Vierter Teil

Erstes Kapitel

Ich will nicht weiter schildern, wie wütend ich war. Obgleich ich auf alles gefaßt gewesen war, war ich doch überrascht; er war ganz unerwartet, sozusagen in seiner ganzen Häßlichkeit, vor mich hingetreten. Indes waren, wie ich mich erinnere, meine Empfindungen trübe und undeutlich: ich fühlte mich niedergeschmettert, zu Boden gedrückt; es war mir, als ob ein schwerer Kummer immer schmerzlicher an meinem Herzen söge; ich ängstigte mich um Natascha. Ich ahnte, daß ihr viele Qualen bevorstanden, und sann in unklarer Weise darauf, wie man ihr diese Qualen ersparen, wie man ihr diese letzten Augenblicke vor der endgültigen Lösung des Knotens erleichtern könne. Daß die Lösung erfolgen mußte, daran konnte kein Zweifel sein. Sie nahte heran, und wie sie ausfallen werde, war leicht zu erraten.

Ich merkte gar nicht, wie ich nach Hause kam, obgleich der Regen mich auf dem ganzen Weg durchnäßte. Es war schon drei Uhr morgens. Kaum hatte ich an die Tür meiner Wohnung geklopft, als ich ein Stöhnen hörte und die Tür eilig aufgeschlossen wurde, wie wenn Nelly sich gar nicht schlafen gelegt, sondern die ganze Zeit über dicht an der Schwelle auf mich gewartet hätte. Es brannte eine Kerze. Ich sah Nelly ins Gesicht und erschrak: ihr Gesicht sah ganz entstellt aus; die Augen brannten wie im Fieber und hatten einen wilden, scheuen Blick, als ob sie mich nicht erkenne. Ihr Kopf glühte.

»Nelly, was ist dir? Bist du krank?« fragte ich, indem ich mich zu ihr beugte und den Arm um sie schlang.

Sie drückte sich zitternd an mich, als ob sie etwas fürchtete, und begann hastig und stoßweise zu reden, wie wenn sie nur auf mich gewartet hätte, um es mir recht schnell zu erzählen. Aber ihre Worte waren unzusammenhängend und seltsam; ich verstand nichts; sie redete irre.

Ich führte sie schleunigst zum Bett; aber sie drückte sich fortwährend fest an mich, als ob sie sich ängstigte und mich bäte, sie vor jemand zu beschützen; und als sie schon im Bett lag, griff sie immer noch nach meiner Hand und hielt sie fest, aus Furcht, daß ich wieder fortgehen könnte. Mein Nervensystem war dermaßen angegriffen und erschüttert, daß ich, während ich sie so ansah, in Tränen ausbrach. Ich war selbst krank. Als sie meine Tränen sah, blickte sie mich lange und unverwandt mit gewaltsam angespannter Aufmerksamkeit an, als bemühe sie sich, mit ihren Gedanken über etwas ins klare zu kommen. Es war ihr anzusehen, daß sie dies große Anstrengung kostete. Endlich schimmerte auf ihrem Gesicht etwas auf, was mit einem Gedanken Ähnlichkeit hatte; nach einem starken epileptischen Anfall war sie gewöhnlich eine Zeitlang außerstande, mit ihren Gedanken zurechtzukommen und deutlich zu reden. So war es auch jetzt: sie strengte sich aufs äußerste an, um mir etwas zu sagen, und da sie merkte, daß ich sie nicht verstand, streckte sie ihre kleine Hand aus und begann, mir die Tränen abzuwischen; dann umschlang sie meinen Hals, zog mich zu sich herab und küßte mich.

Es war klar: Sie hatte in meiner Abwesenheit einen Anfall gehabt, und dieser war gerade in dem Augenblick eingetreten, als sie dicht an der Tür stand. Als er vorübergegangen war, hatte sie wahrscheinlich lange nicht zu sich kommen können. In diesem Stadium des Leidens pflegt sich die Wirklichkeit mit den Fieberphantasien zu vermischen, und es waren ihr irgendwelche schrecklichen, beängstigenden Vorstellungen gekommen. Gleichzeitig war sie sich unklar bewußt geworden, daß ich zurückkommen müsse und an die Tür klopfen werde, und daher hatte sie, dicht an der Schwelle auf dem Fußboden liegend, auf meine Rückkehr gewartet und war auf mein erstes Klopfen aufgestanden.

»Aber wie ist es zugegangen, daß sie sich gerade an der Tür befand?« dachte ich und bemerkte plötzlich zu meinem Erstaunen, daß sie ihren kleinen Pelz anhatte (ich hatte ihn ihr eben erst bei einer mir bekannten alten Trödlerin gekauft, die manchmal zu mir in die Wohnung kam und mir ihre Ware auf Kredit gab); folglich hatte sie vorgehabt, irgendwohin auszugehen, und war wahrscheinlich schon im Begriff gewesen, die Tür zu öffnen, als der Anfall sie plötzlich überraschte. Wohin hatte sie aber gehen wollen? Hatte sie sich vielleicht damals schon im Fieberwahn befunden?

Die Hitze verging nicht, und sie versank bald wieder in Bewußtlosigkeit und redete irre. Sie hatte schon zweimal in meiner Wohnung Anfälle gehabt, die aber beide einen glücklichen Verlauf genommen hatten; jetzt jedoch hatte sie ein hitziges Fieber. Nachdem ich eine halbe Stunde an ihrem Bett gesessen hatte, rückte ich ein paar Stühle an das Sofa und legte mich, angekleidet wie ich war, in ihrer Nähe hin, um schnell zu erwachen, wenn sie mich rufen sollte. Die Kerze löschte ich nicht aus. Viele Male blickte ich noch nach ihr hin, bevor ich selbst einschlief. Sie war blaß; ihre Lippen waren von der innerlichen Hitze ausgetrocknet und, wahrscheinlich infolge des Hinfallens, blutig; ihr Gesicht hatte den Ausdruck der Angst und eines quälenden Kummers nicht verloren; diese Empfindungen schienen auch im Schlaf nicht von ihr zu weichen. Ich nahm mir vor, morgen so früh wie möglich den Arzt zu holen, wenn es ihr schlechter gehen sollte. Ich fürchtete, es werde ein richtiges Nervenfieber zum Ausbruch kommen.

»Das sind die Folgen der Angst, die ihr der Fürst eingejagt hat«, dachte ich und zitterte dabei; unwillkürlich mußte ich an seine Erzählung von der Frau denken, die ihm ihr Geld gelassen und ihm Schmähworte ins Gesicht geschleudert hatte.

Zweites Kapitel

Zwei Wochen waren vergangen. Nelly war in der Genesung. Ein Nervenfieber hatte sie nicht gehabt; aber sie war sehr krank gewesen, Ende April, an einem hellen, klaren Tag, stand sie vom Bett auf. Es war in der Karwoche.

Das arme Geschöpf! Ich kann meine Erzählung nicht in der früheren Anordnung fortsetzen. Es ist schon viel Zeit vergangen bis zum jetzigen Augenblick, wo ich all diese Ereignisse der Vergangenheit niederschreibe; aber bis heute kann ich nur mit schwerem, bitterem Gram an das blasse, magere Gesichtchen denken und an diesen langen, tiefen Blick ihrer schwarzen Augen, wenn wir manchmal allein waren und sie mich von ihrem Bett aus ansah, lange ansah, als ob sie mich auffordern wollte, zu erraten, was in ihrer Seele vorging; aber wenn sie sah, daß ich es nicht erriet und in meiner bisherigen Verständnislosigkeit verharrte, dann lächelte sie leise vor sich hin und streckte mir auf einmal freundlich ihr heißes Händchen mit den mageren, dünn gewordenen Fingerchen entgegen. Jetzt ist das alles vergangen, und alles ist schon bekannt geworden; aber auch jetzt kenne ich noch nicht das ganze Geheimnis dieses kranken, gequälten, beleidigten kleinen Herzens.

Ich fühle, daß ich mich von meiner Erzählung ablenken lasse; aber ich mag in diesem Augenblick einzig und allein an Nelly denken. Merkwürdig: jetzt, wo ich im Krankenhaus in meinem Bett liege, allein, von allen verlassen, die ich so viel und so innig geliebt habe, jetzt kommt mir manchmal irgendein unbedeutender Zug aus jener Zeit, den ich damals kaum beachtet und bald wieder vergessen hatte, plötzlich ins Gedächtnis und gewinnt auf einmal in meinem Geist eine ganz andere, wesentliche Bedeutung, die mir jetzt das klarmacht, was ich bisher nicht zu begreifen vermochte.

Während der ersten vier Tage ihrer Krankheit waren wir, der Arzt und ich, um sie in großer Sorge; aber am fünften Tag führte mich der Arzt beiseite und sagte mir, es sei kein Grund mehr zu Befürchtungen und sie werde sicher gesund werden. Der Arzt war eben jener mir schon lange bekannte, gutmütige und wunderliche alte Junggeselle, den ich bereits bei Nellys erster Krankheit gerufen hatte und dessen großer, am Hals hängender Stanislausorden ihr so interessant gewesen war.

»Also es ist nichts mehr zu befürchten?« sagte ich erfreut.

»Nein; sie wird jetzt gesund werden; aber dann wird sie sehr bald sterben.«

»Sterben? Aber warum denn?« rief ich, ganz starr über diesen Ausspruch.

»Ja, sie wird dann unfehlbar bald sterben. Die Patientin hat einen organischen Herzfehler und wird bei den geringsten ungünstigen Einwirkungen wieder bettlägerig werden. Vielleicht wird sie dann noch einmal genesen; aber darauf wird sie von neuem krank werden und schließlich sterben.«

»Und gibt es wirklich keine Möglichkeit, sie zu retten? Nein, es kann nicht sein!«

»Und doch muß es so kommen. Allerdings, wenn man alle ungünstigen Einwirkungen von ihr fernhielte, ihr ein ruhiges, stilles Leben verschaffte, ihr mehr Vergnügen bereitete, dann könnte die Patientin noch vor dem Tod bewahrt bleiben, und es kommen sogar Fälle vor... unerwartete, merkwürdige Ausnahmefälle... kurz, bei einer Vereinigung vieler günstiger Einwirkungen kann die Patientin sogar für lange Zeit gerettet werden; aber eine radikale Heilung ist ausgeschlossen.«

»Aber, mein Gott, was ist da zu tun?«

»Sie muß meine Weisungen befolgen, ein ruhiges Leben führen und die Pulver regelmäßig einnehmen/Ich habe gemerkt, daß dieses Mädchen launisch, von ungleichmäßigem Wesen und sogar sehr spottlustig ist; sie hat sehr wenig Lust, die Pulver regelmäßig einzunehmen, und hat das soeben deutlich bewiesen.«

»Ja, Doktor. Sie ist in der Tat ein eigentümliches Wesen; aber ich führe das alles auf ihre krankhafte Reizbarkeit zurück. Gestern war sie sehr folgsam; heute aber, als ich ihr die Arznei reichen wollte, stieß sie, wie unabsichtlich, an den Löffel, so daß alles verschüttet wurde. Und als ich ihr ein neues Pulver zurechtmachen wollte, riß sie mir das ganze Schächtelchen weg und warf es auf den Fußboden; dann aber brach sie in Tränen aus... Aber anscheinend weinte sie nicht darüber, daß ich sie veranlassen wollte, die Pulver einzunehmen«, fügte ich nach kurzem Nachdenken hinzu.

»Hm! Irritation der Nerven. Das frühere große Unglück« (ich hatte dem Arzt eingehend und offenherzig vieles von Nellys Geschichte erzählt, und meine Erzählung hatte ihn sehr ergriffen), »all das hängt miteinander zusammen, und daher rührt auch ihre Krankheit. Vorläufig ist das einzige Mittel, daß sie die Pulver einnimmt; das muß sie unbedingt tun. Ich will noch einmal hingehen und ihr ernstlich auseinandersetzen, daß es ihre Pflicht ist, den ärztlichen Ratschlägen zu gehorchen und... ganz besonders... die Pulver zu nehmen.«

Wir verließen beide die Küche wieder, in welcher unser Gespräch stattgefunden hatte, und der Arzt näherte sich von neuem dem Bett der Kranken. Aber Nelly hatte, wie es schien, alles gehört: wenigstens hatte sie, während wir sprachen, den Kopf vom Kissen gehoben, ein Ohr nach unserer Seite hingewandt und die ganze Zeit über mit Anstrengung gelauscht; ich hatte das durch die Spalte der halbgeöffneten Tür bemerkt. Als wir aber zu ihr traten, war die Schelmin wieder unter die Decke geschlüpft und sah uns spöttisch lächelnd an. Das arme Kind war in diesen Tagen der Krankheit sehr abgemagert; ihre Augen waren ganz eingesunken, und die Fieberhitze war immer noch nicht gewichen. Um so seltsamer kontrastierte mit ihrem Gesicht der mutwillige Ausdruck und der streitsüchtig glänzende Blick, über den der Arzt, der gutmütigste aller Deutschen in Petersburg, sich nicht genug wundern konnte.

In ernster, eindringlicher Weise, obgleich bemüht, seiner Stimme einen möglichst milden, freundlichen, zärtlichen Klang zu geben, setzte er ihr auseinander, daß die Pulver notwendig und heilsam seien und folglich jeder Kranke die Pflicht habe, sie einzunehmen. Nelly hob schon den Kopf ein wenig in die Höhe; aber auf einmal stieß sie durch eine anscheinend ganz zufällige Bewegung des Armes an den Löffel, und die ganze Arznei floß wieder auf den Fußboden. Ich war überzeugt, daß sie es mit Absicht getan hatte.

»Das ist eine sehr unangenehme Unvorsichtigkeit«, sagte der alte Mann ruhig, »und ich vermute, daß Sie es mit Absicht getan haben, was sehr tadelnswert ist. Aber... wir können den Schaden reparieren und noch ein Pulver zurechtmachen.«

Nelly lachte ihm gerade ins Gesicht. Der Arzt wiegte langsam den Kopf hin und her.

»Das ist sehr häßlich«, sagte er, als er ein neues Pulver zurechtgemacht hatte, »sehr, sehr tadelnswert.«

»Ärgern Sie sich nicht über mich!« antwortete Nelly, die sich vergebens bemühte, nicht von neuem loszulachen; »ich werde die Pulver bestimmt einnehmen... Aber haben Sie mich lieb ?«

»Wenn Sie sich lobenswert betragen, werde ich Sie sehr liebhaben.«

»Sehr lieb?«

»Ja, sehr lieb.«

»Aber jetzt haben Sie mich nicht lieb?«

»O doch, auch jetzt.«

»Aber werden Sie mich küssen, wenn ich Sie küssen will?«

»Ja, wenn Sie es verdienen werden.«

Hier konnte Nelly sich wieder nicht mehr beherrschen und brach von neuem in ein Gelächter aus.

»Die Patientin hat ein heiteres Temperament; aber jetzt merken wir an ihr nur Nervosität und Launenhaftigkeit«, flüsterte mir der Arzt mit sehr ernstem Gesicht zu.

»Nun gut, ich werde das Pulver schlucken!« rief Nelly auf einmal mit ihrem schwachen Stimmchen. »Aber wenn ich erwachsen und groß bin, werden Sie mich dann auch heiraten?«

Wahrscheinlich gefiel ihr dieser neue mutwillige Einfall sehr; ihre Augen brannten nur so, und ihre Lippen zuckten vor Lachen in Erwartung der Antwort des etwas erstaunten Arztes.

»Nun ja«, antwortete er, über diesen neuen Einfall unwillkürlich lächelnd, »nun ja, wenn Sie ein gutes, wohlerzogenes Mädchen sein werden, und wenn Sie folgsam sein und...«

»... und die Pulver nehmen werden?« fiel Nelly ein.

»Ei, ei! Nun ja, auch die Pulver nehmen!« − »Ein prächtiges Mädchen«, flüsterte er mir von neuem zu; »in ihr steckt viel Herzensgüte und Verstand; aber, allerdings... heiraten... was für ein sonderbarer Einfall!«

Er brachte ihr von neuem die Medizin. Aber diesmal wandte Nelly nicht einmal List an, sondern stieß einfach mit der Hand von unten nach oben gegen den Löffel, so daß die ganze Medizin hinausflog, dem armen alten Mann gerade auf das Vorhemd und ins Gesicht. Nelly lachte laut auf, aber nicht mit dem früheren gutmütigen, heiteren Lachen. In ihrem Gesicht blitzte ein harter, böser Ausdruck auf. Diese ganze Zeit über hatte sie meinen Blick vermieden und nur den Arzt angesehen und wartete nun mit einem spöttischen Lächeln, durch das jedoch ihre innere Unruhe nur schlecht verdeckt wurde, was der ›komische Alte‹ jetzt tun werde.

»Oh! Also doch wieder!... Wie schade! Aber... ich kann ja noch ein Pulver zurechtmachen!« sagte der alte Mann, indem er sich mit dem Taschentuch das Gesicht und das Vorhemd abwischte.

Das machte auf Nelly einen starken Eindruck. Sie hatte erwartet, daß wir zornig werden würden; sie hatte gemeint, wir würden sie schelten und ihr Vorwürfe machen, und hatte dies vielleicht in diesem Augenblick unbewußtermaßen sogar gewünscht, damit sie einen Grund hätte, sogleich loszuweinen, krampfhaft loszuschluchzen, die Pulver wieder wie vorher zu verschütten, sogar vor Ärger etwas zu zerschlagen und durch all das ihrem launenhaften, kranken Herzchen eine Art von Erleichterung zu verschaffen. Solche Launen kommen vor, und nicht allein bei Kranken, und nicht allein bei Nelly. Wie oft bin ich im Zimmer auf und ab gegangen mit dem unbewußten Wunsch, es möchte mich doch jemand recht schnell beleidigen oder ein Wort sagen, das sich als Beleidigung auffassen ließe, damit ich recht schnell an etwas meinem Herzen Luft machen könnte! Frauen aber, die auf diese Weise ‘ihrem Herzen Luft machen’, vergießen die aufrichtigsten Tränen, und die gefühlvollsten unter ihnen verfallen sogar in Weinkrämpfe. Das ist ein sehr einfacher, ganz gewöhnlicher, überaus häufiger Vorgang, wenn ein anderer, oft niemandem bekannter Kummer im Herzen sitzt, den der Betreffende wohl aussprechen möchte, aber niemandem aussprechen darf.

Aber überrascht durch die engelhafte Güte des von ihr beleidigten alten Mannes und durch die Geduld, mit der er ihr von neuem ein drittes Pulver zurechtmachte, ohne ihr auch nur ein Wort des Vorwurfs zu sagen, wurde Nelly auf einmal sanft und still. Das spöttische Lächeln verschwand von ihren Lippen; eine dunkle Röte stieg ihr ins Gesicht; die Augen wurden ihr feucht: sie blickte mich flüchtig an und wandte sich sofort wieder ab. Der Arzt brachte ihr die Medizin. Sie schluckte sie friedlich und schüchtern hinunter, ergriff die rote, dicke Hand des alten Mannes, hob langsam den Kopf in die Höhe und blickte ihm in die Augen.

»Sie... sind mir gewiß böse, weil ich so schlecht bin«, begann sie, konnte aber nicht weiterreden, kroch unter die Bettdecke, verbarg ihr Köpfchen und fing laut und krampfhaft zu schluchzen an.

»O mein Kind, weinen Sie nicht... das tut nichts... das sind die Nerven; trinken Sie etwas Wasser!« Aber Nelly hörte nicht auf ihn.

»Beruhigen Sie sich; regen Sie sich nicht so auf!« fuhr er fort; er beugte sich über sie und schluchzte selbst beinah; denn er war ein sehr gefühlvoller Mensch. »Ich verzeihe Ihnen und werde Sie heiraten, wenn Sie sich gut betragen werden und ein braves Mädchen sein und...«

»... die Pulver nehmen werden!« erscholl es unter der Bettdecke hervor mit einem seinen, wie ein Glöckchen klingenden, nervösen, von Schluchzen unterbrochenen, mir wohlbekannten Lachen.

»Ein gutes, dankbares Kind!« sagte der Arzt triumphierend und fast mit Tränen in den Augen. »Armes Mädchen!«

Seitdem bildete sich zwischen ihm und Nelly eine seltsame, wunderliche Freundschaft heraus. Mir gegenüber wurde Nelly dagegen immer finsterer, nervöser und reizbarer. Ich wußte nicht, worauf ich das zurückführen sollte, und wunderte mich darüber, um so mehr, da dieser Umschwung in ihrem Verhalten ganz plötzlich erfolgt war. In den ersten Tagen ihrer Krankheit hatte sie sich gegen mich überaus zärtlich und freundlich benommen; sie schien sich an mir gar nicht satt sehen zu können, ließ mich nicht von ihrer Seite, ergriff meine Hand mit ihrem heißen Händchen, zog mich auf den Stuhl neben ihrem Bett nieder, und wenn sie bemerkte, daß ich finster und aufgeregt war, so bemühte sie sich, mich zu erheitern, scherzte und spielte mit mir und lächelte mir zu, indem sie augenscheinlich ihre eigenen Leiden unterdrückte. Sie wollte nicht, daß ich nachts arbeitete oder aufsaß, um sie zu warten, und wurde traurig, als sie sah, daß ich nicht auf sie hörte. Manchmal bemerkte ich an ihr eine sorgenvolle Miene; sie fragte mich über mich selbst aus, warum ich traurig sei und was ich auf dem Herzen hätte; aber merkwürdig: sobald das Gespräch auf Natascha kam, verstummte sie sofort oder begann von etwas anderem zu reden. Sie vermied es anscheinend, von Natascha zu sprechen, und das überraschte mich. Wenn ich nach Hause kam, freute sie sich. Wenn ich nach meinem Hut griff, so machte sie ein betrübtes Gesicht und verfolgte mich in eigentümlicher Weise, gewissermaßen vorwurfsvoll, mit den Augen.

Am vierten Tag ihrer Krankheit saß ich den ganzen Abend über und sogar noch lange nach Mitternacht bei Natascha. Wir hatten damals etwas miteinander zu besprechen. Als ich von zu Hause wegging, hatte ich meiner Patientin gesagt, ich würde sehr bald zurückkommen; denn ich hatte selbst damit gerechnet. Als es sich nun zufällig so traf, daß ich länger bei Natascha bleiben mußte, war ich wegen Nelly beruhigt: sie war nicht allein geblieben. Alexandra Semjonowna saß bei ihr. Diese hatte von Masslobojew, der auf einen Augenblick zu mir gekommen war, erfahren, daß Nelly krank sei und ich, so vollständig allein, viel Mühe und Sorge hätte. O Gott, in welche Aufregung die gute Alexandra Semjonowna da geriet!

»Dann wird er also auch nicht zum Mittagessen zu uns kommen!... Ach, mein Gott! Und er ist ganz allein, der arme Mensch, ganz allein! Nun, da wollen wir uns ihm jetzt behilflich zeigen. Jetzt bietet sich eine Gelegenheit; die dürfen wir nicht unbenutzt lassen.«

Sogleich erschien sie bei uns und brachte in der Droschke ein ganz großes Bündel mit. Nachdem sie mir schnell mit kurzen Worten erklärt hatte, sie werde jetzt nicht wieder fortgehen und sei gekommen, um mir zu helfen, band sie das Bündel auf. Darin waren Obstgelees, Eingemachtes, wie es eine Kranke essen kann, junge Hühner und eine Henne, für den Fall, daß die Kranke zu genesen beginne, Äpfel zum Braten, Apfelsinen, Kiewer getrocknete Früchte (falls der Arzt es erlauben sollte), endlich Wäsche, Bettücher, Servietten, Frauenhemden, Binden, Kompressen − als sollte ein ganzes Lazarett damit versorgt werden.

»Wir haben ja bei uns zu Hause alles vorrätig«, sagte sie eilig und geschäftig zu mir, als ob sie schnell wieder irgendwo anders hin müßte. »Na, und Sie leben hier so als Junggeselle und haben von alledem gewiß wenig. Also erlauben Sie mir schon... auch Filipp Filippowitsch hat es befohlen. Nun, was soll ich jetzt zuerst... nur schnell, nur schnell! Was muß jetzt getan werden? Was macht sie? Ist sie bei Bewußtsein? Ach, wie schlecht sie liegt; das Kissen muß in Ordnung gebracht werden, damit sie mit dem Kopf niedriger liegt. Aber wissen Sie: wäre nicht das beste ein Lederkissen? Leder kühlt. Ach, wie dumm ich bin! Daß es mir nicht eingefallen ist, eins mitzubringen! Ich werde hinfahren und es holen... Muß nicht Feuer gemacht werden? Ich werde Ihnen meine Alte herschicken. Ich habe eine zuverlässige alte Magd. Sie haben ja hier gar keine weibliche Bedienung... Nun, was soll ich jetzt tun? Was ist das? Wohl Brusttee, den der Arzt verschrieben hat? Ich will gleich Feuer anmachen.«

Aber ich beruhigte sie, und sie war sehr erstaunt und sogar betrübt darüber, daß überhaupt nicht so viel zu tun war. Übrigens ließ sie sich dadurch ganz und gar nicht die Laune verderben. Sie befreundete sich sehr bald mit Nelly und half mir während der Krankheit derselben viel; sie besuchte uns fast täglich und kam immer mit einer Miene, als ob etwas vergessen oder verabsäumt sei und so schnell wie möglich nachgeholt werden müsse. Sie fügte immer hinzu, auch Filipp Filippowitsch habe es befohlen. Nelly fand an ihr großes Gefallen. Sie gewannen einander lieb wie Schwestern, und ich glaube, daß Alexandra Semjonowna in vieler Hinsicht noch ein ebensolches Kind war wie Nelly. Sie erzählte ihr allerlei Geschichten, brachte sie zum Lachen, und Nelly fühlte sich nachher oft einsam, wenn Alexandra Semjonowna nach Hause gefahren war. Ihr erstes Erscheinen bei uns erregte die Verwunderung meiner Kranken; aber sie erriet sogleich, warum der uneingeladene Gast gekommen war, machte nach ihrer Gewohnheit sogar ein finsteres Gesicht und wurde schweigsam und unfreundlich.

»Warum ist sie denn zu uns gekommen?« fragte Nelly mit unzufriedener Miene, als Alexandra Semjonowna wieder weggefahren war.

»Um dir zu helfen, Nelly, und dich zu pflegen.«

»Aber wofür will sie sich damit bedanken? Ich habe ihr ja doch nichts Gutes getan.«

»Gute Menschen warten nicht, bis man ihnen zuerst Gutes tut, Nelly. Sie helfen auch ohne das gern denen, die der Hilfe bedürfen. Glaube nur, Nelly: es gibt auf der Welt sehr viele gute Menschen. Es ist dein besonderes Unglück gewesen, daß du mit solchen nicht zusammengekommen bist, nicht damals mit ihnen zusammengekommen bist, als es nötig war.«

Nelly schwieg; ich trat von ihr weg. Aber eine Viertelstunde darauf rief sie mich selbst mit schwacher Stimme zu sich, bat mich, ihr zu trinken zu geben, umarmte mich plötzlich herzlich, drückte sich an meine Brust und ließ mich lange Zeit nicht aus ihren Armen. Als Alexandra Semjonowna am anderen Tag wiederkam, empfing Nelly sie mit freudigem Lächeln, aber als wenn sie sich immer noch über etwas schäme.

