen gönnen werden, Sie diesen Damen vorzustellen.«

»Es ist mir sehr schmeichelhaft, obwohl ich jetzt nur sehr wenige Bekanntschaften unterhalte...«

»Aber mir werden Sie doch Ihre Adresse geben! Wo wohnen Sie? Ich werde das Vergnügen haben...«

»Ich empfange bei mir zu Hause keine Besuche, Fürst, wenigstens vorläufig nicht.«

»Wenn ich auch nicht verdiene, daß Sie für mich eine Ausnahme machen, so hoffe ich doch...«

»Nun, wenn Sie es denn verlangen, so wird es auch mir sehr angenehm sein. Ich wohne in der... — Gasse, im Klugenschen Haus.«

»Im Klugenschen Haus!« rief er, als wenn er durch etwas überrascht wäre. »Soso! Wohnen Sie dort schon lange?«

»Nein, noch nicht lange«, versetzte ich, ihn unwillkürlich schärfer ansehend. »Meine Wohnung hat die Nummer vierundvierzig.«

»Vierundvierzig? Wohnen Sie da allein?«

»Ja, ganz allein.«

»N-ja! Ich frage, weil mir ist, als ob ich dieses Haus kenne. Um so besser... Ich werde Sie bestimmt aufsuchen, ganz bestimmt! Ich habe über viele Dinge mit Ihnen zu reden und erwarte von Ihnen viel. Sie können mich in vieler Hinsicht zu Dank verpflichten. Sehen Sie, ich fange ohne weiteres mit einer Bitte an. Aber nun: auf Wiedersehen! Ich bitte noch einmal um Ihre Hand!«

Er drückte mir und Aljoscha die Hand, küßte noch einmal die Hand Nataschas und ging weg, ohne daß er Aljoscha aufgefordert hätte, mit ihm zu kommen.

Wir drei blieben in großer Erregung zurück. All dies hatte sich so plötzlich, so unerwartet begeben. Wir alle hatten die Empfindung, daß sich in einem Augenblick alles verändert habe und nun ein neuer, ganz andersartiger Zustand beginne. Aljoscha setzte sich schweigend neben Natascha und küßte ihr still die Hand. Ab und zu blickte er ihr ins Gesicht, als warte er, was sie nun sagen werde.

»Liebster Aljoscha, fahre gleich morgen zu Katerina Fjodorowna hin!« sagte sie endlich.

»Ich habe selbst schon daran gedacht«, erwiderte er. »Ich will es unter allen Umständen tun.«

»Vielleicht wird es ihr aber peinlich sein, dich zu sehen... Wie willst du es anfangen, ihr diese Mitteilung zu machen?«

»Ich weiß es nicht, Liebste. Ich habe auch schon daran gedacht. Ich werde hingehen und sie sehen... dann wird es sich finden... Aber was sagst du dazu, Natascha? Jetzt hat sich doch bei uns alles geändert!« fuhr er fort, nicht imstande, diesen Ausruf zurückzuhalten.

Sie lächelte und sah ihn mit einem langen, zärtlichen Blick an.

»Und wie zartfühlend er ist! Er sah, was du für eine ärmliche Wohnung hast; aber er hat kein Wort davon gesagt, daß...«

»Wovon?«

»Nun... daß du in eine andere Wohnung ziehen solltest... oder so etwas«, fügte er errötend hinzu.

»Aber ich bitte dich, Aljoscha! Wie hätte er das auch sagen können!«

»Das sage ich ja eben, daß er so zartfühlend ist. Und wie er dich gelobt hat! Ich habe es dir ja gesagt, ich habe es dir gesagt! Nein, er hat für alles Verständnis und vermag alles nachzufühlen! Von mir aber hat er wie von einem Kind gesprochen; alle denken sie so von mir! Nun ja, ich bin ja auch wirklich noch ein Kind.«

»Du bist ein Kind; aber du siehst schärfer als wir alle. Du hast ein gutes Herz, Aljoscha!«

»Aber er hat gesagt, daß mein gutes Herz mir zum Schaden gereicht. Wie soll das zugehen? Das verstehe ich nicht. Aber weißt du was, Natascha: soll ich nicht schnell zu ihm fahren? Morgen in aller Frühe bin ich wieder bei dir.«

»Fahre hin, fahre hin, lieber Aljoscha! Das ist ein guter Gedanke von dir. Und zeige dich ihm jedenfalls heute noch, hörst du wohl? Und morgen komm möglichst früh wieder her! Jetzt wirst du nicht mehr fünf Tage lang von mir fernbleiben?« fügte sie schelmisch mit einem freundlichen Blick hinzu.

Wir waren alle von einem stillen, aber starken Gefühl der Freude erfüllt.

»Kommen Sie mit mir mit, Wanja?« fragte Aljoscha, als er das Zimmer verließ.

»Nein, er bleibt noch hier; ich habe noch mit dir zu reden, Wanja. Vergiß nur nicht: morgen in aller Frühe!«

»Jawohl, in aller Frühe! Adieu, Mawra!«

Mawra befand sich in starker Aufregung. Sie hatte alles gehört, was der Fürst gesagt hatte, alles erlauscht, aber vieles nicht begriffen. Sie hätte jetzt gern gefragt und sich über alles unterrichtet. Aber einstweilen nahm sie eine sehr ernste und sogar stolze Miene an. Auch sie erriet, daß sich vieles geändert hatte.

Wir blieben allein. Natascha ergriff meine Hand und schwieg eine Zeitlang, wie wenn sie überlegte, was sie sagen sollte.

»Ich bin so müde!« sagte sie endlich mit schwacher Stimme. »Höre: du gehst doch wohl morgen zu ihnen?«

»Ja, bestimmt.«

»Sage es Mama, aber ihm nicht!«

»Ich rede ja auch sowieso mit ihm niemals von dir.«

»Nun ja, er wird es auch ohne das erfahren. Achte aber darauf, was er sagen wird, wie er es aufnimmt. O Gott, Wanja! Wird er mich denn wirklich um dieser Ehe willen verfluchen? Nein, es ist nicht möglich!«

»Der Fürst muß alles in Ordnung bringen«, fiel ich eilig ein. »Er muß sich unbedingt mit ihm versöhnen, und dann wird alles gut werden.«

»O mein Gott! Wenn das doch geschähe! Wenn das doch geschähe!« rief sie im Ton inständiger Bitte.

»Beunruhige dich nicht, Natascha; es wird alles gut werden. Es läßt sich so an.«

Sie blickte mich fest an.

»Wanja, wie denkst du über den Fürsten?«

»Wenn er aufrichtig redet, so ist er nach meiner Meinung ein durchaus ehrenhafter Mensch.«

»Wenn er aufrichtig redet? Was heißt das? Ist es denn denkbar, daß er unaufrichtig gesprochen hat?«

»Ich meine es ebenfalls nicht«, antwortete ich und dachte bei mir: ›Also geht ihr doch auch so ein Gedanke durch den Kopf! Sonderbar!‹

»Du sahst ihn immer so unverwandt an...«

»Ja, er kam mir etwas seltsam vor.«

»Mir auch. Er redete so eigentümlich... Ich bin so müde, lieber Freund. Weißt du was? Geh auch nach Hause! Und komm morgen so früh wie möglich von ihnen zu mir! Noch eins: es war doch keine Beleidigung, als ich zu ihm sagte, ich möchte ihn recht schnell liebgewinnen?«

»Nein... was soll das für eine Beleidigung sein?«

»Und... es war auch nicht dumm gesagt? Es lag ja doch darin der Gedanke, daß ich ihn jetzt noch nicht liebhätte.« »Im Gegenteil, es war sehr schön gesagt, naiv und impulsiv. Du warst so schön in diesem Augenblick! Er ist dumm, wenn er in den Manieren der vornehmen Welt so befangen ist, daß er dafür kein Verständnis hat!«

»Du scheinst über ihn aufgebracht zu sein, Wanja? Aber wie schlecht, argwöhnisch und eitel bin ich doch! Lache nicht; ich verheimliche dir ja nichts. Ach, Wanja, mein teurer Freund! Wenn ich wieder unglücklich sein werde, wenn das Leid wieder heranrückt, dann wirst du gewiß bei mir sein und mir zur Seite stehen; du wirst vielleicht mein einziger Helfer sein! Wie soll ich dir das alles vergelten? Fluche mir niemals, Wanja!«

Als ich nach Hause zurückgekehrt war, zog ich mich sogleich aus und legte mich schlafen. In meinem Zimmer war es feucht und dunkel wie in einem Keller. Viele seltsame Gedanken und Gefühle wogten in meinem Innern, und lange Zeit konnte ich nicht einschlafen.

Aber wie mochte in diesem Augenblick ein Gewisser lachen, der sich in seinem bequemen Bett anschickte einzuschlafen; − wenn er uns überhaupt eines Lächelns würdigte! Wahrscheinlich jedoch würdigte er uns dessen nicht.

Drittes Kapitel

Als ich am andern Morgen um zehn Uhr im Begriff war, meine Wohnung zu verlassen, um nach der Wassili-Insel zu Ichmenews zu eilen und von ihnen mich möglichst schnell zu Natascha zu begeben, stieß ich plötzlich in der Tür mit meiner gestrigen Besucherin, der Enkelin des alten Smith, zusammen. Sie wollte zu mir kommen. Ich erinnere mich, daß ich mich über ihr Kommen sehr freute, ohne recht einen Grund für diese Freude zu wissen. War sie mir schon am Abend des vorhergehenden Tages merkwürdig erschienen, wo ich sie nicht genauer hatte betrachten können, so setzte sie mich jetzt bei Tage noch mehr in Erstaunen. Es wäre auch wirklich schwer gewesen, ein seltsameres, originelleres Wesen zu finden, wenigstens was das Äußere anlangt. Von kleiner Statur, mit blitzenden, schwarzen, nicht-russischen Augen, mit dichtem, schwarzem, wirrem Haar und mit einem rätselhaften, stummen, hartnäckigen Blick war sie geeignet, sogar die Aufmerksamkeit eines jeden Passanten auf der Straße zu erregen. Besonders frappierte ihr Blick: in diesem leuchtete ein guter Verstand; zugleich aber lag in ihm eine Art von fragendem Mißtrauen, ja sogar eine gewisse argwöhnische Furcht. Ihr abgetragenes, schmutziges Kleidchen hatte bei Tageslicht noch mehr Ähnlichkeit mit Lumpen als am vorhergehenden Abend. Es schien mir, als ob sie an einer schleichenden, hartnäckigen, chronischen Krankheit leide, die allmählich, aber unerbittlich ihren Organismus zerstöre. Ihr blasses, mageres Gesicht hatte eine unnatürliche, bräunlichgelbe, gallige Färbung. Im ganzen aber konnte man sie trotz aller Verunstaltung durch Armut und Krankheit sogar hübsch nennen. Ihre Augenbrauen waren scharf gezeichnet, fein und edel; besonders schön waren auch ihre breite, etwas niedrige Stirn und die Lippen, die einen stolzen, mutigen Zug aufwiesen, aber blaß und nur ganz schwach gerötet waren.

»Ach, da bist du ja wieder!« rief ich. »Nun, das hatte ich mir schon gedacht, daß du kommen würdest. Komm doch herein!«

Langsam, wie gestern, trat sie über die Schwelle, kam herein und blickte sich mißtrauisch um. Aufmerksam musterte sie das Zimmer, in dem ihr Großvater gewohnt hatte, wie wenn sie feststellen wollte, was sich bei dem neuen Mieter darin geändert habe. ›Na, die Enkelin ist geradeso wie der Großvater›, dachte ich. ›Ob sie wohl bei vollem Verstand ist?‹ Sie schwieg immer noch; ich wartete.

»Ich wollte die Bücher holen!« flüsterte sie endlich mit niedergeschlagenen Augen.

»Ach ja, deine Bücher; da sind sie, nimm! Ich habe sie absichtlich für dich aufgehoben.«

Sie blickte mich neugierig an und zog den Mund in einer eigentümlichen Weise schief, wie wenn sie mißtrauisch lächeln wollte. Aber der Ansatz zu diesem Lächeln ging vorüber, und der frühere finstere, rätselhafte Ausdruck trat sogleich wieder an seine Stelle.

»Hat vielleicht der Großvater zu Ihnen von mir gesprochen?« fragte sie, mich vom Kopf bis zu den Füßen ironisch ansehend.

»Nein, von dir hat er nicht gesprochen; aber er...«

»Aber woher haben Sie dann gewußt, daß ich kommen würde? Wer hat es Ihnen gesagt?« fragte sie, mich schnell unterbrechend.

»Ich dachte, dein Großvater könne doch nicht so ganz allein, so von allen Menschen verlassen hier gelebt haben. Er war so alt und schwach; da meinte ich, es sei manchmal jemand zu ihm gekommen. Nimm; da sind deine Bücher. Du lernst wohl daraus?«

»Nein.«

»Wozu brauchst du sie dann?«

»Der Großvater hat mich daraus unterrichtet, in der Zeit, als ich noch zu ihm kam.«

»Bist du denn nachher nicht mehr zu ihm gekommen?« »Nein, nachher nicht mehr... ich war krank geworden«, fügte sie wie zu ihrer Entschuldigung hinzu.

»Hast du Angehörige, eine Mutter, einen Vater?«

Sie zog plötzlich die Brauen finster zusammen und sah mich sogar ordentlich ängstlich an. Dann schlug sie die Augen nieder, wandte sich schweigend ab und ging, ohne mich einer Antwort zu würdigen, leise aus dem Zimmer, ganz wie am vorhergehenden Tag. Erstaunt folgte ich ihr mit den Augen. Aber auf der Schwelle blieb sie stehen.

»Woran ist er gestorben?« fragte sie kurz, fast ohne sich nach mir umzuwenden, mit ganz derselben Haltung und Bewegung wie tags zuvor, als sie ebenfalls beim Hinausgehen, das Gesicht der Tür zugewandt, stehenblieb und nach Asorka fragte.

Ich trat zu ihr und begann, ihr in kurzen Worten den Hergang zu erzählen. Mir den Rücken zuwendend, hörte sie mit gesenktem Kopf schweigend und aufmerksam zu. Ich erzählte ihr auch, daß der alte Mann im Sterben von der Sechsten Linie gesprochen habe.

»Ich dachte mir«, fügte ich hinzu, »daß dort gewiß einer von seinen Angehörigen wohne, und daher erwartete ich auch, daß jemand kommen und sich nach ihm erkundigen werde. Gewiß hat er dich liebgehabt, da er sich in seinem letzten Augenblick deiner erinnerte.«

»Nein«, flüsterte sie wie unwillkürlich, »er hat mich nicht liebgehabt.«

Sie befand sich in starker Aufregung. Beim Erzählen hatte ich mich zu ihr hinabgebeugt und ihr ins Gesicht gesehen. Ich hatte bemerkt, daß sie große Anstrengungen machte, um ihre Aufregung zu unterdrücken, anscheinend aus Stolz mir gegenüber. Sie wurde immer blasser und blasser und biß sich stark auf die Unterlippe. Aber namentlich fiel mir der sonderbare Schlag ihres Herzens auf. Dieses schlug immer stärker und stärker, so daß man es zuletzt zwei, drei Schritte weit hören konnte, wie bei einem Aneurysma. Ich glaubte, sie würde auf einmal in Tränen ausbrechen wie am vorhergehenden Tag; aber sie bezwang sich.

»Wo ist der Zaun?«

»Was für ein Zaun?«

»An dem er gestorben ist.«

»Ich werde ihn dir zeigen, wenn wir hinauskommen. Sag mal, wie heißt du denn?«

»Es hat keinen Zweck.«

»Was hat keinen Zweck?«

»Es hat keinen Zweck; es ist gleichgültig... ich habe keinen Namen«, stieß sie, anscheinend ärgerlich, heraus und machte eine Bewegung, um fortzugehen. Ich hielt sie zurück.

»Warte doch, du wunderliches Kind! Ich meine es ja gut mit dir; du tust mir leid, seit gestern, als du da im Winkel auf der Treppe weintest. Ich kann gar nicht ohne Schmerz daran denken... Außerdem ist dein Großvater unter meinen Händen gestorben, und gewiß hat er an dich gedacht, als er von der Sechsten Linie sprach; es war, als wolle er dich meinem Schutz empfehlen. Ich habe sogar von ihm geträumt... Und auch die Bücher da habe ich für dich aufgehoben; aber du bist so scheu, als ob du dich vor mir fürchtetest. Du bist gewiß sehr arm und eine Waise und wohnst vielleicht bei fremden Leuten; ist es so?«

Ich hatte herzlich auf sie eingesprochen und weiß selbst nicht, wodurch sie für mich eine solche Anziehungskraft hatte. Es lag in meinem Gefühl noch etwas anderes als bloßes Mitleid. War es nun das Geheimnisvolle der ganzen Sache oder der Eindruck, den der alte Smith auf mich gemacht hatte, oder meine eigene phantastische Gemütsverfassung, ich weiß es nicht, aber es zog mich etwas unwiderstehlich zu ihr hin. Meine Worte schienen sie gerührt zu haben; sie sah mich sonderbar an, aber nicht mehr finster, sondern sanft und lange; dann schlug sie wieder, wie überlegend, die Augen nieder.

»Jelena«, flüsterte sie auf einmal, für mich unerwartet, sehr leise.

»Also du heißt Jelena?«

»Ja...«

»Nun, wie ist's? Wirst du manchmal zu mir kommen?«

»Ich kann nicht... ich weiß nicht... ja, ich werde kommen«, flüsterte sie, wie überlegend und mit sich kämpfend.

In diesem Augenblick schlug irgendwo eine Wanduhr.

Die Kleine fuhr zusammen, sah mich mit unbeschreiblich schmerzlicher Angst an und flüsterte:

»Was hat es da geschlagen?«

»Doch wohl halb elf.«

Sie schrie vor Schreck auf.

»O Gott!« rief sie und stürzte auf einmal davon. Aber auf dem Flur hielt ich sie noch einmal an.

»Ich lasse dich so nicht fort«, sagte ich. »Wovor fürchtest du dich? Hast du dich verspätet?«

»Ja, ja, ich bin heimlich weggegangen! Lassen Sie mich los! Sie wird mich schlagen!« schrie sie. Sie hatte offenbar mehr gesagt, als sie wollte, und riß sich aus meinen Händen los.

»So höre doch und warte; du willst nach der Wassili-Insel und ich ebenfalls, nach der Dreizehnten Linie. Ich habe mich auch verspätet und will eine Droschke nehmen. Willst du mit mir fahren? Ich werde dich hinbringen. Es geht schneller als zu Fuß...«

»Sie dürfen nicht dahin, wo ich wohne!« schrie sie, noch heftiger erschrocken. Ihre Gesichtszüge verzerrten sich sogar bei dem bloßen Gedanken, daß ich zu ihrer Wohnung kommen könnte.

»Aber ich sage dir ja, daß ich in meinen eigenen Angelegenheiten nach der Dreizehnten Linie will und nicht zu dir! Ich werde nicht hinter dir hergehen. Mit einer Droschke werden wir bald da sein. Komm!«

Wir stiegen eilig die Treppe hinunter. Ich nahm die erste Droschke, auf die ich stieß; es war ein greuliches Vehikel. Jelena hatte offenbar große Eile, da sie sich entschloß, mit mir einzusteigen. Das Rätselhafteste war mir, daß ich nicht einmal wagen durfte, sie zu fragen. Sie wehrte mit den Armen ab und wäre beinahe aus der Droschke gesprungen, als ich fragte, vor wem sie zu Hause solche Furcht habe. ›Was steckt für ein Geheimnis dahinter?‹ dachte ich.

In der Droschke saß sie sehr unbequem. Bei jedem Stoß griff sie mit ihrer schmutzigen, von Schrunden bedeckten, kleinen Linken nach meinem Mantel, um sich festzuhalten. Mit der andern Hand hielt sie ihre Bücher fest gefaßt; es war aus allem ersichtlich, daß ihr diese Bücher sehr teuer waren. Als sie sich einmal zurechtrückte, wurde einer ihrer Füße sichtbar, und zu meinem größten Erstaunen nahm ich wahr, daß sie nur zerrissene Schuhe, aber keine Strümpfe anhatte. Obgleich ich mir eigentlich vorgenommen hatte, sie nach nichts zu fragen, konnte ich mich doch nicht bezwingen.

»Besitzt du denn keine Strümpfe?« fragte ich. »Wie kann man nur bei so feuchtem, kaltem Wetter mit bloßen Füßen gehen?«

»Nein«, antwortete sie kurz.

»Aber, mein Gott, du wohnst doch gewiß bei jemand! Da solltest du die Leute um Strümpfe bitten, wenn du ausgehen mußt.« »Ich will es selbst so.«

»Aber du wirst krank werden und sterben!«

»Nun, dann sterbe ich!«

Sie wollte mir offenbar nicht antworten und war über meine Fragen ungehalten.

»Hier ist die Stelle, wo er gestorben ist«, sagte ich und zeigte ihr das Haus, bei dem der alte Mann gestorben war.

Sie betrachtete es aufmerksam, wandte sich dann auf einmal zu mir und sagte im Ton inständigster Bitte:

»Um Gottes willen, gehen Sie mir nicht nach! Aber ich werde zu Ihnen kommen, ich werde zu Ihnen kommen! Sobald es mir möglich sein wird, werde ich kommen!«

»Nun gut; ich habe dir schon gesagt, daß ich dir nicht nachgehen werde. Aber wovor fürchtest du dich denn? Du bist gewiß sehr unglücklich. Es tut mir weh, dich anzusehen...«

»Ich fürchte mich vor niemand«, antwortete sie; ihre Stimme klang gereizt.

»Aber du sagtest doch vorhin: ›Sie wird mich schlagen!‹«

»Mag sie mich schlagen!« erwiderte sie mit funkelnden Augen. »Mag sie mich schlagen! Mag sie mich schlagen!« wiederholte sie bitter, und ihre Oberlippe zog sich verächtlich in die Höhe und zitterte.

Endlich kamen wir auf die Wassili-Insel. Die Kleine ließ den Kutscher am Anfang der Sechsten Linie halten und sprang, sich unruhig rings umblickend, aus dem Wagen.

»Fahren Sie weiter; ich werde zu Ihnen kommen, ich werde zu Ihnen kommen«, wiederholte sie in schrecklicher Beängstigung und bat mich flehentlich, ihr nicht nachzugehen. »Fahren Sie recht schnell fort, recht schnell!«

Ich fuhr davon. Aber nachdem ich ein paar Schritte auf der Uferstraße weitergefahren war, lohnte ich den Kutscher ab, kehrte nach der Sechsten Linie zurück und ging schnell auf die andere Seite der Straße hinüber. Ich sah das Mädchen; sie war noch nicht weit weg, obgleich sie sehr schnell ging und sich dabei immer umblickte; einmal blieb sie sogar einen Augenblick stehen, um besser sehen zu können, ob ich auch nicht hinter ihr herkäme. Aber ich versteckte mich in einem Torweg, bei dem ich gerade war, und sie bemerkte mich nicht. Sie ging weiter und ich hinter ihr her, immer auf der anderen Seite der Straße.

Meine Neugier war im höchsten Grad erregt. Ich beabsichtigte zwar nicht, ihr in ihre Wohnung zu folgen, wollte aber für jeden Fall das Haus sehen, in welches sie hineingehen würde. Ich stand unter der Einwirkung eines seltsamen, peinlichen Gefühls, ähnlich demjenigen, das ihr Großvater in der Konditorei bei mir hervorgerufen hatte, als Asorka starb.

Viertes Kapitel

Wir gingen lange, bis dicht an den Kleinen Prospekt. Sie lief beinahe; endlich ging sie in einen Laden. Ich blieb stehen, um zu warten, bis sie wieder herauskommen würde. ›Sie wird doch nicht in dem Laden wohnen‹, dachte ich.

