Dritter Teil

Erstes Kapitel

Erst als schon längst die Dämmerung eingetreten und es Abend geworden war, erwachte ich wie aus einem schweren Traum und kehrte in die Wirklichkeit zurück.

»Nelly«, sagte ich, »du bist jetzt krank und erregt; aber ich muß dich allein und in Tränen verlassen. Liebes Kind! verzeih es mir und wisse, daß es auch hier ein geliebtes, der Verzeihung entbehrendes Wesen gibt, ein unglückliches, gekränktes, verlassenes Wesen. Sie erwartet mich. Und auch ich selbst fühle mich jetzt nach deiner Erzählung unwiderstehlich zu ihr hingezogen; mir ist, als müßte ich zugrunde gehen, wenn ich sie nicht sogleich, diesen Augenblick, sehe...«

Ich weiß nicht, ob Nelly alles verstand, was ich zu ihr sagte. Ich befand mich in heftiger Aufregung, sowohl infolge der Erzählung als auch infolge der soeben durchgemachten Krankheit; aber ich eilte zu Natascha. Es war schon spät, zwischen acht und neun, als ich zu ihrem Haus gelangte.

Schon auf der Straße, am Tor des Hauses, in welchem Natascha wohnte, bemerkte ich eine Equipage, und es schien mir, daß es die des Fürsten sei. Der Eingang zu Nataschas Wohnung war vom Hof aus. Kaum hatte ich angefangen, die Stufen hinaufzusteigen, als ich vor mir, eine Treppe höher, einen Menschen hörte, der offenbar mit der Örtlichkeit unbekannt war und sich vorsichtig tastend hinaufarbeitete. Ich sagte mir, es müsse der Fürst sein, wurde aber alsbald wieder an dieser Meinung irre. Der Unbekannte schimpfte und fluchte beim Hinaufsteigen laut über diese Passage, und zwar in um so kräftigeren, energischeren Ausdrücken, je höher er kam. Gewiß, die Treppe war eng, schmutzig, steil, nirgends beleuchtet; aber solche Schimpfworte, wie sie beim dritten Stockwerk anfingen, hätte ich dem Fürsten nie zuschreiben können: der hinaufsteigende Herr schimpfte wie ein Droschkenkutscher. Aber nach dem dritten Stockwerk wurde es wenigstens hell; denn an Nataschas Tür im vierten Stock brannte ein kleines Lämpchen. Unmittelbar an der Tür holte ich meinen Unbekannten ein, und wie groß war mein Erstaunen, als ich in ihm wirklich den Fürsten erkannte! Es schien ihm sehr unangenehm zu sein, daß er so unerwartet mit mir zusammentraf. Im ersten Augenblick erkannte er mich nicht; aber dann veränderte sich auf einmal sein Gesicht. Sein ursprünglich zorniger, feindseliger Blick wurde auf einmal höflich und heiter, und mit dem Ausdruck außerordentlicher Freude streckte er mir beide Hände hin.

»Ah, Sie sind es! Ich wollte eben auf die Knie fallen und Gott um Rettung meines Lebens bitten. Haben Sie gehört, wie ich geschimpft habe?«

Und er lachte in der gutmütigsten Art. Aber plötzlich nahm sein Gesicht einen ernsten, bekümmerten Ausdruck an.

»Wie hat Aljoscha nur Natalja Nikolajewna in einer solchen Wohnung unterbringen können!« sagte er, den Kopf hin und her wiegend. »Diese sogenannten Kleinigkeiten charakterisieren den Menschen. Ich bin um ihn recht besorgt. Er ist ein guter Mensch und hat ein edles Herz; aber da haben Sie gleich ein Pröbchen: er liebt sinnlos und bringt diejenige, die er liebt, in einem so elenden Quartier unter! Ich habe sogar gehört, daß manchmal kein Brot dagewesen ist«, fügte er flüsternd hinzu, während er den Klingelgriff suchte. »Mir wird angst und bange, wenn ich an seine Zukunft denke und namentlich an Anna Nikolajewnas Zukunft, wenn sie seine Frau sein wird...«

Er hatte sich im Vornamen geirrt und es nicht gemerkt, da er sich offenbar darüber ärgerte, daß er den Klingelzug nicht fand. Aber ein Klingelzug war überhaupt nicht da. Ich rüttelte ein wenig an der Türklinke, und Mawra öffnete uns sofort und empfing uns geschäftig. In der Küche, die von dem winzigen Vorzimmer nur durch eine hölzerne Halbwand abgeteilt war, waren durch die offenstehende Tür mancherlei Vorbereitungen zu bemerken; alles war mit besonderer Sauberkeit abgewischt und gereinigt; im Herd brannte Feuer; auf dem Tisch stand etwas neues Geschirr. Es war deutlich, daß wir erwartet worden waren. Mawra nahm uns eifrig die Überzieher ab.

»Ist Aljoscha hier?« fragte ich sie.

»Er ist nicht hier gewesen«, flüsterte sie mir geheimnisvoll zu.

Wir gingen zu Natascha hinein. In ihrem Zimmer waren keine besonderen Vorbereitungen sichtbar; alles war wie gewöhnlich. Übrigens war bei ihr immer alles so sauber und nett, daß nicht erst besonders aufgeräumt zu werden brauchte. Natascha empfing uns an der Tür stehend. Ich erschrak über die krankhafte Magerkeit und außerordentliche Blässe ihres Gesichtes, obgleich für einen Augenblick eine Röte auf ihren totenbleichen Wangen aufflammte. Ihre Augen waren fieberhaft. Schweigend streckte sie dem Fürsten eilig die Hand hin, in sichtlicher Beängstigung und Verwirrung. Mich sah sie überhaupt nicht an. Ich stand da und wartete schweigend.