Drittes Kapitel

An diesem Tag war ich den ganzen Abend über bei Natascha. Ich kam erst spät nach Hause. Nelly schlief. Alexandra Semjonowna war ebenfalls sehr schläfrig, saß aber doch noch wachend bei der Kranken und wartete auf mich. Sogleich erzählte sie mir eilig flüsternd, Nelly sei zuerst sehr vergnügt gewesen und habe sogar viel gelacht; aber dann sei eine Verstimmung über sie gekommen, und als sie gesehen habe, daß ich nicht zurückkam, sei sie schweigsam und nachdenklich geworden. »Dann klagte sie über Kopfschmerz, fing an zu weinen und schluchzte so, daß ich gar nicht mehr wußte, was ich mit ihr machen sollte«, fuhr Alexandra Semjonowna fort. »Sie fing mit mir von Natalja Nikolajewna an zu sprechen; aber ich konnte ihr über diese nichts sagen; da hörte sie auf zu fragen und weinte dann immer; so ist sie auch unter Tränen eingeschlafen. Na, nun leben Sie wohl, Iwan Petrowitsch; es ist ihr jetzt doch leichter ums Herz, wie ich gemerkt habe; ich muß aber nach Hause; so hat es auch Filipp Filippowitsch befohlen. Ich muß Ihnen bekennen, er hat mich diesmal nur für zwei Stunden beurlaubt, und ich bin auf eigene Faust hiergeblieben. Aber das macht nichts; beunruhigen Sie sich nicht um mich; er wird es nicht wagen, böse zu werden... Nur vielleicht ...Ach Gott, liebster Iwan Petrowitsch, was soll ich nur machen: er kommt jetzt immer betrunken nach Hause! Er ist mit etwas sehr beschäftigt, redet nicht mit mir, ist verdrießlich; er hat eine wichtige Sache im Kopf, das sehe ich wohl; abends aber ist er immer betrunken... Ich denke nur: wenn er jetzt nach Hause gekommen ist, wer bringt ihn da zu Bett? Na, ich gehe, ich gehe; leben Sie wohl! Leben Sie wohl, Iwan Petrowitsch! Ich habe mir hier Ihre Bücher angesehen: was haben Sie für viele Bücher, und gewiß lauter verständige; aber ich bin ein dummes Frauenzimmer; ich habe nie etwas gelesen... Nun, auf morgen...«

Aber am anderen Tag war Nelly, nachdem sie erwacht war, traurig und finster und antwortete mir nur widerwillig. Von selbst redete sie mich nicht an, als ob sie auf mich böse wäre. Ich beobachtete nur, daß sie mir mitunter von der Seite verstohlene Blicke zuwarf; in diesen Blicken lag viel verborgener Seelenschmerz; aber dennoch schaute aus ihnen eine Zärtlichkeit heraus, die nicht wahrzunehmen war, wenn sie mich gerade ansah. Dies war der Tag, an dem auch der Auftritt mit dem Einnehmen der Medizin und dem Arzt stattfand; ich wußte nicht, was ich davon denken sollte.

Aber Nelly war mir gegenüber vollständig verändert. Ihre Sonderbarkeiten, ihre Launen, manchmal sogar beinah eine Art von Haß gegen mich − alles dies dauerte bis zu dem Tag, an dem sie von mir fortging, bis zu der Katastrophe, die unserem ganzen Roman ein Ende machte. Aber davon später!

Indessen kam es doch manchmal vor, daß sie plötzlich, etwa auf eine Stunde, gegen mich wieder freundlich wurde wie früher. Ihre Zärtlichkeit schien sich in diesen Augenblicken sogar zu verdoppeln; am häufigsten aber weinte sie gerade in solchen Zeiten bitterlich. Aber diese Stunden gingen schnell vorüber, und sie versank wieder in den früheren Mißmut und sah mich wieder feindselig an oder benahm sich launisch wie damals dem Arzt gegenüber oder begann, wenn sie merkte, daß mir irgendein neuer Streich von ihr mißfiel, zu lachen, was aber fast immer mit Tränen endete.

Sie zankte sich sogar einmal mit Alexandra Semjonowna und sagte ihr, daß sie ihre Hilfe nicht nötig habe. Als ich ihr in Alexandra Semjonownas Gegenwart deswegen Vorwürfe machte, wurde sie hitzig, und in ihrer Antwort kam ein lange aufgespeicherter Grimm heftig zum Ausbruch; aber auf einmal verstummte sie und sprach nun volle zwei Tage lang mit mir kein Wort, wollte keine Medizin einnehmen, ja nicht einmal essen und trinken, und nur der alte Arzt verstand es, mit ihr umzugehen und ihr ins Gewissen zu reden.

Ich sagte schon, daß zwischen dem Arzt und ihr gleich von dem Tag an, wo sich die Szene mit dem Verschütten der Medizin zugetragen hatte, ein wunderliches Freundschaftsverhältnis entstanden war. Nelly hatte ihn sehr liebgewonnen und empfing ihn immer mit einem heiteren Lächeln, mochte sie vor seiner Ankunft auch noch so betrübt gewesen sein. Seinerseits hatte der alte Mann angefangen, täglich zu uns zu kommen, sogar manchmal zweimal am Tag, und er setzte das auch in der Zeit fort, als Nelly schon das Bett verlassen hatte und vollständig in der Genesung begriffen war. Er schien von ihr so bezaubert zu sein, daß er keinen Tag leben konnte, ohne ihr Lachen und ihre Spaße über ihn selbst zu hören, die allerdings oft recht amüsant waren. Er brachte ihr illustrierte Bücher mit, lauter solche lehrhaften Inhalts; eines hatte er expreß für sie gekauft. Dann begann er, ihr Süßigkeiten zu bringen, Konfekt in hübschen Schächtelchen. In solchen Fällen trat er gewöhnlich mit feierlicher Miene ein, wie wenn er zu einem Namenstag käme, und Nelly erriet dann sofort, daß er ein Geschenk mitgebracht hatte. Aber er zeigte das Geschenk nicht, sondern lächelte nur listig, setzte sich neben Nelly und machte Andeutungen, wenn eine junge Patientin sich gut zu betragen wisse und auch in seiner Abwesenheit die Achtung ihrer Umgebung verdiene, dann sei ein solches junges Mädchen einer schönen Belohnung würdig. Dabei sah er sie so harmlos und gutmütig an, daß, wenn Nelly auch herzlich über ihn lachte, doch gleichzeitig aus ihren heiteren Augen die aufrichtigste, freundlichste Zuneigung ihm entgegenstrahlte. Endlich erhob sich der Alte feierlich von seinem Stuhl, zog das Schächtelchen mit Konfekt hervor und händigte es Nelly ein, wobei er unfehlbar bemerkte: »Meiner künftigen lieben Gattin!« In diesem Augenblick war er selbst sicherlich noch glücklicher als Nelly.

Darauf begannen die Gespräche, und jedesmal redete er ihr ernsthaft und eifrig zu, ihre Gesundheit in acht zu nehmen, und gab ihr eindringliche ärztliche Ratschläge.

»Vor allen Dingen muß man seine Gesundheit in acht nehmen«, sagte er in lehrhaftem Ton, »und zwar erstens und hauptsächlich, um am Leben zu bleiben, und zweitens, um immer gesund zu sein und auf diese Weise zum Lebensglück zu gelangen. Wenn Sie irgendwelchen Kummer haben, mein liebes Kind, dann ist mein Rat: vergessen Sie ihn, oder, was das beste ist, bemühen Sie sich, nicht daran zu denken. Wenn Sie aber keinen Kummer haben, dann... denken Sie ebenfalls nicht an ihn, sondern geben Sie sich Mühe, an Vergnügungen zu denken, an heitere Spiele!«

»Aber an was für heitere Spiele soll ich denn denken?« fragte Nelly.

Der Arzt war ganz verblüfft.

»Nun... an irgendein harmloses Spiel, das Ihrem Lebensalter angemessen ist; oder... nun, an irgend so etwas...«

»Ich mag nicht spielen; ich spiele nicht gern«, sagte Nelly. »Sehen Sie, neue Kleider, die habe ich lieber.«

»Neue Kleider! Hm! Nun, das ist allerdings nicht so gut. Man muß in jeder Hinsicht mit einem bescheidenen Los im Leben zufrieden sein. Indessen... meinetwegen... man kann auch neue Kleider gern haben.«

»Werden Sie mir viele Kleider machen lassen, wenn ich Sie geheiratet habe ?«

»Was für eine Idee!« sagte der Arzt und machte unwillkürlich ein finsteres Gesicht. Nelly lächelte schelmisch und blickte sogar einmal, sich vergessend, mit einem Lächeln nach mir hin. »Indessen werde ich Ihnen auch ein Kleid machen lassen, wenn Sie es durch Ihr Betragen verdienen werden«, fuhr der Arzt fort.

»Aber muß ich dann täglich Pulver einnehmen, wenn ich Ihre Frau bin?«

»Na, dann brauchen Sie es nicht immer zu tun.«

Der Arzt begann zu lächeln.

Nelly brach lachend das Gespräch ab. Der Alte lachte mit und beobachtete liebevoll ihre Heiterkeit.

»Ein schalkhaftes Persönchen!« sagte er, zu mir gewendet. »Aber man merkt immer noch an ihr Launenhaftigkeit und eine gewisse Gereiztheit.«

Er hatte recht. Ich wußte schlechterdings nicht, was mit ihr vorgegangen war. Sie schien gar nicht mehr mit mir reden zu wollen, gerade als ob ich mich ihr gegenüber eines Vergehens schuldig gemacht hätte. Das war mir sehr schmerzlich. Ich wurde sogar selbst mürrisch und redete sie einmal einen ganzen Tag lang nicht an; aber am anderen Tag schämte ich mich dieses Benehmens. Sie weinte oft, und ich wußte absolut nicht, womit ich sie trösten sollte. Einmal aber brach sie das Stillschweigen, das sie sonst mir gegenüber beobachtete.

Ich kehrte nämlich eines Tages vor dem Dunkelwerden nach Hause zurück und sah, daß Nelly schnell ein Buch unter dem Kopfkissen versteckte. Es war mein Roman, den sie vom Tisch genommen und in meiner Abwesenheit gelesen hatte. Aber welchen Anlaß hatte sie, ihn vor mir zu verstecken? »Wie wenn sie sich schämte«, dachte ich, tat aber, als ob ich nichts bemerkt hätte. Eine Viertelstunde nachher, als ich auf einen Augenblick in die Küche gegangen war, sprang sie schnell aus dem Bett und legte den Roman an seinen früheren Platz; als ich zurückkam, sah ich ihn schon auf dem Tisch liegen. Einen Augenblick darauf rief sie mich zu sich heran; ihrer Stimme konnte ich eine gewisse Aufregung anhören. Schon seit vier Tagen hatte sie fast gar nicht mit mir gesprochen.

»Gehen Sie... heute... zu Natascha?« fragte sie mich stockend.

»Ja, Nelly; ich muß heute notwendig mit ihr reden.«

Nelly schwieg.

»Lieben Sie... sie sehr?« fragte sie wieder mit schwacher Stimme.

»Ja, Nelly, ich liebe sie sehr.«

»Ich liebe sie auch«, fügte sie leise hinzu.

Es folgte wieder ein längeres Schweigen.

»Ich will zu ihr und will bei ihr wohnen«, fing Nelly wieder an, indem sie mich schüchtern anblickte.

»Das ist unmöglich, Nelly«, antwortete ich, einigermaßen verwundert. »Hast du es denn schlecht bei mir?«

»Warum ist es denn unmöglich?« fragte sie heftig. »Sie reden mir ja zu, ich solle zu ihrem Vater ziehen; aber zu dem will ich nicht. Hat sie eine Magd?«

»Ja.«

»Nun, dann soll sie ihre Magd wegschicken, und ich will bei ihr dienen. Ich werde ihr alles machen und keinen Lohn dafür nehmen; ich werde sie lieben, und auch das Essen werde ich ihr kochen. Sagen Sie ihr das nur heute!«

»Aber wozu denn? Was ist das für ein phantastischer Einfall, Nelly? Und was denkst du denn von ihr: meinst du wirklich, sie werde dich als Köchin nehmen wollen? Wenn sie dich nimmt, so doch nur als eine Gleichgestellte, wie eine jüngere Schwester.«

»Nein, ich will nicht als Gleichgestellte zu ihr. So will ich nicht...«

»Warum denn nicht?«

Nelly schwieg. Ihre Lippen zuckten. Sie war nahe daran zu weinen.

»Der, den sie liebt, geht ja doch von ihr fort und läßt sie allein?« fragte sie endlich.

Ich war erstaunt.

»Woher weißt du das, Nelly?«

»Sie haben mir selbst alles gesagt, und vorgestern, als Alexandra Semjonownas Mann am Vormittag kam, habe ich ihn gefragt; er hat mir alles mitgeteilt.«

»Ist denn Masslobojew vorgestern vormittag hier gewesen?«

»Ja«, antwortete sie mit niedergeschlagenen Augen.

»Aber warum hast du mir denn nichts davon gesagt, daß er hier war?«

»Einen Grund hatte ich weiter nicht...«

Ich dachte einen Augenblick nach. Gott mochte wissen, warum dieser Masslobojew mit seiner Geheimniskrämerei hier herumschlich! Was hatte er hier für Beziehungen angeknüpft? Ich mußte doch einmal mit ihm darüber reden.

»Nun, inwiefern berührt es denn dich, Nelly, wenn er sie verläßt?«

»Sie lieben sie ja sehr«, antwortete Nelly, ohne die Augen zu mir aufzuschlagen. »Und wenn Sie sie lieben, so werden Sie sie doch heiraten, sobald der andere fortgeht.«

»Nein, Nelly, sie liebt mich nicht so, wie ich sie liebe, und auch ich... Nein, das wird nicht geschehen, Nelly.«

»Ich würde Ihnen beiden als Magd dienen, und Sie würden ein frohes Leben führen«, sagte sie leise, fast flüsternd, ohne mich anzusehen.

»Was ist nur mit ihr, was ist nur mit ihr?« dachte ich und mir war, als ob sich mir das Herz schmerzlich herumdrehte. Nelly schwieg und redete den ganzen Abend über kein Wort mehr mit mir. Als ich aber wegging, fing sie an zu weinen, weinte, wie mir Alexandra Semjonowna berichtete, den ganzen Abend und schlief unter Tränen ein. Selbst in der Nacht, im Schlaf, weinte sie und redete irre Worte vor sich hin.

Aber von diesem Tag an wurde sie noch düsterer und schweigsamer und sprach mit mir gar nicht mehr. Allerdings fing ich zwei oder drei Blicke von ihr auf, die sie verstohlen auf mich richtete, und in diesen Blicken lag soviel Zärtlichkeit! Aber das verging im selben Augenblick wieder, und gleichsam dieser momentanen Weichheit zum Trotz wurde Nelly fast mit jeder Stunde finsterer, sogar dem Arzt gegenüber, der über diese Veränderung ihres Wesens erstaunt war. Inzwischen war sie schon fast ganz genesen, und der Arzt erlaubte ihr endlich, an die frische Luft zu gehen, aber nur sehr wenig. Das Wetter war warm und heiter. Es war in der Karwoche, die diesmal sehr spät fiel; ich ging am Vormittag aus, da ich notwendig bei Natascha sein mußte, nahm mir aber vor, recht früh nach Hause zurückzukehren, um mit Nelly spazierenzugehen; unterdessen ließ ich sie zu Hause allein.

Aber ich kann nicht schildern, welch ein Schlag mich zu Hause erwartete. Ich war schnell nach Hause gegangen, kam hinauf und sah, daß der Schlüssel von außen in der Tür steckte. Ich trat ins Zimmer: niemand da. Ich war starr. Ich blickte ringsumher: auf dem Tisch lag ein Blatt Papier, und auf diesem stand mit Bleistift in großer, unregelmäßiger Schrift geschrieben:

»Ich bin von Ihnen weggegangen und werde nie wieder zu Ihnen zurückkehren. Aber ich habe Sie sehr lieb. Ihre treue Nelly.«

Ich schrie vor Schreck auf und stürzte aus der Wohnung.

Viertes Kapitel

Ich war noch nicht auf die Straße gelangt und war noch nicht darüber ins klare gekommen, was ich jetzt tun solle, als ich auf einmal sah, daß vor unserem Tor eine Droschke anhielt und aus dieser Droschke Alexandra Semjonowna ausstieg, die Nelly an der Hand führte. Sie hielt sie fest, als fürchtete sie, daß sie zum zweitenmal davonlaufen könnte. Ich stürzte auf die beiden los.

»Nelly, Was ist nur mit dir!« rief ich. »Wo bist du hingegangen, und warum?«

»Warten Sie, keine Überhastung; kommen Sie so schnell wie möglich in Ihre Wohnung; da sollen Sie alles erfahren«, sagte Alexandra Semjonowna mit ihrem flinken Mundwerk. »Was ich Ihnen für Dinge erzählen werde, Iwan Petrowitsch!« flüsterte sie mir eilig im Gehen zu. »Sie werden staunen!... Kommen Sie nur; Sie sollen sogleich alles hören.«

Man konnte ihr am Gesicht ansehen, daß sie sehr wichtige Neuigkeiten zu erzählen hatte.

»Geh, Nelly, geh, leg dich ein bißchen hin!« sagte sie, als wir in die Wohnung traten. »Du bist gewiß müde; das ist keine Kleinigkeit, wieviel du umhergelaufen bist, und nach der Krankheit strengt das an; leg dich hin, liebes Kind, leg dich hin! Wir beide aber wollen ein Weilchen hinausgehen und sie nicht stören; mag sie schlafen!«

Sie blinzelte mir zu, ich möchte mit ihr hinauskommen, in die Küche.

Aber Nelly legte sich nicht hin; sie setzte sich auf das Sofa und verbarg das Gesicht in beiden Händen.

Wir gingen hinaus, und Alexandra Semjonowna erzählte mir geschwind, was sich zugetragen hatte. Später erfuhr ich noch weitere Einzelheiten. Das Ganze hatte sich folgendermaßen begeben.

Als Nelly zwei Stunden vor meiner Rückkehr aus meiner Wohnung weggegangen war und mir den Zettel zurückgelassen hatte, lief sie zuerst zu dem alten Arzt. Seine Adresse hatte sie schon vorher in Erfahrung gebracht. Der Arzt erzählte mir, er sei ganz starr gewesen, als er Nelly bei sich erblickt habe, und habe die ganze Zeit, während sie bei ihm gewesen sei, seinen Augen nicht getraut. »Ich glaube es auch jetzt noch nicht«, fügte er am Schluß seiner Erzählung hinzu, »und werde es niemals glauben.« Und doch war Nellys Besuch bei ihm eine Tatsache. Er saß ruhig in seinem Zimmer, in seinem Lehnstuhl, im Schlafrock, beim Kaffee, als sie hereingelaufen kam und, bevor er hatte zur Besinnung kommen können, sich an seine Brust warf. Sie weinte, umarmte und küßte ihn, küßte ihm die Hände und bat ihn inständig, wiewohl in unzusammenhängenden Worten, er möchte sie zu sich ins Haus nehmen; sie sagte, sie wolle und könne nicht mehr mit mir zusammen leben; daher sei sie von mir weggegangen; es sei ihr sehr schmerzlich; sie wolle sich nie mehr über ihn lustig machen und nie mehr von neuen Kleidern reden und werde sich gut betragen und aus den Büchern lernen und werde auch lernen, ihm seine Vorhemden zu waschen und zu plätten (wahrscheinlich hatte sie sich ihre ganze Rede unterwegs zurechtgelegt, vielleicht auch schon früher), und sie werde auch gehorsam sein und sogar jeden Tag so viele Pulver einnehmen, wie er wolle. Und wenn sie früher einmal gesagt habe, daß sie ihn heiraten wolle, so sei das nur Scherz gewesen; sie denke gar nicht daran. Der alte Deutsche war so betäubt, daß er die ganze Zeit über mit offenem Mund dasaß, die Hand, in der er die Zigarre hatte, in die Höhe hielt und die Zigarre vergaß, so daß sie ihm ausging.

»Mademoiselle«, sagte er endlich, nachdem er den Gebrauch seiner Zunge einigermaßen wiedererlangt hatte, »Mademoiselle, soweit ich Sie verstanden habe, bitten Sie mich, ich möchte Sie bei mir wohnen lassen. Aber das ist ein Ding der Unmöglichkeit! Sie sehen, ich wohne sehr beschränkt und habe keine große Einnahme... Und überhaupt, so plötzlich, ohne vorhergehende Überlegung... Es ist schrecklich! Und überhaupt sind Sie, soviel ich sehe, von zu Hause weggelaufen. Das ist sehr tadelnswert und unzulässig... Und überhaupt habe ich Ihnen nur erlaubt, ein wenig spazierenzugehen, bei heiterem Wetter, unter Aufsicht Ihres Wohltäters; und da verlassen Sie Ihren Wohltäter und kommen zu mir gelaufen, während Sie doch Ihre Gesundheit in acht nehmen sollten. Und überhaupt... überhaupt, ich verstehe die ganze Sache nicht...«

Nelly ließ ihn nicht ausreden. Sie fing von neuem an zu weinen und ihn anzuflehen; aber nichts half. Der Alte geriet in immer größeres Erstaunen und begriff die Geschichte immer weniger. Schließlich gab Nelly es auf, rief: »Ach, mein Gott!« und lief aus dem Zimmer. »Ich war den ganzen Tag krank«, fügte der Arzt am Schluß seiner Erzählung hinzu, »und mußte zur Nacht Medizin einnehmen.«

Nelly aber lief zu Masslobojews. Sie hatte sich auch deren Adresse vorher verschafft und fand zu ihnen hin, wiewohl nur mit Mühe. Masslobojew war zu Hause. Alexandra Semjonowna schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als sie Nellys Bitte, sie zu sich zu nehmen, hörte. Auf ihre Fragen, warum sie das denn wolle, ob sie es denn bei mir so schlecht habe, gab Nelly keine Antwort und warf sich schluchzend auf einen Stuhl. »Sie schluchzte so furchtbar, so furchtbar«, erzählte mir Alexandra Semjonowna, »daß ich dachte, sie werde davon sterben.« Nelly bat, sie wenigstens als Stubenmädchen, als Köchin zu nehmen, sagte, sie werde ausfegen und werde Wäsche waschen lernen. (Auf dieses Wäschewaschen gründete sie, wie es schien, besondere Hoffnungen und hielt das aus irgendwelchem Grund für das stärkste Lockmittel zu ihrer Aufnahme.) Alexandra Semjonownas Meinung war, sie bis zur Aufklärung der Sache bei sich zu behalten und mir Nachricht zu geben. Aber Filipp Filippowitsch widersetzte sich dem entschieden und befahl, den Flüchtling sogleich wieder zu mir zu bringen. Unterwegs umarmte Alexandra Semjonowna sie und küßte sie, wovon Nelly noch heftiger zu weinen anfing. Bei diesem Anblick brach auch Alexandra Semjonowna in Tränen aus. So weinten sie beide auf dem ganzen Weg.

»Aber warum in aller Welt, warum willst du denn nicht bei ihm wohnen bleiben? Hat er dir denn etwas zuleide getan, wie?« fragte Alexandra Semjonowna, in Tränen zerfließend.

»Nein, er tut mir nichts zuleide.«

»Nun, also warum denn?«

»Einen Grund habe ich nicht; aber ich will nicht bei ihm wohnen bleiben... ich kann es nicht... ich bin immer so schlecht gegen ihn... und er ist so gut... aber bei Ihnen werde ich nicht schlecht sein; ich werde arbeiten«, sagte sie unter krampfhaftem Schluchzen.

»Warum bist du denn gegen ihn so schlecht, Nelly?« »Einen Grund habe ich nicht...«

»Weiter als dieses ‘einen Grund habe ich nicht’ konnte ich von ihr nichts herausbekommen«, schloß Alexandra Semjonowna ihren Bericht und wischte sich die Tränen ab. »Was ist sie für ein armes, unglückliches Wesen! Das ist wohl eine Art von Kinderkrankheit? Wie denken Sie darüber, Iwan Petrowitsch?«

Wir gingen zu Nelly hinein; sie lag auf dem Bett, das Gesicht in den Kissen vergraben, und weinte. Ich kniete vor ihr nieder, ergriff ihre Hände und küßte sie. Sie entriß mir ihre Hände und begann noch heftiger zu schluchzen. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. In diesem Augenblick trat der alte Ichmenew ins Zimmer.

»Guten Tag, Wanja, ich komme in einer besonderen Angelegenheit«, sagte er, während er uns alle musterte und mich mit Erstaunen auf den Knien liegen sah.

Der alte Mann war die ganze letzte Zeit über krank gewesen. Er war blaß und mager, machte aber den Eindruck, als wolle er vor jemand den Tapferen spielen. Er hatte seine Krankheit vernachlässigt, auf Anna Andrejewnas Ermahnungen nicht gehört und sich nicht ins Bett gelegt, sondern seine Geschäftsgänge fortgesetzt.

»Adieu einstweilen«, sagte Alexandra Semjonowna, indem sie den Alten aufmerksam ansah. »Filipp Filippowitsch hat mir befohlen, so bald wie möglich zurückzukommen. Es ist bei uns viel zu tun. Aber am Abend, so in der Dämmerzeit, werde ich wieder herkommen und ein paar Stündchen hier sitzen.«

»Wer ist das?« flüsterte mir der Alte zu, der aber anscheinend mit anderen Gedanken beschäftigt war.

Ich gab ihm Auskunft.

»Hm! Ich bin in einer besonderen Angelegenheit hergekommen, Wanja...«

Ich wußte, was das für eine Angelegenheit war, und hatte seinen Besuch schon erwartet. Er kam, um sich mit mir und Nelly zu besprechen und mich zu bitten, ich möchte Nelly zu ihnen ziehen lassen. Anna Andrejewna hatte endlich eingewilligt, die Waise in ihr Haus zu nehmen. Hierzu hatte sie sich infolge unserer geheimen Gespräche entschlossen: ich hatte Anna Andrejewna zu der Ansicht gebracht, daß der Anblick der Waise, deren Mutter ebenfalls von ihrem Vater verflucht worden war, vielleicht das Herz unseres Alten umstimmen werde. Ich hatte ihr meinen Plan so überzeugend entwickelt, daß sie jetzt selbst in ihren Mann drang, die Waise ins Haus zu nehmen. Der Alte machte sich bereitwillig ans Werk: er wollte erstens seiner Anna Andrejewna gefällig sein, und zweitens hatte er seine besonderen Absichten... Aber all das werde ich später ausführlicher darlegen.