Wirklich kam sie nach einer Minute wieder heraus; aber die Bücher hatte sie nicht mehr bei sich. Statt der Bücher hatte sie eine irdene Schüssel in den Händen. Nachdem sie noch ein wenig weitergegangen war, bog sie in den Torweg eines unansehnlichen Hauses ein. Das Haus war nur klein, aber von Stein gebaut, alt, zweistöckig (aus einem Kellergeschoß und einem Hochparterre bestehend) und mit schmutziggelber Farbe angestrichen. In einem der drei Fenster des Kellergeschosses stand ein kleiner roter Sarg, das Schaustück eines geringen Sargtischlers. Die Fenster des oberen Stockwerkes waren sehr klein und vollständig quadratisch, mit trüben, grünlichen gesprungenen Scheiben, durch welche rosarote baumwollene Vorhänge sichtbar waren. Ich ging über die Straße hinüber, trat an das Haus heran und las auf einem Blechschild über dem Tor: ›Haus der Kleinbürgerin Bubnowa‹.

Aber kaum hatte ich das Schild gelesen, als auf dem Hof bei Frau Bubnowa das durchdringende Kreischen einer Weiberstimme erscholl, worauf eine Flut von Schimpfworten folgte. Ich blickte durch das Pförtchen hinein; auf den hölzernen Stufen vor der Haustür stand ein dickes Weib, in der Tracht einer Kleinbürgerin, mit einem hellfarbigen, seidenen Kopftuch und einem grünen Schal. Ihr Gesicht zeigte eine widerwärtige Purpurfarbe; die kleinen, triefenden, blutunterlaufenen Augen funkelten vor Bosheit. Offenbar war sie, obwohl es erst Vormittag war, nicht mehr nüchtern. Sie kreischte die arme Jelena an, die in einer Art von Erstarrung mit der Schüssel in den Händen vor ihr stand. Von der Treppe, hinter dem Rücken des dunkelroten Weibes stehend, sah ein strubbliges, weiß und rot geschminktes weibliches Wesen heraus. Bald darauf öffnete sich die Tür zu der nach dem Kellergeschoß führenden Treppe, und auf den Stufen dieser Treppe erschien, wahrscheinlich durch das Geschrei herbeigelockt, eine ärmlich gekleidete Frau in mittleren Jahren von angenehmem, bescheidenem Äußeren. Aus der halbgeöffneten Tür sahen auch noch andere Bewohner des Kellergeschosses heraus: ein gebrechlicher Greis und ein Mädchen. Ein großer, stämmiger Mann, wahrscheinlich der Hausknecht, stand mit einem Besen in der Hand mitten auf dem Hof und sah lässig die ganze Szene mit an.

»Ach, du verfluchte Kanaille, ach, du Blutsaugerin, du ekelhafte Laus du!« kreischte die Frau, indem sie sämtliche in ihrem Vorrat vorhandenen Schimpfwörter heraussprudelte, meist ohne Kommata und Punkte und die letzten Buchstaben verschluckend. »So lohnst du mir meine Pflege, du Lumpending? Nach Gurken habe ich sie geschickt, und da ist sie gleich ausgerissen! Schon als ich sie wegschickte, habe ich geahnt, daß sie ausreißen würde. Ich fühlte so einen Schmerz im Herzen, einen dumpfen Schmerz! Gestern abend habe ich ihr für dasselbe Vergehen alle Haare ausgerissen, und heute läuft sie schon wieder weg! Wo gehst du denn hin, du Herumtreiberin, wo gehst du denn hin? Zu wem gehst du, du verfluchtes Götzenbild, du glotzäugiges Scheusal, du Viper, zu wem gehst du? Sprich, du stinkfaules Aas, oder ich erwürge dich auf der Stelle!«

Das wütende Weib stürzte auf das arme Mädchen los; aber beim Anblick der von der Treppentür aus zusehenden, im Kellergeschoß wohnenden Frau hielt sie plötzlich inne und begann, sich zu dieser hinwendend, noch gellender als vorher zu kreischen und mit den Armen herumzufuchteln, wie wenn sie sie zur Zeugin des schrecklichen Verbrechens ihres armen Opfers nehmen wollte:

»Ihre Mutter ist krepiert! Ihr wißt selbst, gute Leute: sie ist ganz allein auf der Welt zurückgeblieben. Ich sah, daß sie euch armen Leuten auf dem Hals lag und ihr selbst nichts zu beißen und zu brechen hattet. ›Na‹, dachte ich, ›ich will dem heiligen Nikolaus zu Ehren ein gutes Werk tun und die Waise annehmen.‹ Das tat ich denn auch. Aber was meint ihr wohl? Da sorge ich nun schon zwei Monate für ihren Unterhalt, und in diesen zwei Monaten hat sie mir geradezu alles Blut aus dem Körper gesogen. Dieser Vampir! Diese Klapperschlange! Dieser verstockte Satan! Wenn man sie noch soviel schlägt, es hilft nichts, sie schweigt immer, als ob sie Wasser in den Mund genommen hätte; immer schweigt sie! Sie zerreißt mir das Herz und schweigt! Wofür hältst du dich denn, du wichtige Person, du grüne Meerkatze? Ohne mich wärst du auf der Straße Hungers gestorben. Die Füße müßtest du mir waschen und das Waschwasser trinken, du Unhold, du schändliche französische Dirne! Ohne mich wärst du verreckt!«

»Aber warum regen Sie sich denn so auf, Anna Trifonowna? Womit hat sie Sie denn wieder geärgert?« fragte respektvoll die Frau, an die die wütende Megäre sich gewendet hatte.

»Womit sie mich geärgert hat, liebe Frau? Ich dulde keine Widersetzlichkeit! ›Schimpf im stillen, aber tu meinen Willen!‹ Das ist nun mein Grundsatz! Sie aber hat mich heute beinahe ins Grab gebracht! Ich hatte sie in den Laden nach Gurken geschickt, und nach drei Stunden kommt sie wieder! Es hat mir schon geahnt, als ich sie wegschickte; ich fühlte so einen Schmerz im Herzen, einen dumpfen Schmerz! Wo ist sie gewesen? Wo ist sie hingegangen? Was hat sie sich für Beschützer gesucht? Habe ich ihr nicht alle möglichen Wohltaten erwiesen? Ihrer schändlichen Mutter habe ich die vierzehn Rubel erlassen, die sie mir schuldig war; ich habe sie auf meine Kosten begraben lassen, habe ihren Teufel von Tochter zur Erziehung angenommen, das weißt du ja, liebe Frau, das weißt du ja selbst! Na, und nach alledem soll ich ihr nichts zu sagen haben? Sie sollte fühlen, daß sie mir Gehorsam schuldig ist; aber statt dessen ist sie widersetzlich! Ich wollte ihr Bestes. Ich wollte die schändliche Krabbe ein Musselinkleid tragen lassen; Stiefelchen habe ich ihr im Kaufhaus gekauft; wie einen Pfau habe ich sie herausgeputzt: sie konnte sich freuen! Aber was meint ihr, gute Leute? In zwei Tagen hat sie das ganze Kleid zerrissen, in Stücke hat sie es zerrissen, in Fetzen, und so geht sie nun, so geht sie nun! Und was meint ihr? Absichtlich hat sie es zerrissen, ich will nicht lügen, ich habe es selbst heimlich angesehen; ›ich will in Zwillich gehen‹, sagte sie. ›Ich will kein Musselinkleid!‹ Na, ich habe mein Mütchen an ihr gekühlt und sie geprügelt, und dann habe ich den Arzt gerufen; dem habe ich noch Geld bezahlt. Totschlagen sollte man dich, du ekelhafte Laus; aber ich habe dir nur Strafen auferlegt! Zur Strafe befahl ich ihr, den Fußboden zu scheuern; und was denkt ihr: sie scheuert ihn, das Aas, sie scheuert ihn! Ganz wütend macht sie mich: sie scheuert ihn! ›Na‹, dachte ich, ›sie wird von mir weglaufen!‹ Und kaum hatte ich es gedacht, siehst du wohl, da war sie auch gestern weggelaufen! Ihr habt es selbst gehört, gute Leute, wie ich sie gestern dafür geschlagen habe; beide Arme habe ich mir müde an ihr geschlagen; die Strümpfe und Schuhe habe ich ihr weggenommen; ›sie wird doch nicht barfuß davongehen‹, dachte ich. Aber heute ist sie wieder weg! Wo bist du gewesen? Sprich! Bei wem hast du dich beklagt, du Brennessel, bei wem hast du mich verpetzt? Sprich, du Zigeunerin, du hergelaufene Dirne, sprich!«

Und wütend stürzte sie sich auf das Mädchen, das vor Angst wie besinnungslos dastand, packte es an den Haaren und warf es zu Boden. Die Schüssel mit den Gurken flog zur Seite und zerbrach; dadurch wurde die Raserei der betrunkenen Megäre noch gesteigert. Sie schlug ihr Opfer ins Gesicht, auf den Kopf; aber Jelena schwieg hartnäckig, und kein Laut, kein Schrei, keine Klage kamen aus ihrem Mund, nicht einmal unter den Faustschlägen.

Ich stürzte auf den Hof, fast von Sinnen vor Empörung, und lief gerade auf das betrunkene Weib zu.

»Was tun Sie da? Wie können Sie es wagen, eine arme Waise so zu behandeln?« rief ich und ergriff die Furie am Arm.

»Was soll das heißen? Was sind Sie für einer?« schrie sie, ließ Jelena los und stemmte die Arme in die Seiten. »Was führt Sie in mein Haus?«

»Ihre Unbarmherzigkeit führt mich her!« rief ich. »Wie können Sie es wagen, das arme Kind so zu tyrannisieren? Sie ist ja nicht Ihr Kind; ich habe selbst gehört, daß sie eine arme Waise ist und Sie sie nur angenommen haben...«

»Herr Jesus!« heulte die Furie. »Was sind Sie denn für einer, daß Sie sich hier eindrängen? Sind Sie mit ihr zusammen hergekommen, wie? Ich werde gleich zum Reviervorsteher schicken! Andron Timofejewitsch weiß, daß ich eine anständige Frau bin, und hat vor mir alle Achtung! Wie hängt das zusammen? Sie ist wohl bei Ihnen gewesen? Was sind Sie für einer? Kommt da in ein fremdes Haus und macht Skandal! Hilfe!«

Sie stürzte mit erhobenen Fäusten auf mich los. Aber in diesem Augenblick ertönte plötzlich ein durchdringender, gräßlicher Schrei. Ich blickte hin: Jelena, die wie besinnungslos dagestanden hatte, war auf einmal mit einem furchtbaren, unnatürlichen Schrei zu Boden gestürzt und wand sich in schrecklichen Krämpfen. Ihr Gesicht war verzerrt. Sie hatte einen epileptischen Anfall bekommen. Das Mädchen mit dem strubbligen Haar und die Frau von unten liefen hinzu, hoben sie auf und trugen sie eilig nach oben.

»Meinetwegen kannst du krepieren, du verfluchtes Balg! schrie ihr das Weib nach. »In einem Monat ist das nun schon der dritte Anfall... Hinaus, Sie Intrigant!« Sie stürzte von neuem auf mich los.

»Was stehst du da, Hausknecht? Wofür bekommst du deinen Lohn?«

»Machen Sie, daß Sie rauskommen! Wenn Sie wollen, können Sie eine Tracht Prügel besehen«, ließ sich der Hausknecht lässig in tiefem Baß vernehmen, anscheinend nur der Form wegen. »›Ist ein Liebespaar allein, dräng dich nicht als dritter ein!‹ lautet die Regel. Empfehlen Sie sich, und scheren Sie sich davon!«

Es war nichts zu machen; ich ging aus dem Tor hinaus in der Überzeugung, daß mein Eingreifen völlig fruchtlos gewesen sei. Aber die Empörung kochte in mir. Ich blieb auf dem Trottoir vor dem Tor stehen und sah durch das Pförtchen. Kaum war ich hinausgegangen, als das Weib nach oben lief; auch der Hausknecht entfernte sich irgendwohin, da er mit seiner Arbeit fertig war. Einen Augenblick darauf trat die Frau, welche geholfen hatte, Jelena hinaufzutragen, wieder aus der Haustür, um nach unten in ihre Wohnung zu gehen. Als sie mich erblickte, blieb sie stehen und sah mich neugierig an. Ihr gutes, stilles Gesicht ermutigte mich. Ich trat von neuem auf den Hof und ging gerade auf sie zu.

»Gestatten Sie die Frage«, begann ich, »was es mit diesem Mädchen hier für eine Bewandtnis hat und was dieses abscheuliche Weib mit ihr anfängt. Bitte, glauben Sie nicht, daß ich aus bloßer Neugier frage. Ich bin mit diesem Mädchen bereits anderwärts zusammengetroffen und interessiere mich aus bestimmtem Grunde sehr für sie.« »Wenn Sie sich für sie interessieren, so würden Sie am besten tun, sie zu sich zu nehmen oder sonstwo eine Stelle für sie ausfindig zu machen, statt sie hier zugrunde gehen zu lassen«, sagte die Frau, anscheinend nur ungern, und machte eine Bewegung, als wolle sie von mir fortgehen.

»Aber wenn Sie mir keine Auskunft geben, was kann ich denn dann tun? Ich sage Ihnen, daß ich nichts weiß. Das war gewiß Frau Bubnowa selbst, die Hauswirtin?«

»Ja, das war die Hauswirtin selbst.«

»Wie ist denn also das Mädchen zu ihr gekommen? Ihre Mutter ist hier gestorben?«

»Ja, so ist sie zu ihr gekommen... Uns geht's nichts an...«

Sie wollte wieder fortgehen.

»Aber tun Sie mir doch den Gefallen! Ich sage Ihnen ja, daß mich die Sache sehr interessiert. Ich bin vielleicht imstande, etwas für sie zu tun. Wer ist denn dieses Mädchen? Wer war ihre Mutter? Wissen Sie es?«

»Das war eine Art Ausländerin; sie war von auswärts hergekommen. Sie wohnte bei uns unten und war sehr krank; sie ist auch an der Schwindsucht gestorben.«

»Also ist sie wohl sehr arm gewesen, wenn sie als Aftermieterin im Kellergeschoß wohnte?«

»Schrecklich arm! Es schnürte einem das Herz zusammen. Wir schlagen uns nur kümmerlich durch; aber auch uns ist sie in den fünf Monaten, die sie bei uns gewohnt hat, sechs Rubel schuldig geblieben. Wir haben sie auch beerdigt; mein Mann hat noch den Sarg gemacht.«

»Wie kann dann die Bubnowa sagen, sie habe die Beerdigung besorgt?«

»Ach wo! Sie hat nichts dabei getan!«

»Und welchen Familiennamen führte denn die Verstorbene?«

»Ich kann ihn nicht aussprechen, lieber Herr; es war ein schwerer Name, wohl ein deutscher.«

»Smith?«

»Nein, es klang anders. Anna Trifonowna nahm dann die Waise zu sich; wie sie sagt, zur Erziehung. Aber es ist da überhaupt keine schöne Wirtschaft...«

»Sie hat sie gewiß in bestimmter Absicht zu sich genommen?«

»Sie treibt ein häßliches Gewerbe«, antwortete die Frau, überlegend und schwankend, ob sie reden solle oder nicht. »Was geht es uns an? Wir haben nichts damit zu tun.«

»Du tätest besser, deine Zunge im Zaum zu halten!« erscholl eine Männerstimme hinter uns.

Es war ein schon älterer Mann in einem Schlafrock und einem darübergezogenen langschößigen Rock, anscheinend ein Handwerksmeister, der Mann der Frau, mit der ich sprach.

»Wir haben mit Ihnen nichts zu reden, lieber Herr; das sind Dinge, die uns nichts angehen...«, sagte er, indem er mir einen schrägen Blick zuwarf. »Und du geh nur weg! Adieu, mein Herr! Ich bin Sargtischler; wenn Sie in meinem Fach etwas nötig haben, so werde ich jeden Auftrag zu Ihrer vollen Zufriedenheit ausführen... Sonst aber haben Sie und wir nichts miteinander zu verhandeln...«

Ich verließ dieses Haus in tiefen Gedanken und großer Aufregung. Machen konnte ich nichts; aber es war mir eine peinliche Empfindung, daß ich die Sache ihren Gang gehen lassen sollte. Einige Worte der Tischlerfrau beunruhigten mich ganz besonders. Da verbarg sich etwas Häßliches; das ahnte ich.

Ich ging mit gebeugtem Kopf und in Gedanken versunken dahin, als mich auf einmal eine laute Stimme mit meinem Familiennamen anrief. Ich blickte auf − vor mir stand ein Betrunkener, der beinahe schwankte; gekleidet war er ziemlich sauber, nur trug er einen garstigen Mantel und eine schmierige Mütze. Sein Gesicht kam mir sehr bekannt vor. Ich betrachtete ihn genauer.

Er blinzelte mich an und lächelte ironisch.

»Erkennst du mich nicht?«

Fünftes Kapitel

»Ah, du bist es Masslobojew!« rief ich, da ich auf einmal in ihm einen früheren Schulkameraden vom Gymnasium in der Gouvernementsstadt her erkannte. »Na, das ist ein unerwartetes Zusammentreffen!«

»Allerdings! Sechs Jahre lang sind wir einander nicht begegnet. Das heißt, begegnet sind wir uns schon; aber Euer Exzellenz haben mich keines Blickes gewürdigt. Du bist ja jetzt ein vornehmer Mann geworden, das heißt ein vornehmer Schriftsteller!...«

Bei diesen Worten lächelte er spöttisch.

»Na, lieber Masslobojew, da redest du töricht!« unterbrach ich ihn. »Erstens pflegen die vornehmen Leute, und wenn es auch nur vornehme Schriftsteller sind, schon äußerlich anders auszusehen als ich; und zweitens gestatte mir die Bemerkung: ich erinnere mich in der Tat, daß ich dir ein paarmal auf der Straße begegnet bin, aber du selbst wichst mir augenscheinlich aus; und ich werde doch nicht an jemand herantreten, wenn ich sehe, daß er mir ausweichen will. Und weißt du, was ich glaube? Wenn du nicht betrunken wärst, würdest du mich auch jetzt nicht angerufen haben. Nicht wahr? Na also, sei bestens begrüßt! Ich freue mich, freue mich sehr, lieber Freund, daß ich dich getroffen habe.«

»Wirklich? Kompromittiere ich dich auch nicht durch meine wenig korrekte äußere Erscheinung? Aber da bedarf es keiner Frage; ich erinnere mich noch recht wohl, Wanjuscha, was du für ein prächtiger Junge warst. Erinnerst du dich wohl noch, wie du für mich vom Lehrer Hiebe bekamst? Du schwiegst und verrietest mich nicht; ich aber, statt dir dankbar zu sein, machte mich eine Woche lang über dich lustig. Du bist eine edle Seele! Sei herzlich begrüßt, mein Teuerster!« (Wir küßten uns.) »Ich führe nun schon so viele Jahre lang ein einsames, mühseliges Leben, Tag und Nacht; aber ich habe die alte Zeit nicht vergessen. Die vergißt sich nicht! Und du, was machst du?«

»Ich? Ich führe auch ein einsames, mühseliges Leben...«

Er blickte mich lange an, mit der tiefen Rührung eines Menschen, den der Branntwein in weiche Stimmung versetzt hat. Übrigens war er auch sonst ein sehr gutherziger Mensch.

»Nein, Wanja, du bist ein anderer Mensch als ich«, sagte er endlich in pathetischem Ton. »Ich habe deinen Roman gelesen; ich habe ihn gelesen, Wanja, gelesen!... Aber höre mal: laß uns ein Weilchen gemütlich zusammen plaudern! Hast du Eile?«

»Ja, und ich muß dir gestehen, da ist eine Sache, die mich furchtbar aufregt. Aber weißt du, was das Beste ist? Sag mir, wo du wohnst!«

»Das will ich dir sagen; aber das Beste ist das nicht. Soll ich dir sagen, was das Beste ist?«

»Nun, was denn?«

»Was ist das da? Siehst du wohl?« Er zeigte auf ein Schild, zehn Schritte entfernt von der Stelle, wo wir standen. »Siehst du: ›Konditorei und Restaurant‹, das heißt, es ist einfach ein Restaurant, aber ein gutes Lokal. Ich sage dir vorher: ein anständiges Lokal, und ein Schnaps − vorzüglich! Ein Göttertrank! Ich habe ihn getrunken, oft getrunken; ich kenne ihn; und man wagt hier auch nicht, mir etwas Schlechtes vorzusetzen. Man kennt Filipp Filippowitsch. Ich heiße nämlich Filipp Filippowitsch. Nun? Du machst ein Gesicht? Nein, laß mich erst ausreden! Jetzt ist es ein Viertel auf zwölf, ich habe eben nachgesehen; na also, pünktlich um elf Uhr fünfunddreißig werde ich dich loslassen. Und unterdessen wollen wir ein bißchen was trinken. Zwanzig Minuten für einen alten Freund − ist's dir recht?«

»Wenn es nur zwanzig Minuten sind, ist's mir recht; denn, lieber Freund, ich habe da, weiß Gott, eine Sache...«

»Nun, wenn es dir recht ist, dann schön! Aber warte mal, zwei Worte vorher: du siehst so verstört aus, als ob du dich eben furchtbar geärgert hättest; ist es so?« »Ja, es ist so.«

»Das hatte ich doch erraten! Ich habe mich nämlich jetzt auf die Physiognomik gelegt, mein Lieber; das ist auch ein Studium! Nun, dann komm und laß uns plaudern! In zwanzig Minuten kann ich meinen Admiralstrunk zu mir nehmen:[10] erst einen Birkenlikör, dann einen Liebstöckel, dann einen Pomeranzen, dann einen parfait-amour, und dann wird mir schon noch etwas einfallen. Ich bin Trinker, lieber Freund! Nüchtern bin ich nur an Festtagen vor der Messe. Aber du brauchst meinetwegen nicht zu trinken. Es ist mir nur an deiner Person gelegen. Wenn du aber mittrinkst, so wird das ein besonderer Beweis von Edelmut sein. Nun, dann wollen wir gehen! Laß uns ein paar Worte plaudern, und dann trennen wir uns wieder für zehn Jahre! Ich bin nicht von derselben Art wie du, Wanjuscha!«

»Na, schwatze nicht, sondern laß uns lieber hineingehen! Zwanzig Minuten sollen dir gehören; aber dann laß mich los!«

Um in das Restaurant zu gelangen, mußte man eine aus zwei Absätzen bestehende hölzerne Treppe nach dem zweiten Stockwerk hinansteigen. Aber auf der Treppe stießen wir mit zwei stark angetrunkenen Herren zusammen. Als sie uns sahen, wichen sie schwankend zur Seite aus.

Der eine von ihnen war ein sehr junger und sehr jugendlich aussehender Mensch, noch bartlos, nur mit einem ganz schwachen, eben keimenden Schnurrbart und mit übermäßig dummem Gesichtsausdruck. Er war stutzerhaft gekleidet, wirkte aber dabei komisch: es sah aus, als ob er fremde Kleider anhätte. An den Fingern trug er kostbare Ringe; in der Krawatte steckte eine wertvolle Nadel; seine Frisur, mit einer Art von Tolle, nahm sich recht dumm aus. Er lächelte und kicherte fortwährend. Sein Begleiter war schon ungefähr fünfzigjährig, fett, dickbäuchig, ziemlich nachlässig gekleidet, kahlköpfig; er hatte ebenfalls eine große Nadel in der Krawatte, ein pockennarbiges, vom Trunk aufgedunsenes Gesicht und eine Brille auf der knopfähnlichen Nase. Der Ausdruck dieses Gesichtes war boshaft, sinnlich. Die häßlichen, tückischen, mißtrauischen Augen steckten ganz im Fett und blickten wie aus Ritzen heraus. Beide schienen Masslobojew zu kennen; aber der Dicke schnitt bei der Begegnung mit uns ein ärgerliches Gesicht, allerdings nur für einen Augenblick, und der Jüngere verzog seine Lippen zu einem süßlichen, unterwürfigen Lächeln. Er nahm sogar die Mütze ab. Er trug nämlich eine solche.

»Verzeihen Sie, Filipp Filippowitsch«, murmelte er, ihn gefühlvoll anblickend.

»Aber was denn ?«

»Pardon... hm...« (er knipste an seinem Rockkragen). »Da drinnen sitzt Mitrofan. Er benimmt sich sehr ausfällig, dieser Schurke.«

»Was ist denn los?«

»Ganz arg macht er's... Dem hier« (er wies mit dem Kopf auf seinen Begleiter) »haben sie in der vorigen Woche auf Anstiften eben dieses Mitrofan an einem unanständigen Ort das ganze Gesicht voll Sahne geschmiert... hihi!«

Sein Begleiter stieß ihn ärgerlich mit dem Ellbogen an.