»Da bin ich!« begann der Fürst in freundschaftlichem, heiterem Ton. »Erst vor einigen Stunden bin ich zurückgekehrt. Diese ganze Zeit über sind Sie mir nicht aus dem Kopf gekommen« (er küßte ihr zärtlich die Hand); »wieviel, wieviel habe ich an Sie gedacht! Wieviel habe ich Ihnen zu sagen und mitzuteilen!... Nun, jetzt wollen wir uns nach Herzenslust aussprechen! Erstens, mein Leichtfuß, der, wie ich sehe, noch nicht hier ist...« »Erlauben Sie, Fürst«, unterbrach ihn Natascha, verlegen errötend; »ich muß ein paar Worte mit Iwan Petrowitsch sprechen. Komm, Wanja... nur ein paar Worte...«

Sie faßte mich bei der Hand und führte mich hinter den Wandschirm.

»Wanja«, sagte sie flüsternd, indem sie mich in die dunkelste Ecke zog, »verzeihst du mir?«

»Aber ich bitte dich, Natascha, was redest du da!«

»Nein, nein, Wanja, du hast mir ja sehr oft und sehr vieles verziehen; aber jede Geduld hat doch schließlich ein Ende. Du wirst nie aufhören, mich zu lieben, das weiß ich; aber du wirst mich undankbar nennen, und ich war auch gestern und vorgestern gegen dich undankbar, egoistisch, grausam...«

Sie brach plötzlich in Tränen aus und drückte ihr Gesicht an meine Schulter.

»Hör auf, Natascha!« suchte ich sie eilig zu beruhigen. »Ich bin die ganze Nacht über sehr krank gewesen und kann mich auch jetzt kaum auf den Beinen halten; das ist der Grund, weshalb ich weder gestern abend noch heute hergekommen bin; und da denkst du nun, ich sei dir böse! Meine teure Freundin, ich weiß ja doch, was jetzt in deiner Seele vorgeht!«

»Nun gut... also du hast mir verziehen wie immer«, sagte sie; sie lächelte durch ihre Tränen und drückte mir die Hand, so daß es mich schmerzte. »Das übrige nachher! Ich habe dir viel zu sagen, Wanja. Aber jetzt will ich zu ihm...«

»Recht schnell, Natascha; wir haben ihn so plötzlich verlassen...«

»Du wirst sehen, du wirst sehen, was geschehen wird«, flüsterte sie mir hastig zu. »Ich weiß jetzt alles; ich habe alles durchschaut. An allem ist er schuld, er allein. Heute abend wird sich vieles entscheiden. Komm!«

Ich verstand sie nicht, hatte aber zum Fragen keine Zeit mehr. Natascha ging mit heiterem Gesicht auf den Fürsten zu. Er stand immer noch mit dem Hut in der Hand da. Sie entschuldigte sich in munterem Ton bei ihm, nahm ihm den Hut ab, rückte ihm selbst einen Stuhl zurecht, und wir setzten uns alle drei um ihr Tischchen.

»Ich fing an, von meinem Leichtfuß zu reden«, fuhr der Fürst fort; »ich habe ihn nur einen Augenblick gesehen, und zwar auf der Straße, als er in den Wagen stieg, um zur Gräfin Sinaida Fjodorowna zu fahren. Er hatte es furchtbar eilig, und denken Sie: er wollte nach vier Tagen der Trennung nicht einmal mit mir in die Wohnung hinaufkommen! Und ich glaube, Natalja Nikolajewna, ich bin selbst daran schuld, daß er jetzt nicht bei Ihnen ist und ich vor ihm hergekommen bin; ich habe nämlich die Gelegenheit benutzt und, da ich selbst heute nicht bei der Gräfin sein konnte, ihm einen Auftrag mitgegeben. Aber er wird jeden Augenblick erscheinen.«

»Hat er Ihnen bestimmt versprochen, heute herzukommen?« fragte Natascha, den Fürsten mit der harmlosesten Miene anblickend.

»Ach, mein Gott, wie sollte er denn nicht herkommen? Wie können Sie nur so fragen!« rief er, sie erstaunt anblickend. »Übrigens, ich verstehe: Sie sind über ihn aufgebracht. Und in der Tat, es ist dumm von ihm, daß er von allen zuletzt kommt. Aber ich wiederhole: ich bin schuld daran. Seien Sie ihm nicht böse! Er ist leichtsinnig, ein Windhund; ich verteidige ihn nicht; aber gewisse besondere Umstände verlangen, daß er die Besuche im Hause der Gräfin und in einigen anderen Familien jetzt nicht einstellt, sondern im Gegenteil sich dort recht oft zeigt. Nun, und da er wahrscheinlich jetzt nicht von Ihrer Seite weicht und alles andere in der Welt vergessen hat, so werden Sie es vielleicht nicht übelnehmen, wenn ich ihn Ihnen manchmal auf ein paar Stunden, nicht für längere Zeit, durch meine Aufträge entziehe. Ich bin überzeugt, daß er seit jenem Abend noch nicht ein einziges Mal bei der Fürstin K. gewesen ist, und ärgere mich, daß ich vorhin keine Zeit gehabt habe, ihn danach zu fragen!...«

Ich blickte Natascha an. Sie hörte dem Fürsten mit einem leisen, ein wenig spöttischen Lächeln zu. Aber er sprach so offen, so ungekünstelt. Es war, wie es schien, gar nicht möglich, irgendwelchen Verdacht gegen ihn zu hegen. »Und Sie haben wirklich nicht gewußt, daß er diese ganzen Tage her auch nicht ein einziges Mal bei mir gewesen ist?« fragte Natascha mit leiser, ruhiger Stimme, als ob sie von einem Vorgang spräche, der ihr vollkommen gleichgültig sei.