Ich sagte bereits, daß Nelly den alten Mann schon seit seinem ersten Besuch nicht leiden konnte. Später bemerkte ich, daß sich sogar eine Art von Haß auf ihrem Gesicht ausprägte, wenn Ichmenews Name in ihrer Gegenwart genannt wurde. Der Alte kam sofort, ohne Umschweife, zur Sache. Er trat ohne weiteres zu Nelly heran, die immer noch dalag und ihr Gesicht in die Kissen drückte, faßte sie an der Hand und fragte sie, ob sie zu ihm ziehen und wie eine Tochter bei ihm leben wolle.

»Ich hatte eine Tochter, die ich mehr liebte als mich selbst«, schloß der Alte; »aber jetzt ist sie nicht mehr bei mir. Sie ist gestorben. Willst du ihren Platz in meinem Haus und... in meinem Herzen einnehmen?«

Und in seinen von der Fieberhitze trockenen und entzündeten Augen glänzte eine Träne.

»Nein, ich will nicht«, antwortete Nelly, ohne den Kopf in die Höhe zu heben.

»Warum denn nicht, mein Kind? Du hast ja niemanden auf der Welt. Wanja kann dich nicht lebenslänglich bei sich behalten; bei mir aber wirst du wie im Elternhaus sein.«

»Ich will nicht, weil Sie ein schlechter Mensch sind. Ja, ein schlechter Mensch, ein schlechter Mensch«, wiederholte sie, indem sie den Kopf aufhob und sich auf dem Bett, dem Alten gegenüber, aufrecht setzte. »Ich bin selbst schlecht, schlechter als alle; aber Sie sind noch schlechter als ich!...«

Bei diesen Worten wurde Nelly ganz blaß; ihre Augen funkelten; sogar ihre zitternden Lippen erblaßten und verzogen sich unter der Einwirkung des starken Affekts. Der Alte sah sie erstaunt an.

»Ja, noch schlechter als ich; denn Sie wollen Ihrer Tochter nicht verzeihen; Sie wollen sie ganz vergessen und nehmen ein anderes Kind zu sich; aber kann man denn etwa sein eigenes Kind vergessen? Werden Sie mich etwa lieben können? Sobald Sie mich ansehen, werden Sie sich ja erinnern, daß ich Ihnen eine Fremde bin und daß Sie eine eigene Tochter hatten, die Sie selbst vergessen haben, weil Sie ein grausamer Mensch sind. Ich will aber nicht bei grausamen Menschen leben; ich will es nicht, ich will es nicht!...«

Nelly schluchzte und sah mit einem kurzen Blick nach mir hin.

»Übermorgen ist Christi Auferstehungsfest; alle Menschen umarmen sich und küssen sich; alle versöhnen sich; alle Vergehen werden verziehen... Das weiß ich recht wohl... Nur Sie... nur Sie... oh, Sie grausamer Mensch! Gehen Sie weg!«

Sie zerfloß in Tränen. Diese Rede hatte sie sich, wie es schien, schon lange vorher zurechtgelegt und auswendig gelernt, für den Fall, daß der alte Mann sie noch einmal auffordern sollte, zu ihm zu ziehen. Der Alte war überrascht; er war ganz blaß geworden. Eine tiefschmerzliche Empfindung prägte sich auf seinem Gesicht aus.

»Und wozu, wozu, warum kümmern sich alle soviel um mich? Ich mag das nicht, ich mag das nicht!« rief Nelly auf einmal in einem Wutanfall. »Ich werde betteln gehen!«

»Nelly, was ist dir? Nelly, mein liebes Kind!« rief ich unwillkürlich, goß aber durch meinen Ausruf nur Öl ins Feuer.

»Ja, ich werde lieber auf den Straßen umhergehen und betteln; aber hier werde ich nicht bleiben!« schrie sie schluchzend. »Auch meine Mutter hat gebettelt, und als sie starb, hat sie selbst zu mir gesagt: ‘Sei arm und bettle lieber, als daß du...’ Zu betteln ist keine Schande; ich bitte ja nicht einen einzelnen, ich bitte alle, und alle sind nicht ein einzelner. Einen einzelnen zu bitten, das ist eine Schande; aber alle zu bitten, das ist keine Schande; das hat mir eine Bettlerin gesagt. Ich bin ja noch klein und kann mir mein Brot nicht verdienen. Ich werde alle bitten; ich will nicht, ich will nicht; ich bin schlecht; ich bin schlechter als alle; seht nur, wie schlecht ich bin!«

Und Nelly ergriff auf einmal, für uns alle ganz unerwartet, eine auf dem Tisch stehende Tasse und warf sie auf den Fußboden.

»Da, jetzt ist sie zerbrochen!« sagte sie dann und blickte mich mit einer Art von herausforderndem Triumph an. »Es sind überhaupt nur zwei Tassen da«, fuhr sie fort; »ich werde auch die andere zerschlagen... Woraus werden Sie dann Ihren Tee trinken?«

Sie war wie eine Rasende und schien geradezu einen Genuß an dieser Raserei zu finden, wie wenn sie sich der Häßlichkeit und Schändlichkeit eines solchen Benehmens bewußt wäre, gleichzeitig aber sich selbst zu weiteren derartigen Tollheiten aufreizte.

»Sie ist krank, Wanja; das ist's!« sagte der Alte; »oder ich verstehe nicht mehr, was das für ein Kind ist. Leb wohl!«

Er ergriff seinen Hut und drückte mir die Hand. Er war ganz niedergeschlagen; Nelly hatte ihn furchtbar gekränkt. Mein ganzes Gefühl empörte sich.

»Und du hast kein Mitleid mit ihm gehabt, Nelly!« rief ich, als wir allein geblieben waren. »Und du schämst dich nicht, du schämst dich nicht! Nein, du bist nicht gut; du bist wirklich schlecht!«

Und ohne Hut, wie ich war, lief ich hinter dem alten Mann her. Ich wollte ihn bis ans Tor bringen und ihm wenigstens ein paar tröstende Worte sagen. Während ich die Treppe hinunterlief, glaubte ich immer noch Nellys Gesicht vor mir zu sehen, das bei meinen Vorwürfen erschreckend blaß geworden war.

Ich holte den alten Ichmenew bald ein.

»Das arme Mädchen hat Schweres durchgemacht; sie hat ihren eigenen Kummer, das kannst du mir glauben, Wanja; und ich fing zu ihr von dem meinigen zu reden an!« sagte er mit bitterem Lächeln. »Ich habe ihre Wunde wieder aufgerissen. Man sagt, der Satte versteht den Hungrigen nicht; aber ich füge hinzu, Wanja, auch der Hungrige versteht den Hungrigen nicht immer. Nun, adieu!«

Ich wollte noch von etwas anderem zu reden anfangen; aber der Alte winkte mir mit der Hand ab.

»Versuche mich nicht aufzuheitern; gib lieber acht, daß dir deine Kleine nicht davonläuft; sie sah geradeso aus«, fügte er mit einer Art von Erbitterung hinzu und entfernte sich von mir mit schnellen Schritten, indem er mit seinem Stock umherschwenkte und auf die Trottoirplatten stieß.

Er ahnte selbst nicht, daß er richtig prophezeit hatte.

Wie wurde mir, als ich bei der Rückkehr in meine Wohnung zu meinem Schrecken Nelly wieder nicht zu Hause fand! Ich stürzte auf den Flur hinaus, suchte sie auf der Treppe, rief, klopfte sogar bei den Nachbarn an und fragte nach ihr; ich konnte und wollte nicht glauben, daß sie wieder weggelaufen sei. Und wie hatte sie weglaufen können? Das Haus hatte nur ein Tor; sie mußte an uns vorbeigelaufen sein, während ich mit dem Alten sprach. Aber bald darauf kombinierte ich zu meiner großen Betrübnis, daß sie sich möglicherweise vorher irgendwo auf der Treppe versteckt und dort gewartet hatte, bis ich auf dem Rückweg nach oben wieder vorbeigekommen war; dann mochte sie davongelaufen sein, so daß ich ihr nicht hatte begegnen können. Jedenfalls konnte sie noch nicht weit gekommen sein.

In starker Unruhe lief ich wieder hinaus auf die Suche; die Wohnung ließ ich für alle Fälle offen.

Zuallererst begab ich mich zu Masslobojews. Diese traf ich nicht zu Hause, weder ihn noch Alexandra Semjonowna. Ich hinterließ für sie einen Zettel, in dem ich sie von dem neuen Unglück benachrichtigte und bat, wenn Nelly zu ihnen käme, es mich unverzüglich wissen zu lassen. Dann ging ich zu dem Arzt; dieser war ebenfalls nicht zu Hause; die Magd sagte mir, daß Nelly nach ihrem ersten Besuch nicht wieder dagewesen sei. Was sollte ich nun tun? Ich begab mich zur Bubnowa und erfuhr von der mir bekannten Sargtischlerfrau, daß die Wirtin seit dem vorhergehenden Tag wegen irgendeines Deliktes auf der Polizei in Arrest sitze, Nelly aber dort ›seit jener Zeit‹ nicht wieder gesehen worden sei. Müde und erschöpft lief ich wieder zu Masslobojews; dieselbe Antwort: es war niemand dagewesen, und auch sie selbst waren noch nicht zurückgekehrt. Mein Zettel lag auf dem Tisch. Was sollte ich anfangen?

In tödlicher Angst machte ich mich spätabends auf den Heimweg. Ich sollte an diesem Abend bei Natascha sein; sie selbst hatte mich schon am Vormittag um meinen Besuch bitten lassen. An diesem Tag hatte ich nicht einmal etwas gegessen; der Gedanke an Nelly hatte meine ganze Seele in Unruhe versetzt.

›Was soll das nur bedeuten?‹ dachte ich. ›Ist das wirklich eine seltsame Folge ihrer Krankheit? Ist sie vielleicht irrsinnig oder im Begriff, irrsinnig zu werden? Aber, mein Gott, wo mag sie jetzt sein? Wo soll ich sie suchen?‹ Kaum hatte ich das überlegt, als ich plötzlich Nelly einige Schritte von mir entfernt auf der Wosnessenskibrücke erblickte. Sie stand an einer Laterne und sah mich nicht. Ich wollte zu ihr hineilen, blieb aber doch stehen. ›Was tut sie denn hier?‹ dachte ich erstaunt, und da ich wußte, daß ich sie jetzt nicht wieder verlieren würde, so beschloß ich, zu warten und sie zu beobachten. Es vergingen zehn Minuten; sie stand immer noch da und musterte die Passanten. Endlich kam ein gut gekleideter, älterer Herr vorbei, und Nelly trat an ihn heran: ohne stehenzubleiben nahm er etwas aus der Tasche und reichte es ihr hin. Sie verbeugte sich vor ihm. Ich bin nicht imstande auszudrücken, was ich in diesem Augenblick empfand. Mein Herz zog sich qualvoll zusammen, wie wenn etwas Teures, das ich geliebt und gehegt und gepflegt hatte, vor meinen Augen entehrt und beschimpft worden wäre; aber zugleich liefen mir die Tränen über die Wangen.

Ja, Tränen über die arme Nelly, obwohl ich gleichzeitig von heftiger Entrüstung erfüllt war; sie hatte nicht aus Not gebettelt; niemand hatte sie im Stich gelassen und den Launen des Schicksals preisgegeben; sie war nicht von grausamen Verfolgern weggelaufen, sondern von ihren Freunden, die sie geliebt und für sie gesorgt hatten. Sie wollte anscheinend jemanden durch ihre argen Streiche in Erstaunen oder in Schrecken versetzen; es war, als prahle sie vor jemand damit! Aber etwas Geheimnisvolles reifte in ihrer Seele heran... Ja, der Alte hatte recht: sie hatte Schweres erlitten; ihre Wunde konnte nicht vernarben, und sie suchte absichtlich durch dieses geheimnisvolle Verhalten und durch dieses Mißtrauen gegen uns alle diese ihre Wunde aufzureißen; es war, als fände sie selbst einen Genuß in ihrem Schmerz, in diesem Egoismus des Leidens, wenn man sich so ausdrücken kann. Diese Erneuerung des Schmerzes und der dadurch erzielte Genuß waren mir verständlich: diesen Genuß bereiten sich viele Erniedrigte und Beleidigte, die vom Schicksal niedergetreten sind und sich der Ungerechtigkeit desselben bewußt sind. Aber über welche Ungerechtigkeit von unserer Seite konnte sich Nelly beklagen? Sie wollte uns anscheinend durch ihre argen Streiche, ihre Launen und wilden Exzentrizitäten in Angst und Schrecken versetzen; es war, als prahle sie tatsächlich vor uns damit... Aber nein! Sie war jetzt allein; niemand von uns sah, daß sie bettelte. Fand sie wirklich so ganz für sich allein einen Genuß darin? Wozu hatte sie Almosen nötig? Wozu wollte sie das Geld gebrauchen?

Nachdem sie die Gabe empfangen hatte, ging sie von der Brücke weg und trat an die hell erleuchteten Fenster eines Ladens. Hier machte sie sich daran, ihre Beute zu zählen; ich stand zehn Schritte von ihr entfernt. Sie hatte eine ziemliche Menge Geld in der Hand; offenbar hatte sie gleich vom Vormittag an gebettelt. Das Geld fest in der Hand haltend, ging sie über die Straße hinüber und trat in einen Kramladen. Ich begab mich sofort an die Tür des Ladens, die weit offen stand, und blickte hinein, was sie da wohl tun werde.

Ich sah, daß sie Geld auf den Ladentisch legte und daß man ihr eine Tasse gab, eine einfache Teetasse, sehr ähnlich derjenigen, die sie vorher zerschlagen hatte, um mir und dem alten Ichmenew zu zeigen, wie schlecht sie von Charakter sei. Die Tasse kostete vielleicht fünfzehn Kopeken, vielleicht noch weniger. Der Kaufmann schlug sie in Papier, band einen Bindfaden herum und reichte sie Nelly hin, die eilig mit zufriedener Miene den Laden verließ.

»Nelly!« rief ich, als sie dicht bei mir war. »Nelly!«

Sie fuhr zusammen, erblickte mich, die Tasse glitt ihr aus den Händen, fiel auf das Pflaster und zerbrach. Nelly war blaß; aber als sie mich ansah und erkannte, daß ich alles gesehen hatte und wußte, errötete sie auf einmal; in dieser Röte bekundete sich ein unerträgliches, qualvolles Gefühl der Scham. Ich nahm sie bei der Hand und führte sie nach Hause; es war nicht weit zu gehen. Wir redeten unterwegs kein Wort. Als wir nach Hause gekommen waren, setzte ich mich hin; Nelly stand vor mir, in Gedanken versunken und verlegen, blaß wie vorher, mit niedergeschlagenen Augen. Sie war nicht imstande, mich anzusehen.

»Nelly, du hast gebettelt?«

»Ja«, flüsterte sie und ließ den Kopf noch tiefer sinken.

»Du wolltest Geld zusammenbringen, um für die heute zerschlagene Tasse eine andere zu kaufen?«

»Ja...«

»Aber habe ich dir denn etwa wegen dieser Tasse Vorwürfe gemacht und dich gescholten? Siehst du denn wirklich nicht, Nelly, wieviel Schlechtigkeit, selbstzufriedene Schlechtigkeit in deiner Handlungsweise steckt? Ist das recht von dir? Schämst du dich wirklich nicht?«

»Ich schäme mich«, flüsterte sie mit kaum vernehmbarer Stimme, und ein Tränchen rollte über ihre Wange.

»Du schämst dich...« wiederholte ich. »Nelly, liebe Nelly, wenn ich dir etwas zuleide getan habe, so verzeihe mir und laß uns wieder gute Freunde sein!«

Sie sah mich an; die Tränen stürzten ihr aus den Augen, und sie warf sich an meine Brust.

In diesem Augenblick trat Alexandra Semjonowna eilig ins Zimmer.

»Was! Ist sie zu Hause? Wieder da? Ach, Nelly, Nelly, was ist nur mit dir los? Na, nur gut, daß du wenigstens wieder zu Hause bist! ...Wo haben Sie sie denn gefunden, Iwan Petrowitsch?«

Ich gab ihr einen Wink mit den Augen, sie möchte nicht weiter fragen, und sie verstand mich. Ich nahm zärtlich Abschied von Nelly, die immer noch bitterlich weinte, und bat die gute Alexandra Semjonowna, bis zu meiner Rückkehr bei ihr zu bleiben; ich selbst aber lief zu Natascha. Ich hatte mich verspätet und beeilte mich daher.

An diesem Abend entschied sich unser Schicksal: ich hatte zwar vieles mit Natascha zu besprechen, kam aber doch auch auf Nelly zu reden und erzählte ihr alles Vorgefallene mit den geringsten Einzelheiten. Meine Erzählung interessierte Natascha sehr und machte ihr sogar einen tiefen Eindruck.

»Weißt du was, Wanja?« sagte sie nach kurzem Nachdenken; »ich glaube, sie liebt dich.«

»Was? Wie meinst du das?« fragte ich erstaunt.

»Ja, das ist der Anfang der Liebe, der weiblichen Liebe...«

»Was redest du, Natascha! Ich bitte dich! Sie ist ja noch ein Kind!«

»Das bald vierzehn Jahre alt ist. Diese Verbitterung kommt daher, daß du ihre Liebe nicht verstehst und sie sich vielleicht selbst nicht versteht; es steckt in dieser Verbitterung viel Kindisches; aber doch ist sie eine ernstliche Qual. Die Hauptsache ist: sie ist auf mich eifersüchtig und gönnt dich mir nicht. Du liebst mich so, daß du dir sicherlich auch zu Hause nur um mich Sorgen machst, nur an mich denkst, nur von mir redest und ihr darum nur wenig Aufmerksamkeit zuwendest. Sie hat das gemerkt und fühlt sich dadurch gekränkt. Sie möchte vielleicht mit dir reden; sie fühlt das Bedürfnis, dir ihr Herz zu erschließen, weiß das aber nicht anzufangen, schämt sich, versteht sich selbst nicht, wartet auf eine Gelegenheit; du aber, statt ihr diese Gelegenheit möglichst bald zu bieten, ziehst dich von ihr zurück, läufst von ihr weg zu mir und hast sie sogar, als sie krank war, ganze Tage lang allein gelassen. Sie weint darüber; sie fühlt, daß sie ohne dich nicht leben kann, und am schmerzlichsten ist es ihr, daß du das nicht bemerkst. Auch jetzt, in einem solchen Augenblick, hast du sie um meinetwillen allein gelassen. Morgen wird sie davon krank sein. Und wie hast du sie auch verlassen können? Geh so schnell wie möglich zu ihr!«

»Ich hätte sie auch nicht verlassen, aber...«

»Nun ja, ich hatte dich selbst gebeten, zu mir zu kommen. Jetzt aber geh hin!«

»Ich will hingehen; aber selbstverständlich glaube ich nichts von dem, was du gesagt hast.«

»Das kommt daher, daß sie sich anders benimmt als andere Menschen. Aber erinnere dich an ihr Vorleben, halte alles zusammen, und du wirst mir glauben. Sie ist anders aufgewachsen als du und ich...«

Es war trotz aller Eile doch schon spät, als ich zurückkehrte. Alexandra Semjonowna erzählte mir, Nelly habe wieder wie an jenem Abend sehr viel geweint und sei wie damals unter Tränen eingeschlafen.

»Aber nun will ich weggehen, Iwan Petrowitsch; so hat es auch Filipp Filippowitsch befohlen. Er wartet auf mich, der Arme.«

Ich dankte ihr und setzte mich an das Kopfende von Nellys Bett. Ich machte mir selbst Vorwürfe darüber, daß ich sie in einem solchen Augenblick hatte verlassen können. Lange, bis spät in die Nacht hinein, saß ich so neben ihr und überließ mich meinen Gedanken... Es war eine verhängnisvolle Zeit.

Aber ich muß erzählen, was in diesen vierzehn Tagen geschehen war.

Fünftes Kapitel

Nach dem für mich denkwürdigen Abend, den ich mit dem Fürsten im B.schen Restaurant zugebracht hatte, war ich mehrere Tage hintereinander in beständiger Angst um Natascha. »Womit hat dieser abscheuliche Fürst sie bedroht, und womit wollte er sich eigentlich an ihr rächen?« fragte ich mich alle Augenblicke und erging mich in allerlei Vermutungen. Ich kam schließlich zu dem Resultat, daß seine Drohungen nicht leeres Gerede und bloße Renommage gewesen seien und daß der Fürst, solange sie mit Aljoscha zusammen lebe, tatsächlich imstande sei, ihr viele Unannehmlichkeiten zu bereiten. Ich sagte mir, daß er kleinlich, rachsüchtig, boshaft und berechnend sei. Es war schwer zu glauben, daß er eine Beleidigung vergessen und eine Gelegenheit zur Rache unbenutzt lassen könne. In jedem Fall hatte er mich auf einen bestimmten Punkt in dieser ganzen Angelegenheit hingewiesen und sich hinsichtlich dieses Punktes ziemlich deutlich ausgesprochen: er verlangte hartnäckig einen Bruch zwischen Aljoscha und Natascha und erwartete von mir, daß ich die letztere auf die nahe Trennung vorbereitete, und zwar so, daß es »keine gefühlvollen Szenen setze«. Natürlich lag ihm ganz besonders viel daran, daß Aljoscha mit ihm zufrieden blieb und fortfuhr, ihn für einen zärtlichen Vater zu halten; denn das war für ihn die notwendige Voraussetzung, um in der Folge nach Gefallen über Katjas Geld verfügen zu können. Somit erwuchs mir die Aufgabe, Natascha auf die nahe Trennung vorzubereiten. Aber an Natascha bemerkte ich eine starke Veränderung; von ihrer früheren Offenherzigkeit mir gegenüber war keine Spur mehr vorhanden; ja sie schien sogar ein Mißtrauen gegen mich zu hegen. Meine Versuche, sie zu trösten, empfand sie als eine Qual; meine Fragen hatten mehr und mehr die Wirkung, sie ärgerlich, ja zornig zu machen. Ich saß mitunter bei ihr und sah sie nur an. Sie ging mit verschränkten Armen im Zimmer von einer Ecke zur anderen, finster und blaß, als ob sie alles um sich herum, auch meine Anwesenheit, vergessen hätte. Wenn sie mich aber dabei zufällig einmal ansah (sie suchte aber sogar meine Blicke zu vermeiden), so prägte sich auf ihrem Gesicht plötzlich ein Gefühl von ungeduldigem Ärger aus, und sie wandte sich rasch ab. Ich merkte, daß sie selbst wohl einen eigenen Plan für den nahe bevorstehenden Bruch ersann, und konnte sie das ohne Schmerz und ohne bitteres Leid? Ich war überzeugt, daß sie sich zum Bruch bereits fest entschlossen hatte; trotzdem aber quälte und ängstigte mich ihre finstere Verzweiflung. Überdies wagte ich manchmal gar nicht, mit ihr zu reden und sie zu trösten, und wartete daher voller Angst, wie sich das alles entwickeln werde.

Was ihr finsteres, unzugängliches Wesen mir gegenüber betraf, so beunruhigte und quälte mich das allerdings; aber ich glaubte doch felsenfest an das Herz meiner Natascha: ich sah, daß sie schwer litt und sich in einer schrecklichen Gemütsverfassung befand. Jede fremde Einmischung diente nur dazu, sie verdrießlich und böse zu machen. In solcher Lage ist uns gerade die Einmischung nahestehender Freunde, die unsere Geheimnisse kennen, am allerunangenehmsten. Aber ich wußte auch sehr gut, daß im letzten Augenblick Natascha von selbst wieder zu mir kommen und gerade an meinem Herzen Erleichterung für ihren Gram suchen werde.

Von meinem Gespräch mit dem Fürsten sagte ich ihr selbstverständlich nichts: meine Erzählung hätte sie nur noch mehr verstimmt und aufgeregt. Ich erwähnte nur so beiläufig, ich sei mit dem Fürsten bei der Gräfin gewesen und hätte die Überzeugung gewonnen, daß er ein nichtswürdiger Schurke sei. Aber sie fragte mich gar nicht weiter nach ihm, worüber ich sehr froh war; dafür hörte sie begierig alles an, was ich ihr von meinem Zusammensein mit Katja erzählte. Nachdem sie alles gehört hatte, sagte sie auch von ihr keine Silbe; aber eine dunkle Röte bedeckte ihr sonst so blasses Gesicht, und sie befand sich fast diesen ganzen Tag über in besonderer Aufregung. Ich verheimlichte ihr nichts, was Katja betraf, und gestand ihr offen, daß Katja sogar auf mich einen sehr angenehmen Eindruck gemacht hatte. Und wozu hätte ich auch versuchen sollen, es ihr zu verheimlichen? Sie hätte ja doch gemerkt, daß ich es verheimlichen wollte, und wäre mir deshalb nur böse geworden. Daher erzählte ich ihr absichtlich alles möglichst eingehend und bemühte mich, allen ihren Fragen zuvorzukommen, um so mehr, da es ihr selbst in ihrer Lage schwer ankam, mich zu befragen; und es war auch wahrlich keine leichte Aufgabe für sie, sich mit gleichmütiger Miene nach den vortrefflichen Eigenschaften ihrer Nebenbuhlerin zu erkundigen.

Ich glaubte, sie wisse noch nicht, daß Aljoscha auf die ausdrückliche Anordnung des Fürsten hin die Gräfin und Katja aufs Land begleiten sollte, und zerbrach mir den Kopf darüber, wie ich ihr das beibringen könne, um den Schlag für sie möglichst zu mildern. Aber wie groß war mein Erstaunen, als mich Natascha gleich bei den ersten Worten unterbrach und mir sagte, sie bedürfe keiner Tröstungen; sie wisse das schon seit fünf Tagen.

»Mein Gott!« rief ich. »Wer hat es dir denn gesagt?«

»Aljoscha.«

»Wie? Er hat es dir bereits gesagt?«

»Ja, und ich bin zu allem entschlossen, Wanja«, fügte sie mit einer Miene hinzu, in der für mich die deutliche, ungeduldige Weisung lag, dieses Gespräch nicht fortzusetzen.

Aljoscha kam ziemlich häufig zu Natascha, aber immer nur auf einen Augenblick; nur ein einziges Mal blieb er einige Stunden bei ihr, aber das geschah in meiner Abwesenheit. Wenn er eintrat, war er gewöhnlich traurig und blickte sie schüchtern und zärtlich an; aber Natascha kam ihm so zärtlich und freundlich entgegen, daß er sogleich alles vergaß und ganz heiter wurde. Auch mich begann er sehr häufig zu besuchen, fast täglich. Er litt innerlich wirklich große Pein; aber er konnte keinen Augenblick mit seinem Kummer allein sein und kam fortwährend zu mir gelaufen, um Trost zu suchen.