»Aber wollen Sie nicht mit uns ein Halbdutzend Flaschen trinken, Filipp Filippowitsch? Dürfen wir hoffen?«

»Nein, mein Bester, jetzt habe ich keine Zeit«, antwortete Masslobojew. »Ein Geschäft nimmt mich in Anspruch.«

»Hihi! Ich habe auch noch ein Geschäftchen mit Ihnen zu besprechen...«

Der Begleiter stieß ihn wieder mit dem Ellbogen an.

»Ein andermal, ein andermal!«

Masslobojew gab sich offenbar Mühe, die beiden nicht anzusehen. Wir gingen in das erste Zimmer, durch das sich in seiner ganzen Länge ein sehr sauberer Verkaufstisch hinzog, dicht besetzt mit kalten Speisen, mit Fleisch- und Fischpasteten und mit Karaffen voll verschiedenfarbiger Liköre. Kaum waren wir eingetreten, als Masslobojew mich schnell in eine Ecke führte und sagte:

»Der Jüngere ist ein Kaufmannssohn namens Ssisobruchow, der Sohn eines angesehenen Mehlhändlers; er hat von seinem Vater eine halbe Million geerbt und verschwendet sie jetzt. Er war nach Paris gereist, hatte dort schon eine Unmenge Geld vergeudet und hätte dort wohl das ganze vertan; aber da erbte er noch von seinem Onkel und kehrte aus Paris zurück; nun bringt er das übrige hier durch. Nach einem Jahr wird er natürlich betteln gehen. Er ist dumm wie eine Gans, treibt sich in den feinsten Restaurants und in Kellerlokalen und Schenken herum, verkehrt mit Schauspielerinnen und hat sich zum Eintritt als Husar gemeldet; er hat neulich ein Gesuch eingereicht. Der andere, ältere, heißt Archipow; er ist auch so eine Art Kaufmann oder Verwalter, hat sich mit Branntweinpacht abgegeben und ist eine Kanaille, ein Gauner, jetzt Ssisobruchows Gefährte, ein Judas und Falstaff, alles zusammen, ein zweimaliger Bankrotteur und ein abscheulich sinnlicher Patron mit verschiedenen häßlichen Neigungen. In dieser Hinsicht weiß ich von ihm eine kriminelle Geschichte; er hat sich nur noch so zur Not herausgewickelt. In einer Beziehung freue ich mich jetzt sehr darüber, daß ich ihn hier getroffen habe; ich wartete darauf... Archipow ist jetzt selbstverständlich dabei, Ssisobruchow auszuplündern. Er kennt eine Menge von Spelunken aller Art, wodurch er für solche Jünglinge wertvoll ist. Ich, lieber Freund, wetze schon lange die Zähne, um ihm einen gehörigen Biß zu versetzen. Und dasselbe tut auch Mitrofan, der forsche junge Mann dort im ärmellosen Wams; er steht da am Fenster, der mit dem Zigeunergesicht. Er beschäftigt sich mit Pferdehandel und ist mit allen hiesigen Husaren bekannt. Ich sage dir, er ist ein solcher Schlaukopf: er wird vor deinen sehenden Augen eine Banknote fälschen, und obgleich du es gesehen hast, wirst du sie ihm dennoch einwechseln. Er trägt ein Wams ohne Ärmel, allerdings von Samt, und sieht wie ein Slawophile aus (was ihm meines Erachtens auch ganz gut steht); aber ziehe ihm auf der Stelle einen eleganten Frack nebst Zubehör an, führe ihn in den Englischen Klub und sage dort: ›Der Großgrundbesitzer Graf Barabanow‹, und sie werden ihn dort zwei Stunden lang für einen Grafen halten, und er wird Whist spielen und wie ein Graf reden, und sie werden nichts merken, und er wird sie betrügen. Er wird einmal ein schlechtes Ende nehmen. Also dieser Mitrofan hat es auf den Dickwanst abgesehen; denn bei Mitrofan ist jetzt Ebbe, und der Dickwanst hat ihm seinen früheren Freund Ssisobruchow abspenstig gemacht, ehe er selbst noch Zeit hatte, ihn ordentlich zu scheren. Wenn sie jetzt in dem Restaurant zusammengetroffen sind, so will Mitrofan dem Dicken gewiß einen Streich spielen. Ich weiß sogar, was für einen, und vermute, daß Mitrofan und kein anderer es gewesen ist, der mich benachrichtigt hat, daß Archipow und Ssisobruchow hier sein werden und sich in dieser Gegend mit irgendwelcher schändlichen Absicht herumtreiben. Mitrofans Haß gegen Archipow will ich mir zunutze machen, weil ich meine eigenen Ursachen habe, und ich bin namentlich deswegen hierhergekommen. Ich will aber tun, als ob ich mit Mitrofan nichts zu schaffen habe, und sieh auch du nicht zu scharf zu ihm hin! Wenn wir aber von hier weggehen werden, so wird er wahrscheinlich von selbst an mich herantreten und mir das Erforderliche sagen... Aber jetzt komm, Wanja; wir wollen in jenes andere Zimmer dort gehen. − Na, Stepan«, fuhr er zu dem Kellner gewendet fort, »weißt du, was ich gern möchte?«

»Jawohl, ich weiß.«

»Nun, dann erfülle meinen Wunsch!«

»Sogleich werde ich ihn erfüllen.«

»Tu das! Setz dich, Wanja! Na, warum musterst du mich denn so? Ich sehe ja, daß du mich musterst. Wunderst du dich? Wundere dich nicht! Es kann dem Menschen alles mögliche passieren, was er sich nie hat träumen lassen, namentlich damals nicht... na, wenigstens damals nicht, als du und ich am Cornelius Nepos büffelten. Aber das kannst du mir glauben, Wanja: wenn Masslobojew auch vom geraden Weg abgeirrt ist, so ist doch sein Herz dasselbe geblieben, und nur die Umstände haben sich geändert. ›Lieber brav im Dreck und Schmutz als ein Schuft in seinem Putz.‹ Ich fing an, Medizin zu studieren, und wollte Lehrer der vaterländischen Literatur werden und schrieb eine Abhandlung über Gogol und beabsichtigte, unter die Goldgräber zu gehen, und schickte mich an, zu heiraten − ›der Menschenseele Wunsch ist Braten, Schnaps und Punsch‹; und ›sie‹ hatte eingewilligt, obgleich in dem Haus ein solcher Überfluß herrschte, daß man keine Katze durch einen Leckerbissen herauslocken konnte. Ich traf schon die Vorbereitungen zur Trauung und wollte mir ein Paar heile Stiefel borgen, weil die meinigen schon seit anderthalb Jahren zerrissen waren... Aber ich habe mich nicht verheiratet. Sie hat einen Lehrer genommen, und ich nahm eine Stelle in einem Kontor an, das heißt nicht in einem Bankkontor, sondern in einem geringeren, andersartigen. Na, damit kam ich in eine andere Richtung hinein. Die Jahre sind dahingegangen, und wenn ich jetzt auch nicht in einer dienstlichen Stellung bin, so verdiene ich mir doch hübsche Summen: ich lasse mir Geld in die Hand drücken und trete für Wahrheit und Recht ein; wie man zu sagen pflegt: ›Klug ist's, Schwache anzugreifen und vor Starken auszukneifen.‹ Ich habe meine Grundsätze und weiß zum Beispiel, daß das Sprichwort recht hat: ›Allein vermag auch der Tapferste wenig‹, und − ich betreibe eifrig meine Geschäfte. Meine Geschäfte aber sind meist von geheimnisvollem Charakter... du verstehst?«

»Du bist doch nicht etwa Geheimpolizist?«

»Nein, das nicht eigentlich; aber ich gebe mich mit gewissen Geschäften ab, teils in offiziellem Auftrag, teils auch auf eigene Faust. Siehst du, Wanja, ich trinke zwar Schnaps; aber da ich meinen Verstand noch nicht im Schnaps ersäuft habe, so weiß ich auch, was mir in der Zukunft bevorsteht. Die Zeit, wo etwas Besseres aus mir werden konnte, ist vorüber; einen schwarzen Hund kann man nicht durch Waschen weiß machen. Ich will dir nur eins sagen: wenn ich nicht manchmal noch wie ein anständiger Mensch dächte und fühlte, so hätte ich dich heute nicht angeredet, Wanja. Du hast recht: ich bin dir früher mehrmals begegnet und habe dich gesehen; oftmals wäre ich gern an dich herangetreten; aber ich wagte es nie, sondern schob es immer auf. Ich bin deiner nicht wert. Und du hast ganz richtig gesagt, Wanja, daß, wenn ich dich diesmal angeredet habe, das nur infolge meiner Betrunkenheit geschehen sei. Aber das alles ist dummes Gerede; hören wir auf, von mir zu sprechen, und sprechen wir lieber von dir! Na, lieber Freund: ich habe es gelesen! Ich habe es gelesen, von Anfang bis Ende! Ich rede von deinem Erstlingswerk. Als ich es durchgelesen hatte, wäre ich beinah ein anständiger Mensch geworden, mein Bester! Beinahe, aber ich überlegte es mir doch noch und zog es vor, ein unanständiger Mensch zu bleiben. So ist es...«

Noch vieles sagte er zu mir in dieser Art. Seine Betrunkenheit nahm immer mehr zu, und er wurde sehr gerührt, fast zu Tränen. Masslobojew war immer ein prächtiger Bursche gewesen; aber er hatte immer seinen Kopf für sich gehabt und war gewissermaßen übermäßig entwickelt gewesen, schlau, verschmitzt, ein Intrigant und Ränkeschmied schon auf der Schule; aber im Grunde war er ein Mensch mit einem guten Herzen, ein verlorener Mensch. Solche Menschen sind unter den Russen zahlreich zu finden. Sie besitzen oft große Fähigkeiten; aber in ihrem Kopf herrscht die größte Verwirrung, und überdies sind sie aus moralischer Schwäche imstande, mit Bewußtsein gegen ihr Gewissen zu handeln; und sie gehen nicht nur zugrunde, sondern wissen auch selbst voraus, daß sie zugrunde gehen werden. Masslobojew zum Beispiel ertrank im Branntwein. »Jetzt noch ein Wort, lieber Freund«, fuhr er fort. »Ich habe gehört, wie zuerst überall dein Ruhm erscholl; ich las dann verschiedene Kritiken deines Werkes (wirklich, ich habe sie gelesen; du denkst wohl, ich lese gar nichts mehr?); dann traf ich dich mit schlechten Stiefeln, im Schmutz ohne Überschuhe, mit einem zerknickten Hut und erriet manches. Du schreibst jetzt für Journale?«

»Ja, Masslobojew.«

»Du bist also Postgaul geworden?«

»So etwas Ähnliches.«

»Na, dann höre, lieber Freund, was ich dir mit Bezug darauf sagen will: da ist es schon besser, du legst dich aufs Trinken! Siehst du, ich betrinke mich, lege mich auf mein Sofa (ich habe ein prächtiges Sofa mit Sprungfedern) und denke mir, daß ich zum Beispiel so ein Homer oder Dante oder so ein Friedrich Barbarossa bin − ich kann mir ja alles mögliche vorstellen. Na, aber du kannst dir nicht vorstellen, daß du Dante oder Friedrich Barbarossa bist, erstens, weil du du selbst sein willst, und zweitens, weil dir alles Wollen verboten ist; denn du bist eben ein Postgaul. Ich lebe im Reich der Phantasie und du im Reich der Wirklichkeit. Höre, was ich dir offen und geradezu als guter Kamerad sage (durch eine Ablehnung würdest du mich auf zehn Jahre kränken und beleidigen): brauchst du Geld? Ich habe welches. Mach keine Umstände! Nimm das Geld, zahle deinen Verlegern die Vorschüsse zurück, wirf das Kumt ab, lege dir soviel Geld hin, daß du für ein ganzes Jahr sicher zu leben hast, und dann mach dich an die Ausführung einer Lieblingsidee, schreib ein großes Werk! Nun? Was sagst du?«

»Hör mal, Masslobojew! Deinen kameradschaftlichen Vorschlag weiß ich nach Gebühr zu schätzen; aber ich kann dir jetzt nichts darauf antworten; warum ich es nicht kann, das zu erzählen würde zu lange dauern. Es liegen besondere Umstände vor. Übrigens verspreche ich dir: ich werde dir später alles als Freund erzählen. Für deinen Vorschlag danke ich dir; ich verspreche dir, dich zu besuchen, und ich werde dich oft besuchen. Aber jetzt handelt es sich um folgendes: du bist gegen mich offen, und daher möchte ich dich um Rat fragen, um so mehr, da du, wie es scheint, mit solchen Sachen gut Bescheid weißt.«

Und ich erzählte ihm meine Erlebnisse mit Smith und seiner Enkelin, von dem Vorfall in der Konditorei an. Sonderbar: während ich erzählte, glaubte ich ihm an den Augen anzusehen, daß er von dieser Geschichte schon etwas wußte. Ich fragte ihn danach.

»Nein, das nicht!« antwortete er. »Übrigens, über Smith habe ich einiges gehört: daß da ein alter Mann in einer Konditorei gestorben ist. Aber über Frau Bubnowa weiß ich in der Tat dies und das. Dieser Dame habe ich vor zwei Monaten eine kleine Summe abgenommen. Je prends mon bien, où je le trouve[11] und habe nur hierin mit Moliére Ähnlichkeit. Aber obgleich ich ihr hundert Rubel abgezwackt habe, habe ich mir doch gleich damals vorgenommen, nächstens nicht bloß hundert, sondern fünfhundert Rubel aus ihr herauszuschinden. Ein gräßliches Weib! Sie treibt ein unerlaubtes Gewerbe. Und das hätte noch nichts zu besagen; aber manchmal versteigt sie sich zu allzu argen Sachen. Bitte, halte mich nicht für einen Don Quichotte! Die Sache ist die, daß dabei tüchtig etwas für mich abfallen kann, und als ich vor einer halben Stunde Ssisobruchow traf, freute ich mich sehr. Ssisobruchow ist offenbar hierhergeführt worden, und zwar von dem Dickwanst, und da ich weiß, mit was für Geschäften sich dieser Dickwanst besonders abgibt, so schließe ich daraus... Na, ich werde ihn schon überrumpeln! Ich freue mich sehr, daß ich von dir etwas über dieses Mädchen gehört habe; ich bin jetzt auf eine andere Spur gekommen. Ich beschäftige mich ja damit, allerlei Privataufträge zu erledigen, lieber Freund, und mit was für Leuten werde ich dabei bekannt! Da habe ich neulich für einen Fürsten Nachforschungen in einer Angelegenheit angestellt, ich kann dir sagen, in einer derartigen Angelegenheit, wie man sie von diesem Fürsten nicht erwartet hätte. Oder wenn du willst, werde ich dir eine andere Geschichte von einer verheirateten Frau erzählen? Besuche mich nur, lieber Freund; da werde ich dir solche Stoffe mitteilen, daß, wenn du sie in deinen Erzählungen behandelst, dir kein Mensch glauben wird...«

»Wie heißt denn dieser Fürst?« unterbrach ich ihn, von einer Art Ahnung erfüllt.

»Wozu willst du das wissen? Na, meinetwegen: Walkowski.«

»Pjotr?«

»Ja. Kennst du ihn?«

»Ja, aber nicht näher. Nun, Masslobojew, ich werde mich nach diesem Herrn noch manchmal bei dir erkundigen«, sagte ich und stand auf; »du hast mein Interesse in hohem Grade wachgerufen.«

»Na ja, alter Freund, erkundige dich, soviel du willst! Geschichtchen verstehe ich schon zu erzählen, aber selbstverständlich nur innerhalb gewisser Grenzen, du verstehst? Sonst verliert man seinen Kredit und seine Ehre, das heißt die geschäftliche Ehre, na und so weiter.«

»Nun also, soweit es deine Ehre gestatten wird.«

Ich befand mich in starker Aufregung. Er bemerkte das.

»Nun, was kannst du mir denn jetzt über die Geschichte sagen, die ich dir eben erzählt habe?« fragte ich ihn. »Ist dir ein guter Gedanke gekommen?«

»Über deine Geschichte? Warte einen Augenblick auf mich; ich möchte bezahlen.«

Er trat ans Büfett und traf dort, wie zufällig, auf einmal mit jenem jungen Menschen im ärmellosen Wams zusammen, den man so schlechthin mit dem Vornamen Mitrofan zu nennen pflegte. Es schien mir, daß Masslobojew ihn etwas näher kannte, als er mir gegenüber selbst zugegeben hatte. Wenigstens war deutlich, daß sie jetzt nicht zum erstenmal zusammenkamen.

Mitrofan war dem Aussehen nach ein recht origineller Bursche. In seinem Wams, seinem rotseidenen Hemd, mit seinen scharfen, aber wohlgestalteten Gesichtszügen, noch ziemlich jugendlich, sonnengebräunt, mit kühnem, funkelndem Blick, machte er einen interessanten und durchaus nicht abstoßenden Eindruck. Sein Benehmen hatte etwas gekünstelt Keckes; aber im gegenwärtigen Augenblick legte er sich offenbar Zwang auf und suchte sich vor allem ein geschäftsmäßiges, würdiges, solides Aussehen zu geben.

»Also, Wanjuscha«, sagte Masslobojew, als er zu mir zurückkehrte, »besuche mich heute um sieben Uhr; dann werde ich dir vielleicht etwas sagen können. Siehst du, ich allein vermag nichts zu leisten; früher war das anders, aber jetzt bin ich nur ein Säufer und habe mich von den Geschäften einigermaßen zurückgezogen. Aber ich habe immer noch meine früheren Beziehungen; ich kann über manches Erkundigungen anstellen und im Verein mit allerlei schlauen Leuten dies und das herausschnüffeln; in meiner freien Zeit allerdings, das heißt, wenn ich nüchtern bin, tue ich auch selbst etwas, ebenfalls mit Hilfe von Bekannten... meistens auf dem Gebiet der Nachforschungen... Na, aber nun genug! Da ist meine Adresse: in der Schestilawotschnaja. Jetzt aber, mein Teuerster, bin ich schon ganz unbrauchbar. Ich will noch ein Gläschen Goldwasser trinken und dann nach Hause. Ich will mich hinlegen. Wenn du kommst, will ich dich mit Alexandra Semjonowna bekannt machen, und wenn wir Zeit haben, wollen wir auch über Literatur reden.«

»Nun, und auch von meiner Angelegenheit?«

»Vielleicht auch von deiner Angelegenheit.«

»Nun gut, ich werde kommen, ich werde bestimmt kommen.«

Sechstes Kapitel

Anna Andrejewna wartete auf mich schon lange. Durch das, was ich ihr tags zuvor über Nataschas Briefchen gesagt hatte, war ihre Neugier stark erregt worden, und sie hatte mich schon viel früher am Morgen erwartet, mindestens schon um zehn Uhr. Als ich aber bei ihr zwischen ein und zwei Uhr mittags erschien, war die Pein des Wartens bei der armen Frau auf den höchsten Grad gestiegen. Außerdem hatte sie auch das dringende Bedürfnis, mit mir von den neuen Hoffnungen zu sprechen, die seit dem vorigen Tag in ihrem Herzen erwacht waren, und von Nikolai Sergejewitsch, der sich seit dem vorigen Tag unwohl fühlte, ein finsteres Gesicht machte, sich dabei aber doch gegen sie besonders zärtlich benahm. Als ich kam, empfing sie mich zunächst mit unzufriedener, kühler Miene, murmelte kaum ein paar undeutliche Worte und zeigte nicht die geringste Neugier, beinah als ob sie sagen wollte:›Warum bist du denn gekommen? Eine wunderliche Passion von dir, lieber Freund, dich alle Tage bei uns einzustellen!‹ Sie ärgerte sich über mein spätes Kommen. Aber ich hatte Eile und erzählte ihr daher ohne weitere Umschweife die ganze Szene, die sich tags zuvor bei Natascha abgespielt hatte. Sowie die alte Frau von dem Besuch des Fürsten und von seinem feierlichen Antrag hörte, war ihre ganze erkünstelte Verdrossenheit sogleich verflogen. Es fehlt mir an Worten, um zu schildern, wie sie sich freute; sie war ganz fassungslos, bekreuzigte sich, weinte, verbeugte sich mehrmals tief vor dem Heiligenbild, umarmte mich und wollte sogleich zu Nikolai Sergejewitsch laufen, um ihm von ihrer Freude Mitteilung zu machen.

»Weißt du, lieber Freund«, sagte sie zu mir, »sein Unwohlsein rührt nur von den vielerlei Kränkungen und Demütigungen her; wenn er aber jetzt erfährt, daß Natascha volle Genugtuung erhält, so wird er im Augenblick alles vergessen.«

Nur mit großer Mühe redete ich ihr dies aus. Obwohl die gute Alte mit ihrem Mann schon fünfundzwanzig Jahre lang zusammengelebt hatte, kannte sie ihn doch noch immer schlecht. Sie hatte auch die größte Lust, gleich mit mir zu Natascha zu fahren. Ich stellte ihr vor, daß Nikolai Sergejewitsch ihren Schritt vielleicht nicht billigen werde und daß wir dadurch womöglich die ganze Sache verderben würden. Nur schwer ließ sie sich umstimmen; aber sie hielt mich noch eine halbe Stunde länger zurück und redete während dieser ganzen Zeit immer nur allein. »Nun bleibe ich ohne einen Menschen mit meiner großen Freude zurück«, sagte sie, »und sitze hier allein in den vier Wänden!« Endlich überredete ich sie, mich wegzulassen, indem ich ihr vorstellte, daß mich Natascha jetzt ungeduldig erwarte. Die alte Frau bekreuzte mich für meinen Weg mehrmals, trug mir auf, ihrer Tochter ihren besonderen Segen zu überbringen, und fing beinahe an zu weinen, als ich ihr mit aller Entschiedenheit erklärte, ich würde an diesem selben Tag nicht noch einmal am Abend kommen, es müßte denn sein, daß sich mit Natascha etwas Besonderes zutrüge. Den alten Ichmenew bekam ich diesmal nicht zu sehen: er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, über Kopfschmerz und Fieber geklagt und schlief jetzt in seinem Zimmer.

Auch Natascha hatte den ganzen Vormittag über auf mich gewartet. Als ich eintrat, ging sie nach ihrer Gewohnheit mit verschränkten Armen nachdenkend im Zimmer auf und ab. Auch jetzt kann ich, wenn ich an sie zurückdenke, sie mir nicht anders vorstellen, als wie sie immer allein in dem ärmlichen Stübchen, nachdenkend, wartend, mit zusammengelegten Armen und niedergeschlagenen Augen zwecklos hin und her ging.

Leise, und ohne ihre Wanderung zu unterbrechen, fragte sie, warum ich so spät käme. Ich erzählte ihr in Kürze alle meine Erlebnisse, aber sie hörte mir kaum zu. Es war ihr anzumerken, daß sie mit einer Sorge beschäftigt war.

»Was gibt es Neues?« fragte ich.

»Neues gar nichts!« erwiderte sie, aber mit einer Miene, aus der ich sofort erriet, daß sie allerdings etwas Neues hatte und eben deswegen auf mich gewartet hatte, um mir dieses Neue zu erzählen; ich wußte aber, daß sie es mir nach ihrer Gewohnheit nicht sogleich erzählen werde, sondern erst wenn ich mich anschicken würde wegzugehen.

So machte sie es immer. Ich hatte mich schon in diese ihre Besonderheit gefunden und wartete auch diesmal. Wir begannen unser Gespräch selbstverständlich mit den Ereignissen des vorhergehenden Tages. Besonders überraschte es mich, daß wir beide in unserm Urteil über den alten Fürsten vollständig übereinstimmten: er mißfiel ihr entschieden, und zwar in noch weit höherem Grad als tags zuvor. Und nachdem wir seinen ganzen Besuch Punkt für Punkt durchgesprochen hatten, sagte Natascha plötzlich:

»Hör mal, Wanja, es pflegt ja immer so zu gehen: wenn einem jemand am Anfang mißfällt, so ist das ein Zeichen dafür, daß er einem später bestimmt gefallen wird. Wenigstens ist es mir immer so gegangen.«

»Das gebe Gott, Natascha! Außerdem möchte ich meine Meinung definitiv dahin aussprechen: ich habe alles genau durchdacht und bin zu dem Resultat gelangt, daß der Fürst, wenn auch sein Wesen viel Jesuitenhaftes hat, doch mit eurer Heirat wirklich und im Ernst einverstanden ist.«

Natascha blieb mitten im Zimmer stehen und sah mich finster an. Ihr ganzes Gesicht hatte sich verändert; sogar die Lippen bebten leise.