»Wie? Er ist kein einziges Mal hier gewesen? Erlauben Sie, was sagen Sie da!« rief der Fürst, anscheinend auf das äußerste überrascht.

»Sie waren am Dienstag spätabends bei mir; am andern Morgen ist er auf eine halbe Stunde zu mir gekommen, und seitdem habe ich ihn kein einziges Mal gesehen.« »Aber das ist unglaublich!« (Er geriet in immer größeres Erstaunen.) »Und ich glaubte geradezu, er wiche nicht von Ihrer Seite. Entschuldigen Sie, das ist so seltsam... einfach unglaublich.«

»Aber doch ist es wahr. Und wie schade: ich hatte gerade auf Sie gewartet, weil ich von Ihnen zu erfahren hoffte, wo er sich eigentlich befindet!«

»Ach, mein Gott! Nun, er wird ja gleich hier sein! Aber das, was Sie mir gesagt haben, hat mich dermaßen überrascht, daß ich... ich muß gestehen, ich hätte alles mögliche von ihm erwartet, aber das nicht... das nicht!«

»Wie erstaunt Sie sind! Und ich hatte gedacht, Sie würden sich gar nicht wundern, ja Sie hätten sogar im voraus gewußt, daß es so kommen werde.«

»Gewußt! Ich? Aber ich versichere Ihnen, Natalja Nikolajewna, daß ich ihn heute nur einen Augenblick gesehen und mich bei niemand nach ihm erkundigt habe; es befremdet mich, daß Sie mir anscheinend nicht glauben«, fuhr er fort, indem er uns beide abwechselnd ansah.

»Gott behüte!« fiel Natascha ein. »Ich bin vollkommen davon überzeugt, daß Sie die Wahrheit gesagt haben.«

Sie lachte wieder, diesmal dem Fürsten gerade ins Gesicht, so daß er unwillkürlich zusammenzuckte.

»Erklären Sie sich deutlicher!« sagte er in einiger Verwirrung.

»Zu erklären ist hier eigentlich nichts. Ich rede doch einfach und verständlich. Sie wissen ja, wie leichtsinnig und vergeßlich er ist. Nun, und da ihm jetzt volle Freiheit gelassen war, hat er sich eben gehenlassen.«

»Aber sich so gehenzulassen, das ist doch unerhört; da muß irgend etwas dahinterstecken, und sowie er kommt, werde ich ihn veranlassen, die Sache aufzuklären. Aber am meisten wundere ich mich darüber, daß Sie auch mir eine gewisse Schuld beizumessen scheinen, obwohl ich doch gar nicht hier gewesen bin. Übrigens sehe ich, Natalja Nikolajewna, daß Sie auf ihn sehr erzürnt sind, und das ist ja auch begreiflich! Sie haben dazu ein volles Recht, und... und... selbstverständlich geht es in erster Linie über mich her, wenn auch nur deswegen, weil ich als erster hier erschienen bin, nicht wahr?« fuhr er, sich mit einem gereizten Lächeln an mich wendend, fort.

Natascha fuhr auf und wurde dunkelrot.

»Erlauben Sie, Natalja Nikolajewna«, fuhr er in würdigem Ton fort; »ich gebe zu, daß mich eine gewisse Schuld trifft, aber nur darin, daß ich gleich am nächsten Tag nach unserer Bekanntschaft weggereist bin, so daß Sie bei der Neigung zum Mißtrauen, die ich an Ihrem Charakter wahrnehme, schon Zeit gefunden haben, Ihre Meinung über mich zu ändern, und zwar um so leichter, da die Umstände dazu mitwirkten. Wäre ich nicht weggereist, so hätten Sie mich besser kennengelernt, und auch Aljoscha hätte sich unter meiner Aufsicht nicht so leichtsinnig benommen. Sie werden aber gleich heute hören, was ich ihm sagen werde.«

»Das heißt, Sie werden bewirken, daß er das Verhältnis zu mir als Last zu empfinden anfängt. Unmöglich können Sie bei Ihrer Klugheit wirklich meinen, daß ein solches Mittel mir helfen werde.«

»Wollen Sie etwa damit andeuten, daß ich absichtlich darauf ausginge, zu bewirken, daß er Ihrer überdrüssig werde? Sie beleidigen mich, Natalja Nikolajewna!«