Was konnte ich ihm sagen? Er warf mir Kälte, Gleichgültigkeit, sogar eine feindliche Gesinnung gegen ihn vor; er klagte, weinte, ging zu Katja, und dort wurde ihm ja denn auch Trost zuteil.

An dem Tag, an dem Natascha mir erklärt hatte, sie wisse von Aljoschas bevorstehender Abreise (es war dies ungefähr eine Woche nach meinem Gespräch mit dem Fürsten), kam er ganz verzweifelt zu mir gelaufen, umarmte mich, sank an meine Brust und schluchzte wie ein Kind. Ich schwieg und wartete auf das, was er sagen werde.

»Ich bin ein unwürdiger, gemeiner Mensch, Wanja«, begann er; »rette mich vor mir selbst! Ich weine nicht darüber, daß ich ein unwürdiger, gemeiner Mensch bin, sondern darüber, daß Natascha durch mich unglücklich werden wird. Denn ich werde sie ja dem Unglück überliefern... Wanja, mein Freund, sage du mir, entscheide du für mich: wen liebe ich mehr von den beiden, Katja oder Natascha?«

»Das kann ich nicht entscheiden, Aljoscha«, antwortete ich; »das mußt du besser wissen als ich...«

»Nein, Wanja, so ist es nicht; ich bin ja doch nicht so dumm, daß ich solche Fragen ohne Grund stellen sollte; aber das ist es eben, daß ich es selbst nicht weiß. Ich frage mich und kann mir keine Antwort geben. Du aber siehst die Sache als Unbeteiligter an und weißt vielleicht mehr als ich... Na, wenn du es nicht weißt, dann sage wenigstens, wie es dir scheint!«

»Mir scheint, daß du Katja mehr liebst.«

»Also dir scheint es so! Aber nein, nein, so ist es durchaus nicht! Du hast ganz falsch geraten. Ich liebe Natascha grenzenlos. Um keinen Preis kann ich sie verlassen, niemals; das habe ich auch zu Katja gesagt, und Katja ist mit mir vollständig einer Meinung. Warum schweigst du? Da! ich habe gesehen, daß du eben gelächelt hast. Ach, Wanja, du hast mich niemals getröstet, wenn mir schwer ums Herz war, so wie jetzt... Leb wohl!«

Er lief aus dem Zimmer. Sein Benehmen hatte einen außerordentlichen Eindruck auf die erstaunte Nelly gemacht, die schweigend unser Gespräch mit angehört hatte. Sie war damals noch krank, lag im Bett und nahm Medizin. Aljoscha knüpfte nie ein Gespräch mit ihr an und schenkte ihr bei seinen Besuchen fast gar keine Beachtung.

Zwei Stunden darauf erschien er von neuem, und ich war erstaunt über sein fröhliches Gesicht. Er fiel mir wieder um den Hals und umarmte mich.

»Nun ist alles entschieden!« rief er; »alle Zweifel sind gelöst. Von Ihnen ging ich geradenwegs zu Natascha; ich war ganz verstört; ich konnte es nicht ertragen, von ihr fern zu sein. Als ich bei ihr eintrat, fiel ich vor ihr auf die Knie und küßte ihre Füße; das war mir ein Bedürfnis; es verlangte mich, das zu tun; sonst wäre ich vor Gram gestorben. Sie umarmte mich schweigend und fing an zu weinen. Da sagte ich ihr geradeheraus, daß ich Katja mehr liebe als sie.«

»Und was erwiderte sie darauf?«

»Sie antwortete gar nichts, sondern streichelte und tröstete mich nur, mich, der ich ihr das gesagt hatte! Sie versteht es, einen zu trösten, Iwan Petrowitsch! Oh, ich habe vor ihr all mein Leid ausgeweint, ihr mein ganzes Herz ausgeschüttet. Ich habe ihr geradezu gesagt, daß ich Katja sehr liebe; daß ich aber trotz dieser Liebe zu Katja und zu sonst irgendeinem Menschen doch ohne sie, ohne Natascha, nicht leben kann, sondern zugrunde gehen müßte. Ja, Wanja, nicht einen einzigen Tag kann ich ohne sie leben; das fühle ich; ja! Und darum haben wir beschlossen, uns unverzüglich trauen zu lassen; und da das vor meiner Abreise nicht möglich ist, weil jetzt die Großen Fasten sind und keine Trauungen stattfinden, so soll es bei meiner Rückkehr geschehen, das heißt zum ersten Juni. Mein Vater wird seine Einwilligung geben; daran ist kein Zweifel. Was Katja anbetrifft, so ist da eben nichts zu machen! Ich kann ohne Natascha nicht leben... Wir werden uns trauen lassen und zusammen zu Katja fahren...«

Die arme Natascha! Wie mochte ihr zumute gewesen sein, als sie diesen Knaben getröstet, wie eine Pflegerin bei ihm gesessen, sein Bekenntnis angehört und zur Beruhigung dieses naiven Egoisten das Märchen von der baldigen Heirat ersonnen hatte! Aljoscha war tatsächlich für einige Tage beruhigt. Der Hauptgrund, weswegen er immer zu Natascha hinlief, war der, daß sein schwaches Herz nicht imstande war, Leid allein zu ertragen. Aber als der Zeitpunkt der Trennung heranrückte, geriet er doch wieder in die frühere Unruhe hinein, vergoß Tränen, kam zu mir und weinte seinen Kummer aus. In der letzten Zeit hatte er sich Natascha so eng angeschlossen, daß er sie auch nicht auf einen Tag, geschweige denn auf anderthalb Monate verlassen konnte. Er war indessen bis zum letzten Augenblick fest davon überzeugt, daß er sie nur auf anderthalb Monate verlasse und nach seiner Rückkehr ihre Hochzeit stattfinden werde. Was Natascha betraf, so war sie ihrerseits vollständig darüber im klaren, daß ihr ganzes Schicksal sich jetzt ändere, daß Aljoscha nie mehr zu ihr zurückkehren werde und daß das eben so sein müsse.

Der Tag der Trennung war gekommen. Natascha war krank; blaß, mit fieberhaft entzündeten Augen und ausgetrockneten Lippen, führte sie ab und zu Selbstgespräche und sah mich ab und zu mit einem schnellen, durchdringenden Blick an; sie weinte nicht, antwortete nicht auf meine Fragen und zitterte wie Espenlaub, als die helle Stimme des eintretenden Aljoscha ertönte. Von roter Glut übergossen, eilte sie auf ihn zu, umarmte ihn krampfhaft, küßte ihn, lachte... Aljoscha blickte sie prüfend an, fragte sie einige Male beunruhigt, ob sie auch gesund sei, tröstete sie durch den Hinweis, daß er ja nicht auf lange wegfahre und dann ihre Hochzeit stattfinde. Natascha tat sich offenbar Gewalt an, bezwang sich und unterdrückte ihre Tränen. Sie mochte vor seinen Augen nicht weinen.

Er hatte vorher einmal geäußert, er müsse ihr für die ganze Zeit seiner Abwesenheit Geld dalassen; sie brauche sich darüber nicht zu beunruhigen, da sein Vater versprochen habe, ihm für die Reise eine beträchtliche Summe zu geben. Natascha hatte dazu ein finsteres Gesicht gemacht. Als ich dann mit ihr allein geblieben war, hatte ich ihr mitgeteilt, daß ich für sie hundertfünfzig Rubel als einen Notgroschen in den Händen hätte. Sie fragte mich nicht, woher dieses Geld stamme. Das war zwei Tage vor Aljoschas Abreise gewesen und am Tage vor der ersten und letzten Zusammenkunft Nataschas mit Katja. Katja hatte durch Aljoscha ein Briefchen geschickt, in welchem sie Natascha um die Erlaubnis bat, sie am folgenden Tag besuchen zu dürfen; zugleich hatte sie auch an mich geschrieben und mich gebeten, bei ihrer Zusammenkunft zugegen zu sein.

Ich nahm mir vor, unbedingt um zwölf Uhr, zu der von Katja bestimmten Zeit, bei Natascha zu sein, trotz aller Abhaltungen und anderweitigen Sorgen; deren gab es für mich allerdings viele. Um gar nicht von Nelly zu reden, hatte ich in der letzten Zeit mit den alten Ichmenews viele Mühen und Sorgen gehabt.

Diese Mühen und Sorgen hatten schon eine Woche vorher begonnen. Anna Andrejewna schickte eines Morgens zu mir und ließ mich bitten, alles stehen und liegen zu lassen und in einer sehr wichtigen Angelegenheit, die nicht den geringsten Aufschub dulde, unverzüglich zu ihr zu kommen. Als ich hinkam, fand ich sie allein: fiebernd vor Aufregung und Angst ging sie im Zimmer auf und ab und wartete zitternd auf Nikolai Sergejewitschs Rückkehr. Wie gewöhnlich konnte ich lange Zeit nicht aus ihr herausbekommen, was denn los war und weshalb sie sich so ängstigte; aber dabei war augenscheinlich jede Minute kostbar. Endlich, nach heftigen und nicht zur Sache gehörigen Vorwürfen: warum ich denn nicht zu ihnen käme und sie in ihrem Leid mutterseelenallein ließe, so daß in meiner Abwesenheit Gott weiß was passiere, teilte sie mir mit, daß Nikolai Sergejewitsch sich seit drei Tagen in einer Aufregung befinde, die sich gar nicht beschreiben lasse.

»Er ist gar nicht mehr wiederzuerkennen«, sagte sie. »Er fiebert; nachts betet er, ohne daß ich es merken soll, auf den Knien vor dem Heiligenbild; im Schlaf redet er irre, und im Wachen ist er nur wie halbklug: gestern wollten wir Kohlsuppe essen, und er konnte den Löffel neben sich nicht finden; fragt man ihn nach etwas, so gibt er Antworten, die gar nicht auf die Frage passen. Alle Augenblicke geht er jetzt aus dem Haus; »ich gehe immer in Geschäften aus«, sagt er; »ich muß mit dem Rechtsanwalt reden.« Schließlich schloß er sich heute Morgen in sein Zimmer ein; »ich muß«, sagte er, »ein notwendiges Schriftstück in der Prozeßsache aufsetzen.« − »Na, was wirst du denn für ein Schriftstück aufsetzen können«, dachte ich, »wenn du den Löffel neben deinem Kuvert nicht hast finden können?« Ich sah durchs Schlüsselloch: er saß da und schrieb und zerfloß dabei in Tränen. »Was für ein geschäftliches Schreiben faßt man denn in dieser Weise ab?« dachte ich. »Grämt er sich vielleicht so um unser Gut Ichmenewka? Wir haben also wohl unser liebes Ichmenewka endgültig verloren!« Während ich das so bei mir dachte, sprang er auf einmal vom Tisch auf, stieß mit der Feder auf den Tisch, wurde ganz rot im Gesicht, seine Augen funkelten, er griff nach seinem Hut und kam zu mir heraus. »Ich komme bald wieder zurück, Anna Andrejewna«, sagte er. Sowie er weg war, lief ich sogleich zu seinem Schreibtisch; er hat da infolge unseres Prozesses eine Unmasse von Papieren liegen, erlaubt mir aber nicht, sie anzurühren. Wie oft habe ich ihn gebeten: »Laß mich wenigstens einmal die Papiere aufheben, damit ich den Staub vom Tisch abwischen kann!' Aber nein; er fängt an zu schreien und fuchtelt mit den Armen herum: er ist überhaupt hier in Petersburg so nervös und zänkisch geworden. Also ich trat an den Schreibtisch heran und suchte, was das für ein Schriftstück sein mochte, das er soeben geschrieben hatte. Denn ich wußte genau, daß er es nicht mit sich genommen, sondern beim Aufstehen vom Tisch unter die anderen Papiere geschoben hatte. Na, hier, lieber Iwan Petrowitsch, ist das, was ich gefunden habe; sieh es dir mal an!«

Sie reichte mir ein Blatt Briefpapier, das zur Hälfte vollgeschrieben war, aber mit so vielen Ausstreichungen, daß man es an manchen Stellen gar nicht entziffern konnte. Der arme alte Mann! Gleich aus den ersten Zeilen konnte ich entnehmen, was er geschrieben hatte und an wen. Es war ein Brief an Natascha, an seine geliebte Natascha. Der Briefschreiber begann warm und zärtlich; er bot ihr seine Verzeihung an und forderte sie auf, zu ihm zurückzukehren. Es war schwer, den ganzen Brief zu verstehen, da er widerspruchsvoll und unzusammenhängend geschrieben und durch zahllose Ausstreichungen entstellt war. Man konnte nur erkennen, daß das warme Gefühl, das ihn veranlaßt hatte, die Feder zu ergreifen und die ersten, herzlichen Zeilen niederzuschreiben, schnell nach diesen ersten Zeilen in ein anderes übergegangen war: der Alte machte nun seiner Tochter Vorwürfe, malte ihr ihr Verbrechen mit grellen Farben hin, erinnerte sie mit Entrüstung an ihre Hartnäckigkeit und schalt sie wegen ihrer Gefühllosigkeit, weil sie vielleicht nicht, ein einziges Mal daran gedacht habe, was sie ihrem Vater und ihrer Mutter antue. Für ihren Stolz drohte er ihr mit Bestrafung und mit seinem Fluch und schloß mit der Forderung, sie solle ohne Verzug demütig nach Hause zurückkehren; »dann, erst dann, nach einem ergebungsvollen, musterhaften Leben im Schoß der Familie, werden wir uns vielleicht dazu entschließen können, dir zu verzeihen«, schrieb er. Es war deutlich, daß er sein ursprüngliches hochherziges Gefühl nach einigen Zeilen für Schwäche gehalten, sich desselben geschämt, dann die Qualen des gekränkten Stolzes empfunden und mit Zornesausbrüchen und Drohungen geschlossen hatte. Die alte Frau stand mit gefalteten Händen vor mir und wartete voller Angst, was ich nach dem Durchlesen des Briefes sagen würde.

Ich sagte ihr alles offen heraus, so wie es mir erschien. Nämlich: der Alte sei nicht mehr imstande gewesen, ohne Natascha zu leben, und man könne positiv sagen, daß eine baldige Versöhnung der beiden eine Notwendigkeit sei; indessen hänge doch alles von den Umständen ab. Ich setzte ihr ferner meine Vermutung auseinander, daß der üble Ausgang des Prozesses ihn wahrscheinlich stark angegriffen und erschüttert habe, um gar nicht davon zu reden, wie sehr sein Ehrgefühl durch den Triumph des Fürsten über ihn verletzt sei, und in welche Empörung ihn eine solche Entscheidung des Prozesses versetzt habe. In solchen Augenblicken verlange die Seele nach Teilnahme, und er denke um so lebhafter an diejenige, die er immer über alles in der Welt geliebt habe. Endlich komme vielleicht auch das noch hinzu: da er den Gang von Nataschas Angelegenheit verfolge und über alles unterrichtet sei, so habe er wahrscheinlich gehört, daß Aljoscha sie bald verlassen werde. Er könne sich vorstellen, wie ihr jetzt zumute sei, und habe aus eigener Erfahrung ein Gefühl dafür, wie sehr sie des Trostes bedürfe. Aber dennoch könne er sich nicht überwinden, da er von seiner Tochter beleidigt und unwürdig behandelt zu sein glaube. Es sei ihm gewiß der Gedanke gekommen, daß sie trotzdem nicht aus eigener Initiative zu ihm kommen werde und vielleicht überhaupt nicht an ihre Eltern denke und kein Bedürfnis nach Versöhnung empfinde. »So wird er gedacht haben«, schloß ich die Darlegung meiner Ansicht, »und darum hat er den Brief nicht zu Ende geschrieben, und es werden vielleicht aus alledem noch neue Kränkungen hervorgehen, die er noch stärker empfinden wird als die ersten, und wer weiß, ob nicht die Versöhnung dadurch noch auf lange hinausgeschoben werden wird...«

Die alte Frau hörte mit Tränen an, was ich ihr sagte. Zuletzt, als ich ihr erklärte, ich müsse unbedingt sofort zu Natascha gehen und hätte mich schon durch diesen Besuch verspätet, fing sie an zu zittern und kam damit heraus, daß sie gerade die Hauptsache noch vergessen hätte mir mitzuteilen. Als sie den Brief aus den Papieren herausgenommen habe, hätte sie zufällig das Tintenfaß über ihn umgestoßen. In der Tat war eine ganze Ecke mit Tinte begossen, und die alte Frau ängstigte sich nun schrecklich, der Alte werde an diesem Fleck merken, daß sie während seiner Abwesenheit in seinen Papieren gekramt und den Brief an Natascha gelesen habe. Ihre Furcht war sehr begründet: schon allein der Umstand, daß wir sein Geheimnis kannten, konnte ihn veranlassen, vor Beschämung und Ärger in seinem Groll zu verharren und aus Stolz die Versöhnung hartnäckig zu verweigern.

Aber nach näherer Überlegung konnte ich der Alten zureden, sich nicht weiter zu beunruhigen. Ich sagte ihr, er sei von dem Brief in solcher Erregung aufgestanden, daß er sich unmöglich aller Einzelheiten erinnern könne und jetzt wahrscheinlich denken werde, daß er den Brief selbst beschmutzt und es dann vergessen habe. Nachdem ich Anna Andrejewna auf diese Weise getröstet hatte, legten wir den Brief behutsam wieder an seinen früheren Platz. Beim Weggehen fiel mir noch ein, mit ihr ein ernstes Wort über Nelly zu reden. Es schien mir, daß die arme, verlassene Waise, deren Mutter ebenfalls von ihrem Vater verflucht worden war, vielleicht imstande sein werde, durch die traurige, tragische Erzählung von ihrem früheren Leben und von dem Tod ihrer Mutter den alten Mann zu rühren und zu großmütigen Empfindungen hinzuleiten. Alles war dazu bereit; alles war in seinem Herzen zur Reife gelangt; die Sehnsucht nach seiner Tochter begann bereits über seinen Stolz und über sein gekränktes Ehrgefühl die Oberhand zu gewinnen. Es fehlte nur noch ein Anstoß, ein letzter geeigneter Anlaß, und die Stelle dieses geeigneten Anlasses konnte Nelly ersetzen. Die alte Frau hörte mich mit größter Aufmerksamkeit an: ihr ganzes Gesicht belebte sich von entzückter Hoffnung. Sofort machte sie mir Vorwürfe: warum ich ihr das nicht schon längst gesagt hätte; sie begann, mich ungeduldig über Nelly auszufragen, und versprach zuletzt feierlich, sie werde jetzt selbst ihren Mann bitten, die Waise ins Haus zu nehmen. Sie fing schon an, Nelly herzlich zu lieben, bedauerte, daß diese krank sei, erkundigte sich nach der Art der Krankheit, nötigte mir für Nelly ein Glas mit Eingemachtem auf, das sie selbst eilig aus der Speisekammer holte, brachte mir fünf Rubel in der Voraussetzung, daß ich kein Geld für den Arzt hätte, und als ich sie nicht annahm, fand sie nur mit Mühe eine Beruhigung und einen Trost in dem Gedanken, daß Nelly ja doch auch Kleider und Wäsche brauche und sie ihr somit in dieser Weise nützlich sein könne. Infolgedessen machte sie sich sofort daran, ihren Kasten zu durchwühlen, all ihre Kleider auszubreiten und aus ihnen diejenigen auszuwählen, die sie ›der lieben kleinen Waise‹ schenken könne.

Ich aber ging zu Natascha. Als ich die letzte Treppe hinaufstieg, die, wie ich schon früher gesagt habe, eine Wendeltreppe war, bemerkte ich an ihrer Tür jemand, der sich schon anschickte, anzuklopfen, aber innehielt, weil er meine Schritte hörte. Schließlich gab er, wahrscheinlich nach einigem Schwanken, seine Absicht plötzlich auf und stieg wieder hinunter. Ich stieß mit ihm auf dem letzten Stück der Treppe zusammen, und wie groß war mein Erstaunen, als ich Ichmenew erkannte. Auf der Treppe war es auch bei Tag sehr dunkel. Er lehnte sich an die Wand, um mich vorbeizulassen, und ich erinnere mich an den seltsamen Glanz seiner Augen, die mich unverwandt anblickten. Es kam mir so vor, als sei er sehr rot geworden; mindestens war er furchtbar verlegen, ja geradezu fassungslos.

»Ah, Wanja, du bist es!« sagte er mit unsicherer Stimme. »Ich wollte hier zu jemand... zu einem Schreiber... immer in meiner Prozeßangelegenheit... er ist kürzlich umgezogen... irgendwohin hier in der Gegend... aber er scheint hier nicht zu wohnen. Ich habe mich geirrt. Leb wohl!«

Er ging schnell die Treppe hinunter.

Ich beschloß, Natascha von dieser Begegnung vorläufig nichts zu sagen, ihr aber unbedingt sogleich davon Mitteilung zu machen, sobald sie nach Aljoschas Abreise werde allein zurückgeblieben sein. Augenblicklich war sie seelisch so zerrüttet, daß, wenn sie auch die ganze Tragweite dieser Tatsache völlig begriffen und verstanden hätte, sie doch nicht imstande gewesen wäre, sie so aufzunehmen und zu empfinden wie später in dem Augenblick der letzten überwältigenden Traurigkeit und Verzweiflung. Jetzt war der geeignete Augenblick noch nicht da.

Ich hätte noch an diesem Tag zu Ichmenews gehen können, und es trieb mich auch dazu; aber ich tat es doch nicht. Ich hatte die Empfindung, daß es dem alten Mann peinlich sein werde, mich zu sehen; er konnte sogar denken, ich sei absichtlich infolge der Begegnung so bald gekommen. Ich ging erst zwei Tage darauf zu ihnen; der Alte war in trüber Stimmung, empfing mich aber ziemlich ungezwungen und redete immer von geschäftlichen Dingen.

»Sag doch mal, zu wem gingst du denn damals, so hoch oben; du erinnerst dich wohl, wir trafen uns − wann war es doch gleich? − vorgestern, meine ich«, fragte er auf einmal in lässigem Ton, wandte aber doch die Augen von mir weg zur Seite.

»Es wohnt da ein Freund von mir«, antwortete ich, ebenfalls seitwärts blickend.

»Soso! Und ich suchte meinen Schreiber Astafjew; es war mir dieses Haus bezeichnet worden... aber ich hatte mich geirrt... Nun, also ich sagte dir von meinem Prozeß: das Gericht hat dahin entschieden, daß...« usw.

Er wurde ganz rot, als er von seinem Prozeß zu reden anfing.

Ich erzählte das alles noch an demselben Tag seiner Frau, um ihr eine Freude zu machen, und bat sie unter anderem, ihm jetzt nicht mit besonderem Ausdruck ins Gesicht zu sehen, nicht zu seufzen, keine Anspielungen zu machen, kurz, in keiner Weise zu zeigen, daß sie von seinem letzten ungewöhnlichen Schritt Kenntnis habe. Die alte Frau war so erstaunt und erfreut, daß sie mir zuerst nicht einmal glauben wollte. Ihrerseits erzählte sie mir, sie habe ihrem Mann bereits Andeutungen über die Waise gemacht; aber er habe geschwiegen, obwohl er sie doch früher immer selbst gebeten habe, das Mädchen ins Haus zu nehmen. Wir beschlossen, sie solle ihn am folgenden Tag geradezu, ohne alle Vorreden und Andeutungen, darum bitten. Aber am folgenden Tag befanden wir uns beide in schrecklicher Angst und Unruhe.

Die Sache war die, daß Ichmenew am Vormittag mit einem Beamten gesprochen hatte, der in seinem Prozeß tätig gewesen war. Der Beamte hatte ihm mitgeteilt, er habe ein Gespräch mit dem Fürsten gehabt; der Fürst werde zwar Ichmenewka für sich behalten, beabsichtige aber, ›infolge gewisser Familienverhältnisse‹, den Alten zu entschädigen und ihm die zehntausend Rubel herauszugeben. Von dem Beamten kam der Alte geradenwegs zu mir gelaufen; er war in furchtbarer Erregung; seine Augen funkelten nur so vor Wut. Er rief mich (ich wußte nicht recht, warum) aus der Wohnung auf die Treppe heraus und verlangte energisch, ich solle unverzüglich zum Fürsten gehen und ihm eine Forderung zum Duell überbringen. Ich war so überrascht, daß es lange dauerte, bis ich mich gefaßt hatte. Ich wollte ihm vernünftig zureden; aber der alte Mann geriet in eine solche Wut, daß ihm übel wurde. Ich lief in die Wohnung hinein, um ein Glas Wasser zu holen; aber als ich zurückkam, fand ich ihn nicht mehr auf der Treppe.

Am anderen Tag begab ich mich zu ihm; aber er war nicht mehr zu Hause; er war für ganze drei Tage verschwunden.

Am dritten Tag erfuhren wir alles. Von mir war er geradenwegs zum Fürsten geeilt, hatte ihn aber nicht zu Hause angetroffen und einen Brief dagelassen; in dem Brief hatte er geschrieben, er habe die von ihm dem Beamten gegenüber getane Äußerung erfahren; er halte dieselbe für eine tödliche Beleidigung und den Fürsten für einen gemeinen Menschen und fordere ihn aus diesen Gründen zum Duell; er warne ihn dabei vor einer Ablehnung der Forderung, da er ihn in diesem Fall öffentlich beschimpfen werde.

Anna Andrejewna erzählte mir, er sei bei seiner Rückkehr nach Hause so aufgeregt und angegriffen gewesen, daß er sich sogar habe zu Bett legen müssen. Gegen sie sei er sehr zärtlich gewesen, habe aber auf ihre Fragen nur wenig geantwortet, und es sei augenscheinlich gewesen, daß er mit fieberhafter Ungeduld auf irgend etwas wartete. Am anderen Morgen sei ein Brief mit der Stadtpost gekommen; nachdem er ihn gelesen, habe er aufgeschrien und sich an den Kopf gefaßt. Sie, Anna Andrejewna, sei halbtot gewesen vor Angst. Aber er habe sogleich Hut und Stock ergriffen und sei davongelaufen.

Der Brief war vom Fürsten. Trocken, kurz und höflich erklärte er Ichmenew, daß er für das, was er zu dem Beamten gesagt habe, niemandem Rechenschaft schulde. Obwohl er Ichmenew wegen des verlorenen Prozesses sehr bedauere, könne er doch dem im Prozeß Unterlegenen nicht die Berechtigung zuerkennen, seinen Gegner zum Duell zu fordern. Die ihm angedrohte öffentliche Beschimpfung anlangend, bitte er Herrn Ichmenew, sich darüber keine Sorge zu machen, da eine öffentliche Beschimpfung nicht stattfinden werde und nicht stattfinden könne; sein Brief werde sofort gehörigen Ortes vorgelegt werden, und die benachrichtigte Polizei werde gewiß imstande sein, die erforderlichen Maßregeln zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung zu treffen.