»Wie sollte er es denn überhaupt bei einer solchen Sache fertigbekommen, sich zu verstellen und... zu lügen? fragte sie mit stolzer Verwunderung.

»Nun eben, nun eben!« stimmte ich ihr eilig zu.

»Selbstverständlich hat er nicht gelogen. Ich meine, daran ist überhaupt nicht zu denken. Für eine solche Verstellung läßt sich auch gar kein Anlaß ersinnen. Und schließlich, wofür müßte er mich denn halten, wenn er es fertigbrächte, sich in solcher Weise über mich lustig zu machen? Kann ein Mensch wirklich einer solchen Beleidigung fähig sein?«

»Ganz recht, ganz recht!« fiel ich bestätigend ein, dachte aber im stillen: ›Du hast gewiß jetzt eben, während du im Zimmer hin und her gingst, darüber nachgedacht, mein armes Kind, und zweifelst vielleicht in noch höherem Grad als ich.‹

»Ach, wie sehr wünsche ich, daß er recht bald zurückkäme!« sagte sie. »Er wollte den ganzen Abend bei mir bleiben, und dann... Es müssen wohl wichtige Angelegenheiten sein, wenn er alles stehen und liegen ließ und fortfuhr. Weißt du nicht, was für welche, Wanja? Hast du nichts gehört?«

»Gott mag es wissen. Er ist ja immer auf Gelderwerb aus. Ich habe gehört, daß er sich hier in Petersburg an einer Lieferung für den Staat beteiligt. Wir verstehen nichts von Geschäften, Natascha.«

»Gewiß, wir verstehen nichts davon. Aljoscha sprach gestern von einem Brief.«

»Es wird irgendeine Nachricht darin gestanden haben. War denn Aljoscha heute hier?«

»Ja.«

»Frühzeitig?«

»Um zwölf; er schläft ja immer lange. Er hat ein Weilchen hier gesessen. Dann habe ich ihn fortgejagt zu Katerina Fjodorowna; es ging doch nicht anders, Wanja.«

»Wollte er denn nicht selbst dorthin gehen?«

»O doch, er wollte selbst hin...«

Sie wollte noch etwas hinzufügen, verstummte aber. Ich sah sie an und wartete. Ihr Gesicht war traurig. Ich hätte sie gern gefragt; aber es mißfiel ihr manchmal sehr, wenn man sie fragte.

»Er ist ein sonderbarer Junge«, sagte sie endlich; sie verzog den Mund ein wenig und vermied es, mich anzusehen.

»Wieso? Gewiß hat es zwischen euch etwas gegeben?«

»Nein, nichts; ich sagte es bloß so... Er war übrigens ganz liebenswürdig... Nur...«

»Nun, jetzt hat ja all sein Kummer und all seine Sorge ein Ende genommen«, sagte ich.

Natascha blickte mich unverwandt und prüfend an. Vielleicht hätte sie selbst Lust gehabt, mir zu antworten: »Er hat auch vorher nur wenig Kummer und Sorge gehabt«; aber sie hatte das Gefühl, daß in meinen Worten dieser selbe Sinn lag. Sie machte deswegen ein finsteres Gesicht.

Indessen wurde sie sofort wieder freundlich und liebenswürdig. Sie war diesmal außerordentlich sanft. Ich saß bei ihr über eine Stunde. Sie beunruhigte sich sehr. Der Fürst ängstigte sie. Ich merkte an manchen Fragen, die sie stellte, daß sie gern erfahren hätte, welchen Eindruck sie gestern auf ihn gemacht habe. Ob sie sich richtig benommen habe; ob sie ihre Freude ihm gegenüber nicht zu stark zum Ausdruck gebracht habe; ob sie nicht zu empfindlich gewesen sei oder im Gegenteil zu demütig. Wenn er doch nichts Schlechtes von ihr dächte; wenn er sich doch nicht über sie lustig machte; wenn er sie doch nicht geringschätzte!... Von diesen Gedanken glühten ihre Wangen wie Feuer.

»Wie kann man sich nur so darüber aufregen, was ein schlechter Mensch etwa von einem denken mag!« sagte ich. »Mag er denken, was er will!«

»Warum soll er denn schlecht sein?« fragte sie.

Natascha war argwöhnisch, hatte aber ein reines Herz, eine offene Denkweise. Ihr Argwohn ging aus einer reinen Quelle hervor. Sie besaß ihren Stolz, einen edlen Stolz, und konnte es nicht ertragen, wenn das, was sie hochschätzte, vor ihren Augen der Verspottung preisgegeben wurde. Auf Geringschätzung seitens eines niedrigen Menschen hätte sie sicherlich nur mit Geringschätzung geantwortet; aber doch hätte ihr das Herz weh getan bei einer Verspottung dessen, was sie für ein Heiligtum hielt, mochte der Spötter sein, wer er wollte. Dies war nicht etwa die Folge eines Mangels an Festigkeit. Es war hauptsächlich die Folge davon, daß sie zu wenig Weltkenntnis besaß, nicht gewohnt war, sich unter Menschen zu bewegen, sich immer still für sich in ihrem Winkel gehalten hatte. Sie hatte ihr ganzes Leben in ihrem Eckchen verbracht, fast ohne es je zu verlassen, Und endlich war bei ihr eine Eigenschaft gutmütiger Leute, die vielleicht von ihrem Vater auf sie übergegangen war, in besonders starkem Maße entwickelt: nämlich einen Menschen übermäßig zu loben, ihn hartnäckig für besser zu halten, als er in Wirklichkeit war, und alles Gute an ihm eifrig zu übertreiben. Die Enttäuschung empfinden solche Leute nachher schmerzlich, besonders schmerzlich, wenn sie fühlen, daß sie selbst daran schuld sind. Warum haben sie auch mehr erwartet, als die andern geben konnten? Und eine derartige Enttäuschung erwartet solche Leute in jedem Augenblick. Das beste ist schon, wenn sie ruhig in ihren Winkeln sitzen bleiben und nicht in die Welt hinausgehen; ich habe sogar bemerkt, daß sie tatsächlich ihre kleine Welt dermaßen lieben, daß sie in ihr ganz menschenscheu werden. Übrigens hatte Natascha ja auch viel Leid und viele Kränkungen zu ertragen gehabt. Sie war bereits ein krankes Wesen, und man kann ihr keinen Vorwurf machen, wenn überhaupt in meinen Worten ein Vorwurf liegt.

Aber ich hatte Eile und stand auf, um wegzugehen. Sie war erstaunt darüber, daß ich schon gehen wollte, und fing beinahe an zu weinen, obwohl sie in der ganzen Zeit, während ich bei ihr gesessen hatte, mir keinerlei besondere Zärtlichkeit erwiesen, sondern sich im Gegenteil anscheinend ungewöhnlich kühl gegen mich benommen hatte. Sie küßte mich herzlich und sah mir lange in die Augen.

»Höre«, sagte sie, »Aljoscha war heute sehr komisch und hat mich sogar in Erstaunen versetzt. Er war sehr liebenswürdig und, wie es schien, sehr glücklich; aber er kam hereingeflattert wie ein Schmetterling, wie ein Geck und drehte sich immer vor dem Spiegel herum.« Er benimmt sich jetzt gar zu ungeniert... er ist auch nicht lange hiergeblieben. Stelle dir nur vor: er hat mir Konfekt mitgebracht!« »Konfekt? Nun, das ist doch sehr liebenswürdig und harmlos. Ach, was seid ihr alle beide für Menschen! Da habt ihr nun jetzt angefangen, einander zu beobachten, euch auszuspionieren, einer des andern Gesicht zu studieren, geheime Gedanken darauf zu lesen (und doch versteht ihr nichts von dem, was darauf geschrieben steht!). Und ihm schadet das noch nicht viel; er ist vergnügt und jungenhaft wie früher. Aber du, du!«

Jedesmal, wenn Natascha ihren Ton änderte, um mir entweder eine Klage über Aljoscha vorzutragen oder sich von mir irgendwelche peinlichen Zweifel lösen zu lassen oder mir ein Geheimnis mitzuteilen, wobei sie wünschte, daß ich es aus halben Worten und Andeutungen verstehen möchte, dann blickte sie mich mit halbgeöffnetem Mund an, so daß ihre Zähne sichtbar wurden, und bat gleichsam flehentlich, ich möchte unter allen Umständen eine Antwort geben, von der ihr gleich leichter ums Herz werde. Aber ich erinnere mich auch, daß ich in solchen Fällen immer einen mürrischen, scharfen Ton annahm, als ob ich jemanden ausschölte; das geschah bei mir ganz unwillkürlich, wirkte aber immer gut. Mein finsteres, wichtigtuendes Benehmen war am richtigen Platz und verlieh mir eine gewisse Autorität; und der Mensch verspürt ja manchmal das unwiderstehliche Bedürfnis, sich von jemandem ausschelten zu lassen. Natascha wenigstens war, wenn wir uns dann trennten, meist ganz getröstet.

»Nein, siehst du, Wanja«, fuhr sie fort, indem sie ihre eine Hand auf meiner Schulter behielt, mit der andern meine Hand drückte und mit ihren Augen in meinen zu lesen suchte, »es schien mir, als ob sein Gefühl nicht sehr tief war... er kam mir vor wie so ein mari[12], weißt du, wie ein Mann, der schon zehn Jahre verheiratet ist, sich aber immer noch gegen seine Frau liebenswürdig benimmt. Ist es nicht jetzt noch zu früh dazu? Er lachte und drehte sich hin und her, aber als ob dieses ganze Benehmen gegen mich nur oberflächlich wäre und er sich schon zum Teil zurückzöge; es war nicht so wie früher... Er hatte es sehr eilig, zu Katerina Fjodorowna zu kommen... Ich redete mit ihm; aber er hörte nicht zu oder fing von etwas anderem an zu sprechen, weißt du, diese häßliche Gewohnheit vornehmer Leute, die wir beide ihm abzugewöhnen gesucht haben. Kurz, er war eigentümlich... ordentlich gleichgültig... Aber was rede ich! Ich bin ganz ins Anklagen hineingekommen! Ach, Wanja, was sind wir alle für anspruchsvolle, eigensinnige Despoten! Erst jetzt sehe ich es ein! Wir verzeihen einem Menschen nicht einmal eine bloße Veränderung der Miene, und eine solche Veränderung kann doch Gott weiß was für Ursachen haben! Du hast recht, Wanja, daß du mir soeben Vorwürfe gemacht hast! Ich allein bin an allem schuld! Wir schaffen uns selbst Kummer, und dann beklagen wir uns noch!... Ich danke dir, Wanja; du hast mich vollständig getröstet. Ach, wenn er doch heute käme! Aber vielleicht ist er noch von vorhin böse.«

»Habt ihr euch denn wirklich schon gezankt?« rief ich erstaunt.

»Nein, ich habe mir nichts merken lassen! Ich war nur ein bißchen traurig; er aber, der zunächst heiter gewesen war, wurde dann nachdenklich und nahm, wie mir schien, von mir etwas trocken Abschied. Aber ich will zu ihm schicken und ihn bitten herzukommen... Komm du doch heute auch her, Wanja!«

»Ich komme bestimmt, wenn mich nicht eine andere Sache aufhält.«

»Nun, was ist denn das für eine Sache?«

»Ich habe mir da etwas auf den Hals geladen! Doch glaube ich, daß ich bestimmt kommen werde.«

Siebentes Kapitel

Pünktlich um sieben Uhr war ich bei Masslobojew. Er wohnte in der Schestilawotschnaja, in einem kleinen Haus, in einem Seitengebäude, in einer ziemlich unsauberen Wohnung von drei Zimmern, die übrigens nicht ärmlich möbliert waren. Es war sogar eine gewisse Wohlhabenheit sichtbar, gleichzeitig aber eine sehr mangelhafte Ordnung. Es öffnete mir ein auffallend hübsches Mädchen von ungefähr neunzehn Jahren, einfach, aber nett gekleidet, sehr sauber aussehend und mit überaus gutmütigen, lustigen Augen. Ich erriet sogleich, daß dies eben jene Alexandra Semjonowna sei, deren er heute schon Erwähnung getan und deren Bekanntschaft zu machen er mich aufgefordert hatte. Sie fragte mich, wer ich sei, und als sie meinen Namen hörte, sagte sie, er erwarte mich, schlafe aber jetzt gerade in seinem Zimmer; dorthin führte sie mich denn auch. Masslobojew schlief auf einem schönen, weichen Sofa; zugedeckt hatte er sich mit seinem schmutzigen Mantel; unter dem Kopf hatte er ein abgescheuertes Lederkissen. Sein Schlaf war nicht tief; kaum waren wir eingetreten, als er mich sogleich beim Namen rief.

»Ach, du bist es? Ich habe dich erwartet. Eben habe ich geträumt, daß du kämest und mich aufwecktest. Also, es ist Zeit; wir wollen fahren!«

»Wohin denn?«

»Zu einer Dame.«

»Zu was für einer Dame? Wozu?«

»Zu Frau Bubnowa, um bei ihr gründlich zu kassieren. Ach, was ist das für eine schöne Frau!« sagte er, sich zu Alexandra Semjonowna wendend, in gedehntem Ton und küßte sogar seine Fingerspitzen bei der Erinnerung an Frau Bubnowa.

»Ach, geh doch! Schwindel!« sagte Alexandra Semjonowna, die es für ihre unvermeidliche Pflicht hielt, ein bißchen böse zu werden.

»Du bist mit ihr noch nicht bekannt? Ich will dich vorstellen, lieber Freund. Hier, Alexandra Semjonowna, stelle ich dir einen großen Schriftsteller mit Generalsrang vor; er ist nur einmal im Jahr umsonst zu sehen, die übrige Zeit nur für Geld.«

»Ach, du hältst einen immer nur zum Narren. Bitte, hören Sie nicht auf ihn; er macht sich immer nur über mich lustig. Wie wird denn der Herr ein General sein!«

»Ich sage dir ja, daß er eine besondere Art von General ist. Du aber, Exzellenz, glaube ja nicht, daß sie dumm ist; sie ist viel klüger, als es auf den ersten Blick scheint.«

»Hören Sie nicht auf ihn! Immer redet er vor den Ohren braver Leute Schlechtes von unsereinem, der schamlose Mensch! Dafür sollte er einen lieber mal ins Theater führen!«

»Eine schöne Regel lautet, Alexandra Semjonowna: ›Liebe dein eigenes Heim!‹ Hast du auch den andern Ausdruck für das, was man lieben muß, nicht vergessen? Hast du das Fremdwort behalten? Ich hatte es dir doch so schön beigebracht!«

»Gewiß habe ich es behalten. Es wird wohl irgendwelchen Unsinn bedeuten.«

»Nun, wie hieß das Fremdwort?«

»Na ja, ich werde mich auch gerade vor dem Gast blamieren! Es bedeutet vielleicht etwas Unpassendes. Ich beiße mir lieber die Zunge ab, ehe ich es sage.«

»Also hast du es vergessen?«

»Nein, ich habe es nicht vergessen: ›Penaten‹... ›Liebe deine Penaten!‹... Nein, was er für Einfälle hat! Vielleicht gibt es gar keine Penaten; und warum soll man sie lieben? Immer redet er solchen Unsinn!«

»Dafür wollen wir bei Frau Bubnowa...«

»Ach, du mit deiner Frau Bubnowa...«

Alexandra Semjonowna lief in der höchsten Entrüstung hinaus.

»Es ist Zeit! Wir wollen uns aufmachen! Adieu, Alexandra Semjonowna!«

Wir gingen hinaus.

»Siehst du, Wanja, erstens wollen wir uns in diese Droschke setzen. So. Zweitens aber habe ich heute mittag, nachdem ich mich von dir getrennt hatte, noch einiges in Erfahrung gebracht, und zwar nicht bloß so vermutungsweise, sondern mit aller Bestimmtheit. Ich bin noch eine ganze Stunde auf der Wassili-Insel geblieben. Dieser Dickwanst ist eine nichtswürdige Kanaille, ein unsauberer, garstiger Patron mit allerlei gemeinen Passionen. Frau Bubnowa ist schon längst durch arge Streiche in diesem Genre berüchtigt. Vor kurzem ist sie bei einer bösen Geschichte mit einem Mädchen aus anständigem Haus beinahe gefaßt worden. Das Musselinkleid, mit dem sie dieses Waisenmädchen herausgeputzt hat, wie du vorhin erzähltest, ließ mir keine Ruhe, weil ich schon etwas damit in Zusammenhang Stehendes gehört hatte. Vorhin habe ich nun noch etwas erfahren, allerdings ganz zufällig, aber, wie es scheint, zuverlässig. Wie alt ist sie?«

»Dem Gesicht nach etwa dreizehn Jahre.«

»Aber der Statur nach weniger. Nun, das paßt ihr gerade. Wenn es nötig ist, sagt sie elf Jahre, und sonst auch fünfzehn. Und da die Ärmste weder Angehörige noch Beschützer hat, so...«

»Meinst du wirklich?«

»Aber was hast du denn gedacht? Aus bloßem Mitleid wird Frau Bubnowa die Waise doch nicht aufgenommen haben. Und wenn sich nun gar der Dickwanst dort hat blicken lassen, dann ist die Sache richtig. Er ist heute vormittag bei ihr gesehen worden. Dem Tölpel, dem Ssisobruchow, ist heute eine schöne verheiratete Frau versprochen worden, die Gattin eines Stabsoffiziers. Kaufmannssöhnchen, die sich amüsieren wollen, sind auf so etwas versessen: sie fragen immer nach dem Rang. Es ist wie in der lateinischen Grammatik; du besinnst dich: die Bedeutung wird immer erst durch die Endung bestimmt. Übrigens bin ich, wie mir scheint, noch von vorhin betrunken. Na, aber Frau Bubnowa soll sich nicht erdreisten, sich mit solchen Dingen abzugeben. Sie möchte auch der Polizei ein X für ein U machen; aber das soll ihr nicht gelingen! Vor mir hat sie Angst, weil sie weiß, daß ich noch von früher her manches in Erinnerung habe... na, und so weiter, du verstehst?«

Ich bekam einen furchtbaren Schreck. Alle diese Mitteilungen versetzten mich in die größte Aufregung. Ich fürchtete immer, wir könnten zu spät kommen, und trieb den Kutscher zu schnellem Fahren an.

»Beunruhige dich nicht; es sind alle Maßregeln getroffen«, sagte Masslobojew. »Mitrofan ist da. Ssisobruchow soll ihm mit Geld büßen und der schurkische Dickwanst in natura. Das ist schon vorhin festgesetzt worden. Na, und Frau Bubnowa kommt auf mein Teil... Sie soll es nicht wagen...«

Wir waren hingelangt und ließen bei dem Restaurant halten; aber Mitrofan war nicht da. Nachdem wir dem Droschkenkutscher befohlen hatten, an der Tür des Restaurants auf uns zu warten, gingen wir zu Frau Bubnowa. Mitrofan erwartete uns am Tor. Die Fenster waren hell erleuchtet, und wir hörten das schallende Gelächter des betrunkenen Ssisobruchow.

»Sie sind alle da, seit ungefähr einer Viertelstunde«, meldete Mitrofan. »Es ist gerade die richtige Zeit.«

»Aber wie werden wir hineingelangen?« fragte ich.

»Als Gäste«, erwiderte Masslobojew. »Sie kennt mich und auch Mitrofan. Allerdings ist alles verschlossen, aber nicht für uns.«

Er klopfte leise an das Tor, und dieses wurde sogleich aufgetan. Der Hausknecht, der es geöffnet hatte, tauschte mit Mitrofan einen verständnisvollen Blick. Wir gingen leise hinein; im Haus hörte man uns nicht. Der Hausknecht führte uns die Treppe hinauf und klopfte. Von innen wurde gefragt; er antwortete, er sei allein, und gab die Parole. Es wurde geöffnet, und wir gingen alle zusammen hinein. Der Hausknecht war verschwunden.

»Oh, oh, wer ist da?« rief Frau Bubnowa, die betrunken, mit wirrem Haar, eine Kerze in der Hand, in dem kleinen Vorzimmer stand.

»Wer da ist?« erwiderte Masslobojew. »Erkennen Sie denn Ihre werten Gäste nicht, Anna Trifonowna? Wer anders als ich... Filipp Filippowitsch.«

»Ah, Filipp Filippowitsch! Sie sind e s... ein so werter Gast... Aber wie sind Sie nur... ich meinte doch... nun, es tut nichts... bitte, treten Sie näher!«

Sie geriet in eilfertige Bewegung.

»Wo sollen wir eintreten? Dort? Aber da ist ja eine Halbwand... Nein, nehmen Sie uns besser auf! Wir wollen bei Ihnen Champagner auf Eis trinken; und sind keine Dämchen da?«

Die Wirtin wurde sofort mutig.

»Für so werte Gäste würde ich welche aus der Erde hervorholen oder aus China kommen lassen.«

»Zwei Worte, liebe Anna Trifonowna: ist Ssisobruchowhier?«

»Ja.«

»Dann möchte ich mit ihm sprechen. Wie kann er wagen, der Schurke, ohne mich zu zechen?«

»Er hat Sie gewiß nicht vergessen. Er hat immer auf jemand gewartet, gewiß auf Sie.«

Masslobojew stieß eine Tür auf, und wir traten in ein kleines, zweifenstriges Zimmer mit Geranientöpfen, Rohrstühlen und einem scheußlichen Klavier; alles, wie es sich gehörte. Aber ehe wir noch hineingingen, schon während wir das Gespräch im Vorzimmer führten, war Mitrofan verschwunden. Ich hörte später, daß er gar nicht in die Wohnung hineingegangen war, sondern vor der Tür gewartet hatte. Ihm öffnete nachher jemand anders. Das strubblige, geschminkte Frauenzimmer, das am Vormittag hinter Frau Bubnowas Schultern hervorgesehen hatte, war eine Gevatterin von ihm.

Ssisobruchow saß auf einem schmalen Sofa von imitiertem Mahagoni an einem runden Tisch, der mit einer Serviette bedeckt war. Auf dem Tisch standen zwei Flaschen mit lauem Champagner, eine Flasche mit schlechtem Rum, ferner Teller mit Konfekt, Pfefferkuchen und drei Sorten Nüssen. An dem Tisch saß, Ssisobruchow gegenüber, ein widerwärtig aussehendes, pockennarbiges, etwa vierzigjähriges Weib in einem schwarzen Taftkleid mit unechten Armbändern und einer unechten Brosche. Dies war die Offiziersdame, offenbar eine nachgemachte. Ssisobruchow war betrunken und sehr zufrieden. Sein dickbäuchiger Gefährte war nicht bei ihm.

»Ja, so machen es die Menschen!« brüllte Masslobojew aus voller Kehle. »Und dabei ladet er einen noch zu Dussaut ein!«

»Filipp Filippowitsch, beglücken Sie mich wirklich?« murmelte Ssisobruchow, indem er sich mit glückseligem Gesicht zu unserer Begrüßung erhob.

»Du trinkst hier?«

»Entschuldigen Sie!«

»Entschuldige dich nicht, sondern lade uns dazu ein! Ich bin hergekommen, um mit dir zu zechen, und habe da noch einen Gast mitgebracht, einen Freund von mir.« Masslobojew wies auf mich.