»Ich bemühe mich, möglichst wenig in Andeutungen zu sprechen, wen auch immer ich mir gegenüber habe«, erwiderte Natascha. »Ich bin vielmehr immer bestrebt, mich recht klar auszudrücken, und vielleicht werden Sie sich noch heute davon überzeugen. Beleidigen wollte ich Sie nicht; das ist ausgeschlossen, schon deswegen, weil Sie sich durch meine Worte, mag ich sagen, was ich will, nicht beleidigt fühlen können. Davon bin ich fest überzeugt, da ich unsere wechselseitigen Beziehungen völlig klar erkenne: Sie können ja diese Beziehungen nicht ernst nehmen, nicht wahr? Sollte ich Sie aber wirklich beleidigt haben, so bin ich bereit, um Verzeihung zu bitten, um Ihnen gegenüber alle Pflichten der Gastfreundschaft zu erfüllen.«

Trotz des leichten, ja scherzhaften Tones, in welchem Natascha dies mit einem Lächeln auf den Lippen vorbrachte, hatte ich sie doch noch nie so gereizt gesehen. Erst jetzt begriff ich, wie weh ihr in diesen drei Tagen ums Herz gewesen war. Ihre rätselhaften Worte, daß sie jetzt alles wisse und alles durchschaut habe, erschreckten mich; sie bezogen sich direkt auf den Fürsten. Sie hatte ihre Meinung über ihn geändert und betrachtete ihn als ihren Feind; das war augenscheinlich. Die üble Wendung, die ihre Beziehungen zu Aljoscha genommen hatten, führte sie offenbar auf den Einfluß des Fürsten zurück und hatte vielleicht guten Grund dazu. Ich fürchtete, es könne zwischen ihnen zu einer heftigen Szene kommen. Die wahre Bedeutung ihres scherzhaften Tones lag gar zu offen am Tage, war gar zu wenig verhüllt. Ihre letzten Worte an den Fürsten, er könne ihre wechselseitigen Beziehungen nicht ernst nehmen, die Redensart von der Bitte um Verzeihung wegen der Pflicht der Gastfreundschaft, ihre wie eine Drohung klingende Ankündigung, sie werde ihm noch an diesem Abend den Beweis dafür liefern, daß sie deutlich zu reden verstehe: dies alles war so offensiv und so wenig maskiert, daß der Fürst es unmöglich mißverstehen konnte. Ich sah, daß in seinem Gesicht eine Veränderung vorging; aber er verstand es, sich zu beherrschen. Er stellte sich sogleich, als habe er diese Worte nicht beachtet, ihren wirklichen Sinn nicht verstanden, und half sich selbstverständlich mit einem Scherz heraus.

»Gott soll mich davor bewahren, eine Bitte um Entschuldigung zu verlangen!« erwiderte er lachend. »Das lag überhaupt nicht in meiner Absicht; und von einer Frau zu verlangen, daß sie mich um Entschuldigung bitte, das entspricht nicht meinen Grundsätzen. Schon als wir uns das erstemal sahen, habe ich Ihnen im voraus meinen Charakter geschildert, und deshalb werden Sie mir hoffentlich eine Bemerkung nicht übelnehmen, um so weniger, da sie sich auf die Frauen im allgemeinen bezieht; auch Sie werden dieser Bemerkung wahrscheinlich zustimmen«, fuhr er, sich liebenswürdig zu mir wendend, fort. »Ich habe nämlich beobachtet, daß es im weiblichen Charakter eine bestimmte Eigenheit gibt: wenn eine Frau sich irgendwie schuldig fühlt, so wird sie eher dazu bereit sein, in der Folgezeit ihre Schuld durch tausend Liebenswürdigkeiten wieder gutzumachen, als im gegenwärtigen Augenblick, im Augenblick ihrer evidenten Überführung, ihre Schuld zu bekennen und um Verzeihung zu bitten. Daher wünsche ich, selbst angenommen, daß ich von Ihnen beleidigt bin, dennoch jetzt, im gegenwärtigen Augenblick, absichtlich keine Bitte um Entschuldigung; es ist für mich vorteilhafter zu warten, bis Sie später in Erkenntnis Ihres Fehlers ihn mir gegenüber durch tausend Liebenswürdigkeiten werden wieder gutmachen wollen. Und Sie haben eine so gute, reine, frische, offene Seele, daß der Augenblick, wo Sie bereuen werden, ein ganz entzückender sein wird. Sagen Sie mir, statt um Entschuldigung zu bitten, jetzt lieber: kann ich gleich heute durch irgend etwas Ihnen den Beweis erbringen, daß ich Ihnen gegenüber weit offener und aufrichtiger verfahre, als Sie es von mir glauben?«

Natascha errötete. Auch ich hatte die Empfindung, daß die Antwort des Fürsten in gar zu ungeniertem, sogar lässigem Ton gegeben war, ja, daß darin sogar eine unziemliche Spötterei lag.

»Sie wollen mir beweisen, daß Sie gegen mich offen und ehrlich sind?« fragte Natascha, ihn mit herausfordernder Miene anblickend.

»Ja.«

»Dann erfüllen Sie mir eine Bitte!«

»Ich verspreche es Ihnen im voraus.«

»Meine Bitte ist: Aljoscha meinetwegen mit keinem Wort, mit keiner Andeutung aufzuregen, weder heute noch morgen. Keinen Vorwurf deswegen, weil er mich vergessen hat; keine Strafpredigt! Ich will ihn absichtlich so empfangen, als ob zwischen uns nichts vorgefallen sei; er soll von meinen Gefühlen nichts merken. Darauf lege ich Wert. Geben Sie mir Ihr Wort darauf?«

»Mit dem größten Vergnügen«, antwortete der Fürst; »und erlauben Sie mir, aus tiefster Überzeugung hinzuzufügen, daß ich nur selten bei jemand eine so vernünftige, klare Auffassung auf diesem Gebiet angetroffen habe... Aber da ist Aljoscha, wie es scheint.«

Wirklich wurde im Vorzimmer Geräusch vernehmbar. Natascha fuhr zusammen und schien sich auf etwas vorzubereiten. Der Fürst saß mit ernster Miene da und wartete, was nun kommen werde; er betrachtete Natascha unverwandt. Die Tür öffnete sich, und Aljoscha kam zu uns hereingeflogen.