Mit dem Brief in der Hand stürzte Ichmenew sogleich zum Fürsten. Der Fürst war wieder nicht zu Hause; aber der Alte erfuhr von dem Lakaien, daß der Fürst jetzt wahrscheinlich beim Grafen N. sei. Ohne sich lange zu besinnen, lief er zum Grafen. Der Portier des Grafen hielt ihn an, als er die Treppe hinaufsteigen wollte. In maßloser Wut schlug ihn der Alte mit dem Stock. Sogleich wurde er gepackt, vor die Haustür geschleppt und der Polizei übergeben, die ihn zur Wache brachte. Dem Grafen wurde der Vorfall gemeldet. Aber als der anwesende Fürst dem alten Wüstling erklärte, dies sei eben jener Ichmenew, der Vater eben jener Natalja Nikolajewna (der Fürst hatte dem Grafen schon öfter ›auf diesem Gebiet‹ gute Dienste geleistet), da lachte der vornehme Herr nur und ging vom Zorn zur Milde über: er gab Anweisung, Ichmenew laufenzulassen; aber die Entlassung desselben erfolgte seitens der Polizei erst am dritten Tag. Dabei wurde, wahrscheinlich auf Anordnung des Fürsten, dem Alten mitgeteilt, der Fürst selbst habe den Grafen gebeten, gegen ihn Gnade walten zu lassen.

Der Alte kehrte in einem an Wahnsinn grenzenden Zustand nach Hause zurück, warf sich aufs Bett und lag eine ganze Stunde lang da, ohne sich zu bewegen; endlich erhob er sich und erklärte zu Anna Andrejewnas Schrecken feierlich, daß er seine Tochter ›auf ewig‹ verfluche und ihr seinen väterlichen Segen versage.

Anna Andrejewna war aufs äußerste erschrocken; aber sie mußte dem Alten Beistand leisten, und selbst fast ohne Besinnung, wartete und pflegte sie ihn diesen ganzen Tag und fast die ganze Nacht über, benetzte ihm den Kopf mit Essig und legte ihm Eis auf. Er hatte Fieberhitze und redete irre. Ich verließ die beiden erst nach zwei Uhr nachts. Aber am anderen Morgen stand Ichmenew auf und kam gleich an demselben Tag zu mir, um Nelly endgültig zu sich zu nehmen. Aber über die Szene, die sich zwischen ihm und Nelly abspielte, habe ich schon berichtet; diese Szene erschütterte ihn aufs tiefste. Nach Hause zurückgekehrt, legte er sich wieder ins Bett. All dies trug sich am Karfreitag zu, auf welchen die Zusammenkunft Katjas und Nataschas angesetzt war, am Tag vor Aljoschas und Katjas Abreise aus Petersburg. Bei dieser Zusammenkunft war ich zugegen; sie fand am frühen Vormittag statt, noch bevor der Alte zu mir kam und noch bevor Nelly ihren ersten Fluchtversuch unternahm.

Sechstes Kapitel

Aljoscha war schon eine Stunde vor der Zusammenkunft gekommen, um Natascha zu benachrichtigen. Ich meinerseits kam gerade in dem Augenblick, als Katjas Equipage vor der Haustür vorfuhr. Bei Katja war die alte Französin, die auf vieles Bitten hin und nach langem Zaudern endlich eingewilligt hatte, sie zu begleiten und sie sogar allein zu Natascha hinaufgehen zu lassen, aber nur, wenn Aljoscha dabei sei; sie selbst wollte unten im Wagen warten. Katja rief mich heran, und ohne aus dem Wagen zu steigen, bat sie mich, Aljoscha zu ihr zu rufen. Natascha fand ich in Tränen: Aljoscha und sie, beide weinten. Als sie hörte, daß Katja bereits da sei, stand sie von ihrem Stuhl auf, wischte sich die Tränen ab und stellte sich in großer Aufregung der Tür gegenüber hin. Sie war an diesem Morgen ganz weiß gekleidet. Ihr dunkelblondes Haar war glatt zurückgekämmt und hinten in einen festen Knoten zusammengebunden. Diese Haartracht gefiel mir an ihr immer besonders gut. Als Natascha sah, daß ich bei ihr bleiben wollte, bat sie mich, ebenfalls dem Besuch entgegenzugehen.

»Bis jetzt ist es mir nicht möglich gewesen, zu Natascha zu kommen«, sagte Katja zu mir, während wir die Treppe hinaufstiegen. »Ich wurde so beobachtet; es war schrecklich. Ganze vierzehn Tage habe ich gebraucht, um Madame Albert zu überreden; endlich hat sie eingewilligt. Und Sie, Sie, Iwan Petrowitsch, sind nicht ein einziges Mal zu mir gekommen! Schreiben konnte ich Ihnen auch nicht, und ich hatte auch keine Lust dazu, da man ja in einem Brief dem anderen doch nichts klarmachen kann. Und wie sehr verlangte mich danach, mit Ihnen zu sprechen!... Mein Gott, wie mir jetzt das Herz klopft...«

»Die Treppe ist steil«, antwortete ich.

»Nun ja... auch die Treppe... Aber was meinen Sie: wird Natascha mir auch nicht böse sein?«

»Nein, warum sollte sie das?«

»Nun ja, gewiß, warum sollte sie es? Ich werde es gleich selbst sehen; wozu frage ich erst noch?«

Ich führte sie am Arm. Sie war ganz blaß geworden und schien sich sehr zu fürchten. Auf dem letzten Treppenabsatz blieb sie stehen, um Atem zu schöpfen; aber dann blickte sie mich an und stieg entschlossen weiter hinauf.

An der Tür wandte sie sich noch einmal um und flüsterte mir zu: »Ich werde einfach hineingehen und ihr sagen, ich hätte ein solches Vertrauen zu ihr, daß ich ohne Besorgnisse gekommen sei... Übrigens, was rede ich erst noch? Ich bin ja überzeugt, daß Natascha das edelste Geschöpf der Welt ist. Nicht wahr?«

Sie trat schüchtern ein, als ob sie sich einer Schuld bewußt wäre, und blickte Natalja unverwandt an, die ihr sogleich zulächelte. Da trat Katja schnell an sie heran, faßte sie bei den Händen und drückte ihre kleinen, vollen Lippen auf Nataschas Mund. Dann, ehe sie noch ein Wort zu Natascha gesagt hatte, wandte sie sich in ernstem und sogar strengem Ton zu Aljoscha und bat ihn, uns eine halbe Stunde allein zu lassen.

»Sei nicht böse, Aljoscha!« fügte sie hinzu. »Ich wünsche das deswegen, weil ich mit Natascha über eine sehr wichtige, ernste Sache vieles zu reden habe, was du nicht zu hören brauchst. Sei verständig und geh hinaus! Sie aber, Iwan Petrowitsch, bitte ich, hierzubleiben. Sie sollen unser ganzes Gespräch mit anhören.«

»Setzen wir uns!« sagte sie zu Natascha, als Aljoscha hinausgegangen war; »ich will mich so hinsetzen, Ihnen gegenüber. Ich möchte Sie zuerst ein bißchen ansehen.« Sie setzte sich Natascha fast gerade gegenüber und betrachtete sie ein Weilchen unverwandt. Natascha antwortete darauf mit einem unwillkürlichen Lächeln.

»Ich habe schon Ihre Fotografie gesehen«, sagte Katja; »Aljoscha hat sie mir gezeigt.«

»Nun, bin ich gut getroffen?«

»Sie sind schöner«, erwiderte Katja in entschiedenem, ernstem Ton. »Ich habe mir das auch gleich gedacht, daß Sie schöner wären.«

»Wirklich? Und ich kann mich an Ihnen gar nicht satt sehen. Wie hübsch Sie sind!«

»Was reden Sie nur! Bewahre! Liebste, Beste!« rief Katja und ergriff mit ihrer zitternden Hand die Hand Nataschas; beide verstummten wieder und sahen einander an. »Wissen Sie, mein Engel«, unterbrach Katja das Schweigen, »wir können nur eine halbe Stunde zusammen sein; auch darein hat Madame Albert nur mit Mühe und Not eingewilligt, und wir haben doch soviel miteinander zu besprechen... Ich will... ich muß... nun, ich frage Sie ganz einfach: lieben Sie Aljoscha sehr?«

»Ja, sehr.«

»Wenn es so ist... wenn Sie Aljoscha sehr lieben... dann... dann müssen Sie doch auch sein Glück wünschen...«, sagte sie schüchtern und flüsternd.

»Ja, ich wünsche, daß er glücklich werden möge...«

»Das ist richtig... aber nun ist die Frage: Werde ich ihn glücklich machen können? Habe ich ein Recht, so zu reden, da ich ihn Ihnen doch wegnehme? Wenn es Ihnen scheint, daß er mit Ihnen glücklicher sein wird, und wir jetzt zu dieser Ansicht gelangen, dann... dann...«

»Diese Frage ist schon entschieden, Katjuscha; Sie sehen ja selbst, daß alles entschieden ist«, antwortete Natascha leise und ließ den Kopf sinken. Es war ihr offenbar peinlich, das Gespräch fortzusetzen.

Katja hatte sich anscheinend auf eine lange Erörterung des Themas vorbereitet, wer von ihnen beiden am meisten befähigt sei, Aljoscha glücklich zu machen, und wer von ihnen zurücktreten müsse. Aber nach Nataschas Antwort sah sie sofort ein, daß alles schon längst entschieden sei und es keinen Zweck habe, weiter darüber zu reden. Die hübschen Lippen halb geöffnet haltend, blickte sie erstaunt und traurig Natascha an, deren Hand sie noch immer in der ihrigen hielt.

»Lieben Sie ihn sehr?« fragte Natascha plötzlich.

»Ja; und da ist noch ein Punkt, nach dem ich Sie fragen wollte, und ich bin in dieser Absicht hergefahren: Sagen Sie mir, warum lieben Sie ihn eigentlich?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Natascha, und ich glaubte aus dem Ton ihrer Antwort eine ungeduldige Bitterkeit herauszuhören.

»Ist er klug? Wie denken Sie darüber?« fragte Katja.

»Nein; ich liebe ihn einfach, ohne bestimmten Grund.«

»Mir geht es ebenso. Er tut mir immer gewissermaßen leid.«

»Mir ebenfalls«, erwiderte Natascha.

»Was sollen wir jetzt mit ihm machen? Und wie er Sie um meinetwillen hat verlassen können, das begreife ich nicht!« rief Katja. »Gerade jetzt, nachdem ich Sie gesehen habe, begreife ich es nicht!«

Natascha antwortete nichts und blickte zur Erde. Katja schwieg ein Weilchen; dann stand sie plötzlich von ihrem Stuhl auf und umarmte sie. Beide begannen, sich umschlungen haltend, zu weinen. Katja setzte sich auf die Armlehne von Nataschas Lehnstuhl, ohne sie aus ihren Armen zu lassen, und begann, ihr die Hände zu küssen.

»Wenn Sie wüßten, wie sehr ich Sie liebe!« sagte sie weinend. »Wir wollen Schwestern sein; wir wollen immer aneinander schreiben... und ich werde Sie mein Leben lang lieben; ich werde Sie so lieben, so lieben...«

»Hat er Ihnen gesagt, daß im Juni unsere Hochzeit sein soll?« fragte Natascha.

»Ja. Er sagte, auch Sie seien damit einverstanden. Aber das haben Sie doch alles nur so gesagt, um ihn zu trösten, nicht wahr?«

»Gewiß.«

»Das habe ich mir gleich gedacht. Ich werde ihn sehr lieben, Natascha, und Ihnen alles schreiben. Ich glaube, er wird jetzt bald mein Mann werden; es sieht ganz so aus. Und sie reden alle in diesem Sinn. Nataschenka, Sie werden dann wohl wieder... in das Haus Ihrer Eltern zurückkehren?«

Natascha antwortete nichts, sondern gab ihr schweigend einen herzlichen Kuß.

»Werden Sie glücklich!« sagte sie.

»Und Sie... Sie... ebenfalls!« versetzte Katja.

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Aljoscha trat ein. Es war über seine Kraft gegangen, diese halbe Stunde zu warten, und als er nun sah, wie die beiden einander in den Armen lagen und weinten, sank er ganz kraftlos, mit einer Miene tiefsten Leides vor Natascha und Katja auf die Knie.

»Warum weinst du denn?« sagte Natascha zu ihm.

»Wegen der Trennung von mir? Aber es ist ja nicht auf lange; im Juni kommst du ja doch wieder?«

»Und dann wird eure Hochzeit sein«, fügte, ebenfalls um Aljoscha zu trösten, Katja eilig mitten zwischen ihren Tränen hinzu.

»Aber ich bin nicht imstande, nicht imstande, dich auch nur für einen Tag zu verlassen, Natascha. Ich sterbe, wenn ich von dir fern bin... du weißt gar nicht, wie teuer du mir jetzt bist! Gerade jetzt!...«

»Nun, weißt du, wie du es dann machen kannst?« sagte Natascha, die auf einmal lebhafter wurde. »Die Gräfin bleibt ja wohl eine Zeitlang in Moskau?«

»Ja, fast eine Woche«, fiel Katja ein.

»Eine Woche! Dann wäre doch das beste, du begleitest die beiden Damen morgen nach Moskau (das dauert nur einen Tag) und fährst gleich wieder hierher zurück. Und sobald sie von Moskau abreisen müssen, dann nehmen wir voneinander vollständig, auf einen Monat, Abschied, und du kehrst nach Moskau zurück, um sie aufs Land zu begleiten.«

»So ist's richtig, so ist's richtig...«. Ihr könnt dann noch vier Tage zusammen verleben!« rief Katja entzückt und wechselte mit Natascha einen vielsagenden Blick.

Ich kann Aljoschas Entzücken über diesen neuen Plan gar nicht schildern. Er fühlte sich auf einmal völlig getröstet; sein Gesicht strahlte vor Freude; er umarmte Natascha, küßte Katja die Hände und umarmte mich. Natascha blickte ihn mit einem traurigen Lächeln an; aber Katja konnte es nicht ertragen. Sie wechselte mit mir einen Blick, bei dem ihre Augen in heißem Zorn funkelten, umarmte Natascha und erhob sich, um aufzubrechen. Gerade in diesem Augenblick schickte die Französin den Diener mit der Bitte, das Zusammensein schleunigst zu beenden, da die verabredete halbe Stunde schon verflossen sei.

Natascha stand auf. Beide standen einander gegenüber, hielten sich an den Händen gefaßt, und es schien, als suchten sie mit ihren Blicken all das auszudrücken, was ihre Seelen erfüllte.

»Wir werden uns wohl niemals wiedersehen«, sagte Katja.

»Niemals, Katja«, antwortete Natascha.

»Nun, dann wollen wir voneinander Abschied nehmen!«

Beide umarmten sich.

»Fluchen Sie mir nicht!« flüsterte Katja hastig; »ich aber... ich werde immer... seien Sie überzeugt... er wird glücklich werden... Komm, Aljoscha, begleite mich!« sagte sie schnell und ergriff seine Hand.

»Wanja!« sagte Natascha aufgeregt und erschöpft zu mir, als sie hinausgegangen waren; »begleite auch du sie und... komm nicht zurück; Aljoscha wird bis zum Abend bei mir sein, bis acht Uhr; den Abend über kann er nicht bleiben, er muß fortgehen. Ich werde dann allein sein... Komm um neun Uhr her! Ich bitte dich darum!«

Als ich um neun Uhr Nelly nach der Geschichte mit der zerbrochenen Tasse in Alexandra Semjonownas Obhut verlassen hatte und zu Natascha kam, war sie schon allein und erwartete mich mit Ungeduld. Mawra brachte uns den Samowar; Natascha goß mir Tee ein, setzte sich auf das Sofa und forderte mich auf, nahe bei ihr Platz zu nehmen.

»Nun ist alles zu Ende«, sagte sie, mich starr anblickend. Niemals werde ich diesen Blick vergessen.

»Nun ist unsere Liebe zu Ende. Ein halbes Jahr hat es gedauert, und nun ist's fürs ganze Leben vorbei«, fügte sie hinzu und drückte mir die Hand.

Ihre Hand war heiß. Ich redete ihr zu, sich etwas Warmes anzuziehen und sich ins Bett zu legen.

»Gleich, Wanja, gleich, mein lieber Freund! Laß mich nur noch ein bißchen reden und der Vergangenheit gedenken!... Ich bin jetzt wie zerschlagen... Morgen werde ich ihn zum letztenmal sehen, um zehn Uhr... zum letztenmal

»Natascha, du fieberst; gleich wird der Schüttelfrost kommen; schone dich!...«

»Was tut's? Ich habe jetzt diese halbe Stunde seit seinem Fortgehen auf dich gewartet, Wanja, und was meinst du, woran ich gedacht habe, welche Frage ich mir vorgelegt habe? Ich habe mich gefragt: habe ich ihn geliebt oder nicht, und von welcher Art ist unsere Liebe gewesen? Es kommt dir wohl lächerlich vor, Wanja, daß ich mir diese Frage erst jetzt vorlege?«

»Rege dich nicht auf, Natascha...«

»Siehst du, Wanja, ich bin zu dem Ergebnis gekommen, daß ich ihn nicht wie einen mir Gleichstehenden geliebt habe, so wie gewöhnlich eine Frau einen Mann liebt. Ich habe ihn geliebt wie... beinahe wie eine Mutter. Ich meine sogar, daß es überhaupt auf der Welt keine solche Liebe gibt, bei der beide einander wie Gleichgestellte lieben. Wie denkst du darüber?«

Ich betrachtete sie beunruhigt und fürchtete, daß bei ihr ein Nervenfieber im Anzug sei. Es war, als treibe sie ein unwiderstehlicher innerer Drang, als fühle sie ein besonderes Bedürfnis zu reden; manches, was sie sagte, hatte gar keinen Zusammenhang, und sie sprach die Worte manchmal sogar mangelhaft aus. Ich war in großer Besorgnis.

»Er war mein«, fuhr sie fort. »Fast seit der ersten Begegnung mit ihm wurde damals in mir der unwiderstehliche Wunsch rege, daß er mein werden möchte, recht bald mein, und daß er keine andere Frau ansehen, keine andere Frau kennen möchte als mich, mich allein... Katja hat vorhin etwas ganz Richtiges gesagt: ich habe ihn wirklich so geliebt, als ob er mir die ganze Zeit über aus irgendwelchem Grund leid täte... Ich hatte, wenn ich allein geblieben war, immer den heißen, ja qualvollen Wunsch, daß er im höchsten Grad und lebenslänglich glücklich sein möchte. Ich konnte sein Gesicht (du kennst ja den Ausdruck seines Gesichtes, Wanja), ich konnte sein Gesicht nicht ruhig ansehen: ein solcher Ausdruck ist bei keinem anderen Menschen zu finden, und wenn er lachte, so lief mir ein kaltes Zittern über den Leib... Wahrhaftig!...«

»Natascha, höre...«

»Da sagten die Leute nun«, unterbrach sie mich, »und auch du hast es gesagt, daß er charakterlos sei und... und nicht viel mehr Verstand habe als ein Kind. Nun, gerade das habe ich an ihm am allermeisten geliebt... solltest du es glauben? Ich weiß übrigens nicht, ob ich eigentlich dies allein an ihm geliebt habe; ich liebte ihn einfach ganz so, wie er war, und wäre er in irgendeiner Hinsicht ein anderer gewesen, charakterfest oder verständiger, so hätte ich ihn vielleicht nicht so stark geliebt. Weißt du, Wanja, ich will dir noch ein Bekenntnis ablegen; erinnerst du dich, ich hatte mit ihm vor drei Monaten einen Streit, als er bei jener... wie hieß sie doch?... bei dieser Minna gewesen war... Ich erfuhr es und verhörte ihn, und solltest du es glauben: es war mir sehr schmerzlich, gleichzeitig aber auch gewissermaßen angenehm... ich weiß nicht, warum... schon der Gedanke, daß er sich amüsierte... oder nein, das war es nicht: daß auch er wie ein Erwachsener mit anderen Erwachsenen zu schönen Frauen fuhr, daß auch er diese Minna besuchte! Ich... Welch einen Genuß empfand ich damals bei diesem Streit; und dann ihm zu verzeihen... o lieber Freund!«

Sie sah mir ins Gesicht und lachte in einer ganz eigentümlichen Weise. Dann schien sie nachdenklich zu werden, als ob sie alle Erinnerungen noch einmal an ihrer Seele vorüberziehen ließe. Lange saß sie so, mit einem Lächeln auf den Lippen, da und dachte an die Vergangenheit.

»Es war mir die größte Freude, ihm zu verzeihen, Wanja«, fuhr sie fort. »Weißt du was: Wenn er mich dann allein gelassen hatte, ging ich oft im Zimmer auf und ab und grämte mich und weinte; aber ich dachte manchmal: ›Je schuldiger er vor mir dasteht, um so besser...‹, ja! Und weißt du: ich hatte immer die Vorstellung, als ob er ein kleiner Junge wäre und ich dasäße und er mir seinen Kopf auf die Knie legte, einschliefe und ich ihm sachte über den Kopf striche und ihn liebkoste... So stellte ich ihn mir immer vor, wenn er nicht bei mir war... Höre, Wanja«, fügte sie auf einmal hinzu, »was für ein reizendes Wesen ist Katja!«

Es schien mir, als reiße sie selbst absichtlich ihre Wunde auf, als fühle sie eine Art von Bedürfnis danach, ein Bedürfnis, zu leiden und zu verzweifeln... Das kommt bei Herzen, die viel verloren haben, so oft vor!

»Katja kann ihn, wie mir scheint, glücklich machen«, fuhr sie fort. »Sie besitzt Charakter und spricht aus fester, innerer Überzeugung und verkehrt mit ihm so ernst und selbstbewußt; immer redet sie von verständigen Dingen wie eine Erwachsene. Und dabei ist sie selbst noch das reine Kind! Ein liebes, liebes Geschöpf! Oh, mögen sie glücklich werden! Das ist mein heißer Wunsch!«

Die Tränen strömten ihr aus den Augen; ein Schluchzen drang aus ihrem Herzen. Eine halbe Stunde lang konnte sie nicht zu sich kommen und sich auch nur einigermaßen beruhigen.

Welch ein lieber Engel war Natascha! Trotz ihres eigenen Leides vermochte sie es noch an diesem selben Abend, auch an meinen Sorgen Anteil zu nehmen; denn als ich sah, daß sie sich ein wenig beruhigt hatte oder, richtiger gesagt, müde geworden war, erzählte ich, um sie zu zerstreuen, ihr von Nelly... Wir trennten uns an diesem Abend erst spät; ich wartete, bis sie eingeschlafen war, und bat beim Fortgehen Mawra, die ganze Nacht über nicht von der Seite ihrer kranken Herrin zu weichen.

»Oh«, rief ich auf dem Heimweg aus, »wenn doch diese Qualen recht bald, recht bald ein Ende nehmen möchten! Mag das Ende sein, wie es will, aber nur schnell, nur schnell!«

Am anderen Morgen war ich Punkt neun Uhr schon wieder bei ihr. Gleichzeitig mit mir kam auch Aljoscha, um Abschied zu nehmen. Ich mag an diese Szene nicht zurückdenken und werde sie nicht schildern. Natascha hatte sich offenbar vorgenommen, sich stark und fest zu machen und heiter und gleichmütig zu erscheinen, vermochte es aber nicht durchzuführen. Sie umarmte Aljoscha krampfhaft, mit festem Druck. Sie sprach nur wenig mit ihm, sah ihn aber lange und unverwandt mit dem Blick einer Märtyrerin, ja einer Geisteskranken an. Gierig hörte sie auf jedes Wort von ihm, verstand aber nichts von dem, was er zu ihr sagte. Ich erinnere mich, daß er sie bat, ihm zu verzeihen, ihm diese Liebe zu verzeihen und alles, womit er sie während dieser Zeit gekränkt habe, die Fälle von Untreue, seine Liebe zu Katja, seine Abreise... Er sprach in abgerissenen Sätzen; Tränen erstickten seine Stimme. Manchmal versuchte er sie zu trösten, indem er sagte, er reise nur auf einen Monat oder höchstens auf fünf Wochen weg, er werde im Sommer wiederkommen, dann werde ihre Hochzeit sein, und sein Vater werde seine Einwilligung geben; und endlich, was die Hauptsache sei, er werde übermorgen aus Moskau zurückkommen, und dann würden sie noch vier volle Tage zusammen verleben, und somit dauere ihre jetzige Trennung nur einen Tag...

Merkwürdig: er selbst war fest davon überzeugt, daß er die Wahrheit sprach und unfehlbar übermorgen aus Moskau zurückkehren werde − aber warum weinte er dann so und verging fast vor Schmerz? Endlich schlug es elf. Ich konnte ihn nur mit Mühe zum Aufbruch überreden. Der Zug nach Moskau ging Punkt zwölf ab. Es blieb ihm nur noch eine Stunde Zeit. Natascha hat mir selbst nachher gesagt, sie könne sich nicht daran erinnern, wie sie ihn zum letzten Male angesehen habe. Ich erinnere mich, daß sie ihn bekreuzte und küßte und dann, das Gesicht in den Händen verbergend, in das Zimmer zurückstürzte. Ich aber mußte Aljoscha ganz bis zu seiner Equipage bringen; sonst wäre er bestimmt wieder umgekehrt und nie die Treppe hinuntergekommen.

»Meine ganze Hoffnung beruht auf Ihnen«, sagte er zu mir beim Hinuntersteigen. »Mein Freund Wanja! Ich habe mich gegen dich nicht so benommen, wie ich es hätte tun sollen, und bin deiner Liebe niemals wert gewesen; aber sei mir bis zum Ende ein Bruder: liebe sie, verlaß sie nicht, schreib mir alles, möglichst ausführlich und eingehend, schreib möglichst eingehend, damit recht viel darin steht! Übermorgen bin ich wieder hier, bestimmt, ganz bestimmt! Aber dann, wenn ich weg sein werde, dann schreib!«

Ich half ihm beim Einsteigen in den Wagen. »Auf übermorgen!« rief er mir, schon im Fahren, zu. »Bestimmt!«

Mit stockendem Herzschlag kehrte ich nach oben zu Natascha zurück. Sie stand mit verschränkten Armen mitten im Zimmer und blickte mich ganz fremd an, als ob sie mich nicht erkenne. Ihr Haar hatte sich unordentlich verschoben; ihr Blick war trüb und unstet. Mawra stand ganz fassungslos in der Tür und sah sie voller Angst an. Auf einmal funkelten Nataschas Augen auf. »Ah, du bist es! Du!« schrie sie mich an. »Du bist jetzt der einzige, der hiergeblieben ist. Du hast ihn gehaßt! Du hast es ihm nie verzeihen können, daß ich ihn liebte. Jetzt stellst du dich wieder bei mir ein! Was willst du? Bist du gekommen, um mich wieder zu trösten, um mich zu überreden, ich möchte zu meinem Vater gehen, der sich von mir losgesagt und mich verflucht hat? Das wußte ich schon gestern, schon seit zwei Monaten! Aber ich will nicht, ich will nicht! Ich selbst verfluche sie!... Geh weg, geh weg, ich mag dich nicht sehen! Weg, weg!«

Ich sah, daß ich eine Rasende vor mir hatte und daß mein Anblick sie in sinnlose Wut versetzte; ich sagte mir, daß es nicht anders hatte kommen können, und hielt es für das beste, hinauszugehen. Ich setzte mich auf die Treppe, auf die oberste Stufe, und wartete. Manchmal stand ich auf, öffnete die Tür, rief Mawra zu mir und befragte sie; Mawra weinte.