»Ich freue mich sehr, das heißt, ich bin ganz glücklich... Hihi!«

»Pfui, das nennt sich Champagner? Das schmeckt ja wie saurer Kwas!«

»Sie beleidigen mich.«

»Also bei Dussaut wagst du dich gar nicht zu zeigen, und da ladest du noch andere Leute dorthin ein!«

»Er hat eben erzählt, er wäre in Paris gewesen«, bemerkte die Offiziersdame. »Er schneidet gewiß auf!«

»Fedossija Titischna, beleidigen Sie mich nicht! Wir sind dagewesen. Wir sind hingefahren.«

»Na, was soll denn so ein ungebildeter Mensch in Paris?«

»Wir sind dagewesen. Ich und Karp Wassiljewitsch, wir haben da Aufsehen erregt. Kennen Sie Karp Wassiljewitsch?«

»Wie werde ich denn deinen Karp Wassiljewitsch kennen?«

»Ich meinte nur... Wir beide, er und ich, haben da in Paris bei Madam Joubert einen englischen Trüma zerbrochen.«

»Was habt ihr zerbrochen?« »Einen Trüma. Das war ein Trüma, der ging über die ganze Wand bis an die Decke; und Karp Wassiljewitsch war so betrunken, daß er schon mit Madam Joubert russisch sprach. Er stand da bei dem Trüma und lehnte sich mit dem Ellbogen dagegen. Die Joubert aber schrie ihm zu, das heißt, in ihrer Sprache: ›Der Trüma kostet siebenhundert Franc, wenn du ihn zerbrichst!‹ (Ein Franc, das ist nach unserem Geld ein Viertelrubel.) Er lächelte und sah mich an; ich saß gegenüber auf dem Sofa und eine schöne Dame neben mir; nicht so eine Fratze wie diese hier, sondern mit Schück, kurz gesagt. Er schreit: ›Stepan Terentjewitsch, Stepan Terentjewitsch! Soll es halbpart gelten, wie?‹ Ich sage: ›Es gilt!‹ Da schlägt er mit der Faust gegen den Trüma − klirr! Die Scherben polterten nur so. Die Joubert kreischte auf und fuhr ihm ordentlich ins Gesicht: ›Du Räuber, was fällt dir ein?‹ (Das heißt, sie sagte das in ihrer Sprache.) Aber er antwortete ihr: ›Nehmen Sie Ihr Geld, Madam Joubert; aber stören Sie mir nicht mein Vergnügen!‹ und gab ihr sofort sechshundertfünfzig Franc. Fünfzig handelte er ihr ab.«

In diesem Augenblick erscholl ein furchtbarer, durchdringender Schrei durch mehrere Türen hindurch, zwei oder drei Zimmer entfernt von dem, in welchem wir uns befanden. Ich fuhr zusammen und schrie ebenfalls auf. Ich erkannte diesen Schrei: es war Jelenas Stimme. Sogleich nach diesem kläglichen Schrei ertönten andere Schreie, Schimpfworte, Lärm und zuletzt deutliche, schallende Schläge mit der flachen Hand auf ein Gesicht. Das war wahrscheinlich Mitrofans Tätigkeit in seinem Departement. Plötzlich wurde die Tür heftig aufgerissen, und Jelena stürzte ins Zimmer: blaß, die Augen voll Tränen, in einem weißen Musselinkleid, das völlig zerknittert und zerrissen war, mit gekämmtem, aber wie infolge eines Kampfes zerzaustem Haar. Ich stand der Tür gegenüber, und sie stürzte gerade auf mich los und umschlang mich mit ihren Armen. Alle sprangen erschrocken auf, schrien und kreischten bei ihrem Anblick. Hinter ihr erschien in der Tür Mitrofan, der seinen übel zugerichteten, dickbäuchigen Gegner an den Haaren schleppte. Er zerrte ihn bis zur Schwelle und warf ihn zu uns ins Zimmer.

»Da habt ihr ihn! Nehmt ihn hin!« rief Mitrofan mit sehr zufriedener Miene.

»Höre«, sagte Masslobojew, indem er ruhig an mich herantrat und mir auf die Schulter klopfte, »nimm unsere Droschke und fahre mit dem Mädchen zu deiner Wohnung; hier hast du nichts weiter zu tun. Morgen werden wir auch das übrige erledigen.«

Ich ließ mir das nicht zum zweiten Male sagen, sondern nahm Jelena bei der Hand und führte sie aus dieser Lasterhöhle hinaus. Wie die Sache in diesem Haus endete, weiß ich nicht. Uns beide hielt niemand auf: die Wirtin war vom Schrecken wie gelähmt. Alles hatte sich so schnell abgespielt, daß sie nichts hatte hindern können. Die Droschke hatte auf uns gewartet, und zwanzig Minuten darauf war ich schon in meiner Wohnung.

Jelena war halbtot. Ich öffnete die Haken an ihrem Kleid, bespritzte ihr Gesicht mit Wasser und legte sie auf das Sofa. Sie begann zu fiebern und irrezureden. Ich betrachtete ihr blasses Gesichtchen, die farblosen Lippen, das schwarze zerzauste Haar, das aber vorher sorgfältig gekämmt und pomadisiert gewesen war, ihren ganzen Anzug, diese rosa Schleifen, die noch hier und da am Kleid saßen − und verstand den ganzen abscheulichen Hergang. Das arme Kind! Ihr Zustand wurde immer schlimmer. Ich wich nicht von ihrer Seite und nahm mir vor, an diesem Abend nicht zu Natascha zu gehen. Manchmal schlug Jelena ihre langen Wimpern auf und blickte mich lange unverwandt an, als ob sie mich erkenne. Erst spät, nach Mitternacht, schlief sie ein. Ich schlief neben ihr auf dem Fußboden.

Achtes Kapitel

Ich stand sehr früh auf. Die ganze Nacht über war ich fast jede halbe Stunde aufgewacht, zu meiner armen Kranken herangetreten und hatte sie aufmerksam betrachtet. Sie hatte Fieber und phantasierte ein wenig. Aber gegen Morgen schlief sie fest ein. ›Das ist ein gutes Zeichen‹, dachte ich, beschloß aber, als ich am Morgen aufwachte, möglichst schnell, solange das arme Kind noch schlief, zum Arzt zu laufen. Ich kannte einen Arzt, einen alten, gutherzigen Junggesellen, der seit undenklicher Zeit mit seiner deutschen Haushälterin zusammen auf der Wladimirskaja wohnte. Er versprach, um zehn Uhr zu mir zu kommen. Als ich bei ihm war, war es acht. Ich hatte die größte Lust, im Vorbeigehen bei Masslobojew vorzusprechen; aber ich gab diesen Gedanken auf: er schlief gewiß noch von gestern her, und außerdem konnte Jelena aufwachen und sich vielleicht in meiner Abwesenheit ängstigen, wenn sie sich in meiner Wohnung sah. In ihrem krankhaften Zustand konnte sie vergessen haben, wie, wann und auf welche Weise sie zu mir gekommen war.

Sie erwachte gerade in dem Augenblick, als ich ins Zimmer trat. Ich ging zu ihr hin und fragte vorsichtig, wie sie sich befinde. Sie antwortete nicht, sondern sah mich lange und unverwandt mit ihren ausdrucksvollen schwarzen Augen an. Nach ihrem Blick schien es mir, daß sie alles erkenne und bei vollem Bewußtsein sei. Daß sie mir nicht antwortete, beruhte vielleicht auf ihrer dauernden Gewohnheit. Auch gestern und vorgestern hatte sie mir auf manche meiner Fragen nicht eine Silbe erwidert, sondern mir nur mit ihrem langen, starren Blick in die Augen gesehen, mit diesem Blick, in welchem außer Erstaunen und scheuer Neugier auch noch eine seltsame Art von Stolz gelegen hatte. Jetzt aber bemerkte ich in ihrem Blick etwas Finsteres und sogar ein gewisses Mißtrauen. Ich wollte ihr die Hand auf die Stirn legen, um zu fühlen, ob sie Fieber habe; aber sie schob meine Hand mit ihrem kleinen Händchen schweigend und sacht zurück und wendete sich mit dem Gesicht von mir ab, der Wand zu. Ich ging fort, um sie nicht weiter aufzuregen.

Ich besaß einen großen kupfernen Teekessel. Diesen benutzte ich schon seit längerer Zeit als Samowar und machte in ihm Wasser heiß. Holz hatte ich; das hatte mir der Hausknecht gleich für fünf Tage mit einem Male heraufgebracht. Auf dem Tisch stellte ich mein Teegeschirr zurecht. Jelena wandte sich zu mir und sah alles neugierig mit an. Ich fragte sie, ob sie etwas wünsche; aber sie wandte sich wieder von mir weg und gab keine Antwort.

»Ob sie mir aus irgendeinem Grund böse ist?« dachte ich. »Ein seltsames Mädchen!«

Mein alter Arzt kam, wie er gesagt hatte, um zehn Uhr. Er untersuchte die Kranke mit deutscher Gründlichkeit und beruhigte mich sehr durch seine Äußerung, es liege zwar ein fieberhafter Zustand vor, jedoch sei keine besondere Gefahr vorhanden. Er fügte hinzu, sie müsse eine andere, chronische Krankheit haben, so etwas wie unregelmäßige Herztätigkeit; aber dieser Punkt werde besondere Beobachtung erfordern; zur Zeit sei sie außer Gefahr. Er verschrieb ihr eine Mixtur und irgendein Pulver, mehr gewohnheitsmäßig, als weil es nötig gewesen wäre, und begann dann sogleich, mich auszufragen: auf welche Weise sie zu mir gekommen sei. Gleichzeitig sah er sich erstaunt in meiner Wohnung um. Dieser alte Herr war außerordentlich gesprächig.

Über Jelena war er erstaunt; sie hatte ihm ihre Hand entrissen, als er ihr den Puls fühlen wollte, hatte ihm nicht die Zunge zeigen wollen, auf alle seine Fragen keine Silbe geantwortet, sondern die ganze Zeit über nur unverwandt nach dem großen Stanislausorden gesehen, den er am Hals hängen hatte.

»Sie hat gewiß starke Kopfschmerzen«, bemerkte der Alte; »aber was hat sie für einen Blick, was hat sie für einen Blick!«

Ich hielt es nicht für nötig, ihm über Jelena viel zu erzählen, und machte mich durch die Bemerkung los, das sei eine lange Geschichte.

»Lassen Sie es mich wissen, wenn ich nötig sein sollte«, sagte er beim Weggehen. »Augenblicklich ist keine Gefahr.«

Ich beschloß, den ganzen Tag bei Jelena zu bleiben und sie bis zur völligen Wiederherstellung möglichst selten allein zu lassen. Aber da ich wußte, daß Natascha und Anna Andrejewna sich ängstigen würden, wenn sie mich vergebens erwarteten, so wollte ich wenigstens Natascha brieflich durch die Stadtpost benachrichtigen, daß ich heute nicht zu ihr kommen würde. An Anna Andrejewna dagegen durfte ich nicht schreiben. Sie hatte, als ich ihr einmal während Nataschas Krankheit Nachricht gesandt hatte, mich ein für allemal gebeten, ihr keine Briefe zu schicken. »Der Alte«, sagte sie, »macht ein finsteres Gesicht, wenn er einen Brief von dir sieht; er möchte gern wissen, was drinsteht, der gute Mann, mag aber nicht danach fragen. Dann ist er den ganzen Tag verdrießlich. Außerdem, lieber Freund, ist ein Brief von dir für mich nur eine zwecklose Aufregung. Was habe ich von zehn Zeilen? Ich möchte dann nach allen Einzelheiten fragen, und du bist dann nicht hier.« Darum schrieb ich nur an Natascha und steckte, als ich das Rezept in die Apotheke trug, den Brief gleich in den Kasten.

Inzwischen war Jelena wieder eingeschlafen. Im Schlaf stöhnte sie leise und zuckte zusammen. Mitunter schrie sie leicht auf und erwachte. Dann sah sie mich ordentlich ärgerlich an, wie wenn ihr die Aufmerksamkeit, die ich ihr zuwandte, besonders peinlich wäre. Ich muß gestehen, daß mir das sehr schmerzlich war.

Um elf Uhr kam Masslobojew. Er war mit ernsten Gedanken beschäftigt und anscheinend zerstreut; er war nur auf einen Augenblick gekommen und hatte es sehr eilig, irgendwo anders hinzugehen.

»Na, lieber Freund«, sagte er, sich umblickend, »daß du nicht luxuriös wohnen würdest, hatte ich erwartet; aber ich hatte wirklich nicht gedacht, daß ich dich in einer solchen Kiste finden würde. Das ist eine Kiste und keine Wohnung. Na, darauf kommt ja freilich im übrigen nicht viel an; aber der Hauptschade ist, daß dich all diese äußeren Sorgen von der Arbeit abhalten. Ich habe daran schon gestern gedacht, als wir zu Frau Bubnowa fuhren. Ich, lieber Freund, gehöre ja nach meinem ganzen Wesen und nach meiner gesellschaftlichen Stellung zu den Leuten, die selbst nichts Gescheites leisten, sondern nur andere dazu ermahnen. Nun höre: ich werde vielleicht morgen oder übermorgen zu dir kommen; komm du aber unter allen Umständen Sonntag vormittag zu mir! Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Angelegenheit dieses Mädchens, wie ich hoffe, ganz ins reine gebracht sein; gleichzeitig will ich dann auch mit dir ein vernünftiges Wort reden, weil für dich etwas Ernstliches getan werden muß. So darfst du nicht weiterleben. Ich habe dir das gestern nur angedeutet; aber jetzt werde ich es dir logisch auseinandersetzen. Ja, und schließlich sage mal: hältst du es denn für eine Unehre, von mir für einige Zeit Geld anzunehmen?«

»Fang keinen Streit an!« unterbrach ich ihn. »Sage mir lieber, welchen Ausgang die Sache da bei euch gestern genommen hat.«

»Nun, den allerbesten; das Ziel ist erreicht, du verstehst? Jetzt aber habe ich keine Zeit. Ich bin nur für einen Augenblick gekommen, um dir mitzuteilen, daß ich keine Zeit habe, mich dir zu widmen; aber beiläufig möchte ich noch fragen: wirst du sie irgendwo unterbringen, oder willst du sie bei dir behalten? Denn das muß überlegt und entschieden werden.«

»Das weiß ich noch nicht bestimmt, und ich muß gestehen, ich hatte auf dich gewartet, um dich um Rat zu fragen. In welcher Stellung könnte ich sie denn bei mir behalten?«

»Was ist da für eine Schwierigkeit? Etwa als Magd...«

»Ich bitte dich nur, leiser zu sprechen. Wenn sie auch krank ist, so ist sie doch vollkommen bei Bewußtsein, und als sie dich erblickte, da bemerkte ich, daß sie zusammenzuckte. Jedenfalls erinnerte sie sich an die gestrigen Erlebnisse...«

Nun erzählte ich ihm von ihrem Charakter und berichtete alles, was ich an ihr wahrgenommen hatte. Meine Mitteilungen erregten Masslobojews Interesse. Ich fügte hinzu, daß ich sie vielleicht in einer mir bekannten Familie unterbringen würde, und erzählte ihm einiges wenige von den alten Ichmenews. Zu meiner Verwunderung kannte er Nataljas Geschichte schon teilweise; auf meine Frage, woher er es wisse, antwortete er:

»Ich habe es so zufällig gehört, schon vor längerer Zeit, anläßlich einer anderen Sache. Ich sagte dir ja schon, daß ich den Fürsten Walkowski kenne. Du tust gut daran, daß du sie zu jenen alten Leuten bringen willst. Sonst stört sie dich hier nur. Noch eins: sie braucht irgendein Ausweispapier. Darüber mache dir keine Sorgen; das nehme ich auf mich. Leb wohl, besuche mich recht oft! Wie ist's? Schläft sie jetzt?«

»Es scheint so«, antwortete ich.

Aber kaum war er hinausgegangen, als Jelena mich sofort zu sich rief.

»Wer war das?« fragte sie. Ihre Stimme zitterte; aber sie sah mich immer noch mit demselben starren und abweisenden Blick an. Anders kann ich mich nicht ausdrücken.

Ich nannte ihr Masslobojews Namen und fügte hinzu, daß es mir nur durch seine Hilfe gelungen sei, sie von Frau Bubnowa loszubekommen, und daß diese vor ihm große Furcht habe. Ihre Wangen überzogen sich augenblicklich mit dunkler Glut, wahrscheinlich infolge der Erinnerungen.

»Und sie wird jetzt nie hierherkommen?« fragte Jelena, indem sie mich forschend anblickte.

Ich beeilte mich, sie zu beruhigen. Sie schwieg und ergriff mit ihren heißen Fingerchen meine Hand, ließ sie aber, wie wenn ihr etwas einfiele, sofort wieder fahren. »Es ist doch nicht möglich, daß sie gegen mich wirklich eine solche Abneigung empfinden sollte‹, dachte ich. ›Das ist eben ihre Manier so, oder... oder das arme Kind hat soviel Leid erfahren, daß sie zu niemandem mehr auf der Welt Vertrauen hat.‹

Zur bestimmten Stunde ging ich, um die Arznei abzuholen, und gleichzeitig in ein mir bekanntes Restaurant, wo ich manchmal zu Mittag aß und Kredit hatte. Diesmal hatte ich, als ich das Haus verließ, eine Menage mitgenommen und ließ mir in dem Restaurant eine Portion Hühnersuppe für Jelena geben. Aber sie wollte nichts essen, und so stellte ich denn die Suppe vorläufig auf den Ofen.

Nachdem ich ihr die Arznei gereicht hatte, setzte ich mich an meine Arbeit. Ich glaubte, sie schliefe; aber als ich zufällig zu ihr hinblickte, sah ich, daß sie den Kopf in die Höhe gehoben hatte und aufmerksam verfolgte, wie ich schrieb. Ich tat, als ob ich es nicht bemerkte.

Endlich schlief sie wirklich ein, und zwar zu meiner Freude ruhig, ohne Irrereden und ohne Stöhnen. Ich wurde in meinem Entschluß wankend; ich sagte mir, Natascha, die nicht wisse, um was es sich handle, werde mir möglicherweise zürnen, wenn ich heute nicht zu ihr käme, ja sie werde sich sogar bestimmt gekränkt fühlen durch meinen Mangel an Aufmerksamkeit gerade in einer Zeit, wo ich ihr vielleicht am allernötigsten sei. Es könne sehr leicht sein, daß ihr jetzt irgendwelche Sorge und Mühe erwachse und sie mir einen Auftrag zu geben habe, und dann sei ich gerade in einem solchen Augenblick nicht da.

Was Anna Andrejewna anlangte, so wußte ich schlechterdings nicht, wie ich mich am folgenden Tag ihr gegenüber rechtfertigen sollte. Ich überlegte lange und entschloß mich endlich, sowohl hierhin als auch dorthin zu laufen. Meine ganze Abwesenheit brauchte nur zwei Stunden zu dauern. Jelena, meinte ich, schlafe und werde es nicht hören, wenn ich fortginge. Ich sprang auf, zog mir den Mantel an und nahm meinen Hut; aber als ich eben hinausgehen wollte, rief mich Jelena auf einmal an. Ich war erstaunt: hatte sie sich wirklich nur so gestellt, als ob sie schliefe?

Beiläufig bemerke ich: obgleich Jelena so tat, als möge sie nicht mit mir reden, so bewies dieses ziemlich häufige Anrufen, dieses Bedürfnis, sich mit all ihren Zweifeln und Sorgen an mich zu wenden, doch das Gegenteil, und ich muß gestehen, daß mir dies sogar angenehm war.

»Wo wollen Sie mich hingeben?« fragte sie, als ich zu ihr trat.

Sie pflegte ihre Fragen überhaupt plötzlich, und wenn ich es ganz und gar nicht erwartete, zu stellen. Im vorliegenden Fall verstand ich sie nicht einmal sofort.

»Sie sagten vorhin zu Ihrem Bekannten, Sie wollten mich zu einer Ihnen bekannten Familie geben. Aber ich will nirgends hin.«

Ich beugte mich zu ihr hinab. Sie hatte wieder starkes Fieber und machte eine Krisis durch. Ich begann sie zu trösten und zu beruhigen; ich versicherte ihr, wenn sie bei mir bleiben wolle, würde ich sie nirgendshin fortgeben. Während ich das sagte, legte ich Mantel und Hut wieder ab. Sie in einem solchen Zustand allein zu lassen, dazu konnte ich mich nicht entschließen.

»Nein, gehen Sie nur fort!« sagte sie, da sie sogleich erriet, daß ich dableiben wolle. »Ich möchte schlafen; ich werde gleich einschlafen.«

»Aber wirst du auch allein bleiben können?« fragte ich bedenklich. »Ich werde übrigens bestimmt in zwei Stunden zurück sein.«

»Nun, dann gehen Sie doch! Sonst werde ich womöglich ein ganzes Jahr lang krank sein, und Sie könnten dann ein ganzes Jahr lang nicht aus dem Haus gehen.«

Sie machte einen Versuch zu lächeln und sah mich ganz eigentümlich an, wie wenn sie mit einem guten Gefühl ränge, das sich in ihrem Herzen rege. Das arme Kind! Ihr gutes, weiches Herz wurde nach außen hin sichtbar trotz all ihrer Menschenscheu und offenbaren Verbitterung.

Zuerst lief ich zu Anna Andrejewna. Sie wartete auf mich mit fieberhafter Ungeduld und empfing mich mit Vorwürfen; sie befand sich in einer schrecklichen Unruhe: Nikolai Sergejewitsch war gleich nach dem Mittagessen von zu Hause weggegangen, und sie wußte nicht wohin. Ich ahnte, daß die alte Frau sich nicht hatte beherrschen können und ihm nach ihrer Gewohnheit alles ›andeutungsweise‹ erzählt hatte. Übrigens gestand sie es mir beinahe selbst ein, indem sie sagte, sie habe sich nicht enthalten können, ihn an einer so großen Freude teilnehmen zu lassen; aber Nikolai Sergejewitsch sei (dies war ihr eigener Ausdruck) schwarz wie eine Gewitterwolke geworden, habe kein Wort gesagt, immer geschwiegen und nicht einmal auf ihre Fragen geantwortet; nach dem Mittagessen habe er sich auf einmal fertiggemacht und sei davongegangen. Während Anna Andrejewna dies erzählte, zitterte sie vor Angst und bat mich flehentlich, mit ihr zusammen Nikolai Sergejewitschs Rückkehr abzuwarten. Ich entschuldigte mich und sagte ihr beinah in scharfem Ton, ich würde vielleicht auch am folgenden Tag nicht kommen und sei eigentlich jetzt nur hergesprungen, um ihr dies mitzuteilen. Diesmal hätten wir uns fast miteinander gezankt. Sie fing an zu weinen, machte mir heftige, bittere Vorwürfe, und erst als ich schon aus der Tür ging, warf sie sich plötzlich an meine Brust, schlang beide Arme fest um meinen Hals und sagte, ich möchte ihr, ›der armen Verlassenen‹, nicht böse sein und ihr ihre Worte nicht übelnehmen.

Natascha fand ich wider Erwarten allein; merkwürdigerweise schien es mir, als sei sie über mein Kommen diesmal gar nicht so erfreut wie tags zuvor und überhaupt zu anderen Zeiten. Es war, wie wenn ich sie durch irgend etwas ärgerte oder störte. Auf meine Frage, ob Aljoscha heute dagewesen sei, antwortete sie:

»Natürlich ist er dagewesen, aber nicht lange. Er versprach, heute abend herzukommen«, fügte sie wie in tiefen Gedanken hinzu.

»Und ist er gestern abend hiergewesen?« »N-nein. Er wurde aufgehalten«, fügte sie hastig hinzu. »Nun, und du, Wanja? Wie steht es mit deinen Angelegenheiten?«

Ich merkte, daß sie aus irgendwelchem Grund unser Gespräch auf einen anderen Gegenstand zu leiten wünschte. Ich sah sie aufmerksamer an: sie war sichtlich verstimmt. Als sie aber wahrnahm, daß ich sie scharf anblickte und beobachtete, warf sie mir plötzlich einen schnellen, gewissermaßen zornigen Blick zu, und zwar mit einer solchen Energie, daß ich ihn ordentlich brennen fühlte. ›Sie hat wieder Kummer‹, dachte ich, ›will es mir aber nicht sagen.‹

In Erwiderung auf ihre Frage nach meinen Angelegenheiten erzählte ich ihr ausführlich das ganze Erlebnis mit Jelena. Meine Erzählung interessierte sie sehr; sie war davon sogar ganz ergriffen.

»Mein Gott! Wie hast du nur die Kranke allein lassen können!« rief sie.