Zweites Kapitel

Ja, er kam geradezu hereingeflogen, mit strahlendem Gesicht, fröhlich und vergnügt. Man sah ihm an, daß er diese vier Tage heiter und glücklich verlebt hatte. Es stand ihm auf dem Gesicht geschrieben, daß er uns etwas mitteilen wollte.

»Da bin ich!« rief er mit schallender Stimme. »Ich, der von allen zuerst hätte hiersein sollen. Aber ihr werdet sogleich alles erfahren, alles, alles! Vorhin, Papa, hatten wir keine Zeit, auch nur ein paar Worte miteinander zu sprechen; und ich hatte dir doch soviel zu sagen. Nur zu Zeiten, wo er in besonders guter Stimmung ist, erlaubt er mir, ihn zu duzen«, unterbrach er sich, zu mir gewendet; »zu anderen Zeiten verbietet er es mir! Und was für einer eigentümlichen Taktik er sich da bedient: er fängt selbst an, zu mir ›Sie‹ zu sagen. Aber vom heutigen Tag an will ich, daß er immer in guter Stimmung sei, und ich werde das bewirken! Überhaupt habe ich mich in diesen vier Tagen verändert, mich völlig, völlig verändert, und ich werde euch alles erzählen. Aber das nachher! Jetzt die Hauptsache: da ist sie, da ist sie wieder! Natascha, Geliebte, guten Abend, mein Engel!« sagte er, setzte sich neben sie und küßte ihr eifrig die Hand. »Wie habe ich mich diese Tage über nach dir gesehnt! Aber was war zu machen! Ich konnte nicht! Ich konnte es nicht ermöglichen. Du meine Liebste! Es sieht aus, als ob du ein bißchen abgemagert wärst, und du bist so blaß geworden...«

Voller Entzücken bedeckte er ihre Hände mit Küssen und sah sie glückselig mit seinen schönen Augen an, als könne er sich an ihr gar nicht satt sehen. Ich warf einen Blick auf Natascha und erriet an ihrem Gesicht, daß wir denselben Gedanken hatten: er war völlig schuldlos. Und wann und wie hätte sich dieser Unschuldige auch schuldig machen können? Eine helle Röte ergoß sich auf einmal über Nataschas Wangen, als ob alles Blut, das sich in ihrem Herzen gesammelt hatte, plötzlich nach dem Kopf strömte. Ihre Augen blitzten, und stolz blickte sie den Fürsten an.

»Aber wo... bist du denn... all diese Tage gewesen?« fragte sie mit mühsam zurückgehaltener, stockender Stimme. Sie atmete schwer und ungleichmäßig. Mein Gott, wie liebte sie ihn!

»Das ist es ja eben, daß ich tatsächlich dir gegenüber schuldig zu sein scheine. Aber was sage ich ›scheine‹? Selbstverständlich bin ich schuldig, und ich weiß das selbst und bin mit diesem Bewußtsein hergekommen. Katja hat gestern und heute zu mir gesagt, es gäbe kein weibliches Wesen, das eine solche Vernachlässigung verzeihen könne (denn sie weiß alles, was sich hier bei uns am Dienstag zugetragen hat; ich habe es ihr gleich am nächsten Tag erzählt). Ich habe mich mit ihr gestritten und ihr bewiesen und gesagt, daß es doch ein solches weibliches Wesen gibt und daß es Natascha heißt und daß ihr auf der ganzen Welt vielleicht nur eines gleichkommt, nämlich Katja; und ich bin selbstverständlich in dem Bewußtsein hierhergefahren, daß ich in dem Streit recht hatte. Kann etwa ein Engel wie du seine Verzeihung verweigern? ›Er ist nicht hiergewesen; also hat ihn jedenfalls etwas gehindert; daß er aufgehört hätte, mich zu lieben, ist ausgeschlossen‹ so wird meine Natascha gedacht haben! Und wie könnte ich auch aufhören, dich zu lieben? Ist das überhaupt möglich? Mein ganzes Herz hat mir weh getan vor Sehnsucht nach dir. Aber doch bin ich schuldig! Wenn du indessen alles erfahren haben wirst, so wirst du die erste sein, die mich für gerechtfertigt erklärt! Sogleich werde ich alles erzählen; es drängt mich, euch allen mein Herz auszuschütten; deshalb bin ich ja auch hergekommen. Ich wollte heute, als ich gerade einen Augenblick freie Zeit hatte, schon zu dir herfliegen, um dich in aller Eile zu küssen; aber auch da kam mir etwas dazwischen: Katja schickte zu mir, ich möchte in einer sehr wichtigen Angelegenheit unverzüglich zu ihr kommen. Das war noch vor der Zeit gewesen, als ich in der Droschke saß, Papa, und du mich sahst; damals fuhr ich schon zum zweitenmal, aus Anlaß eines zweiten Schreibens, zu Katja. Es laufen jetzt den ganzen Tag über zwischen uns Eilboten mit Briefchen von einem Haus zum andern. Iwan Petrowitsch, Ihr Billett habe ich erst gestern in der Nacht zu lesen bekommen, und Sie haben in allem, was Sie da geschrieben haben, vollkommen recht. Aber was war zu machen? Es war eben physisch unmöglich! Daher dachte ich: ›Morgen abend werde ich mich in allen Punkten rechtfertigen‹; denn heute abend mußte ich unter allen Umständen zu dir kommen, Natascha.«

»Was war denn das für ein Billett?« fragte Natascha.