So vergingen anderthalb Stunden. Ich kann nicht schildern, welche Qualen ich in dieser Zeit durchmachte. Mein Herz war von grenzenlosem Schmerz zerrissen und wollte fast sterben. Auf einmal öffnete sich die Tür, und Natascha kam auf die Treppe herausgelaufen, in Hut und Mantel. Sie war wie von Sinnen und sagte mir später selbst, daß sie sich kaum daran erinnere und nicht wisse, wohin sie habe laufen wollen und was sie vorgehabt habe.

Ich hatte nicht Zeit gehabt, von meinem Platz aufzuspringen und mich irgendwo vor ihr zu verstecken, als sie mich plötzlich erblickte und überrascht vor mir regungslos stehenblieb. »Es kam mir plötzlich zum Bewußtsein«, erzählte sie mir später, »daß ich Wahnsinnige, ich Grausame dich hatte von mir wegtreiben können, dich, meinen Freund, meinen Bruder, meinen Retter! Und als ich sah, daß du Armer, den ich so gekränkt hatte, auf meiner Treppe saßest und nicht fortgingst und wartetest, bis ich dich wieder rufen würde − o Gott, wenn du wüßtest, Wanja, wie mir da ward! Es war mir, als stieße mir jemand ein Messer ins Herz...«

»Wanja, Wanja!« rief sie und streckte mir die Hände entgegen. »Du hier!...«

Sie fiel in meine Arme.

Ich fing sie auf und trug sie ins Zimmer. Sie war ohnmächtig. ›Was soll ich tun?‹ dachte ich. ›Sie wird ein Nervenfieber bekommen; das ist sicher!‹ Ich beschloß, zum Arzt zu eilen; wir mußten der Krankheit vorbeugen. Ich konnte schnell hinfahren; bis zwei Uhr war mein alter Deutscher gewöhnlich zu Hause. Ich fuhr zu ihm, nachdem ich Mawra beschworen hatte, keine Minute, keine Sekunde von Nataschas Seite zu weichen und sie nirgends hinzulassen. Gott half mir: wäre ich einen Augenblick später gekommen, so hätte ich meinen Alten nicht mehr angetroffen. Er hatte seine Wohnung bereits verlassen und begegnete mir auf der Straße. Sofort, ehe er noch hatte von seinem Erstaunen zu sich kommen können, nahm ich ihn in meine Droschke, und wir fuhren zu Natascha zurück.

Ja, Gott half mir! In der halben Stunde meiner Abwesenheit hatte sich bei Natascha etwas zugetragen, was ihr hätte den Tod bringen können, wenn ich mit dem Arzt nicht noch rechtzeitig eingetroffen wäre. Nach meinem Weggehen war noch nicht eine Viertelstunde vergangen, als der Fürst ins Zimmer trat. Er hatte die Seinigen soeben zum Bahnhof gebracht und war von dort direkt zu Natascha gefahren. Diesen Besuch hatte er vielleicht schon lange vorher beschlossen und überlegt. Natascha selbst erzählte mir später, daß sie im ersten Augenblick über das Kommen des Fürsten nicht einmal verwundert gewesen sei. »Mein Geist war gestört«, sagte sie.

Er setzte sich ihr gegenüber und sah sie mit freundlichen, teilnahmsvollen Blicken an.

»Meine Liebe«, sagte er seufzend, »ich verstehe Ihren Kummer; ich wußte, wie schwer Ihnen in diesem Augenblick ums Herz sein mußte, und hielt es daher für meine Pflicht, Sie zu besuchen. Trösten Sie sich, wenn Sie es vermögen, wenigstens mit dem Bewußtsein, daß Sie durch Ihren Verzicht auf Aljoscha sein Glück geschaffen haben. Aber Sie wissen das besser als ich, da Sie sich ja zu dieser Handlung der Großmut entschlossen haben...‹

»Ich saß da und hörte ihn reden«, erzählte mir Natascha; »aber am Anfang verstand ich ihn wirklich nicht. Ich erinnere mich nur, daß ich ihn starr und unverwandt ansah. Er ergriff meine Hand und drückte sie in der seinigen. Das war ihm anscheinend eine sehr angenehme Empfindung. Ich aber war meines Geistes so wenig mächtig, daß ich gar nicht auf den Gedanken kam, ihm meine Hand zu entreißen.«

»Sie haben eingesehen«, fuhr er fort, »daß Aljoscha, wenn Sie seine Frau geworden wären, möglicherweise in der Folgezeit eine Abneigung gegen Sie empfunden hätte, und haben genug edlen Stolz besessen, um den Entschluß zu fassen... aber ich bin ja nicht hergekommen, um Sie zu loben. Ich wollte Ihnen nur versichern, daß Sie nie und nirgends einen besseren Freund finden werden als mich. Ich empfinde Teilnahme für Sie und bedaure Sie. Ich habe wider meinen Willen bei dieser ganzen Angelegenheit mitwirken müssen; aber − ich habe meine Pflicht erfüllt. Ihr schönes Herz wird das verstehen und sich mit dem meinigen aussöhnen. Es war mir schmerzlicher als Ihnen; das können Sie mir glauben.«

»Genug, Fürst!« sagte Natascha. »Lassen Sie mich in Ruhe!«

»Gewiß; ich werde sehr bald wieder gehen«, erwiderte er; »aber ich liebe Sie wie eine Tochter und bitte um die Erlaubnis, Sie besuchen zu dürfen. Sehen Sie mich jetzt für Ihren Vater an, und erlauben Sie mir, Ihnen nützlich zu sein!«

»Ich habe nichts nötig; verlassen Sie mich!« unterbrach ihn Natascha wieder.

»Ich weiß, daß Sie stolz sind... Aber ich spreche aufrichtig, von Herzen. Was beabsichtigen Sie jetzt zu tun? Sich mit Ihren Eltern zu versöhnen? Das wäre ja eine sehr gute Handlungsweise; aber Ihr Vater ist ungerecht, stolz und despotisch; verzeihen Sie mir, daß ich das sage; aber es ist so. In Ihrem Elternhaus werden Ihrer jetzt nur Vorwürfe und neue Qualen warten... Sie müssen unabhängig bleiben, und es ist meine Pflicht, meine heilige Pflicht, jetzt für Sie zu sorgen und Ihnen beizustehen. Aljoscha hat mich beschworen, Sie nicht zu verlassen und Ihr Freund zu sein. Aber auch außer mir gibt es noch Leute, die Ihnen außerordentlich ergeben sind. Ich meine, Sie werden mir erlauben, Ihnen den Grafen N. vorzustellen. Er besitzt ein vorzügliches Herz und ist ein Verwandter von uns, ja man kann sogar sagen der Wohltäter unserer ganzen Familie; er hat viel für Aljoscha getan. Aljoscha hat ihn sehr verehrt und geliebt. Er ist ein sehr vielvermögender Mann, von großem Einfluß, schon sehr bejahrt, und Sie können ihn als junges Mädchen unbedenklich empfangen. Ich habe ihm bereits von Ihnen gesprochen. Er kann Ihre Verhältnisse ordnen und wird Ihnen, wenn Sie wollen, eine schöne Stelle bei einer seiner Verwandten verschaffen. Ich habe ihm schon vor längerer Zeit unsere ganze Angelegenheit offen und unverhohlen vorgetragen, und in der Güte und dem Edelmut seines Herzens bittet er mich jetzt selbst, ich möchte ihn Ihnen möglichst bald vorstellen. Er ist ein Mann, der für alles Schöne Sympathie empfindet, glauben Sie mir das, ein freigebiger, achtungswerter alter Herr, der das Verdienst zu schätzen weiß und sich sogar erst kürzlich gegen Ihren Vater bei einem gewissen Vorfall in der hochherzigsten Weise benommen hat.«

Natascha richtete sich, tief beleidigt, auf. Jetzt hatte sie ihn endlich verstanden.

»Verlassen Sie mich, verlassen Sie mich augenblicklich!« rief sie.

»Aber, liebe Freundin, Sie vergessen, daß der Graf auch Ihrem Vater nützlich sein kann...«

»Mein Vater wird nichts von ihm annehmen. Verlassen Sie mich!« rief Natascha noch einmal.

»O mein Gott, wie hitzig und mißtrauisch Sie sind! Womit habe ich das verdient?« sagte der Fürst und blickte mit einiger Unruhe um sich. »Aber jedenfalls werden Sie mir erlauben«, fuhr er fort, indem er ein ziemlich großes Päckchen aus der Tasche zog, »Ihnen diesen Beweis meiner Teilnahme für Sie hierzulassen, und namentlich auch der Teilnahme des Grafen N., der mich mit seinem Rat dazu angeregt hat. Hier in diesem Päckchen befinden sich zehntausend Rubel. Warten Sie, meine Freundin«, fügte er schnell hinzu, als er sah, daß sich Natascha zornig von ihrem Platz erhob, »hören Sie geduldig zu Ende: Sie wissen, daß Ihr Vater seinen Prozeß gegen mich verloren hat, und diese zehntausend Rubel sind eine Entschädigung, die...«

»Weg!« rief Natascha; »weg mit diesem Geld! Ich durchschaue Sie vollständig... Sie gemeiner, gemeiner, gemeiner Mensch!«

Blaß vor Wut erhob sich der Fürst vom Stuhl.

Wahrscheinlich war er in der Absicht gekommen, das Terrain zu sondieren, die derzeitige Lage kennenzulernen, und hatte wahrscheinlich fest darauf gerechnet, daß diese zehntausend Rubel auf die bettelarme, von allen verlassene Natascha ihre Wirkung nicht verfehlen würden. Gemein und roh, wie er war, hatte er dem wollüstigen alten Grafen N. schon zu wiederholten Malen in derartigen Angelegenheiten Dienste geleistet. Aber er haßte Natascha, und da er merkte, daß die Sache nicht nach Wunsch ging, änderte er sogleich seinen Ton und beeilte sich mit boshafter Freude, sie zu beleidigen, um wenigstens nicht ungerächt wegzugehen.

»Das ist nicht hübsch von Ihnen, meine Liebe, daß Sie so heftig werden«, sagte er, und seine Stimme zitterte ein wenig in der ungeduldigen Vorfreude auf die Wirkung seiner Beleidigung;' »das ist nicht hübsch von Ihnen. Man bietet Ihnen Protektion an, und Sie heben stolz das Näschen in die Höhe. Sie wissen wohl nicht, daß Sie allen Anlaß haben, mir dankbar zu sein; denn als Vater eines von Ihnen verführten und ausgebeuteten jungen Mannes hätte ich schon längst Ihre Überführung ins Arbeitshaus veranlassen können. Aber ich habe es nicht getan... hehehe!«

Aber in diesem Augenblick hatten der Arzt und ich die Wohnung bereits betreten. Schon in der Küche vernahm ich Stimmen, hielt den Arzt einen Augenblick zurück und hörte den letzten Satz des Fürsten mit an. Darauf erscholl sein widerliches Gelächter und ein verzweifelter Aufschrei Nataschas: »O mein Gott!« Schnell öffnete ich die Tür und stürzte mich auf den Fürsten. Ich spie ihm ins Gesicht und schlug ihn aus voller Kraft auf die Backe. Er wollte sich auf mich werfen; aber als er sah, daß wir unser zwei waren, ergriff er die Flucht, nachdem er vorher noch sein auf dem Tisch liegendes Geldpäckchen an sich gerafft hatte. Ja, das tat er; ich sah es mit eigenen Augen. Ich warf ihm noch das Mangelholz nach, das ich in der Küche auf dem Tisch zu fassen bekam... Als ich wieder ins Zimmer kam, sah ich, daß der Arzt Natascha festhielt, die um sich schlug und sich aus seinen Händen losreißen wollte, wie wenn sie einen Krampfanfall hätte. Lange Zeit vermochten wir sie nicht zu beruhigen; endlich gelang es uns, sie zu Bett zu bringen; sie war irre wie bei einem hitzigen Fieber.

»Was ist mit ihr, Doktor?« fragte ich, halbtot vor Angst. »Geduld!« antwortete er; »wir müssen uns die Krankheit erst näher ansehen; dann erst können wir uns eine Meinung darüber bilden... aber im allgemeinen läßt sich sagen, daß die Sache recht übel aussieht. Es kann sich sogar ein Nervenfieber daraus entwickeln... Übrigens werden wir unsere Maßnahmen ergreifen...«

Aber in meinem Kopf war bereits ein anderer Gedanke aufgeblitzt. Ich bat den Arzt, noch zwei oder drei Stunden bei Natascha zu bleiben, und ließ mir von ihm versprechen, daß er sich auch nicht für eine Minute von ihr entfernen werde. Er gab mir sein Wort, und ich lief nach Hause.

Nelly saß finster und aufgeregt in einer Ecke und sah mich seltsam an. Gewiß bot ich selbst einen seltsamen Anblick.

Ich faßte sie bei den Händen, setzte mich auf das Sofa, nahm sie auf meinen Schoß und küßte sie herzlich. Sie wurde dunkelrot.

»Nelly, mein Engel!« sagte ich; »willst du unsere Retterin sein? Willst du uns alle retten?« Sie sah mich erstaunt an. »Nelly, unsere ganze Hoffnung beruht jetzt auf dir! Da ist ein Vater: du hast ihn gesehen und kennst ihn; er hat seine Tochter verflucht und ist gestern hergekommen mit der Bitte, du möchtest anstelle der Tochter zu ihm ziehen. Jetzt ist Natascha (und du hast gesagt, daß du sie liebst) von demjenigen verlassen worden, den sie liebte und um dessentwillen sie von ihrem Vater weggegangen war. Er ist der Sohn jenes Fürsten, der, wie du dich erinnern wirst, eines Abends zu mir kam und zunächst dich allein vorfand; und du liefst von ihm weg und wurdest nachher krank... Du kennst ihn doch? Er ist ein schlechter Mensch!«

»Ja, ich kenne ihn«, antwortete Nelly, die zusammengezuckt und blaß geworden war.

»Ja, er ist ein schlechter Mensch. Er haßt Natascha dafür, daß sein Sohn Aljoscha sie heiraten wollte. Heute ist Aljoscha abgereist, und eine Stunde darauf war sein Vater schon bei ihr und beleidigte sie und drohte ihr, sie ins Arbeitshaus bringen zu lassen, und verhöhnte sie. Verstehst du mich, Nelly?«

Ihre schwarzen Augen funkelten; aber sie schlug sie sofort zu Boden.

»Ja«, flüsterte sie kaum hörbar.

»Jetzt ist Natascha allein und krank; ich habe unseren Arzt bei ihr gelassen und bin selbst zu dir gelaufen. Höre, Nelly: wir wollen zu Nataschas Vater gehen; du kannst ihn nicht leiden, du wolltest nicht zu ihm ziehen; aber jetzt wollen wir beide zusammen zu ihm hingehen. Wenn wir eintreten, werde ich sagen, daß du jetzt bereit seist, anstelle der Tochter, anstelle Nataschas, bei ihnen zu leben. Der alte Mann ist jetzt krank, weil er Natascha verflucht hat und weil er von Aljoschas Vater erneut tödlich beleidigt worden ist. Er will jetzt von seiner Tochter überhaupt nichts hören; aber er liebt sie, er liebt sie, Nelly, und möchte sich mit ihr versöhnen; ich weiß das, ich weiß das alles! Es ist so!... Hörst du auch, Nelly?«

»Ich höre«, antwortete sie, wieder nur flüsternd. Während ich zu ihr sprach, strömten mir die Tränen aus den Augen. Sie sah mich schüchtern an.

»Glaubst du es auch?« fragte ich. »Ja, ich glaube es.«

»Nun, dann werde ich mit dir hinfahren. Sie werden dich freundlich aufnehmen und nach allem befragen. Dann werde ich selbst das Gespräch so lenken, daß sie dich nach deinem früheren Leben fragen: nach deiner Mutter und nach deinem Großvater. Erzähle ihnen alles so, wie du es mir erzählt hast, Nelly! Erzähle ihnen alles, alles, ganz schlicht und ohne etwas zu verbergen! Erzähle ihnen, wie der böse Mensch deine Mutter verlassen hat, wie sie im Kellergeschoß bei der Bubnowa dahingesiecht ist; wie ihr, deine Mutter und du, auf den Straßen umhergegangen seid und gebettelt habt; was sie dir auf ihrem Sterbebett gesagt und um was sie dich gebeten hat. Erzähle dabei auch von deinem Großvater! Erzähle, wie er deiner Mutter nicht verzeihen wollte und wie sie dich in ihrer Todesstunde zu ihm schickte, damit er zu ihr käme und ihr verziehe, und wie er es nicht wollte und wie sie starb. Erzähle alles, alles! Und wenn du das alles erzählst, dann wird der alte Mann das im tiefsten Herzen empfinden. Er weiß ja, daß Aljoscha die arme Natascha heute im Stich gelassen hat und daß sie erniedrigt und beschimpft zurückgeblieben ist, einsam, ohne Schutz und Hilfe, den Schmähungen ihres Feindes preisgegeben. Er weiß das alles... Nelly! Rette Natascha! Willst du mit mir hinfahren?«

»Ja«, antwortete sie; sie atmete schwer und sah mich mit einem seltsamen Blick starr und lange an; es lag in diesem Blick eine Art von Vorwurf, und ich fühlte das in meinem Herzen.

Aber ich konnte von meinem Gedanken nicht ablassen. Ich glaubte zu fest an seinen Erfolg. Ich nahm Nelly bei der Hand, und wir gingen hinaus. Es war schon bald drei Uhr nachmittags. Eine dunkle Wolke rückte heran. In der ganzen letzten Zeit war das Wetter heiß und stickig gewesen; aber jetzt ließ sich irgendwo in der Ferne der Donner des ersten Frühlingsgewitters vernehmen. Der Wind fuhr durch die staubigen Straßen.

Wir setzten uns in eine Droschke. Während der ganzen Fahrt schwieg Nelly und sah mich nur von Zeit zu Zeit mit demselben seltsamen, rätselhaften Blick an. Ihre Brust ging heftig auf und nieder, und da ich sie in der Droschke um den Leib faßte, um sie festzuhalten, so fühlte ich, wie ihr kleines Herzchen unter meiner Hand so stark schlug, als ob es hinausspringen wollte.

Siebentes Kapitel

Der Weg erschien mir endlos. Schließlich aber kamen wir doch ans Ziel, und ich trat bei den alten Leuten mit bangem Herzen ein. Ich wußte nicht, wie ich aus ihrem Haus herauskommen würde; aber ich wußte, daß ich alles, was nur irgend in meinen Kräften stand, tun mußte, um Verzeihung und Versöhnung herbeizuführen.

Es war schon drei Uhr durch. Die alten Leute saßen wie gewöhnlich allein. Nikolai Sergejewitsch war sehr niedergeschlagen und krank; er saß, in halb liegender Stellung ausgestreckt, in seinem bequemen Lehnstuhl, blaß und kraftlos, den Kopf mit einem Tuch umbunden. Anna Andrejewna saß neben ihm, befeuchtete ihm von Zeit zu Zeit die Schläfen mit Essig und sah ihm fortwährend mit einem forschenden, schmerzlichen Blick ins Gesicht, was den Alten anscheinend sehr beunruhigte und sogar ärgerte. Er schwieg hartnäckig, und sie wagte nicht, ihn anzureden. Unser plötzliches Kommen überraschte sie beide. Anna Andrejewna bekam einen ordentlichen Schreck, als sie mich und Nelly erblickte, und sah uns im ersten Augenblick so an, als ob sie sich plötzlich irgendwelcher Schuld bewußt würde.

»Da bringe ich Ihnen meine Nelly«, sagte ich beim Eintritt. »Sie hat es sich überlegt und wünscht jetzt selbst, zu Ihnen zu ziehen. Nehmen Sie sie freundlich auf und haben Sie sie lieb!...« Der Alte sah mich mißtrauisch an, und schon seinem Blick konnte ich entnehmen, daß ihm alles bekannt war, nämlich daß Natascha jetzt bereits allein, einsam und verlassen und vielleicht sogar schon Beleidigungen ausgesetzt sei. Es lag ihm sehr daran, den wahren Grund unseres Kommens zu durchschauen, und er sah mich und Nelly fragend an. Nelly zitterte und drückte meine Hand fest mit der ihrigen, schaute zur Erde und warf nur ab und zu wie ein gefangenes Tier einen ängstlichen Blick um sich. Aber Anna Andrejewna sammelte sich bald und erriet den Zusammenhang: sie eilte lebhaft auf Nelly zu, küßte und liebkoste sie, begann sogar zu weinen, wies ihr mit großer Zärtlichkeit einen Platz neben sich an und ließ Nellys Hand nicht aus der ihrigen. Nelly sah sie neugierig und mit einer gewissen Verwunderung von der Seite an.

Aber nachdem die alte Frau Nelly gestreichelt und neben sich gesetzt hatte, wußte sie nicht, was sie nun weiter tun solle, und sah mich mit naiver Erwartung an. Der Alte machte ein finsteres Gesicht und mochte beinah erraten, zu welchem Zweck ich Nelly hergebracht hatte. Als er sah, daß ich seine unzufriedene Miene und seine gerunzelte Stirn bemerkte, führte er seine Hand an den Kopf und sagte kurz zu mir:

»Ich habe Kopfschmerzen, Wanja.«

Wir saßen immer noch da und schwiegen; ich überlegte, wie ich die Sache nun anfangen sollte. Im Zimmer war es dunkel; die schwarze Gewitterwolke rückte höher herauf, und es war von neuem ein fernes Donnerrollen zu hören.

»Für ein Gewitter ist es noch recht früh in diesem Jahr«, sagte der Alte. »Aber ich erinnere mich, im Jahre siebenunddreißig war in unserer Gegend noch früher ein Gewitter.«

Anna Andrejewna seufzte.

»Soll ich nicht den Samowar aufstellen?« fragte sie schüchtern; aber niemand antwortete ihr, und so wandte sie sich wieder an Nelly. »Wie heißt du denn, liebes Kind?« fragte sie sie.

Nelly nannte mit leiser Stimme ihren Namen und ließ den Kopf noch tiefer herabsinken. Der Alte blickte sie unverwandt an.

»Das heißt Jelena, nicht wahr?« fuhr die alte Frau, lebhafter werdend, fort.

»Ja«, antwortete Nelly.

Und wieder folgte ein minuntenlanges Schweigen.

»Deine Schwester Praskowja Andrejewna hatte auch eine Tochter, die Jelena hieß und Nelly genannt wurde«, sagte Nikolai Sergejewitsch. »Ich erinnere mich.« »Und nun hast du, liebes Kind, gar keine Angehörigen mehr, weder Vater noch Mutter?« fragte Anna Andrejewna wieder.

»Nein«, flüsterte Nelly kurz und ängstlich.

»Ich habe es gehört, ich habe es gehört. Ist denn deine liebe Mutter schon lange tot?«

»Nein, noch nicht lange.«

»Du mein liebes Kind, du arme Waise!« fuhr die Alte fort und blickte sie voll Mitleid an.

Nikolai Sergejewitsch trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Tisch.

»Deine liebe Mutter war eine Ausländerin, nicht wahr? So erzähltest du ja wohl, Iwan Petrowitsch?« setzte die alte Frau ihre schüchternen Fragen fort.

Nelly ließ ihre schwarzen Augen eilig zu mir hinlaufen, wie wenn sie mich um Hilfe anriefe. Sie atmete ungleichmäßig und mühsam.

»Ihre Mutter, Anna Andrejewna«, begann ich, »war die Tochter eines Engländers und einer Russin, so daß sie eher eine Russin genannt werden muß; Nelly aber ist im Ausland geboren.«

»Wie ist denn das gekommen, daß ihre Mutter mit ihrem Mann ins Ausland gefahren ist?«

Nelly wurde auf einmal dunkelrot. Die alte Frau merkte sofort, daß sie mit dieser Frage einen Fehler gemacht hatte, und zuckte unter dem zornigen Blick ihres Mannes zusammen. Er sah sie streng an und wandte sich dann von ihr ab zum Fenster.

»Ihre Mutter ist von einem schlechten, gemeinen Menschen betrogen worden«, sagte er, indem er sich plötzlich wieder zu Anna Andrejewna hinwandte. »Sie fuhr mit ihm von ihrem Vater weg und übergab das Geld ihres Vaters ihrem Liebhaber, der es von ihr durch Betrug herausgelockt hatte; dieser brachte sie ins Ausland, bestahl sie und ließ sie im Stich. Ein guter Mensch nahm sich ihrer an und half ihr bis zu seinem Tod. Als er gestorben war, kehrte sie vor zwei Jahren zu ihrem Vater zurück. So hast du ja wohl erzählt, Wanja?« fragte er kurz.

Nelly stand in größter Aufregung von ihrem Platz auf und wollte zur Tür gehen.

»Komm her, Nelly!« sagte der alte Mann und streckte ihr endlich die Hand entgegen. »Setz dich hierher, setz dich neben mich; hierher; setz dich!«

Er beugte sich zu ihr, küßte sie auf die Stirn und streichelte ihr leise den Kopf. Nelly zitterte am ganzen Leib; aber sie beherrschte sich. Anna Andrejewna sah mit Rührung und freudiger Hoffnung, daß ihr Nikolai Sergejewitsch endlich die Waise liebkoste.

»Ich weiß, Nelly, daß ein schlechter, sittenloser Mensch deine Mutter zugrunde gerichtet hat; aber ich weiß auch, daß sie ihren Vater liebte und achtete«, sagte der alte Mann in starker Erregung und fuhr fort, Nellys Kopf zu streicheln; er hatte es sich nicht versagen können, uns in diesem Augenblick diese Herausforderung entgegenzuschleudern.

Eine leichte Röte überzog seine blassen Wangen; aber er bemühte sich, uns nicht anzusehen.

»Mama liebte den Großvater mehr, als der Großvater sie liebte«, sagte Nelly schüchtern, aber in festem Ton, ebenfalls bemüht, niemanden anzublicken. »Woher weißt du denn das?« fragte der Alte scharf; er konnte sich wie ein Kind nicht beherrschen und schien sich selbst seiner Aufwallung sogleich zu schämen.

»Ich weiß es«, erwiderte Nelly kurz. »Er nahm Mama nicht auf und... trieb sie von sich...«

Ich sah, daß Nikolai Sergejewitsch sich anschickte, etwas zu sagen, zu erwidern, vielleicht zu sagen, daß der Alte seine Tochter verdientermaßen nicht aufgenommen habe; aber er sah uns an und schwieg.