Ich setzte ihr auseinander, daß ich heute eigentlich gar nicht hätte zu ihr kommen wollen, aber gedacht hätte, sie würde es mir übelnehmen und bedürfe meiner vielleicht.

»Bedürfen«, sagte sie nachdenklich vor sich hin, »ich bedarf deiner vielleicht, Wanja; aber lassen wir das lieber auf ein andermal! Bist du bei den Unsrigen gewesen?« Ich erzählte es ihr.

»Ja, Gott weiß, wie der Vater jetzt all diese Nachrichten aufnehmen wird. Übrigens ist eigentlich nicht viel aufzunehmen...«

»Wie kannst du so sprechen?« rief ich. »Ein so gewaltiger Umschwung!«

»Nun ja... Wohin mag er wohl wieder gegangen sein? Das vorige Mal glaubtet ihr, er wäre zu mir unterwegs gewesen. Weißt du, Wanja, wenn es dir möglich ist, so komm doch morgen zu mir! Vielleicht werde ich dir etwas mitteilen... Es ist mir nur peinlich, dich zu belästigen. Jetzt aber solltest du nach Hause gehen zu deinem Gast. Es sind gewiß schon zwei Stunden, daß du von zu Hause weggegangen bist?« »Das ist richtig. Leb wohl, Natascha! Nun, wie war denn Aljoscha heute zu dir?«

»Aljoscha? Es ist nichts Besonderes zu sagen... Ich wundere mich sogar über deine Neugier.«

»Auf Wiedersehen, liebe Freundin!«

»Leb wohl!«

Sie reichte mir in einer lässigen Weise die Hand und wendete sich von meinem letzten Abschiedsblick weg. Ich verließ sie einigermaßen erstaunt. ›Aber‹, dachte ich, ›sie hat auch allen Grund, nachdenklich zu sein. Es handelt sich um keine Kleinigkeit. Morgen wird sie mir unaufgefordert alles erzählen.‹

In trüber Stimmung kehrte ich nach Hause zurück und bekam, sowie ich in die Tür trat, einen argen Schreck. Es war schon dunkel. Aber ich konnte erkennen, daß Jelena auf dem Sofa saß und wie in tiefem Nachdenken den Kopf auf die Brust herabhängen ließ. Zu mir sah sie gar nicht hin, wie wenn sie ihre ganze Umgebung vergessen hätte. Ich trat an sie heran; sie flüsterte etwas vor sich hin. ›Ob sie wieder phantasiert?‹ dachte ich.

»Jelena, liebes Kind, was ist dir?« fragte ich, indem ich mich neben sie setzte und ihre Hand ergriff.

»Ich will von hier weg... Ich will lieber zu ihr gehen«, antwortete sie, ohne den Kopf zu heben und mich anzusehen.

»Wohin? Zu wem?« fragte ich erstaunt.

»Zu ihr, zu Frau Bubnowa. Sie sagt immer, ich sei ihr viel Geld schuldig; sie habe Mama auf ihre Kosten beerdigt... Ich will nicht, daß sie auf Mama schimpft... Ich will bei ihr arbeiten und die ganze Schuld abarbeiten... Dann werde ich von selbst wieder von ihr weggehen. Aber jetzt werde ich wieder zu ihr gehen.«

»Beruhige dich, Jelena; zu ihr kannst du nicht«, sagte ich. »Sie würde dich zu Tode quälen, dich zugrunde richten...«

»Mag sie mich zugrunde richten, mag sie mich quälen!« rief Jelena heftig. »Ich bin nicht die erste; andere Mädchen, die besser sind als ich, haben es auch schlecht. Das hat mir eine Bettlerin auf der Straße gesagt. Ich bin arm und will arm sein. Mein ganzes Leben lang werde ich arm sein; das hat mir meine Mutter auf dem Sterbebett befohlen. Ich werde arbeiten... Ich will dieses Kleid nicht tragen...«

»Ich werde dir gleich morgen ein anderes kaufen. Auch deine Bücher werde ich dir bringen. Du sollst bei mir wohnenbleiben. Ich werde dich zu niemand hingeben, wenn du es nicht selbst wünschst; beruhige dich...«

»Ich will mich als Magd vermieten.«

»Gut, gut! Nur beruhige dich, leg dich hin und schlafe!« Aber das arme Kind begann heftig zu weinen. Das Weinen ging allmählich in ein Schluchzen über. Ich wußte nicht, was ich mit ihr anfangen sollte; ich gab ihr Wasser zu trinken und befeuchtete ihr die Schläfen und den Kopf. Endlich sank sie völlig erschöpft auf das Sofa zurück und bekam wieder Fieberschauer. Ich hüllte sie ein mit dem, was ich zur Hand hatte, und sie schlief ein, aber unruhig; alle Augenblicke fuhr sie zusammen und wachte auf. Obgleich ich an diesem Tag nicht viel gegangen war, war ich doch furchtbar müde und beschloß, mich selbst möglichst früh hinzulegen. Quälende Sorgen wühlten in meinem Kopf umher. Ich ahnte, daß ich mit diesem Mädchen viel Mühe haben würde. Aber die größte Sorge machten mir Natascha und ihre Angelegenheiten. Überhaupt habe ich, wie ich mich jetzt erinnere, mich selten in so gedrückter Stimmung befunden wie an diesem unglücklichen Abend.

Neuntes Kapitel

Ich erwachte erst spät, gegen zehn Uhr vormittags, und fühlte mich krank. Ich hatte Schwindel und Kopfschmerz. Ich blickte auf Jelenas Bett: das Bett war leer. Gleichzeitig drang aus meinem rechts gelegenen Zimmerchen ein Geräusch zu mir, als ob jemand mit einem Besen den Fußboden fege. Ich ging hin, um nachzusehen. Jelena hatte einen Besen in der Hand und fegte aus; mit der anderen Hand hielt sie ihr feines Kleid in die Höhe, das sie seit jenem Abend noch nicht ausgezogen hatte. Das zum Heizen des Ofens heraufgebrachte Holz war in einer Ecke aufgeschichtet, der Tisch abgerieben, der Teekessel gereinigt; kurz, Jelena wirtschaftete.

»Höre einmal, Jelena«, rief ich, »wer hat dich denn geheißen, den Fußboden zu fegen? Ich will das nicht; du bist krank; bist du etwa als Magd zu mir gekommen?«

»Wer soll denn sonst hier ausfegen?« erwiderte sie, sich aufrichtend und mich gerade anblickend. »Ich bin jetzt nicht mehr krank.«

»Aber ich habe dich nicht zur Arbeit hergenommen, Jelena. Du scheinst zu fürchten, ich würde dir Vorwürfe machen wie Frau Bubnowa, wenn du unentgeltlich bei mir wohnst? Und wo hast du diesen häßlichen Besen her? Ich habe keinen Besen gehabt«, fügte ich, sie erstaunt anblickend, hinzu.

»Das ist mein Besen. Ich habe ihn selbst hergebracht. Ich habe auch bei dem Großvater hier ausgefegt. Der Besen hat seitdem hier unter dem Ofen gelegen.«

Nachdenklich kehrte ich in das andere Zimmer zurück. Vielleicht irrte ich mich; aber ich hatte doch das Gefühl, daß ihr meine Gastfreundschaft peinlich war und sie mir auf jede Weise zeigen wollte, daß sie bei mir nicht unentgeltlich wohne. ›Wenn dem so ist‹, dachte ich, ›was ist das dann für ein eigensinniger Charakter?‹ Ein paar Minuten darauf kam sie ebenfalls herein, setzte sich schweigend auf ihren gestrigen Platz auf dem Sofa und sah mich fragend an. Ich hatte unterdessen im Teekessel Wasser heiß gemacht und Tee bereitet, goß ihr eine Tasse ein und reichte sie ihr mit einem Stück Weißbrot. Sie nahm beides schweigend und widerspruchslos hin. Volle vierundzwanzig Stunden lang hatte sie fast nichts gegessen.

»Da hast du auch dein schönes Kleid mit dem Besen beschmutzt«, sagte ich, da ich am Saum ihres Rockes einen großen Schmutzfleck bemerkte. Sie blickte hin, stellte dann auf einmal zu meinem größten Erstaunen die Tasse auf den Tisch, faßte, anscheinend kaltblütig und ruhig, eine Musselinbahn ihres Rockes und riß sie mit einem Zug von oben bis unten entzwei. Nachdem sie das getan hatte, schaute sie auf und blickte mich trotzig mit funkelnden Augen an. Ihr Gesicht war blaß.

»Was tust du, Jelena?« rief ich, überzeugt, daß ich eine Wahnsinnige vor mir hatte.

»Das ist ein häßliches Kleid«, erwiderte sie, keuchend vor Aufregung. »Warum haben Sie es ein schönes Kleid genannt? Ich will es nicht tragen«, schrie sie plötzlich und sprang von ihrem Platz auf. »Ich werde es zerreißen. Ich habe sie nicht gebeten, mich herauszuputzen. Sie hat das von selbst getan, mit Gewalt. Ich habe schon ein Kleid zerrissen und werde auch dieses zerreißen. Zerreißen werde ich es, zerreißen, zerreißen!...«

Wütend machte sie sich über das unglückliche Kleid her. In einem Augenblick hatte sie es in Stücke zerrissen. Als sie damit fertig war, war sie so blaß, daß sie kaum auf den Füßen stehen konnte. Verwundert stand ich dieser wilden Heftigkeit gegenüber. Sie aber sah mich gewissermaßen herausfordernd an, als ob auch ich mich irgendwie gegen sie vergangen hätte. Aber ich wußte schon, was ich zu tun hatte.

Ich beschloß, ihr unverzüglich, gleich an diesem Vormittag, ein neues Kleid zu kaufen. Auf dieses scheue, verbitterte Wesen mußte man durch Güte wirken. Sie machte den Eindruck, als wäre sie nie mit guten Menschen zusammengekommen. Wenn sie schon einmal trotz der zu erwartenden strengen Strafe ihr erstes derartiges Kleid in Stücke gerissen hatte, mit welcher Wut mußte sie dann jetzt dieses ansehen, durch das sie an die schrecklichen unlängst durchlebten Augenblicke erinnert wurde!

Auf dem Trödelmarkt konnte man ein hübsches, einfaches Kleid sehr billig kaufen. Das Unglück war nur, daß ich in diesem Augenblick fast gar kein Geld besaß. Aber ich hatte mir schon tags zuvor beim Schlafengehen vorgenommen, mich heute an einen Ort zu begeben, wo ich hoffen konnte, welches zu bekommen, und es traf sich gut, daß ich zu diesem Zweck nach derselben Seite gehen mußte, wo der Trödelmarkt lag. Ich griff nach dem Hut. Jelena beobachtete mich unverwandt, wie wenn sie auf etwas wartete.

»Werden Sie mich wieder einschließen?« fragte sie, als ich den Schlüssel nahm, um wie an den beiden vorhergehenden Tagen die Wohnung hinter mir zuzuschließen.

»Liebes Kind«, sagte ich, zu ihr tretend, »nimm mir das nicht übel! Ich schließe deswegen zu, weil jemand kommen könnte. Du aber bist krank und könntest dich womöglich ängstigen. Und es kann ja auch Gott weiß wer kommen; vielleicht gerät Frau Bubnowa auf den Einfall, sich hierherzubegeben...«

Das sagte ich absichtlich zu ihr. In Wirklichkeit schloß ich sie ein, weil ich ihr mißtraute. Ich glaubte, sie könne plötzlich auf den Gedanken kommen, von mir wegzugehen. Ich beschloß, einstweilen möglichst vorsichtig zu sein. Jelena schwieg, und so schloß ich sie denn auch diesmal ein.

Ich kannte einen Verleger, der schon seit mehr als zwei Jahren ein vielbändiges Werk herausgab. Von diesem erhielt ich häufig Arbeit, wenn es mir wünschenswert war, recht bald etwas Geld zu verdienen. Er zahlte pünktlich und anständig. Ich begab mich zu ihm, und es gelang mir, fünfundzwanzig Rubel Vorschuß zu erhalten, mit der Verpflichtung, ihm innerhalb einer Woche einen kompilatorischen Artikel zu liefern. Aber ich hoffte, daneben noch Zeit zur Arbeit an meinem Roman übrigzubehalten. So verfuhr ich oft, wenn ich besonders arg in Not kam.

Nachdem ich das Geld erhalten hatte, begab ich mich auf den Trödelmarkt. Dort fand ich schnell eine mir bekannte alte Frau, die mit allerlei Kleiderkram handelte. Ich gab ihr annähernd Jelenas Größe an, und sie suchte mir im Handumdrehen ein helles, sehr haltbares und erst einmal gewaschenes Kattunkleid zu außerordentlich billigem Preis aus. Auch nahm ich gleich noch ein kleines Halstuch. Während ich bezahlte, überlegte ich, daß Jelena auch einen einfachen Pelz, einen Mantel oder etwas Ähnliches nötig habe. Das Wetter war kalt, und sie besaß absolut nichts Derartiges. Aber ich verschob diesen Einkauf auf ein andermal. Jelena war so empfindlich, so stolz. Gott mochte wissen, wie sie schon dieses Kleid aufnehmen würde, obwohl ich absichtlich das einfachste, schlichteste, gewöhnlichste genommen hatte, das zu finden gewesen war. Indes kaufte ich doch noch zwei Paar baumwollene Strümpfe und ein Paar wollene. Diese konnte ich ihr mit der Begründung geben, sie sei krank und es sei im Zimmer kalt. Auch Wäsche brauchte sie. Aber all dies verschob ich bis auf die Zeit, wo ich mit ihr näher bekannt geworden sein würde. Dafür kaufte ich einen alten Vorhang für das Bett, ein notwendiges Requisit, das ihr, wie ich meinte, Freude machen konnte.

Mit all diesen Sachen kehrte ich erst um ein Uhr mittags nach Hause zurück. Mein Türschloß öffnete sich fast geräuschlos, so daß Jelena nicht sogleich hörte, daß ich zurückgekommen war. Ich bemerkte, daß sie am Tisch stand und meine Bücher und Papiere ansah. Als sie mich hörte, klappte sie schnell ein Buch zu, in dem sie gelesen hatte, und trat, tief errötend, vom Tisch weg. Ich warf einen Blick darauf: es war mein erster Roman, der als gebundenes Buch herausgegeben war und auf dessen Titelblatt mein Name stand.

»Es hat hier in Ihrer Abwesenheit jemand geklopft!« sagte sie in einem Ton, als ob sie, um mich zu necken, sagen wolle: ›Warum hast du auch zugeschlossen?‹

»War es der Arzt?« fragte ich. »Hast du auf das Klopfen geantwortet, Jelena?«

»Nein.«

Ich erwiderte nichts, nahm das Bündel, band es auf und nahm das gekaufte Kleid heraus.

»Hier, liebe Jelena«, sagte ich, indem ich zu ihr trat; »in den Fetzen, die du jetzt anhast, kannst du nicht gehen. Ich habe dir ein ganz gewöhnliches, ganz billiges Kleid gekauft, so daß du dich darüber nicht zu beunruhigen brauchst; es kostet nur einen Rubel und zwanzig Kopeken. Trage es auf deine Gesundheit!«

Ich legte das Kleid neben sie hin. Sie wurde dunkelrot und sah mich eine Weile mit weitgeöffneten Augen an.

Sie war außerordentlich erstaunt und schämte sich zugleich, wie es mir vorkam, über irgend etwas sehr. Aber eine sanfte, zärtliche Empfindung leuchtete in ihren Augen auf. Da ich sah, daß sie schwieg, wandte ich mich von ihr ab zum Tisch hin. Meine Handlungsweise hatte sie offenbar überrascht. Aber sie bezwang sich mit Anstrengung und saß still da, die Augen auf den Fußboden gerichtet.

Mein Kopfschmerz und mein Schwindelgefühl waren immer stärker geworden. Die frische Luft hatte mir nicht den geringsten Nutzen gebracht. Indessen mußte ich zu Natascha gehen. Meine Beunruhigung um sie hatte sich seit dem vorhergehenden Tag nicht vermindert, sondern war im Gegenteil immer mehr gewachsen. Auf einmal war es mir, als ob Jelena mich anriefe. Ich wandte mich zu ihr um.

»Schließen Sie mich nicht ein, wenn Sie fortgehen!« sagte sie, indem sie zur Seite blickte und mit dem Finger an der Kante des Sofabezuges zupfte, wie wenn sie ganz in diese Beschäftigung vertieft wäre. »Ich werde nicht von Ihnen fortgehen.«

»Gut, Jelena, ich bin einverstanden. Aber wenn ein Fremder kommt? Es kann ja Gott weiß wer kommen!«

»Lassen Sie mir doch den Schlüssel hier! Ich werde von innen zuschließen, und wenn jemand klopft, werde ich sagen: ›Es ist niemand zu Hause.‹«

Sie sah mich schelmisch an, wie wenn sie sagen wollte: ›Siehst du, so einfach ist das!‹

»Wer wäscht denn Ihre Wäsche?« fragte sie plötzlich, ehe ich ihr etwas hatte antworten können.

»Es ist hier im Haus eine Frau...«

»Ich kann waschen. Und wo haben Sie gestern das Essen geholt?« »Aus einem Restaurant.«

»Ich kann auch kochen. Ich werde Ihnen das Essen kochen.«

»Rede doch nicht, Jelena; was wirst du denn kochen können? Was du da sagst, hat ja keinen Sinn...«

Jelena schwieg und ließ den Kopf hängen. Augenscheinlich fühlte sie sich durch meine Bemerkung gekränkt. Es vergingen wenigstens zehn Minuten; wir schwiegen beide.

»Suppe«, sagte sie auf einmal, ohne den Kopf in die Höhe zu heben.

»Was meinst du mit Suppe? Was ist mit Suppe?« fragte ich erstaunt.

»Suppe kann ich kochen. Ich habe für Mama welche gekocht, als sie krank war. Ich bin auch auf den Markt gegangen.«

»Siehst du wohl, Jelena, siehst du wohl, wie stolz du bist!« sagte ich, indem ich zu ihr ging und mich neben sie auf das Sofa setzte. »Ich handle dir gegenüber so, wie es mir mein Herz befiehlt. Du stehst jetzt allein da, ohne Angehörige, und bist unglücklich. Ich will dir helfen. Ebenso würdest auch du mir helfen, wenn es mir schlecht ginge. Aber du willst nicht so denken, und es ist dir peinlich, von mir auch nur das geringste Geschenk anzunehmen. Du willst sogleich dafür bezahlen, es abarbeiten, wie wenn ich Frau Bubnowa wäre und dir Vorwürfe machte. Wenn es so ist, mußt du dich schämen, Jelena.«

Sie antwortete nicht; ihre Lippen zuckten. Sie schien mir etwas erwidern zu wollen; aber sie bezwang sich und schwieg. Ich stand auf, um zu Natascha zu gehen. Diesmal ließ ich Jelena den Schlüssel da und bat sie, wenn jemand komme und klopfe, zu antworten und zu fragen, wer da sei. Ich war fest davon überzeugt, daß bei Natascha etwas sehr Schlimmes vorgefallen sei, was sie mir aber vorläufig verheimliche, wie das schon mehrmals zwischen uns vorgekommen war. Jedenfalls nahm ich mir vor, nur für einen Augenblick zu ihr zu gehen, um sie nicht durch meine Aufdringlichkeit aufzubringen.

So war es denn auch. Sie empfing mich wieder mit unzufriedener, finsterer Miene. Ich hätte daraufhin sofort wieder weggehen sollen; aber die Beine wankten unter mir.

»Ich bin nur auf einen Augenblick zu dir gekommen, Natascha«, begann ich, »um dich um Rat zu fragen, was ich mit dem Mädchen, das jetzt bei mir ist, anfangen soll.« Ich erzählte ihr in Kürze alles, was Jelena betraf. Natascha hörte mir schweigend zu.

»Ich weiß nicht, was ich dir raten soll, Wanja«, antwortete sie. »Aus alledem ist zu ersehen, daß sie ein ganz seltsames Wesen ist. Vielleicht ist sie sehr schlecht behandelt und sehr verschüchtert worden. Laß sie wenigstens erst wieder gesund werden! Du willst sie zu den Unsrigen bringen?«

»Sie sagt immer, sie wolle nicht von mir fortgehen, nirgendshin. Und Gott weiß, wie sie da aufgenommen werden würde; ich wenigstens bin mir darüber nicht klar. Nun, und du, liebe Freundin? Wie geht es dir? Du schienst gestern nicht wohl zu sein?« fragte ich schüchtern.

»Ja... und ich habe auch heute Kopfschmerzen«, antwortete sie zerstreut. »Hast du jemand von den Unsrigen gesehen?«

»Nein, ich werde morgen hingehen. Morgen ist ja Sonnabend...«

»Nun, und?«

»Am Abend kommt der Fürst...«

»Nun, und? Ich habe es nicht vergessen.«

»Ich meinte nur so...«

Sie blieb gerade vor mir stehen und sah mir lange unverwandt in die Augen. In ihrem Blick lag eine gewisse Entschlossenheit, eine gewisse Hartnäckigkeit, etwas Aufgeregtes, Fieberhaftes.

»Weißt du was, Wanja«, sagte sie, »sei so gut und verlaß mich jetzt; du störst mich sehr.«

Ich stand von meinem Stuhl auf und sah sie mit unaussprechlichem Erstaunen an.

»Nataschenka! Was ist dir? Was ist geschehen?« rief ich erschrocken.

»Nichts ist geschehen! Morgen wirst du alles, alles erfahren; aber jetzt möchte ich allein sein. Hörst du, Wanja: geh jetzt sogleich fort! Es ist mir peinlich, furchtbar peinlich, dich anzusehen!«

»Aber sage mir wenigstens...«

»Morgen sollst du alles erfahren, alles! O mein Gott! Wirst du denn nicht fortgehen?«

Ich ging. Ich war so bestürzt, daß ich ganz von Sinnen war. Mawra kam mir auf den Flur nachgelaufen.

»Nun? Ist sie ärgerlich?« fragte sie mich. »Ich fürchte mich schon, ihr nahe zu kommen.«

»Aber was hat sie denn eigentlich?«

»Der Grund ist: Unserer hat sich schon seit drei Tagen bei uns nicht blicken lassen.«

»Seit drei Tagen, sagst du?« fragte ich erstaunt. »Aber sie hat mir ja gestern selbst gesagt, er sei vormittags dagewesen und wolle abends wiederkommen...«

»Gestern abend wiederkommen? Bewahre! Auch am Vormittag war er gar nicht da! Ich sage Ihnen, seit drei Tagen haben wir ihn nicht zu sehen bekommen. Hat sie Ihnen gestern wirklich selbst gesagt, er wäre am Vormittag dagewesen?«

»Ja, das hat sie mir selbst gesagt.«

»Nun«, sagte Mawra nachdenklich, »dann muß es ihr sehr nahegehen, wenn sie sogar Ihnen gegenüber es nicht eingestehen mag, daß er nicht dagewesen ist. Na, er ist schon ein netter Patron!«

»Aber was hat denn das zu bedeuten?« rief ich.

»Ja, es ist arg; ich weiß gar nicht mehr, was ich mit ihr anfangen soll«, fuhr Mawra, die Hände zusammenschlagend, fort... »Gestern hat sie mir zweimal befohlen, zu ihm zu gehen, und mich beidemal zurückgerufen, als ich schon unterwegs war. Und heute will sie auch mit mir gar nicht mehr reden. Wenn Sie wenigstens einmal zu ihm gingen! Ich wage schon gar nicht mehr, sie zu verlassen.«

Ganz außer mir lief ich die Treppe hinunter.

»Werden Sie am Abend zu uns kommen?« rief mir Mawra nach.

»Ich will einmal sehen«, antwortete ich, mich umwendend. »Vielleicht werde ich nur bei dir vorbeikommen und fragen, wie die Sache steht. Wenn ich überhaupt selbst noch am Leben sein werde.«

Ich hatte in der Tat eine Empfindung, als ob ich einen tiefen Stich mitten ins Herz bekommen hätte.