»Er war bei mir, traf mich natürlich nicht zu Hause an und schalt mich in einem Billett, das er mir daließ, tüchtig dafür aus, daß ich nicht zu dir käme. Und er hat vollkommen recht. Das war gestern.«

Natascha sah mich an.

»Aber wenn du Zeit genug hattest, um vom Morgen bis zum Abend bei Katerina Fjodorowna zu sein...«, begann der Fürst.

»Ich weiß, ich weiß, was du sagen willst«, unterbrach ihn Aljoscha. »Du willst sagen: ›Wenn du bei Katja sein konntest, dann hattest du noch einmal soviel Grund, bei Natascha zu sein.‹ Ich stimme dir da vollständig bei und füge sogar von mir aus hinzu: nicht noch einmal soviel Grund, sondern tausendmal soviel Grund! Aber erstens gibt es seltsame, unerwartete Ereignisse im Leben, die alles in Verwirrung bringen und das Oberste zuunterst kehren. Nun, so etwas ist auch mir begegnet. Ich habe schon gesagt, daß ich mich in diesen Tagen vollständig verändert habe, vom Kopf bis zu den Füßen; es haben also wirklich wichtige Umstände vorgelegen!«

»Ach mein Gott, was ist dir denn nun eigentlich begegnet? Bitte, martere mich nicht!« rief Natascha, über Aljoschas Eifer lächelnd.

Er war tatsächlich ein bißchen komisch: er überhastete sich; die Worte fielen ihm schnell und ohne Ordnung aus dem Mund; sie polterten nur so heraus. Er wollte immerzu reden, reden, erzählen; aber während des Erzählens ließ er doch Nataschas Hand nicht los und führte sie unaufhörlich an die Lippen, wie wenn er sich gar nicht satt küssen könne.

»Darum handelt es sich eben, was mir begegnet ist«, fuhr Aljoscha fort. »Ach, meine Freunde! Was habe ich alles gesehen, was habe ich alles getan, was für Leute habe ich kennengelernt! Erstens Katja: sie ist geradezu ein Ideal! Ich habe sie bisher gar nicht gekannt, aber auch gar nicht! Auch damals, am Dienstag, als ich mit dir von ihr sprach, Natascha (du erinnerst dich, ich redete noch von ihr mit solchem Entzücken), na, also auch damals kannte ich sie noch so gut wie gar nicht. Sie selbst suchte sich vor mir zu verbergen bis zur jetzigen Zeit. Aber jetzt haben wir einander vollständig kennengelernt. Wir duzen uns jetzt schon. Aber ich will von Anfang an erzählen: erstens, Natascha, wenn du nur hättest hören können, wie sie zu mir von dir gesprochen hat, als ich ihr am andern Tage, am Mittwoch, berichtete, was sich hier zwischen uns zugetragen hatte!... Apropos, da fällt mir ein, wie dumm ich mich gegen dich betragen habe, als ich damals, am Mittwochvormittag, zu dir kam! Du empfingst mich voll Entzücken und warst ganz erfüllt von unserer neuen Situation; du wolltest mit mir von all diesen Dingen reden; du warst traurig und scherztest und spaßtest dabei doch mit mir; ich aber wollte den ruhigen, gesetzten Mann spielen! O ich Dummkopf, ich Dummkopf! Ich wollte mich hervortun, damit prahlen, daß ich bald ein Ehemann, ein solider Mensch sein würde, und da mußte ich auch gerade auf dich verfallen, um dir diese Rolle vorzuspielen! Ach, wie hast du damals gewiß über mich gelacht, und wie sehr verdiente ich es, von dir ausgelacht zu werden!«

Der Fürst saß schweigend da und blickte mit einer Art von triumphierendem, ironischem Lächeln Aljoscha an, gerade als freue er sich darüber, daß sein Sohn sich als ein so leichtsinniger, ja sogar komischer Mensch erwies. Diesen ganzen Abend beobachtete ich den Fürsten aufmerksam und gewann die feste Überzeugung, daß er seinen Sohn überhaupt nicht liebe, obgleich die Leute soviel von seiner warmen Vaterliebe sprachen.