»Wo habt ihr denn dann gewohnt, wenn euch der Großvater nicht aufnahm?« fragte Anna Andrejewna, in der auf einmal der eigensinnige Wunsch erwachte, gerade bei diesem Thema zu verbleiben.

»Als wir angekommen waren, suchten wir den Großvater lange«, antwortete Nelly, »aber wir konnten ihn gar nicht finden. Mama sagte mir damals, daß der Großvater früher sehr reich gewesen sei und eine Fabrik habe anlegen wollen, daß er aber nun sehr arm sei, weil der, mit dem Mama weggefahren sei, ihr das ganze Geld des Großvaters weggenommen und nicht wiedergegeben habe. Das hat sie mir selbst gesagt.«

»Hm!« sagte der Alte zur Erwiderung.

»Und sie sagte mir noch«, fuhr Nelly fort, die immer lebhafter wurde und in Wirklichkeit Nikolai Sergejewitschs Zweifel widerlegen wollte, sich aber äußerlich an Anna Andrejewna wandte, »sie sagte mir, der Großvater sei auf sie sehr zornig, und sie selbst habe sich gegen ihn sehr schwer vergangen, und sie habe jetzt auf der ganzen Welt niemanden als den Großvater. Und wenn sie mir das sagte, weinte sie immer... ›Er wird mir nicht verzeihen‹, sagte sie, schon als wir hierherfuhren; ›aber wenn er dich sieht, wird er dich vielleicht liebgewinnen und um deinetwillen auch mir verzeihen.‹ Mama liebte mich sehr, und wenn sie so redete, küßte sie mich immer; aber zum Großvater zu gehen, davor fürchtete sie sich sehr. Sie lehrte mich auch für den Großvater beten und betete selbst für ihn und erzählte mir noch vieles, wie sie früher mit dem Großvater gelebt habe, und wie der Großvater sie sehr liebgehabt habe, lieber als alles andere auf der Welt. Sie habe ihm abends etwas auf dem Klavier vorgespielt und ihm Bücher vorgelesen, und der Großvater habe sie geküßt und ihr viele Sachen geschenkt... alles mögliche habe er ihr geschenkt, und einmal hätten sie sich deswegen sogar erzürnt, an Mamas Namenstag. Der Großvater habe nämlich gedacht, Mama wisse noch nicht, was er ihr schenken werde; Mama habe es aber schon längst gewußt. Mama habe gern ein Paar Ohrringe haben wollen, und der Großvater habe sie immer absichtlich zu täuschen gesucht und gesagt, er werde ihr keine Ohrringe schenken, sondern eine Brosche. Und als er nun die Ohrringe gebracht und gesehen habe, daß Mama es schon wußte, daß es Ohrringe sein würden und nicht eine Brosche, da habe er sich sehr darüber geärgert, daß Mama es vorher gewußt habe, und habe einen halben Tag lang nicht mit ihr gesprochen; aber dann sei er von selbst gekommen und habe sie geküßt und um Verzeihung gebeten...« Nelly erzählte sehr eifrig, und es spielte sogar eine leichte Röte auf ihren blassen, kranken Wangen.

Offenbar hatte ihre Mama oftmals mit ihrer kleinen Nelly von ihren früheren glücklichen Tagen gesprochen, wenn sie im Kellergeschoß in ihrem Verschlag saß und ihr Töchterchen (den einzigen Trost, der ihr im Leben geblieben war) umarmte und küßte und, sich über sie beugend, weinte. Und sie hatte dabei nicht geahnt, wie stark diese ihre Erzählungen auf das krankhaft empfindliche, früh entwickelte Gemüt des kranken Kindes wirkten.

Aber Nelly, die sich von ihrer Erzählung hatte hinreißen lassen, kam auf einmal zur Besinnung, blickte mißtrauisch im Kreise herum und verstummte. Der Alte runzelte die Stirn und trommelte von neuem auf dem Tisch; in Anna Andrejewnas Augen schimmerten ein paar Tränen, die sie schweigend mit dem Taschentuch wegwischte.

»Mama kam hier sehr krank an«, fügte Nelly leise hinzu. »Sie hatte heftige Brustschmerzen. Wir suchten den Großvater lange und konnten ihn nicht finden; wir selbst wohnten im Kellergeschoß, in einem Verschlag.«

»Eine Kranke in einem Verschlag im Kellergeschoß!« rief Anna Andrejewna.

»Ja... in einem Verschlag...« antwortete Nelly.

»Mama war arm. Mama sagte mir«, fügte sie, lebhafter werdend, hinzu, »es sei keine Sünde, arm zu sein; eine Sünde sei es, reich zu sein und anderen Unrecht zu tun... Sie sei von Gott gestraft worden.«

»Ihr wohntet wohl auf der Wassili-Insel? Das war wohl bei der Bubnowa, nicht wahr?« fragte der Alte, sich an mich wendend, und suchte einen gewissen lässigen Ton in seine Frage zu legen. Er fragte, als sei es ihm peinlich, so stumm dazusitzen.

»Nein, nicht dort; zuerst wohnten wir in der Mjeschtschanskaja«, erwiderte Nelly. »Da war es sehr dunkel und feucht«, fuhr sie nach kurzem Stillschweigen fort, »und Mama wurde sehr krank; aber sie konnte damals noch gehen. Ich wusch ihr die Wäsche; sie aber weinte viel. Da wohnten auch eine alte Kapitänswitwe und ein pensionierter Beamter; der kam immer betrunken nach Hause, und jede Nacht machte er Geschrei und Lärm. Ich fürchtete mich sehr vor ihm. Mama nahm mich zu sich ins Bett und umarmte mich und zitterte manchmal selbst am ganzen Leib, wenn der Beamte schrie und schimpfte. Einmal wollte er die Kapitänswitwe prügeln; die war aber eine ganz alte Frau und ging am Stock. Meiner Mama tat sie leid, und sie trat für sie ein; da schlug der Beamte auch Mama und ich den Beamten...«

Nelly hielt inne. Die Erinnerung regte sie heftig auf; ihre Augen funkelten.

»Herr du mein Gott!« rief Anna Andrejewna; sie fühlte sich von der Erzählung im höchsten Grad gefesselt und ließ kein Auge von Nelly, die sich hauptsächlich an sie wandte.

»Damals ging Mama aus«, fuhr Nelly fort, »und nahm mich mit. Das war am Tag. Wir gingen immer auf den Straßen umher bis zum Abend, und Mama weinte und ging immer weiter und führte mich an der Hand. Ich war sehr müde; auch hatten wir den ganzen Tag über nichts gegessen. Mama aber redete mit sich selbst, und zu mir sagte sie immer: ›Bleibe arm, Nelly, und wenn ich sterbe, so höre auf niemanden und auf nichts. Geh zu keinem Menschen; bleib allein und arm und arbeite, und wenn du keine Arbeit hast, dann bitte um Almosen, aber zu ihnen gehe nicht!‹ Als es schon ganz dämmrig war, überschritten wir eine große Straße; auf einmal rief Mama: ›Asorka, Asorka!‹, und ein großer Hund, ohne Haare, kam zu Mama gelaufen und winselte und stürzte auf sie zu; Mama aber erschrak heftig, wurde blaß, schrie auf und warf sich vor einem hochgewachsenen alten Mann auf die Knie, der an einem Stock ging und zur Erde blickte. Und dieser hochgewachsene alte Mann war der Großvater, und er war so hager und hatte so schlechte Kleider an. Da sah ich den Großvater zum erstenmal. Der Großvater war ebenfalls sehr erschrocken und war ganz blaß geworden, und als er sah, daß Mama ihm zu Füßen lag und seine Knie umfaßte, da riß er sich los und stieß Mama von sich und stampfte mit dem Stock auf die Steine und ging schnell von uns weg. Asorka blieb noch bei uns und heulte immer und leckte Mama; dann lief er zum Großvater hin, faßte ihn am Rockschoß und wollte ihn zurückziehen; aber der Großvater schlug ihn mit dem Stock. Asorka wollte wieder zu uns laufen; aber der Großvater rief ihn; da lief er dem Großvater nach und heulte immer. Mama aber lag da wie tot; um uns herum sammelten sich Leute; auch die Polizei kam. Ich schrie immer und suchte Mama aufzuheben. Endlich stand sie auf, blickte um sich und folgte mir. Ich führte sie nach Hause. Die Leute sahen uns noch lange nach und schüttelten alle die Köpfe...«

Nelly hielt inne, um Atem zu schöpfen und Kraft zu sammeln. Sie war sehr blaß; aber in ihrem Blick funkelte eine feste Entschlossenheit. Es war deutlich, daß sie entschlossen war, nun auch alles, alles zu sagen. Sie hatte in diesem Augenblick sogar etwas Herausforderndes an sich.

»Nun ja«, bemerkte Nikolai Sergejewitsch mit unsicherer Stimme und in gereiztem, scharfem Ton; »nun ja, deine Mutter hatte ihren Vater schwer gekränkt, und er hatte sie verdientermaßen verstoßen...«

»Das hat Mama zu mir auch gesagt«, fiel Nelly ebenfalls in scharfem Ton ein; »und als wir damals nach Hause gingen, sagte sie immer: ›Das ist dein Großvater, Nelly; ich habe mich gegen ihn schwer vergangen, und er hat mich verflucht; dafür bestraft mich Gott jetzt.‹ Und jenen ganzen Abend und die ganzen folgenden Tage sagte sie immer dasselbe. Aber sie redete, als ob sie von sich selbst nichts wüßte...«

Der Alte schwieg.

»Und wie seid ihr denn dann in die andere Wohnung gekommen?« fragte Anna Andrejewna, die immer noch leise weinte.

»Mama wurde noch in derselben Nacht recht krank, und die Kapitänswitwe fand die Wohnung bei der Bubnowa, und am dritten Tag zogen wir um und die Kapitänswitwe mit uns; und nach dem Umzug wurde Mama ganz bettlägerig und lag drei Wochen lang krank, und ich pflegte sie. Das Geld war uns völlig ausgegangen; die Kapitänswitwe und Iwan Alexandrowitsch halfen uns.«

»Das ist der Sargtischler, bei dem sie wohnten«, fügte ich zur Erklärung hinzu.

»Als aber Mama wieder vom Bett aufstand und zu gehen anfing, da erzählte sie mir auch von Asorka.«

Nelly hielt inne. Der Alte schien sich darüber zu freuen, daß das Gespräch auf Asorka überging.

»Was hat sie dir denn von Asorka erzählt«, fragte er. Er beugte sich in seinem Lehnstuhl weiter nach vorn, als ob er sein Gesicht noch mehr verbergen und uns nur von unten sehen wolle.

»Sie redete immer zu mir vom Großvater«, antwortete Nelly; »in ihrer Krankheit sprach sie dauernd von ihm, und auch wenn sie irreredete, war er der Gegenstand. Als sie nun in der Genesung war, da erzählte sie mir, wie sie früher gelebt hatte... und da erzählte sie auch von Asorka. Es hatten nämlich einmal am Fluß vor der Stadt Jungen diesen Asorka an einem Strick hinter sich hergeschleppt, um ihn zu ertränken, und Mama hatte ihnen Geld gegeben und ihnen Asorka abgekauft. Als der Großvater Asorka erblickt hatte, hatte er furchtbar über ihn gelacht. Aber Asorka war wieder entlaufen. Mama hatte angefangen zu weinen; der Großvater war darüber ganz erschrocken gewesen und hatte gesagt, er wolle demjenigen, der Asorka wiederbringe, hundert Rubel geben. Am dritten Tag wurde er wiedergebracht; der Großvater bezahlte die hundert Rubel und gewann seitdem Asorka lieb. Mama aber liebte ihn so, daß sie ihn sogar mit in ihr Bett nahm. Sie erzählte mir, Asorka sei früher mit Komödianten auf den Straßen herumgezogen und habe verstanden aufzuwarten und einem Affen als Reittier zu dienen und mit einem Gewehr zu exerzieren und sonst noch vieles. Und als Mama von dem Großvater wegging, da behielt er Asorka bei sich und ging immer mit ihm, so daß Mama, als sie damals auf der Straße Asorka erblickte, auch sogleich wußte, daß der Großvater da sein müsse...«

Der Alte hatte offenbar etwas anderes über Asorka zu hören erwartet und machte ein immer finstereres Gesicht. Er stellte von nun an keine Fragen mehr.

»Und seitdem habt ihr also den Großvater nicht mehr zu sehen bekommen?« fragte Anna Andrejewna.

»Doch; als Mama in der Genesung war, da traf ich den Großvater wieder. Ich ging zum Bäcker, um Brot zu holen: auf einmal sah ich einen Mann mit Asorka; ich sah näher hin und erkannte den Großvater. Ich trat zur Seite und drückte mich an ein Haus. Der Großvater blickte mich an, betrachtete mich lange und sah so schrecklich aus, daß ich große Angst vor ihm hatte; dann ging er vorbei; Asorka aber erinnerte sich meiner und begann, neben mir umherzuspringen und mir die Hände zu lecken. Ich lief, so schnell ich nur konnte, nach Hause; dabei blickte ich mich noch einmal um und sah, daß der Großvater in den Bäckerladen ging. Da dachte ich: gewiß erkundigt er sich nach mir, und ich bekam noch mehr Angst, und als ich nach Hause kam, sagte ich Mama nichts davon, damit Mama nicht wieder krank würde. Ich selbst aber ging am anderen Tag nicht zum Bäcker, sondern sagte, ich hätte Kopfschmerzen; und als ich am darauffolgenden Tag hinging, da begegnete ich niemandem und fürchtete mich schrecklich, so daß ich den ganzen Weg lief. Und wieder einen Tag später ging ich hin, und sowie ich um die Ecke herumkam, stand da der Großvater mit Asorka vor mir. Ich lief weg, bog in eine andere Straße ein und näherte mich dem Bäckerladen von der anderen Seite: da stieß ich plötzlich wieder gerade auf den Großvater und bekam einen solchen Schreck, daß ich auf dem Fleck stehenblieb und nicht weitergehen konnte. Der Großvater stellte sich vor mich hin und sah mich wieder lange an, und dann streichelte er mir den Kopf, nahm mich bei der Hand und führte mich, und Asorka folgte uns und wedelte mit dem Schwanz. Da sah ich erst, daß der Großvater gar nicht mehr gerade gehen konnte und sich immer auf den Stock stützte und daß ihm die Hände fortwährend zitterten. Er führte mich zu einem Straßenhändler, der an der Ecke saß und Pfefferkuchen und Äpfel feilhielt. Der Großvater kaufte einen Hahn und einen Fisch von Pfefferkuchen und ein Stück Zuckerwerk und einen Apfel, und als er das Geld aus dem Lederbeutelchen nahm, da zitterten seine Hände sehr, und es fiel ihm ein Fünfkopekenstück hin, und ich hob es ihm auf. Er schenkte mir dieses Fünfkopekenstück und gab mir den Pfefferkuchen und das andere, und streichelte mir den Kopf; aber er sagte wieder nichts, sondern ging von mir weg nach Hause.

Als ich dann zu Mama kam, erzählte ich ihr alles von dem Großvater und wie ich zuerst vor ihm Angst gehabt und mich vor ihm versteckt hatte. Mama glaubte mir zuerst nicht; aber dann freute sie sich so, daß sie mich den ganzen Abend über ausfragte, mich küßte und weinte; und als ich ihr alles erzählt hatte, da befahl sie mir im voraus, ich solle mich nie vor dem Großvater fürchten; der Großvater habe mich offenbar lieb, wenn er so absichtlich komme, um mich zu sehen. Und sie hieß mich freundlich gegen den Großvater sein und mit ihm sprechen. Und am nächsten Tag schickte sie mich am Vormittag mehrmals aus, obgleich ich ihr sagte, daß der Großvater immer erst gegen Abend komme. Sie selbst aber folgte mir in einiger Entfernung und versteckte sich hinter einer Ecke, und am anderen Tag ebenso; aber der Großvater kam nicht. Aber an diesen Tagen regnete es, und Mama erkältete sich sehr, weil sie immer mit mir auf die Straße gegangen war, und sie mußte sich wieder hinlegen.

Der Großvater aber kam erst nach einer Woche wieder und kaufte mir wieder einen Fisch und einen Apfel und sagte wieder kein Wort. Aber als er von mir fortgegangen war, ging ich ihm heimlich nach, denn das hatte ich mir im voraus so ausgedacht, um zu erfahren, wo er wohnte, und es Mama zu sagen. Ich ging in ziemlicher Entfernung auf der anderen Seite der Straße, so daß der Großvater mich nicht sah. Er wohnte aber sehr weit, nicht dort, wo er nachher gewohnt hat und gestorben ist, sondern in der Gorochowaja, ebenfalls in einem großen Haus, im vierten Stock. Ich brachte alles in Erfahrung und kehrte erst spät nach Hause zurück. Mama war in großer Angst, weil sie nicht gewußt hatte, wo ich war. Als ich ihr aber alles erzählte, da freute Mama sich wieder sehr und wollte sogleich zum Großvater gehen, gleich am nächsten Tag; aber am nächsten Tag kamen ihr Angst und Bedenken, und sie fürchtete sich ganze drei Tage lang und ging nicht hin. Aber dann rief sie mich zu sich und sagte: ›Höre, Nelly, ich bin jetzt krank und kann nicht hingehen; aber ich habe einen Brief an deinen Großvater geschrieben; geh zu ihm und gib ihm den Brief! Und gib acht, Nelly, was er für ein Gesicht macht, wenn er ihn liest, und was er sagt, und was er tut; und falle vor ihm auf die Knie, küsse ihm die Hand und bitte ihn, er möchte deiner Mama verzeihen...‹ Und Mama weinte sehr und küßte mich immer und bekreuzte mich für den Weg und betete, und ich mußte mit ihr vor dem Heiligenbild niederknien, und obgleich sie sehr krank war, begleitete sie mich doch bis an das Tor unseres Hauses, und als ich mich umwandte, stand sie immer noch da und sah mir nach, wie ich hinging... Ich kam zum Großvater und öffnete die Tür, die keinen Vorlegehaken hatte. Der Großvater saß am Tisch und aß Brot mit Kartoffeln, und Asorka stand vor ihm, sah zu, wie er aß, und wedelte mit dem Schwanz. Auch in jener Wohnung des Großvaters waren die Fenster klein und trüb, und im Zimmer standen nur ein Tisch und ein Stuhl. Da wohnte er ganz allein. Als ich eintrat, erschrak er so, daß er blaß wurde und anfing zu zittern. Ich erschrak ebenfalls und sagte nichts, sondern trat nur an den Tisch heran und legte den Brief darauf. Sowie der Großvater den Brief erblickte, wurde er so zornig, daß er aufsprang, den Stock ergriff und gegen mich ausholte; aber er schlug mich nicht, sondern führte mich nur auf den Flur hinaus und stieß mich weg. Ich war noch nicht die erste Treppe hinuntergestiegen, als er die Tür noch einmal aufmachte und mir den Brief ungeöffnet nachwarf. Ich ging nach Hause und erzählte alles. Da mußte Mama sich wieder ins Bett legen...«

Achtes Kapitel

In diesem Augenblick erscholl ein starker Donnerschlag, und der Regen schlug in kräftigem Guß gegen die Scheiben; im Zimmer wurde es dunkel. Die alte Frau hatte einen argen Schreck bekommen und bekreuzigte sich. Wir alle schwiegen auf einmal.

»Es wird gleich vorübergehen«, sagte der Alte, indem er nach dem Fenster blickte; dann stand er auf und ging im Zimmer auf und ab.

Nelly verfolgte ihn mit schrägen Blicken. Sie befand sich in einer außerordentlichen, krankhaften Aufregung. Ich sah das; aber sie vermied es, mich anzusehen. »Nun, und was geschah dann weiter?« fragte der Alte, indem er sich wieder in seinen Lehnstuhl setzte. Nelly blickte ängstlich um sich.

»Also hast du deinen Großvater dann nicht wieder gesehen?«

»Doch, ich habe ihn gesehen...«

»Ja, ja, erzähle, mein liebes Kind, erzähle!« fiel Anna Andrejewna ein.

»Ich sah ihn drei Wochen lang nicht wieder«, begann Nelly, »bis zum Anfang des Winters. Da wurde es kalt und schneite. Als ich den Großvater an der früheren Stelle wiedertraf, freute ich mich sehr; denn Mama grämte sich darüber, daß er nicht mehr kam. Sobald ich ihn erblickte, lief ich absichtlich auf die andere Seite der Straße, damit er sehen sollte, daß ich vor ihm wegliefe. Aber ich blickte mich um, und da sah ich, daß der Großvater zuerst mir schnell nachging und dann sogar zu laufen anfing, um mich einzuholen, und immer rief: ›Nelly, Nelly!‹ Und Asorka lief hinter ihm her. Er dauerte mich, und ich blieb stehen. Der Großvater kam heran und nahm mich bei der Hand und ging neben mir her, und als er sah, daß ich weinte, blieb er stehen, sah mich an, beugte sich zu mir herab und küßte mich. Da sah er, daß ich schlechte Schuhe anhatte, und fragte mich, ob ich keine anderen hätte. Da sagte ich ihm sogleich, daß Mama gar kein Geld hätte und daß unsere Wirtsleute uns nur aus Mitleid etwas zu essen gäben. Der Großvater sagte nichts dazu; aber er führte mich auf den Markt und kaufte mir ein Paar Schuhe und befahl mir, sie gleich da anzuziehen, und dann führte er mich in seine Wohnung nach der Gorochowaja; vorher aber ging er noch in einen Laden und kaufte eine Pastete und zwei Stücke Zuckerwerk, und als wir zu ihm nach Hause kamen, sagte er, ich solle die Pastete essen, und sah mir zu, während ich aß; und dann gab er mir das Zuckerwerk. Asorka aber hatte die Pfoten auf den Tisch gelegt und bat auch um ein Stückchen Pastete, und ich gab ihm etwas ab, und der Großvater lachte. Dann nahm er mich, stellte mich vor sich hin, streichelte mir den Kopf und fragte, ob ich etwas gelernt hätte und was ich wüßte. Ich sagte es ihm, und er befahl mir, ich solle, wenn es mir irgend möglich wäre, täglich um drei Uhr zu ihm kommen; er wolle mich dann selbst unterrichten. Darauf sagte er mir, ich solle mich umdrehen und durch das Fenster sehen, bis er sagen würde, daß ich mich wieder zu ihm hinwenden dürfe. Ich stellte mich auch so hin; aber heimlich drehte ich mich um und sah, daß er sein Kopfkissen an der einen unteren Ecke auftrennte und vier Rubel herausnahm. Als er sie herausgenommen hatte, brachte er sie mir und sagte: ›Das ist für dich allein.‹ Ich wollte das Geld schon nehmen; aber dann bedachte ich mich und sagte: ›Wenn es für mich allein sein soll, dann nehme ich es nicht.‹ Der Großvater wurde auf einmal zornig und sagte: ›Nun, dann nimm es und mach damit, was du willst! Geh weg!‹ Ich ging hinaus, und er küßte mich diesmal nicht. Als ich nach Hause kam, erzählte ich alles Mama. Mit Mama aber wurde es immer schlechter und schlechter. Zu dem Sargtischler kam ein Student der Medizin; der behandelte Mama ärztlich und verschrieb ihr etwas zum Einnehmen.

Ich aber ging häufig zum Großvater: Mama wünschte es. Der Großvater kaufte ein Neues Testament und ein Geographiebuch und unterrichtete mich; manchmal erzählte er mir auch, was für Länder es auf der Erde gibt und was für Menschen darin wohnen und was für Meere es gibt und was früher alles geschehen ist und wie Christus uns alle erlöst hat. Wenn ich selbst ihn nach etwas fragte, so freute er sich sehr; darum fragte ich ihn auch häufig, und er erzählte mir alles und sprach auch viel von Gott. Manchmal aber lernten wir nicht, sondern spielten mit Asorka: Asorka hatte mich sehr liebgewonnen, und ich lehrte ihn, über den Stock zu springen, und der Großvater lachte und streichelte mir immer den Kopf. Aber lachen tat der Großvater nur selten. Manchmal sprach er viel; aber dann verstummte er plötzlich wieder und saß da, als ob er eingeschlafen wäre; aber die Augen waren offen. So saß er bis zur Dämmerung; in der Dämmerung aber sah er so furchtbar aus, so alt... Und manchmal wieder, wenn ich zu ihm kam, saß er auf seinem Stuhl in Gedanken versunken und hörte nichts, und Asorka lag neben ihm. Ich wartete und wartete und hustete; aber der Großvater blickte nicht auf. So ging ich denn wieder weg. Zu Hause aber wartete Mama immer schon ungeduldig auf mich; sie lag im Bett, und ich erzählte ihr alles, alles, so daß es darüber Nacht wurde; aber ich redete immer noch vom Großvater, und sie hörte zu: was er heute getan hatte, und was er mir erzählt hatte, was für Geschichten, und was er mir für eine Aufgabe aufgegeben hatte. Und wenn ich von Asorka anfing, daß ich ihn hatte über den Stock springen lassen und daß der Großvater gelacht hatte, dann fing auch sie auf einmal an zu lachen, und sie lachte manchmal lange und freute sich und ließ es mich noch einmal wiederholen und fing dann an zu beten. Ich aber dachte immer: ›Wie geht das zu? Mama hat den Großvater so sehr lieb und er sie gar nicht‹, und als ich wieder zum Großvater kam, erzählte ich ihm absichtlich, wie lieb Mama ihn hätte. Er hörte das an, machte aber ein so zorniges Gesicht; er hörte es an, ohne ein Wort zu sagen; dann fragte ich ihn noch, woher denn das komme, daß Mama ihn so liebhabe und immer nach ihm frage, und er sich niemals nach Mama erkundige. Der Großvater wurde sehr böse und jagte mich vor die Tür; ich wartete ein Weilchen vor der Tür, und da machte er auf einmal die Tür wieder auf und rief mich zurück; aber er war immer noch zornig und schwieg. Als wir aber dann anfingen, das Neue Testament zu lesen, da fragte ich wieder, wie denn das zugehe, daß Jesus Christus gesagt habe: ›Liebet euch untereinander und verzeiht die Beleidigungen!‹ und er Mama nicht verzeihen wolle. Da sprang er auf und schrie, das habe Mama mir eingetrichtert, stieß mich zum zweitenmal hinaus und sagte, ich solle mich jetzt nie wieder erdreisten, zu ihm zu kommen. Ich erwiderte ihm aber, ich würde jetzt schon von selbst nicht mehr zu ihm kommen, und ging von ihm weg... Aber der Großvater zog am folgenden Tag in eine andere Wohnung...«

»Ich habe es ja gesagt, daß der Regen bald vorübergehen werde; da ist er auch schon vorbei, da kommt schon die Sonne... sieh nur, Wanja!« sagte Nikolai Sergejewitsch, sich zum Fenster wendend.