Zehntes Kapitel

Ich begab mich geradenwegs zu Aljoscha. Er wohnte bei seinem Vater in der Kleinen Morskaja. Der Fürst hatte eine recht große Wohnung inne, obwohl er allein lebte. Aljoscha hatte in dieser Wohnung zwei schöne Zimmer für sich. Ich kam nur sehr selten zu ihm und war bisher, glaube ich, nur einmal dagewesen. Er dagegen war häufiger bei mir gewesen, besonders anfangs, in der ersten Zeit seiner Verbindung mit Natascha.

Er war nicht zu Hause. Ich ging geradenwegs in seine Zimmer und schrieb ihm folgendes Billett:

»Aljoscha, Sie scheinen den Verstand verloren zu haben. Da Ihr Vater am Dienstagabend Natascha selbst gebeten hat, Ihnen die Ehre zu erweisen, Ihre Frau zu werden, und Sie Ihrerseits über diese Bitte erfreut waren, wovon ich Zeuge war, so werden Sie selbst zugeben müssen, daß Ihr gegenwärtiges Benehmen einigermaßen sonderbar ist. Wissen Sie, was Sie Natascha antun? Jedenfalls wird dieses mein Billett Sie daran erinnern, daß Ihr Verhalten gegen Ihre künftige Frau im höchsten Grad unwürdig und leichtfertig ist. Ich weiß sehr wohl, daß ich keinerlei Recht habe, Ihnen Strafpredigten zu halten; aber darum kümmere ich mich nicht.

P. S. Von diesem Brief weiß sie nichts; sie hat nicht einmal von Ihnen zu mir gesprochen.«

Ich siegelte den Brief und ließ ihn auf seinem Tisch liegen. Der Diener antwortete auf meine Frage, Alexei Petrowitsch sei fast nie zu Hause und werde auch diesmal erst in der Nacht, kurz vor Tagesgrauen, zurückkommen.

Nur mühsam schleppte ich mich nach Hause. Der Kopf war mir schwindlig, die Beine waren mir schwach und zitterten. Die Tür zu meiner Wohnung war nicht verschlossen. Drinnen saß Nikolai Sergejewitsch Ichmenew und wartete auf mich. Er saß schweigend am Tisch und blickte erstaunt Jelena an, die ihn mit nicht geringerem Erstaunen ansah, obgleich sie hartnäckig schwieg. ›Hm‹, dachte ich, ›da muß sie ihm wohl sonderbar vorkommen.‹

»Ich warte schon eine ganze Stunde auf dich, lieber Freund«, sagte er, »und ich muß gestehen, ich hätte nicht erwartet... dich so zu finden«, fuhr er fort, indem er sich im Zimmer umsah und mit kaum merklichem Augenzwinkern auf Jelena hindeutete.

In seinen Augen prägte sich sein Erstaunen aus. Aber als ich ihn näher ansah, bemerkte ich an ihm eine starke Unruhe und Traurigkeit. Sein Gesicht war ungewöhnlich blaß.

»Setz dich hin, setz dich hin!« fuhr er mit sorgenvoller, bekümmerter Miene fort. »Ich bin eilig zu dir gekommen, in einer ernsten Angelegenheit. Aber was ist dir? Du siehst ja ganz entstellt aus!«

»Ich bin nicht wohl. Schon seit heute früh habe ich Schwindel.«

»Na, da nimm dich in acht; so etwas darf man nicht vernachlässigen. Du hast dich wohl erkältet?«

»Nein, es ist einfach ein nervöser Anfall. Das kommt bei mir manchmal vor. Und Sie, befinden Sie sich wohl?«

»Es geht, es geht! So leidlich; ein bißchen Fieberhitze. Ich habe mit dir zu reden. Setz dich hin!«

Ich zog einen Stuhl heran und setzte mich ihm gegenüber. Der alte Mann beugte sich zu mir und begann leise, fast flüsternd:

»Sieh nicht zu ihr hin, hörst du wohl? und tu, als ob wir von etwas anderem sprächen! Was hast du denn da für ein fremdes Mädchen sitzen?«

»Ich werde es Ihnen nachher erklären, Nikolai Sergejewitsch. Es ist ein armes, vater- und mutterloses Mädchen, die Enkelin eben jenes Smith, der hier gewohnt hat und in der Konditorei gestorben ist.«

»Ah, der hat also eine Enkelin gehabt! Na, aber ein wunderliches Ding ist sie, lieber Freund! Wie sie einen ansieht, wie sie einen ansieht! Offen gesagt: wenn du noch fünf Minuten länger ausgeblieben wärst, so hätte ich es nicht mehr ausgehalten, hier zu sitzen. Mit Müh und Not habe ich sie dazu gebracht, mir die Tür aufzuschließen, und seitdem hat sie noch nicht eine Silbe gesagt; es ist einem ordentlich unheimlich, mit ihr zusammen zu sein; sie hat ja gar nichts von einem menschlichen Wesen an sich. Und wie ist sie denn hierhergekommen? Ah, ich verstehe: gewiß hat sie zu ihrem Großvater gewollt und nicht gewußt, daß er gestorben ist?«

»Ja, sie war sehr unglücklich. Der alte Mann hat noch im Sterben von ihr gesprochen.«

»Hm, wie der Großvater, so die Enkelin. Das kannst du mir alles nachher erzählen. Vielleicht kann man ihr auch irgendwie helfen, wenn sie so unglücklich ist... Na, aber kannst du ihr jetzt nicht sagen, lieber Freund, sie möchte weggehen? Denn ich muß mit dir etwas Ernstes besprechen.«

»Sie kann nirgends hingehen. Sie wohnt hier.«

Ich erklärte dies dem Alten, so gut es ging, in ein paar Worten und fügte hinzu, er könne auch in ihrer Gegenwart reden, da sie noch ein Kind sei.

»Nun ja... allerdings, sie ist noch ein Kind. Aber du hast mich wirklich in Erstaunen versetzt, lieber Freund. Sie wohnt hier bei dir? Herr du mein Gott!«

Der Alte sah mich noch einmal höchst verwundert an. Jelena, die merkte, daß von ihr die Rede war, saß schweigend mit gesenktem Kopf da und zupfte mit den Fingern an der Kante des Sofabezuges. Sie hatte bereits das neue Kleid angezogen, das ihr sehr gut paßte. Das Haar hatte sie mit besonderer Sorgfalt glattgekämmt, vielleicht aus Anlaß des neuen Kleides. Überhaupt, hätte sie nicht diesen sonderbar scheuen Blick gehabt, so wäre sie ein recht hübsches Mädchen gewesen.

»Um es kurz und deutlich zu sagen, die Sache ist nämlich die, lieber Freund«, begann der alte Mann wieder, »es ist eine lange Geschichte, eine sehr wichtige Sache...«

Er saß mit gesenktem Kopf da, mit wichtiger, nachdenklicher Miene, vermochte aber, trotzdem er es so eilig hatte und trotz seines ›kurz und deutlich‹ nicht die richtigen Worte für den Anfang seiner Mitteilung zu finden. ›Was wird da nur herauskommen ?‹ dachte ich.

»Siehst du, Wanja, ich bin mit einer sehr großen Bitte zu dir gekommen. Aber vorher... wie ich mir jetzt selbst sage, muß ich dir gewisse Umstände auseinandersetzen, sehr heikle Umstände.«

Er räusperte sich und streifte mich mit einem Blick; darauf errötete er; dann ärgerte er sich über seine eigene Ungeschicklichkeit, und schließlich faßte er einen energischen Entschluß:

»Na, was ist da erst noch auseinanderzusetzen! Du wirst es schon von selbst verstehen! Ich will ganz einfach den Fürsten zum Duell fordern und bitte dich, die Sache zu arrangieren und mein Sekundant zu sein.«

Ich sank gegen die Lehne des Stuhles zurück und blickte ihn, ganz außer mir vor Erstaunen, an. »Nun, warum siehst du mich so an? Ich habe ja doch nicht den Verstand verloren.«

»Aber erlauben Sie, Nikolai Sergejewitsch! Was haben Sie denn dabei für einen Grund und was für eine Absicht? Und schließlich, wie ist es überhaupt möglich?«

»Grund! Absicht!« schrie der Alte. »Nun, das ist schön!...«

»Gut, gut, ich weiß, was Sie sagen werden; aber was werden Sie denn durch diesen auffälligen Schritt erreichen? Was für einen Nutzen bringt Ihnen das Duell? Ich gestehe, daß ich das nicht verstehe.«

»Das hatte ich mir doch gedacht, daß du nichts verstehen würdest! Nun, höre zu: unser Prozeß ist zu Ende (das heißt, er wird in den nächsten Tagen zu Ende sein; es sind nur noch Förmlichkeiten zu erledigen); ich bin verurteilt. Ich muß an die zehntausend Rubel bezahlen; so lautet das Urteil. Für diese Summe haftet mein Gut Ichmenewka. Folglich ist dieser gemeine Mensch jetzt hinsichtlich seines Geldes gesichert; ich aber werde, wenn ich Ichmenewka hingegeben habe, meine Schuld bezahlt haben und wieder ein freier, selbständiger Mensch sein. Nun kann ich wieder den Kopf erheben. ›Soundso, verehrter Fürst‹, werde ich sagen, ›Sie haben mich zwei Jahre lang beleidigt; Sie haben meinen Namen und die Ehre meiner Familie beschimpft, und ich habe das alles ertragen müssen! Ich konnte Sie bisher nicht zum Zweikampf fordern. Sie würden mir geradezu gesagt haben: ,Ah, du Schlaukopf, du willst mich töten, damit du mir nicht das Geld zu bezahlen brauchst, zu dessen Bezahlung an mich du, wie du voraussiehst, früher oder später verurteilt werden wirst! Nein, zuerst wollen wir einmal sehen, wie der Prozeß entschieden werden wird, und dann fordere mich!' Jetzt, verehrter Fürst, ist der Prozeß entschieden; Sie haben Ihre Sicherheit; somit bestehen keine Schwierigkeiten mehr, und darum frage ich Sie, ob es Ihnen nun gefällig ist, an die Barriere zu treten!‹ Darum also handelt es sich. Nun, und da bin ich wohl deiner Ansicht nach nicht berechtigt, schließlich für das alles, für das alles Rache zu nehmen!«

Seine Augen funkelten. Ich blickte ihn lange schweigend an. Ich wollte gern in seine geheimen Gedanken eindringen.

»Hören Sie, Nikolai Sergejewitsch«, erwiderte ich endlich, nachdem ich mich entschlossen hatte, den Hauptpunkt zur Sprache zu bringen, ohne den wir einander nicht hätten verstehen können, »können Sie gegen mich völlig offenherzig sein?«

»Ja, das kann ich«, antwortete er in festem Ton.

»Dann sagen Sie mir aufrichtig: ist es nur der Wunsch, sich zu rächen, der Sie zu dieser Herausforderung treibt, oder haben Sie dabei noch andere Ziele im Auge?«

»Wanja«, antwortete er, »du weißt, daß ich niemandem gestatte, im Gespräch mit mir gewisse Punkte zu berühren; aber diesmal mache ich eine Ausnahme, weil du mit deinem klaren Verstand sogleich erkannt hast, daß es nicht möglich ist, diesen Punkt zu umgehen. Ja, ich habe dabei noch ein anderes Ziel im Auge. Dieses Ziel ist: meine verlorene Tochter zu retten und sie von dem unheilvollen Weg abzulenken, auf den sie durch die letzten Ereignisse getrieben worden ist.«

»Aber wie wollen Sie sie denn durch dieses Duell retten? Das ist die Frage!«

»Indem ich all das verhindere, was dort jetzt geplant wird. Höre: glaube nicht, daß aus mir irgendwelche väterliche Zärtlichkeit oder eine ähnliche Schwäche spricht! Das ist alles dummes Zeug! Mein innerstes Herz zeige ich niemandem. Auch du kennst es nicht. Meine Tochter hat mich verlassen, ist mit ihrem Liebhaber aus meinem Haus davongegangen, und ich habe sie aus meinem Herzen gerissen, ein für allemal, gleich an jenem Abend − erinnerst du dich? Wenn du mich beim Anblick ihres Porträts hast schluchzen sehen, so folgt daraus noch nicht, daß ich den Wunsch hätte, ihr zu verzeihen. Ich habe ihr auch damals nicht verziehen. Ich weinte über ein verlorenes Glück, über ein leeres Traumbild, aber nicht über sie, wie sie jetzt ist. Ich weine vielleicht auch sonst oft; ich schäme mich nicht, das zu bekennen, ebenso wie ich mich nicht schäme zu bekennen, daß ich mein Kind früher mehr als alles in der Welt geliebt habe. All dies steht anscheinend im Widerspruch zu meinem jetzigen auffälligen Schritt. Du kannst mir sagen: ›Wenn dem so ist, wenn Sie gleichgültig gegen das Schicksal derjenigen sind, die Sie nicht mehr für Ihre Tochter halten, warum mischen Sie sich denn dann in das, was jetzt dort geplant wird?‹ Darauf antworte ich: Erstens, weil ich diesen gemeinen, heimtückischen Menschen nicht triumphieren lassen will, und zweitens aus dem Gefühl der allergewöhnlichsten Menschenliebe. Wenn sie auch nicht mehr meine Tochter ist, so ist sie doch ein schwaches, schutzloses, betrogenes Geschöpf, das sie noch mehr betrügen wollen, um sie ganz und gar zugrunde zu richten. Direkt kann ich mich nicht in die Sache einmischen; aber indirekt, durch das Duell, kann ich es. Wenn ich mein Blut vergieße oder getötet werde, wird sie dann über dieses Hindernis, vielleicht über meinen Leichnam, hinwegschreiten und mit dem Sohn meines Mörders zum Traualtar gehen wie jene Königstochter (du erinnerst dich, es war bei uns zu Hause ein Büchelchen, in dem du lesen lerntest), die in ihrer Kutsche über den Leichnam ihres Vaters hinwegfuhr? Und schließlich, wenn es zum Duell kommt, werden der Fürst und sein Sohn die Heirat selbst nicht mehr wollen. Kurz, ich will diese Ehe nicht und wende alle Mittel an, damit sie nicht zustande kommt. Hast du mich jetzt verstanden?«

»Nein. Wenn Sie Natascha Gutes wünschen, wie können Sie es dann darauf anlegen, ihre Ehe zu verhindern, das heißt, gerade das zu verhindern, wodurch ihr guter Name wiederhergestellt werden kann? Sie hat noch lange auf der Welt zu leben; da bedarf sie eines guten Namens.«

»›Was schere ich mich um die Meinung der Welt!‹ so muß sie denken! Sie muß sich bewußt sein, daß die größte Schande für sie in dieser Ehe besteht, gerade in der Verbindung mit diesen gemeinen Menschen, mit dieser jämmerlichen sogenannten vornehmen Welt. Edler Stolz, das muß die Antwort sein, die sie dieser Welt gibt. Dann werde auch ich mich vielleicht bereit finden lassen, ihr meine Hand zu reichen, und dann wollen wir einmal sehen, wer es wagen wird, mein Kind zu beschimpfen!«

Dieser sinnlose Idealismus setzte mich in Erstaunen. Aber ich merkte sofort, daß der alte Mann nicht ganz zurechnungsfähig war, sondern in fieberhafter Erregung sprach.

»Das ist zu ideal gedacht«, antwortete ich ihm, »und infolgedessen grausam. Sie verlangen von ihr eine Kraft, die Sie ihr vielleicht bei der Geburt nicht mitgegeben haben. Und willigt sie denn in diese Ehe etwa deswegen ein, weil sie Fürstin werden möchte? Sie liebt ja; das ist eine Leidenschaft, das ist ein Verhängnis. Und endlich: Sie fordern von ihr, sie solle die Meinung der Welt verachten; aber Sie selbst beugen sich vor dieser Meinung. Der Fürst hat Sie beleidigt, Sie öffentlich verdächtigt, als ob Sie niedrigerweise danach strebten, durch List mit seinem fürstlichen Haus verwandt zu werden, und da spekulieren Sie nun so: wenn Natascha selbst dem Fürsten und seinem Sohn nach deren förmlichem Antrag eine abschlägige Antwort erteilt, so wird das selbstverständlich die vollständigste, deutlichste Widerlegung der früheren Verleumdung sein. Das ist es, was Sie erreichen wollen; Sie beugen sich vor der Meinung des Fürsten selbst; Sie wollen es erreichen, daß er sich seines Irrtums bewußt werde. Es reizt Sie, ihn zu verhöhnen, sich an ihm zu rächen, und diesem Zweck bringen Sie das Glück Ihrer Tochter zum Opfer. Ist das etwa nicht Egoismus?«

Der Alte saß mürrisch und finster da und antwortete lange keine Silbe.

»Du bist ungerecht gegen mich, Wanja«, sagte er endlich, und eine Träne glänzte an seinen Wimpern. »Ich versichere dich, du bist ungerecht; aber lassen wir das! Ich kann nicht mein ganzes Herz vor dir ausschütten«, fuhr er fort, indem er sich erhob und nach seinem Hut griff; »ich will nur eins sagen: du sprachst soeben von dem Glück meiner Tochter. Ich glaube mit aller Entschiedenheit nicht an dieses Glück, ganz abgesehen davon, daß diese Ehe auch ohne mein Eingreifen niemals zustande kommen wird.«

»Wieso! Warum glauben Sie das? Wissen Sie vielleicht irgend etwas?« rief ich gespannt.

»Nein, ich weiß nichts Besonderes. Aber daß dieser verdammte Fuchs sich wirklich dazu sollte entschlossen haben, ist unmöglich. Das sind nur Redensarten, hinterlistige Ränke. Davon bin ich überzeugt; erinnere dich daran, daß ich es vorhergesagt habe! Zweitens, selbst wenn diese Ehe zustande käme (was nur möglich ist, wenn dieser Schurke dabei seine besondere, geheime, niemandem bekannte Spekulation hat und von dieser Ehe für sich einen Nutzen erhofft, eine Spekulation, die ich absolut nicht verstehe), dann überlege selbst und frage dein eigenes Herz: wird sie in dieser Ehe glücklich sein? Sie wird Vorwürfe und Demütigungen zu ertragen haben als Lebensgefährtin eines Jungen, der sich schon jetzt durch ihre Liebe belästigt fühlt und nach der Verheiratung sogleich anfangen wird, sie geringschätzig zu behandeln, sie zu kränken, sie zu erniedrigen; die Leidenschaft wird gleichzeitig auf ihrer Seite in demselben Maß an Kraft zunehmen, in welchem er selbst kühler werden wird; dann folgen Eifersucht, Qualen, ein Höllendasein, Scheidung, vielleicht kommt es sogar zum Verbrechen... Nein, Wanja, wenn ihr das ins Werk setzt und du dazu mithilfst, dann sage ich dir vorher: du wirst dich vor Gott deswegen zu verantworten haben; aber dann wird es zu spät sein! Leb wohl!«

Ich hielt ihn zurück.

»Hören Sie, Nikolai Sergejewitsch«, sagte ich, »machen wir es so: warten wir noch ein Weilchen! Seien Sie überzeugt, daß ich diese Sache nicht nur mit den Augen, sondern auch mit dem Herzen verfolge; und vielleicht wird sie auf die beste Art ganz von selbst ihre Lösung finden, ohne gewaltsame künstliche Mittel, wie zum Beispiel dieses Duell eins sein würde. Am besten überläßt man solche Entscheidungen der Zeit! Gestatten Sie mir aber zuletzt noch die Bemerkung, daß Ihr ganzes Projekt völlig unausführbar ist. Haben Sie denn wirklich auch nur einen Augenblick lang denken können, daß der Fürst Ihre Forderung annehmen wird?«

»Warum soll er sie nicht annehmen? Was redest du da? Komm zu dir!«

»Ich versichere Sie, er wird sie nicht annehmen; seien Sie überzeugt, er wird einen völlig ausreichenden Grund zur Ablehnung finden; er wird die Sache mit pedantischem Ernst behandeln, und Sie werden dabei Hohn und Spott ernten.«

»Aber ich bitte dich, lieber Freund, ich bitte dich! Du versetzt mich durch deine Bemerkung in das äußerste Erstaunen! Wie soll er denn die Forderung ablehnen? Nein, Wanja, du bist eben ein Dichter, ein richtiger Dichter! Was ist denn nach deiner Meinung dabei unpassend, wenn er sich mit mir schlägt? Ich bin nicht schlechter als er. Ich bin ein alter Mann, ein beleidigter Vater, du ein russischer Schriftsteller und daher ebenfalls eine achtbare Persönlichkeit und kannst Sekundant sein und... und... Ich verstehe nicht, was du noch mehr verlangst...«

»Nun, Sie werden ja sehen. Er wird solche Gründe vorbringen, daß Sie selbst der erste sein werden, der einen Zweikampf zwischen ihm und Ihnen für absolut unmöglich hält.«

»Hm!... Nun gut, lieber Freund; machen wir es, wie du gesagt hast! Ich werde warten, natürlich nur bis zu einem gewissen Zeitpunkt. Wir wollen sehen, welche Wirkung die Zeit ausüben wird. Aber höre, mein Freund: gib mir dein Ehrenwort, daß du weder dort noch zu Anna Andrejewna etwas von unserem Gespräch sagen wirst!«

»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort.«

»Zweitens, Wanja, tu mir den Gefallen und fang nie mehr mit mir von dieser Sache zu reden an!« »Gut, ich gebe mein Wort.«

»Und endlich noch eine Bitte: ich weiß, mein Lieber, es ist dir vielleicht bei uns langweilig; aber komm recht oft zu uns, wenn du irgend kannst! Meine arme Anna Andrejewna hat dich so gern, und... und... sie langweilt sich so ohne dich... du verstehst, Wanja?«

Ich drückte ihm kräftig die Hand. Ich versprach es ihm von ganzem Herzen.

»Und jetzt noch eine letzte, delikate Angelegenheit, Wanja: hast du Geld?«

»Geld?« wiederholte ich erstaunt. »Ja.« (Der alte Mann errötete und schlug die Augen nieder.) »Ich sehe so deine Wohnung, lieber Freund... und deine Verhältnisse... und da ich glaube, daß du vielleicht noch andere, besondere Ausgaben haben wirst (und gerade jetzt kann das vorkommen), so... hier, lieber Freund, sind hundertfünfzig Rubel für den ersten Bedarf...«

»Hundertfünfzig Rubel, und noch dazu für den ersten Bedarf, wo Sie doch selbst Ihren Prozeß verloren haben!«

»Wanja, wie ich sehe, verstehst du mich gar nicht! Du wirst vielleicht besondere Ausgaben haben; versteh das doch! In manchen Fällen verhilft Geld zu unabhängiger Lage und ermöglicht unabhängige Entschlüsse. Vielleicht brauchst du es augenblicklich nicht; aber kannst du wissen, ob du es nicht in Zukunft brauchen wirst? Jedenfalls möchte ich dir das Geld hierlassen. Es ist alles, was ich habe zusammenbringen können. Wenn du es nicht ausgibst, kannst du es mir ja nachher zurückgeben. Jetzt aber adieu! Mein Gott, wie blaß du aussiehst! Du bist ja ganz krank...«

Ich machte keine Einwendungen und nahm das Geld hin. Es war sehr klar, wozu er es mir übergab.

»Ich kann mich kaum auf den Beinen halten«, antwortete ich ihm.

»Vernachlässige deine Krankheit nicht, Wanjuscha, vernachlässige sie nicht! Geh heute nicht aus! Ich werde meiner Frau sagen, in welchem Zustand du dich befindest. Hast du nicht einen Arzt nötig? Morgen werde ich dich wieder besuchen; wenigstens werde ich mich aus allen Kräften bemühen, es zu tun, wenn ich nur selbst meine Beine schleppen kann. Aber jetzt solltest du dich hinlegen... Nun, adieu! Adieu, Kleine! Sie hat sich weggewendet! Hör mal, lieber Freund: da sind noch fünf Rubel; die sind für das kleine Mädchen. Sag ihr aber nicht, daß ich das gegeben habe, sondern verwende es so stillschweigend für sie, na, zu Schuhen, zu Wäsche... was braucht so ein Kind nicht alles! Adieu, mein Freund...« Ich begleitete ihn bis zur Haustür. Ich mußte den Hausknecht bitten, Essen zu holen. Jelena hatte noch nichts zu Mittag gegessen.