»Nach dem Besuch bei dir fuhr ich zu Katja«, fuhr Aljoscha in seiner Erzählung fort. »Ich habe schon gesagt, daß wir erst an diesem Morgen einander vollständig kennenlernten, und das ging in einer ganz merkwürdigen Weise zu... ich erinnere mich eigentlich gar nicht mehr, wie... Ein paar Worte voll warmen Gefühls, ein paar offen ausgesprochene Gedanken und Empfindungen, und wir waren uns fürs ganze Leben nahegetreten. Du mußt sie kennenlernen, Natascha, mußt sie unbedingt kennenlernen! Wie sie mir dein ganzes Wesen auseinandergesetzt und erläutert hat! Wie sie mir klargemacht hat, was für einen Schatz ich an dir besitze! Allmählich setzte sie mir alle ihre Ideen und ihre ganze Lebensanschauung auseinander; sie ist ein so ernstes, enthusiastisches Mädchen! Sie sprach von unserer Pflicht, von unserer Bestimmung, davon, daß wir alle der Menschheit dienen müßten, und da wir vollständig derselben Ansicht waren, wie sich in einem fünf- bis sechsstündigen Gespräch herausstellte, so endete es damit, daß wir uns geschworen haben, lebenslänglich Freunde zu sein und unser ganzes Leben lang zusammen zu wirken!«

»Auf welchem Gebiet wollt ihr denn wirken?« fragte der Fürst verwundert.

»Ich habe mich so verändert, Vater, daß dich dies alles natürlich in Erstaunen setzen muß; ich sehe sogar alle deine Einwände vorher«, antwortete Aljoscha triumphierend. »Ihr seid sämtlich Leute des praktischen Lebens; ihr habt eine Menge der Erfahrung entstammender ernster, strenger Grundsätze; auf alles Neue, Junge, Frische jedoch blickt ihr mißtrauisch, feindselig und spöttisch herab. Aber jetzt bin ich nicht mehr der, als den du mich noch vor wenigen Tagen gekannt hast. Ich bin ein anderer geworden! Ich blicke allem und allen in der Welt kühn in die Augen. Wenn ich weiß, daß meine Überzeugung die richtige ist, dann bleibe ich ihr treu bis zum Äußersten; und wenn ich nicht vom rechten Wege abirre, dann bin ich ein ehrenhafter Mensch. Das genügt mir. Dann mögt ihr andern reden, was ihr wollt, ich bin meiner Sache sicher.«

»Oho!« sagte der Fürst spöttisch.

Natascha blickte bald mich, bald den Fürsten beunruhigt an. Sie fürchtete für Aljoscha. Es begegnete ihm oft, daß er, sehr wenig zu seinem Vorteil, sich im Gespräch hinreißen ließ, und sie wußte das. Sie wollte nicht, daß Aljoscha sich vor uns, und namentlich vor seinem Vater, in einem komischen Licht zeige.

»Was redest du nur, Aljoscha! Das ist ja schon sozusagen Philosophie«, sagte sie; »das hat dich gewiß jemand gelehrt. Du solltest lieber erzählen.«

»Aber ich bin ja mitten im Erzählen!« rief Aljoscha. »Siehst du: Katja hat zwei entfernte Verwandte, eine Art von Vettern, Lew und Boris; der eine ist Student und der andere einfach ein junger Mann. Sie unterhält mit ihnen Beziehungen, und das sind geradezu hervorragende Geister! Bei der Gräfin lassen sie sich fast gar nicht blicken, aus Grundsatz. Als ich mit Katja von der Bestimmung des Menschen, von seiner Berufung und all dergleichen sprach, wies sie mich auf diese jungen Männer hin und gab mir sofort ein Empfehlungsschreiben an sie; ich eilte unverzüglich zu ihnen, um ihre Bekanntschaft zu machen. Gleich an demselben Abend wurden wir ein Herz und eine Seele. Es waren da ungefähr zwölf Personen von verschiedener Lebensstellung: Studenten, Offiziere, Künstler; auch ein Schriftsteller war dabei; sie kennen Sie, Iwan Petrowitsch, das heißt, sie haben Ihre Schriften gelesen, und erwarten in der Zukunft viel von Ihnen. Das haben sie mir selbst gesagt. Ich sagte ihnen, daß ich mit Ihnen bekannt sei, und versprach ihnen, Sie mit ihnen bekannt zu machen. Sie nahmen mich alle brüderlich mit offenen Armen auf. Ich sagte ihnen gleich von vornherein, daß ich mich bald verheiraten werde; und daher behandelten sie mich schon wie einen Ehemann. Sie wohnen meist im fünften Stock, unter dem Dach, und kommen möglichst oft zusammen, vorzugsweise mittwochs bei Lew und Boris. Es sind lauter frische, junge Menschen, sämtlich von glühender Liebe zur ganzen Menschheit erfüllt; wir sprachen alle von unserer Gegenwart, von unserer Zukunft, von den Wissenschaften, von der Literatur, und es wurde so schön, so offen und schlicht geredet! Auch ein Gymnasiast kommt hin. Wie hübsch sie miteinander verkehren, und was für eine edle, vornehme Denkweise sie haben! Ich habe solche Menschen noch nie kennengelernt! In welchen Kreisen habe ich denn auch bisher verkehrt? Was habe ich zu sehen bekommen? In welcher Umgebung bin ich aufgewachsen? Du, Natascha, bist die einzige, die mit mir von solchen Dingen gesprochen hat. Ach, Natascha, du mußt unbedingt ihre Bekanntschaft machen; Katja ist schon mit ihnen bekannt. Sie reden von ihr beinah mit Ehrfurcht, und Katja hat schon zu Lew und Boris gesagt, wenn sie die Berechtigung erlangt haben werde, über ihr Vermögen zu verfügen, so werde sie unbedingt sogleich eine Million Rubel für soziale Zwecke spenden.«

»Und die Verwalter dieser Million werden gewiß Lew und Boris und ihre ganze Gesellschaft sein?« fragte der Fürst.