Anna Andrejewna sah ihn höchst erstaunt an, und auf einmal blitzte ein Gefühl der Empörung in den Augen der bisher so friedlichen, schüchternen alten Frau auf. Schweigend faßte sie Nelly bei der Hand und setzte sie auf ihren Schoß.

»Erzähle du deine Geschichte mir, mein Engel, mir!« sagte sie. »Ich werde dir zuhören. Mögen diejenigen, die ein hartes Herz haben...«

Sie sprach den Satz nicht zu Ende und brach in Tränen aus. Nelly richtete erstaunt und erschrocken ihre Blicke auf mich. Der Alte sah mich an, zuckte ein wenig mit den Achseln, wandte sich aber sogleich wieder ab. »Fahre nur fort, Nelly!« sagte ich.

»Ich ging drei Tage lang nicht zum Großvater«, begann Nelly von neuem; »aber während dieser Zeit verschlimmerte sich Mamas Zustand. Unser Geld war zu Ende, so daß wir keine Medizin kaufen konnten; und auch zu essen hatten wir nichts; denn die Wirtsleute hatten ebenfalls nichts und machten uns Vorwürfe, daß wir auf ihre Kosten lebten. Da stand ich am Morgen des dritten Tages auf und fing an, mich anzukleiden. Mama fragte, wohin ich gehen wolle. Ich sagte: ›Zum Großvater, ihn um Geld bitten‹, und sie freute sich; denn ich hatte ihr erzählt, wie er mich weggejagt hatte, und hatte ihr gesagt, ich wolle nicht mehr zu ihm gehen, obwohl sie geweint und mir zugeredet hatte zu gehen. Ich kam hin und erfuhr, daß der Großvater umgezogen sei, und ging zu dem neuen Haus, um ihn da zu suchen. Als ich zu ihm in die neue Wohnung kam, sprang er auf, stürzte auf mich los und stampfte mit den Füßen, und ich sagte ihm kurz, daß Mama sehr krank sei, daß wir Geld für Medizin brauchten, fünfzig Kopeken, und daß wir nichts zu essen hätten. Der Großvater schrie mich an und stieß mich auf die Treppe hinaus und machte hinter mir die Tür mit dem Haken zu. Aber als er mich hinausstieß, hatte ich ihm gesagt, ich würde mich auf die Treppe setzen und nicht eher fortgehen, als bis er mir Geld gebe. Ich setzte mich auch wirklich auf die Treppe. Nach einer Weile machte er die Tür auf und sah, daß ich noch dasaß, und machte sie wieder zu. Dann verging längere Zeit; da machte er wieder auf, sah wieder nach mir und machte wieder zu. Und so machte er noch viele Male die Tür auf und sah hinaus. Endlich kam er mit Asorka heraus, schloß die Tür zu und ging an mir vorbei aus dem Haus, ohne ein Wort zu sagen. Auch ich sagte kein Wort und blieb so sitzen und saß bis zum Dunkelwerden.«

»Du mein liebes Kind«, rief Anna Andrejewna; »aber es war ja doch kalt auf der Treppe!« »Ich hatte ein Pelzmäntelchen an«, antwortete Nelly. »Was hilft so ein Pelzmäntelchen... du liebes Kind! Was hast du alles aushalten müssen! Nun, und was tat er, dein Großvater?«

Nellys Lippen fingen an zu zucken; aber sie nahm sich mit einer außerordentlichen Anstrengung zusammen. »Er kam, als es schon ganz dunkel war, stieß an mich, als er in seine Wohnung gehen wollte, und rief: »Wer ist da?« Ich antwortete, daß ich es sei. Er hatte gewiß geglaubt, ich sei schon längst weggegangen, und als er nun sah, daß ich immer noch da war, war er sehr erstaunt und blieb lange vor mir stehen. Auf einmal schlug er mit dem Stock auf die Stufen, lief zu seiner Tür, schloß sie auf, brachte mir einen Augenblick darauf eine Anzahl Kupfermünzen, lauter Fünfkopekenstücke, heraus und warf sie mir auf die Treppe. »Da hast du«, schrie er; »nimm es hin; das ist alles, was ich habe; und sage deiner Mutter, daß ich sie verfluche!« Und damit schlug er die Tür zu. Die Kupferstücke aber rollten die Treppe hinunter. Ich begann, sie in der Dunkelheit aufzusammeln; dem Großvater war es offenbar nachträglich zum Bewußtsein gekommen, daß er die Geldstücke so hingestreut hatte und es mir im Dunkeln wohl schwer sein würde, sie alle aufzusammeln; denn er machte seine Tür auf und brachte eine Kerze heraus, und bei deren Schein bekam ich alles bald zusammen. Der Großvater half mir auch selbst suchen und sagte mir, es müßten im ganzen siebzig Kopeken sein; dann ging er wieder weg. Als ich nach Hause gekommen war, gab ich das Geld Mama und erzählte ihr alles, und mit Mama ging es immer schlechter, und auch ich selbst war die ganze Nacht krank und hatte am anderen Tag ebenfalls Fieber. Aber ich hatte nur einen einzigen Gedanken; denn ich war böse auf den Großvater, und als Mama eingeschlafen war, ging ich auf die Straße, auf Großvaters Wohnung zu, und stellte mich, ehe ich ganz hingekommen war auf eine Brücke. Da kam der...«

»Sie meint Archipow«, sagte ich; »das ist der Mensch, von dem ich Ihnen schon erzählt habe, Nikolai Sergejewitsch, daß er mit einem Kaufmann zusammen bei der Bubnowa war und da durchgeprügelt wurde. Nelly sah ihn damals zum ersten Male... Fahr fort, Nelly!«

»Ich hielt ihn an und bat ihn um Geld, um einen Rubel. Er sah mich an und fragte: ›Einen Rubel?‹ Ich sagte: ›Ja.‹ Da lachte er und sagte zu mir: ›Komm mit mir mit!‹ Ich wußte nicht, ob ich mitgehen solle; auf einmal trat ein alter Herr mit einer goldenen Brille heran; er hatte gehört, wie ich um einen Rubel gebeten hatte, beugte sich zu mir und fragte, wozu ich denn durchaus soviel haben wolle. Ich sagte ihm, Mama sei krank und wir brauchten soviel Geld für Medizin. Er erkundigte sich, wo wir wohnten, schrieb es sich auf und gab mir einen Rubelschein. Der andere aber war, als er den alten Herrn mit der Brille gesehen hatte, weggegangen und forderte mich nicht mehr auf, mit ihm zu kommen. Ich ging in einen Laden und wechselte den Rubel in Kupfermünzen; dreißig Kopeken wickelte ich in ein Stückchen Papier und steckte sie für Mama in die Tasche; die anderen siebzig Kopeken aber wickelte ich nicht in das Papier, sondern ich behielt sie absichtlich fest in der Hand und ging zum Großvater. Als ich zu ihm kam, machte ich die Tür auf, trat auf die Schwelle, holte mit dem Arm aus und warf ihm das ganze Geld hin, so daß es auf dem Fußboden umherrollte. »Da, nehmen Sie Ihr Geld wieder!« sagte ich zu ihm. »Mama kann Ihr Geld nicht brauchen, da Sie sie verflucht haben!« Dann schlug ich die Tür zu und lief sogleich davon.«

Ihre Augen funkelten, und sie sah den alten Mann mit naiv herausfordernder Miene an.

»Das war recht«, sagte Anna Andrejewna, ohne Nikolai Sergejewitsch anzusehen, und drückte Nelly fest an sich.

»Das war ihm ganz recht; dein Großvater war ein böser, hartherziger Mensch...«

»Hm!« machte Nikolai Sergejewitsch.

»Nun, und was geschah dann weiter, was geschah dann weiter?« fragte Anna Andrejewna ungeduldig.

»Ich ging seitdem nicht mehr zum Großvater, und er kam nicht mehr zu mir«, antwortete Nelly.

»Aber wie erging es denn nun dir und deiner Mama? Ach, ihr Armen, ihr Armen!«

»Mit Mama wurde es immer schlechter, und sie stand nur noch selten vom Bett auf«, fuhr Nelly fort, und ihre Stimme zitterte und stockte. »Geld hatten wir nicht mehr, und so fing ich denn an, mit der Kapitänswitwe auszugehen. Diese ging in die Häuser und bat um Almosen, und auch auf der Straße hielt sie gutgekleidete Leute mit solchen Bitten an; davon lebte sie. Sie sagte mir, sie sei keine gewöhnliche Bettlerin, sondern habe Papiere, in denen ihr Stand angegeben sei und auch geschrieben stehe, daß sie arm sei. Diese Papiere zeigte sie immer vor, und daraufhin gaben ihr die Leute Geld. Sie sagte mir auch, alle Menschen um Unterstützung zu bitten sei keine Schande. Ich ging mit ihr zusammen, und wir erhielten milde Gaben; davon lebten wir. Mama erfuhr davon; denn die Tischlerleute machten ihr Vorwürfe, daß sie eine Bettlerin sei; die Bubnowa aber kam selbst zu Mama und sagte, sie solle mich doch lieber zu ihr hingeben, statt mich betteln zu lassen. Sie war auch schon früher zu Mama gekommen und hatte ihr Geld gebracht; und als Mama es von ihr nicht angenommen hatte, da hatte die Bubnowa gesagt: »Warum sind Sie so stolz?« und hatte ihr Essen geschickt. Aber als sie jetzt das von mir sagte, erschrak Mama heftig und fing an zu weinen, und die Bubnowa schimpfte auf sie (denn sie war betrunken) und sagte, daß ich sowieso schon eine Bettlerin sei und mit der Kapitänswitwe ginge, und jagte gleich an demselben Abend die Kapitänswitwe aus dem Haus. Als Mama alles erfahren hatte, brach sie in Tränen aus; dann stand sie plötzlich vom Bett auf, zog sich an, nahm mich bei der Hand und ging mit mir zur Tür. Iwan Alexandrowitsch wollte sie zurückhalten; aber sie hörte nicht auf ihn, und wir gingen hinaus. Mama konnte kaum gehen und mußte sich alle Augenblicke auf der Straße hinsetzen, und ich stützte sie immer. Mama sagte fortwährend, sie wolle zum Großvater gehen und ich möchte sie hinführen; aber es war schon längst Nacht geworden. Auf einmal kamen wir in eine große Straße; da fuhren vor einem Haus schöne Equipagen vor, und es stiegen viele Leute aus, und alle Fenster waren hell erleuchtet, und man hörte Musik. Mama blieb stehen, faßte mich an der Schulter und sagte zu mir:

»Nelly, bleib arm; bleib dein ganzes Leben lang arm; geh nicht zu ihnen hin, wer auch immer dich ruft und zu dir kommt. Auch du könntest dort sein und viel Geld haben und ein schönes Kleid tragen; aber ich will das nicht. Das sind böse, hartherzige Menschen; mein Gebot ist dieses: bleibe arm, arbeite und bitte um Almosen; aber wenn jemand kommt, um dich zu holen, dann sage: ›Ich will nicht zu Ihnen !‹ Das hat Mama zu mir gesagt, als sie krank war, und ich will ihr mein ganzes Leben lang gehorchen«, fügte Nelly, vor Aufregung zitternd, das Gesichtchen von Glut Übergossen, hinzu, »und ich werde mein ganzes Leben lang dienen und arbeiten, und auch zu Ihnen bin ich gekommen, um zu dienen und zu arbeiten, und ich will nicht die Stellung einer Tochter einnehmen...« »Nicht doch, nicht doch, mein Herzchen, nicht doch!« rief die alte Frau und umarmte Nelly herzlich. »Deine Mama war ja damals krank, als sie das sagte.«

»Irrsinnig war sie«, bemerkte der Alte in scharfem Ton.

»Mag sie auch irrsinnig gewesen sein«, erwiderte Nelly, sich heftig an ihn wendend. »Mag sie auch irrsinnig gewesen sein; sie hat es mir so befohlen, und so werde ich mein ganzes Leben lang handeln. Und als sie mir das gesagt hatte, fiel sie in Ohnmacht.«

»Herr du mein Gott!« schrie Anna Andrejewna auf. »Krank, und auf der Straße, im Winter!...«

»Man wollte uns nach der Polizei bringen; aber ein Herr nahm sich unser an, fragte mich, wo wir wohnten, gab mir zehn Rubel und sagte, ich solle Mama in seinem Wagen zu uns nach Hause bringen. Nachher ist Mama nicht mehr vom Bett aufgestanden, und nach drei Wochen starb sie...«

»Und ihr Vater? Also hat er ihr nicht verziehen?« rief Anna Andrejewna.

»Nein, er hat ihr nicht verziehen«, erwiderte Nelly, sich mit qualvoller Anstrengung zusammennehmend. »Eine Woche vor ihrem Tod rief mich Mama zu sich und sagte: ›Nelly, geh noch einmal zum Großvater, zum letztenmal, und bitte ihn, er möchte zu mir kommen und mir verzeihen; sage ihm, ich würde in wenigen Tagen sterben und ließe dich allein auf der Welt zurück. Und sage ihm noch, das Sterben werde mir schwer...‹ Ich ging hin und klopfte bei dem Großvater an; er machte auf, und als er mich erblickte, wollte er die Tür sogleich wieder vor mir zumachen; aber ich klammerte mich mit beiden Händen an der Tür fest und rief ihm zu: ›Mama liegt im Sterben; sie läßt Sie rufen; kommen Sie zu ihr!‹ Aber er stieß mich weg und schlug die Tür zu. Ich kehrte zu Mama zurück, legte mich neben sie, umarmte sie und sagte nichts. Mama umarmte mich auch und stellte keine Frage...«

Hier stützte sich Nikolai Sergejewitsch schwerfällig mit der Hand auf den Tisch und stand auf; aber nachdem er einen seltsamen, trüben Blick über uns alle hatte hingleiten lassen, ließ er sich wieder kraftlos in seinen Lehnstuhl zurücksinken. Anna Andrejewna sah ihn nicht mehr an, sondern umarmte Nelly schluchzend... »Und dann am letzten Tag rief mich Mama, bevor sie starb, gegen Abend zu sich, faßte mich bei der Hand und sagte: »Ich werde heute sterben, Nelly«; sie wollte noch etwas sagen, war aber dazu nicht mehr imstande. Ich sah sie an; aber sie schien mich nicht mehr zu sehen; sie hielt nur meine Hand fest in ihren Händen. Ich zog leise meine Hand heraus und lief aus dem Haus, und den ganzen Weg über lief ich, so schnell ich konnte, und lief zum Großvater. Als er mich erblickte, sprang er vom Stuhl auf und sah mich an und erschrak so, daß er ganz blaß wurde und am ganzen Leib zitterte. Ich ergriff ihn bei der Hand und sagte nur ganz kurz: »Sie stirbt gleich.« Da fing er auf einmal an, im Zimmer hin und her zu rennen, ergriff seinen Stock und lief mir nach; er vergaß sogar seinen Hut, und es war doch kalt. Ich nahm den Hut und setzte ihn ihm auf, und wir liefen zusammen aus dem Haus. Ich trieb ihn zur Eile an und sagte, er möchte doch eine Droschke nehmen, weil Mama gleich sterben werde; aber der Großvater hatte im ganzen nur noch sieben Kopeken. Er hielt einige Droschkenkutscher an und handelte mit ihnen; aber sie lachten nur über ihn, und auch über Asorka lachten sie, der mit uns lief, und wir liefen immer weiter und weiter. Der Großvater wurde müde und konnte nur mühsam atmen; aber doch beeilte er sich, soviel er nur konnte, und lief. Auf einmal fiel er hin, und der Hut flog ihm vom Kopf. Ich hob ihn auf, setzte ihn ihm wieder auf den Kopf und führte Großvater an der Hand; erst kurz vor Einbruch der Nacht kamen wir zu uns nach Hause... Aber Mama lag schon tot da. Als der Großvater sie sah, schlug er die Hände zusammen, fing an zu zittern, beugte sich über sie und sagte kein Wort. Da trat ich zu meiner toten Mama heran, faßte den Großvater bei der Hand und rief ihm zu: ›Da, du grausamer, böser Mensch, nun sieh her!... Sieh her!‹ Da schrie der Großvater auf und fiel wie tot auf den Fußboden.«

Nelly sprang auf, machte sich von Anna Andrejewnas Armen frei und stand blaß, erschöpft und in höchster Erregung mitten unter uns. Aber Anna Andrejewna eilte auf sie zu, schlang von neuem die Arme um sie und rief wie in Verzückung:

»Ich, ich werde jetzt deine Mutter sein, Nelly, und du mein Kind! Ja, Nelly, laß uns fortgehen; verlassen wir all diese grausamen, schlechten Menschen! Mögen sie sich aus dem Urteil anderer Menschen nichts machen; aber Gott, Gott wird es ihnen heimzahlen... Komm, Nelly, komm weg von hier, laß uns fortgehen!...«

Niemals, weder vorher noch nachher, habe ich sie in einem solchen Zustand gesehen, und ich hätte nicht gedacht, daß sie sich jemals in solcher Erregung befinden könne. Nikolai Sergejewitsch richtete sich in seinem Lehnstuhl gerade, erhob sich ein wenig und fragte mit stockender Stimme:

»Wo willst du hin, Anna Andrejewna?«

»Zu ihr, zu meiner Tochter, zu Natascha!« rief sie und zog Nelly hinter sich her, der Tür zu.

»Halt, halt, warte einen Augenblick!«

»Wozu soll ich noch warten, du hartherziger, böser Mensch! Ich habe lange genug gewartet, und sie hat lange genug gewartet; jetzt leb wohl!...«

Nach dieser Antwort drehte die alte Frau sich noch einmal um, blickte zu ihrem Mann hin und wurde starr vor Staunen. Nikolai Sergejewitsch stand vor ihr, hatte seinen Hut ergriffen und mühte sich mit seinen zitternden, kraftlosen Händen, eilig seinen Mantel anzuziehen.

»Du... du willst auch mit mir kommen?« rief sie, die Hände faltend, und sah ihn zweifelnd an, als ob sie an ein so großes Glück gar nicht zu glauben wage.

»Natascha, wo ist meine Natascha? Wo ist sie? Wo ist meine Tochter?« rang es sich endlich wie ein Schrei aus der Brust des alten Mannes. »Gebt mir meine Natascha wieder! Wo, wo ist sie?«

Er ergriff den Krückstock, den ich ihm reichte, und eilte zur Tür.

»Er hat ihr verziehen! Er hat ihr verziehen!« rief Anna Andrejewna.

Aber der alte Mann gelangte nicht bis zur Schwelle. Die Tür wurde hastig aufgerissen, und Natascha stürzte ins Zimmer, blaß, mit fieberhaft glänzenden Augen. Ihr Kleid war zerdrückt und vom Regen durchnäßt. Das Tuch, das sie sich um den Kopf gebunden hatte, war ihr in den Nacken gerutscht, und in ihren verwirrten, dichten Haarsträhnen funkelten große Regentropfen. Sie kam hereingelaufen, erblickte ihren Vater, fiel aufschreiend vor ihm auf die Knie und streckte die Arme nach ihm aus.

Neuntes Kapitel

Aber er hielt sie schon in seinen Armen!... Er hatte sie umfaßt, hob sie wie ein kleines Kind in die Höhe, trug sie zu seinem Lehnstuhl, setzte sie hinein und fiel selbst vor ihr auf die Knie. Er küßte ihre Hände, ihre Füße; er küßte Natascha eilig und betrachtete sie immer wieder, als könne er immer noch nicht glauben, daß sie wieder bei ihm sei, daß er sie wieder sehe und höre, sie, seine Tochter, seine Natascha. Anna Andrejewna umarmte ihre Tochter schluchzend, drückte deren Kopf an ihre Brust und verharrte regungslos in dieser Umschlingung, unfähig, ein Wort zu sagen.

»Mein Herzchen!... Mein süßes Leben!... Du meine Freude!...« stammelte der Alte unzusammenhängend, ergriff Nataschas Hände und blickte wie ein Verliebter in ihr blasses, mageres, aber schönes Gesicht und in ihre Augen, in denen Tränen glänzten. »Du meine Freude, du mein Kind!« wiederholte er und verstummte dann wieder und schaute sie wie in einem Andachtsrausch an.

»Wie hat man mir nur sagen können, daß sie ganz mager geworden sei!« sagte er hastig, immer noch vor ihr kniend und sich mit einem kindlichen Lächeln zu uns umwendend. »Ein bißchen schmaler sieht sie aus, das ist richtig, ein bißchen blaß; aber seht sie doch einmal an, wie hübsch sie ist! Noch schöner, als sie früher war, ja, noch schöner!« fügte er hinzu und verstummte unwillkürlich infolge jener aus Schmerz und Freude gemischten Empfindung, bei der einem beinahe das Herz zerspringt.

»Stehen Sie auf, Papa! So stehen Sie doch auf!« sagte Natascha. »Ich möchte Sie ja doch auch küssen...«

»O mein liebes, gutes Kind! Hörst du wohl, hörst du wohl, liebe Anna, wie hübsch sie das gesagt hat?«

Und er umarmte sie krampfhaft.

»Nein, Natascha, ich, ich muß so lange zu deinen Füßen liegen, bis mein Herz fühlt, daß du mir verziehen hast; denn verdienen kann ich jetzt niemals, niemals, daß du mir verzeihst! Ich habe dich verstoßen, ich habe dich verflucht; hörst du wohl, Natascha, ich habe dich verflucht − und ich habe das übers Herz gebracht!... Aber du, du, Natascha: hast du das glauben können, daß ich dich verflucht hätte? Du hast es geglaubt, ja, du hast es geglaubt! Das durftest du nicht glauben! Du hättest es nicht glauben sollen, es einfach nicht glauben sollen! Du grausames Herz! Warum bist du nicht zu mir gekommen? Du wußtest ja, daß ich dich freundlich aufnehmen würde... O Natascha, du erinnerst dich doch, wie lieb ich dich früher gehabt habe: nun, aber jetzt und während dieser ganzen Zeit habe ich dich noch einmal so lieb, tausendmal so lieb gehabt wie früher. Ich liebe dich mit jeder Fiber meines Herzens! Ich möchte mir das Herz aus dem Leib reißen und dir zu Füßen legen!... O du meine Lebensfreude!«

»Küssen Sie mich doch auf den Mund, Sie Grausamer; küssen Sie mich doch auf das Gesicht, so wie mich Mama küßt!« rief Natascha mit matter, schwacher, von Tränen der Freude halb erstickter Stimme.

»Und auf die lieben Augen! Und auf die lieben Augen! Erinnerst du dich noch, wie ich es früher immer tat«, sagte der Alte nach einer langen, wonnigen Umarmung mit seiner Tochter. »O Natascha! hast du denn auch wohl manchmal von uns geträumt? Ich habe von dir fast jede Nacht geträumt, und jede Nacht bist du zu mir gekommen, und ich habe um dich geweint. Und einmal kamst du als kleines Mädchen; erinnerst du dich? als du eben erst zehn Jahre alt warst und eben erst anfingst, Klavier zu spielen; du kamst in einem kurzen Kleidchen, mit hübschen Schuhchen und mit roten Händchen... sie hatte ja doch damals solche roten Händchen, weiß du noch, liebe Anna? Du kamst zu mir und setztest dich auf meinen Schoß und umarmtest mich... Und du, und du, du böses Mädchen, du hast denken können, ich hätte dich verflucht und ich würde dich nicht aufnehmen, wenn du zu mir kämst! Und dabei bin ich (hörst du wohl, Natascha?), dabei bin ich so oft zu dir hingegangen; deine Mutter hat es nicht gewußt, und kein Mensch hat es gewußt; und da stand ich dann unter deinen Fenstern und wartete; einen halben Tag lang habe ich manchmal auf dem Trottoir bei deiner Haustür gewartet, ob du nicht herauskommen würdest, damit ich dich auch nur von weitem sähe! Und abends brannte bei dir manchmal eine Kerze auf dem Fensterbrett; wie oft bin ich da abends zu dir gegangen, Natascha, um wenigstens nach deiner Kerze hinzusehen, um wenigstens deinen Schatten am Fenster zu erblicken und dich für die Nacht zu segnen. Hast du mich auch für die Nacht gesegnet? Hast du an mich gedacht? Hat dein Herz es gefühlt, daß ich da unter deinem Fenster stand? Und wie oft bin ich im Winter spätabends deine Treppe hinaufgestiegen, habe auf dem dunklen Flur gestanden und durch die Tür gehorcht, ob ich nicht deine liebe Stimme hören könne! Lachst du mich nicht aus? Und ich hätte dich verflucht? Ich war ja neulich abends zu dir gegangen, um dir zu sagen, daß ich dir verziehe, und erst an der Tür bin ich wieder umgekehrt... O Natascha!«

Er stand auf, hob sie aus dem Lehnstuhl in die Höhe und drückte sie fest und innig an sein Herz. »Sie ist hier; sie ist wieder an meinem Herzen!« rief er. »Oh, ich danke dir, Gott, für alles, für alles, für deinen Zorn und für deine Gnade! Und für deine Sonne, die jetzt nach dem Gewitter wieder auf uns herniederstrahlt! Für dieses ganze Glück danke ich dir! Oh, wenn wir auch erniedrigt und beleidigt sind, aber wir sind doch wieder zusammen; mögen die stolzen, hochmütigen Menschen, die uns erniedrigt und beleidigt haben, jetzt immerhin triumphieren! Mögen sie uns mit Steinen werfen! Fürchte dich nicht, Natascha!... Wir werden Arm in Arm gehen, und ich werde ihnen sagen: »Das ist meine teure, geliebte Tochter, das ist meine unschuldige Tochter, die ihr beleidigt und erniedrigt habt, aber die ich liebe und für alle Ewigkeit segne!«« »Wanja, Wanja!...« sagte Natascha mit schwacher Stimme und streckte mir aus der Umarmung des Vaters ihre Hand hin.

Oh, nie werde ich es vergessen, daß sie in diesem Augenblick sich meiner erinnerte und mich rief!

»Wo ist denn Nelly?« fragte der Alte, um sich schauend.

»Ach, wo ist sie denn?« rief die alte Frau. »Mein liebes Kind! Wir haben sie ja ganz vergessen!« Aber sie war nicht im Zimmer; sie war unbemerkt ins Schlafzimmer geschlüpft. Wir gingen alle dorthin. Nelly stand in einem Winkel hinter der Tür und suchte sich ängstlich vor uns zu verstecken.

»Nelly, was ist dir, mein Kind?« rief der Alte und wollte sie umarmen.

Aber sie sah ihn lange eigentümlich an... »Mama, wo ist meine Mama?« sagte sie wie geistesabwesend.

»Wo ist meine Mama?« schrie sie noch einmal und streckte ihre zitternden Hände nach uns aus. Auf einmal brach ein schrecklicher, unheimlicher Schrei aus ihrer Brust hervor; ein krampfhaftes Zucken lief über ihr Gesicht, und sie fiel in einem furchtbaren Anfall auf den Fußboden...

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