Elftes Kapitel

Aber kaum war ich in meine Wohnung zurückgekehrt, als mich ein Schwindel überkam und ich mitten im Zimmer hinfiel. Ich erinnere mich nur noch, daß Jelena aufschrie; sie schlug die Hände zusammen und stürzte zu mir hin, um mich zu halten. Das war der letzte Augenblick, der in meinem Gedächtnis haftete...

Als ich wieder einigermaßen zur Besinnung kam, lag ich im Bett. Jelena erzählte mir später, sie habe mit dem Hausknecht zusammen, der das Essen brachte, mich auf das Sofa gelegt. Mehrmals wachte ich auf und erblickte jedesmal das sich über mich beugende, mitleidige, sorgenvolle Gesichtchen Jelenas. Aber an all das erinnere ich mich nur wie in einem Dämmerzustand, wie in einem Nebel, und die liebliche Gestalt des armen Mädchens huschte in den lichten Augenblicken an mir vorbei wie eine Vision, wie ein Zauberbildchen; Jelena brachte mir zu trinken, machte es mir auf dem Bett bequem oder saß traurig und ängstlich vor mir und strich mir mit ihren Fingerchen das Haar glatt. Ich erinnere mich auch, daß sie mir einmal einen leisen Kuß auf das Gesicht drückte. Ein andermal, als ich plötzlich in der Nacht zum Bewußtsein gelangte, sah ich beim Schein der schon stark heruntergebrannten Kerze, die vor mir auf einem an das Sofa herangerückten Tischchen stand, daß Jelena mit dem Gesicht auf meinem Kissen lag und mit einem Ausdruck von Angst schlief; die blassen Lippen waren halbgeöffnet, die eine heiße Wange lag in der Handfläche. Aber vollständig zu mir kam ich erst frühmorgens. Die Kerze war ganz heruntergebrannt; die hellen, rosigen Strahlen der beginnenden Morgenröte spielten schon an der Wand. Jelena saß auf einem Stuhl am Tisch; sie hatte ihr müdes Köpfchen auf den linken Arm gelegt, der auf dem Tisch lag, und schlief fest; ich konnte mich gar nicht satt sehen an ihrem Kindergesichtchen: auch im Schlaf zeigte es einen nicht mehr kindlichen Ausdruck von Traurigkeit und eine seltsame, schmerzlich anmutende Schönheit; es war blaß, von pechschwarzem Haar umrahmt, das dicht und schwer in einem nachlässig gebundenen Knoten seitwärts herunterfiel; die langen Wimpern lagen auf den mageren Wangen. Ihr anderer Arm lag auf meinem Kissen. Ich küßte ganz leise dieses magere Händchen; aber das arme Kind erwachte nicht; es schien nur ein Lächeln über ihre blassen Lippen zu gleiten. Ich blickte sie unverwandt an und versank unvermerkt in einen ruhigen, heilsamen Schlaf. Diesmal erwachte ich erst kurz vor zwölf Uhr. Nach dem Aufwachen fühlte ich mich fast ganz genesen. Nur eine Schwäche und Schwere in allen Gliedern zeugte von der soeben überstandenen Krankheit. Ähnliche schnell vorübergehende Nervenanfälle waren bei mir auch schon früher vorgekommen; ich kannte sie gut. Die Krankheit ging gewöhnlich in der Zeit von vierundzwanzig Stunden fast vollständig vorüber, was sie übrigens nicht hinderte, innerhalb dieser Zeit recht stark und unangenehm zu wirken.

Es war schon beinahe zwölf Uhr. Das erste, was ich sah, war der gestern von mir gekaufte Vorhang, der in der Ecke an einer Schnur aufgehängt war. Das hatte sich Jelena zurechtgemacht und sich so im Zimmer ein besonderes Winkelchen geschaffen. Sie saß vor dem Ofen und kochte Tee. Als sie bemerkte, daß ich erwacht war, lächelte sie heiter und trat sogleich zu mir.

»Liebes Kind«, sagte ich, indem ich sie bei der Hand ergriff, »du hast mich die ganze Nacht behütet. Ich habe gar nicht gewußt, daß du ein so gutes Herz hast.«

»Aber woher wissen Sie, daß ich Sie behütet habe? Vielleicht habe ich die ganze Nacht über geschlafen?« fragte sie, mich mit gutmütiger, verschämter Schelmerei ansehend und gleichzeitig über ihre eigenen Worte verlegen errötend. »Ich bin wiederholt aufgewacht und habe alles gesehen. Du bist erst kurz vor dem Tagwerden eingeschlafen.«

»Wollen Sie Tee?« unterbrach sie mich, wie wenn es ihr peinlich wäre, dieses Gespräch fortzusetzen, wie das bei allen keuschen, streng redlichen Herzen der Fall ist, wenn sie gelobt werden.

»Ja, bitte«, antwortete ich. »Aber hast du gestern zu Mittag gegessen?«

»Nein, aber zu Abend. Der Hausknecht hatte etwas gebracht. Sie sollten übrigens nicht soviel reden, sondern ruhig liegen; Sie sind noch nicht ganz gesund«, fügte sie hinzu, während sie mir den Tee brachte und sich auf mein Bett setzte.

»Ach was, ruhig liegen! Bis zur Dämmerzeit will ich übrigens liegenbleiben; dann aber werde ich ausgehen. Das ist unumgänglich notwendig, liebe Jelena.«

»Ach, wie kann denn das notwendig sein! Zu wem wollen Sie denn gehen? Doch nicht zu dem Herrn, der gestern hier war?«

»Nein, zu dem nicht.«

»Das ist gut, daß Sie nicht zu dem wollen. Der hat Sie gestern sehr aufgeregt. Also gehen Sie wohl zu seiner Tochter?«

»Woher weißt du etwas von seiner Tochter?«

»Ich habe gestern alles gehört«, antwortete sie mit niedergeschlagenen Augen.

Ihr Gesicht verfinsterte sich; die Augenbrauen zogen sich zusammen.

»Er ist ein schlechter alter Mann«, fügte sie dann hinzu.

»Kennst du ihn denn? Im Gegenteil, er ist ein sehr guter Mensch.«

»Nein, nein, er ist ein böser Mensch; ich habe es gehört«, antwortete sie lebhaft.

»Was hast du denn gehört?«

»Er will seiner Tochter nicht verzeihen...«

»Aber er liebt sie. Sie hat sich gegen ihn vergangen, und doch sorgt er für sie und grämt sich um sie.«

»Aber warum verzeiht er ihr nicht? Bei dieser jetzigen Art von Verzeihung würde die Tochter gar nicht einmal wieder zu ihm ziehen.«

»Wieso? Warum?«

»Weil er es nicht verdient, daß seine Tochter ihn liebt«, antwortete sie erregt. »Mag sie für immer von ihm weggehen und lieber betteln, und mag er dann sehen, daß seine Tochter bettelt, und sich grämen!«

Ihre Augen funkelten, ihre Wangen glühten. ›Gewiß redet sie so nicht ohne besonderen Grund‹, dachte ich bei mir.

»Und zu dem wollten Sie mich ins Haus geben?« fügte sie nach kurzem Stillschweigen hinzu.

»Ja, Jelena.«

»Nein, lieber verdinge ich mich als Magd.«

»Ach, wie häßlich ist das alles, was du da redest, liebe Jelena! Und was ist das für Torheit: bei wem kannst du dich verdingen?«

»Bei jedem gewöhnlichen Mann«, antwortete sie ungeduldig; sie ließ den Kopf immer tiefer hängen.

Sie war auffallend heftig.

»Ein gewöhnlicher Mann kann eine solche Magd nicht gebrauchen«, erwiderte ich lächelnd.

»Nun, dann bei einer Herrschaft.«

»Mit deinem Charakter willst du bei einer Herrschaft leben?«

»Gewiß.«

Je mehr sie in Erregung geriet, um so schroffer wurden ihre Antworten.

»Aber du wirst es nicht aushalten.«

»Doch, ich werde es aushalten. Sie werden mich schelten, aber ich werde absichtlich schweigen. Sie werden mich schlagen; aber ich werde immer schweigen, immer schweigen; mögen sie mich schlagen, ich werde um keinen Preis weinen. Sie werden sich krank darüber ärgern, daß ich nicht weine.«

»Was redest du, Jelena! Was steckt in dir für eine Verbitterung; und wie stolz bist du! Du hast gewiß viel Leid erfahren...« Ich stand auf und trat an meinen großen Tisch. Jelena blieb auf dem Sofa sitzen, blickte nachdenklich zu Boden und zupfte mit den Fingern an der Kante des Bezugs. Sie schwieg. »Ob sie mir meine Worte übelgenommen hat?« dachte ich.

Am Tisch stehend, schlug ich mechanisch die Bücher auf, die ich tags zuvor zum Zweck der kompilatorischen Arbeit mitgebracht hatte, und ließ mich allmählich durch die Lektüre fesseln. Es geht mir oft so: ich trete heran, schlage ein Buch für einen Augenblick auf, um etwas nachzusehen, und lese mich so fest, daß ich alles um mich herum vergesse.

»Was schreiben Sie da immer?« fragte Jelena, die leise an den Tisch herankam, mit einem schüchternen Lächeln. »Allerlei, liebe Jelena. Ich bekomme dafür Geld, bezahlt.«

»Eingaben?«

»Nein, Eingaben nicht.«

Ich erklärte ihr, so gut ich konnte, daß ich allerlei Geschichten schriebe, von allerlei Leuten; daraus entständen Bücher, die man Novellen und Romane nenne. Sie hörte mit großer Aufmerksamkeit zu.

»Schreiben Sie da immer nur die Wahrheit?«

»Nein, ich sinne mir etwas aus.«

»Warum schreiben Sie denn die Unwahrheit?«

»Lies doch dieses Buch hier; du hast es ja schon einmal angesehen. Du kannst doch lesen?«

»Ja.«

»Nun, dann wirst du ja selbst sehen. Dieses Buch habe ich geschrieben.«

»Sie? Dann werde ich es lesen...«

Sie hatte die größte Lust, mir noch etwas zu sagen; aber es machte ihr offenbar Schwierigkeiten, und sie befand sich in der größten Aufregung. Hinter ihren Fragen versteckte sich etwas.

»Bekommen Sie viel dafür bezahlt?« fragte sie schließlich.

»Wie es sich trifft. Manchmal viel, manchmal aber auch gar nichts, wenn die Arbeit nicht vom Fleck kommen will. Es ist eine schwere Arbeit; liebe Jelena.«

»Also sind Sie nicht reich?«

»Nein, reich bin ich nicht.«

»Dann werde ich arbeiten und Ihnen helfen.«

Sie blickte schnell zu mir auf, errötete, schlug die Augen nieder, tat zwei Schritte auf mich zu, schlang plötzlich beide Arme um meinen Hals und drückte ihr Köpfchen ganz fest an meine Brust. Ich sah sie erstaunt an.

»Ich habe Sie lieb... ich bin nicht stolz«, sagte sie. »Sie sagten gestern, ich sei stolz. Nein, nein... das bin ich nicht... ich habe Sie lieb. Sie sind der einzige, der mich liebhat...«

Aber die Tränen drohten sie zu ersticken. Einen Augenblick darauf brachen sie aus ihrer Brust mit derselben Gewalt hervor wie tags zuvor bei dem Anfall. Sie fiel vor mir auf die Knie und küßte meine Hände, meine Füße...

»Sie haben mich lieb!...« wiederholte sie; »Sie sind der einzige, der einzige!...«

Krampfhaft hielt sie meine Knie mit ihren Armen umfaßt. Ihr ganzes so lange zurückgehaltenes Gefühl brach auf einmal mit unhemmbarer Gewalt nach außen hindurch, und ich verstand nun diesen seltsamen Trotz eines Herzens, das sich lange Zeit keusch verbirgt, und zwar um so hartnäckiger, um so finsterer, je stärker das Bedürfnis wird, sich auszuschütten, sich ganz auszusprechen, bis zum unvermeidlichen Ausbruch, wo sich dann das ganze Wesen auf einmal bis zur Selbstvergessenheit diesem Bedürfnis der Liebe und Dankbarkeit hingibt, sich in Liebkosungen nicht genugtun kann, sich in Tränen ergießt...

Sie schluchzte so, daß sie geradezu einen Weinkrampf bekam. Mit Gewalt löste ich ihre Arme, die mich umschlangen. Ich hob sie auf und trug sie auf das Sofa. Noch lange schluchzte sie weiter, das Gesicht in den Kissen verbergend, wie wenn sie sich schämte, mich anzusehen; aber sie drückte meine Hand fest in ihrem kleinen Händchen zusammen und hielt sie immer noch an ihr Herz. Allmählich wurde sie ruhiger; aber das Gesicht hob sie immer noch nicht zu mir auf. Einige Male huschten ihre Augen schnell über mein Gesicht hin, und es lag in ihnen eine unendliche Weichheit und schüchterne, sich von neuem versteckende Empfindung. Zuletzt errötete sie und lächelte.

»Ist dir nun leichter?« fragte ich, »du meine weiche Jelena, du mein krankes Kind!«

»Nennen Sie mich nicht Jelena, nein...«, flüsterte sie, indem sie ihr Gesichtchen immer noch vor mir verbarg. »Nicht Jelena? Wie soll ich dich denn nennen?« »Nelly.«

»Nelly? Warum denn gerade Nelly? Nun, meinetwegen; das ist ein sehr hübscher Name. Dann werde ich dich also so nennen, wenn du es selbst wünschst.« »So hat mich Mama genannt... niemand hat mich jemals so genannt als sie... Ich wollte selbst nicht, daß mich ein anderer als Mama so nennte... Aber Sie sollen mich so nennen; das will ich... Ich werde Sie immer liebhaben, immer!«

›Du liebevolles, stolzes Herzchen!‹ dachte ich. ›Wie lange mußte ich mich um dich mühen, bis du für mich Nelly wurdest !‹

Aber jetzt wußte ich bereits, daß ihr Herz sich mir für das ganze Leben ergeben hatte.

»Nelly, höre einmal«, sagte ich, sobald sie sich beruhigt hatte. »Du sagtest eben, nur deine Mama hätte dich liebgehabt, sonst niemand. Aber hat dich denn dein Großvater nicht wirklich liebgehabt?« »Nein, das hat er nicht...«

»Aber du hast hier doch um ihn geweint, erinnerst du dich? Auf der Treppe.« Sie dachte einen Augenblick nach. »Nein, er hat mich nicht liebgehabt... Er war schlecht.« Ein schmerzliches Gefühl prägte sich auf ihrem Gesicht aus.

»Man konnte doch nicht mehr viel von ihm verlangen, Nelly. Er war ja schon ganz geistesschwach geworden. Er ist auch wie ein Irrsinniger gestorben. Ich habe dir ja erzählt, wie er gestorben ist.«

»Ja; aber nur im letzten Monat war er so ganz geistesabwesend. Er saß manchmal hier einen ganzen Tag lang, und wenn ich nicht zu ihm gekommen wäre, hätte er auch einen zweiten und dritten Tag so gesessen, ohne zu essen und zu trinken. Früher aber war es mit ihm weit besser.«

»Wann denn früher?«

»Als Mama noch nicht gestorben war.«

»Also du hast ihm etwas zu essen und zu trinken gebracht, Nelly?«

»Ja.«

»Wo hast du es denn herbekommen? Von Frau Bubnowa?«

»Nein, von Frau Bubnowa habe ich nie etwas genommen«, antwortete sie energisch; aus ihrem Ton hörte man einen Schauder heraus.

»Wo hast du es denn dann herbekommen? Du hattest doch nichts?«

Nelly schwieg ein Weilchen und wurde furchtbar blaß; dann sah sie mich mit einem langen, langen Blick an.

»Ich bin auf die Straße gegangen und habe gebettelt... Wenn ich fünf Kopeken erbettelt hatte, kaufte ich ihm Brot und Schnupftabak...«

»Und das hat er zugelassen? Nelly, Nelly!«

»Anfangs sagte ich ihm nichts davon, daß ich bettelte. Aber als er es erfuhr, da trieb er mich selbst dazu an. Ich stand auf einer Brücke und bat die Vorübergehenden um Almosen, und er ging in der Nähe der Brücke auf und ab; und wenn er sah, daß mir jemand etwas gegeben hatte, dann stürzte er auf mich zu und nahm mir das Geld weg, als ob ich es vor ihm verstecken wollte und nicht für ihn erbettelt hätte.«

Bei diesen Worten trat ein bitteres, trauriges Lächeln auf ihre Lippen.

»Das war alles, nachdem Mama gestorben war«, fügte sie hinzu. »Danach wurde er ganz wie irrsinnig.« »Also hat er deine Mama sehr liebgehabt? Warum wohnte er denn nicht mit ihr zusammen?« »Nein, er hatte sie nicht lieb... Er war ein böser Mensch und verzieh ihr nicht... ebenso wie der böse alte Mann von gestern«, sagte sie leise, fast flüsternd, und wurde dabei immer blasser und blasser.

Ich fuhr zusammen. Das ganze Geflecht eines Romans lag auf einmal offen vor meinem Blick da: diese arme Frau, die in der Kellerwohnung des Sargtischlers starb, ihre als Waise zurückbleibende Tochter, die manchmal den Großvater besuchte, der ihre Mutter verflucht hatte, der geistesschwach gewordene alte Mann, der nach dem Tod seines Hundes in der Konditorei starb!... »Asorka hatte einstmals Mama gehört«, sagte Nelly auf einmal und lächelte wie infolge einer Erinnerung. »Der Großvater hatte Mama früher sehr liebgehabt, und als Mama von ihm wegging, blieb Mamas Asorka bei ihm. Daher hatte er Asorka so lieb. Er hat Mama nicht verziehen; aber als der Hund gestorben war, ist er auch gestorben«, fügte Nelly finster hinzu; das Lächeln war von ihrem Gesicht verschwunden.

»Was war er denn früher, Nelly?« fragte ich, nachdem ich ein Weilchen gewartet hatte.

»Er war früher reich... Ich weiß nicht, was er eigentlich war«, antwortete sie. »Er hatte eine Fabrik... So hat mir Mama gesagt. Sie dachte anfangs, ich wäre noch zu klein, und sagte mir nicht alles. Sie küßte mich sehr viel und sagte: »Du wirst alles erfahren, wenn die Zeit kommt; alles wirst du erfahren, du armes, unglückliches Kind!« Und immer nannte sie mich arm und unglücklich. Und oft, wenn sie in der Nacht meinte, ich schliefe (aber ich schlief nicht, sondern stellte mich nur absichtlich so), dann beugte sie sich über mich und weinte und küßte mich und sagte: ›Du armes, unglückliches Kind!‹ «

»Woran ist denn deine Mama gestorben?«

»An der Schwindsucht; es ist jetzt sechs Wochen her.«

»Und erinnerst du dich noch an die Zeit, als dein Großvater reich war?« »Damals war ich ja noch gar nicht geboren. Mama war noch vor meiner Geburt vom Großvater weggegangen.« »Mit wem war sie denn weggegangen?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Nelly leise und, wie es schien, nachdenklich. »Sie war ins Ausland gegangen, und da wurde ich auch geboren.«

»Im Ausland? Wo denn?«

»In der Schweiz. Ich bin überall gewesen, auch in Italien und in Paris.«

Ich war erstaunt.

»Und du hast das in der Erinnerung, Nelly?«

»Ja, vieles habe ich in der Erinnerung.«

»Wie kommt es denn, daß du so gut Russisch kannst, Nelly?«

»Mama hatte mich schon dort im Ausland Russisch gelehrt. Sie war Russin, weil ihre Mutter eine Russin war; der Großvater war Engländer; aber auch er war so gut wie ein Russe. Und als Mama und ich vor anderthalb Jahren hierher zurückgekehrt waren, da habe ich vollständig Russisch gelernt. Mama war schon damals krank. Da wurden wir ärmer und ärmer. Mama weinte immer. In der ersten Zeit suchte sie hier in Petersburg lange nach dem Großvater und sagte ständig, sie habe sich gegen ihn vergangen, und weinte immer... Sie weinte so viel, so viel! Als sie aber erfuhr, daß Großvater arm sei, da weinte sie noch mehr. Sie schrieb auch oft Briefe an ihn; aber er antwortete nie.«

»Warum ist denn deine Mama hierher zurückgekehrt? Wollte sie nur wieder zu ihrem Vater?«

»Das weiß ich nicht. Aber dort hatten wir ein so gutes Leben!« Nellys Augen leuchteten auf. »Mama wohnte allein, nur mit mir zusammen. Sie hatte einen Freund; das war ein so guter Mensch wie Sie... Er hatte sie schon gekannt, als sie noch hier war. Aber er starb dort, und da kehrte Mama zurück...« »Also mit dem ist deine Mama auch vom Großvater weggegangen?«

»Nein, mit dem nicht. Mama ging mit einem andern vom Großvater weg, und der verließ sie dann...«

»Wer war denn das, Nelly?«

Nelly sah mich an und gab keine Antwort. Sie wußte offenbar, mit wem ihre Mama weggegangen und wer aller Wahrscheinlichkeit nach auch ihr Vater war. Aber es war ihr peinlich, selbst mir seinen Namen zu nennen. Ich wollte sie nicht mit Fragen quälen. Sie hatte einen seltsamen, nervösen, heftigen Charakter, war aber dabei bemüht, ihre starken Affekte zu unterdrücken; sie hatte viel Sympathisches, verschanzte sich aber mit stolzer Unnahbarkeit. Obwohl sie mich von ganzem Herzen mit der reinsten, wärmsten Liebe liebte, fast ebenso innig, wie sie ihre verstorbene Mutter geliebt hatte, an die sie nicht ohne tiefen Schmerz zurückdenken konnte, war sie doch in der ganzen Zeit, da ich sie kannte, nur selten ganz offen gegen mich und empfand außer an diesem Tag nur selten das Bedürfnis, mit mir von ihrer Vergangenheit zu reden; im Gegenteil, sie suchte sie mir sogar mit finsterer Miene zu verbergen. Aber an diesem Tag teilte sie mir im Verlauf einiger Stunden, oft von qualvollem, krampfhaftem Schluchzen in ihrer Erzählung unterbrochen, alles mit, was sie unter ihren Erinnerungen am meisten aufregte und marterte, und ich werde diese furchtbare Erzählung nie vergessen. Doch ihre ganze Lebensgeschichte steht noch vor uns...

Es war eine furchtbare Geschichte; es war die Geschichte einer verlassenen Frau, die ihr Glück überlebt hatte, einer kranken, zermarterten, von allen verlassenen Frau, die sich sogar von dem letzten Wesen zurückgestoßen sah, auf das sie noch hatte hoffen können, von ihrem Vater, den sie einmal gekränkt hatte und der nun seinerseits infolge der unerträglichen Leiden und Demütigungen geistesgestört geworden war. Es war die Geschichte einer Frau, die zur Verzweiflung gelangt war und mit ihrem Töchterchen, das sie noch für ein Kind hielt, durch die kalten, schmutzigen Straßen Petersburgs wanderte und bettelte; die Geschichte einer Frau, die dann monatelang in einer feuchten Kellerwohnung im Sterben lag und der der eigene Vater bis zum letzten Augenblick ihres Lebens seine Verzeihung versagte; erst im letzten Augenblick war er anderen Sinnes geworden und hingeeilt, um ihr zu verzeihen, hatte aber nun nur einen kalten Leichnam statt derjenigen gefunden, die er über alles in der Welt geliebt hatte. Es war eine seltsame Erzählung von den geheimnisvollen, kaum begreiflichen Beziehungen des geistesschwach gewordenen Greises zu seiner kleinen Enkelin, die ihn schon verstand, die trotz ihres kindlichen Lebensalters schon vieles verstand, zu dessen Erkenntnis mancher in seinem gesamten sorglosen, glatt verlaufenden Leben nicht gelangt. Es war eine trübe Geschichte, eine jener trüben, qualvollen Geschichten, wie sie sich so oft und unauffällig, fast im geheimen, unter dem drückenden Petersburger Himmel abspielen, in den dunklen, versteckten Seitengassen der riesigen Stadt, mitten in dem sinnlos brodelnden Leben, dem stumpfsinnigen Egoismus, den einander bekämpfenden Interessen, den düsteren Lastern, den geheimen Verbrechen, mitten in diesem schrecklichen Höllenpfuhl voll unsinnigen, naturwidrigen Lebens...

Doch diese Geschichte steht noch vor uns.

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