»Das ist nicht wahr, das ist nicht wahr; schäme dich, Vater, so zu reden!« rief Aljoscha eifrig. »Ich merke, was du meinst! Aber diese Million ist tatsächlich der Gegenstand unseres Gespräches gewesen; wir haben lange überlegt, wie sie verwendet werden solle, und uns endlich dafür entschieden, daß sie vor allen Dingen der allgemeinen Aufklärung dienen soll...«

»Ja, ich habe Katerina Fjodorowna bisher wirklich nicht ordentlich gekannt«, bemerkte der Fürst, als ob er nur für sich spräche, immer mit demselben spöttischen Lächeln. »Ich habe ihr übrigens manches zugetraut, aber dies...«

»Was ist denn dabei?« unterbrach ihn Aljoscha. »Was erscheint dir daran so sonderbar? Daß das aus eurem gewohnten Rahmen heraustritt? Daß bisher niemand eine Million geopfert hat und Katja es tut? Das ist's wohl, was dich befremdet. Aber was ist dagegen zu sagen, wenn sie nicht auf andrer Leute Kosten leben will? Denn von diesen Millionen leben ist soviel, wie auf andrer Leute Kosten leben; das ist mir erst jetzt klargeworden. Sie will dem Vaterland und allen Menschen nützlich sein und für die Förderung des Gemeinwohls ihr Scherflein darbringen. Von einem Scherflein ist ja schon in unseren Schönschreibevorschriften die Rede gewesen, und wie jenes Scherflein der Witwe eine Million wert war, so wird es doch hier auch der Fall sein. Und worauf gründet sich denn diese ganze gepriesene Vernunft, an die ich so fest geglaubt habe? Warum siehst du mich so an, Vater? Als ob du einen Narren, einen Dummkopf vor dir sähest? Nun, was schadet es, wenn man ein Dummkopf ist? Du hättest hören sollen, Natascha, was Katja darüber sagte: ›Nicht der Verstand ist das Wichtigste, sondern das, was ihn regiert: der Charakter, das Herz, die edlen Eigenschaften, die gesamte geistige Entwicklung.‹ Aber die Hauptsache ist: hierüber hat Besmygin einen genialen Ausspruch getan. Besmygin ist ein Bekannter von Lew und Boris und unser Oberhaupt und wirklich ein genialer Kopf! Erst gestern sagte er im Gespräch: ›Ein Dummkopf, der sich bewußt ist, ein Dummkopf zu sein, ist kein Dummkopf mehr!‹ Welch eine tiefe Wahrheit! Solche Denksprüche gibt er alle Augenblicke von sich. Er schüttelt die Wahrheiten nur so aus dem Ärmel.«

»Wirklich genial!« bemerkte der Fürst.

»Du spottest immer. Aber ich habe von dir nie etwas Derartiges zu hören bekommen und ebensowenig von unsrer ganzen sogenannten guten Gesellschaft. Bei euch sucht man so etwas vielmehr zu verstecken; alles sucht man niederzuhalten, damit alle Leute die gleiche Statur haben; selbst die Nasen sollen von gleicher Länge und Gestalt sein − als ob das möglich wäre! Als ob das nicht tausendmal unmöglicher wäre als das, wovon wir reden und was wir vorhaben! Und dabei nennt man uns Utopisten! Du hättest nur hören sollen, was sie gestern zu mir sagten...«

»Aber worüber redet ihr denn nun eigentlich, und was habt ihr vor? Erzähle doch, Aljoscha; bis jetzt verstehe ich noch nichts davon«, sagte Natascha.

»Wir reden überhaupt von allem, was zum Fortschritt und zur Humanität und zur Liebe führt; alles das erörtern wir anhand der neuzeitlichen Fragen. Wir reden von der Publizität, von den beginnenden Reformen, von der Liebe zur Menschheit, von den führenden Geistern; wir kritisieren sie, wir lesen ihre Schriften. Aber die Hauptsache ist: wir haben einander das Wort darauf gegeben, unter uns vollständig aufrichtig zu sein und einander alles über uns selbst offen und ohne falsche Scham zu sagen. Nur Offenheit und Aufrichtigkeit können das Ziel erreichen. Darauf dringt Besmygin ganz besonders. Ich habe Katja davon erzählt, und sie ist durchaus der Ansicht Besmygins. Und darum haben wir alle unter Besmygins Leitung uns das Wort darauf gegeben, unser ganzes Leben hindurch offen und ehrlich zu handeln und, was man auch von uns sagen und wie man auch über uns urteilen mag, uns durch nichts beirren zu lassen, uns unseres Enthusiasmus, unserer Bestrebungen, unserer Fehler nicht zu schämen, sondern geradeaus unseren Weg zu gehen. Wenn du willst, daß man dich achte, so achte zuerst und vor allen Dingen dich selbst; nur dadurch, nur durch Selbstachtung, zwingst du auch andere, dich zu achten. Das sagt Besmygin, und Katja stimmt ihm vollständig bei. Überhaupt sprechen wir jetzt viel von unseren Anschauungen und haben beschlossen, es soll sich jeder für sich allein mit Selbsterkenntnis beschäftigen, und dann sollen alle zusammen sich wechselseitig belehren...«

»Was für ein heilloser Unsinn!« rief der Fürst beunruhigt. »Und wer ist dieser Besmygin? Nein, das darf man nicht so weitergehen lassen!«

»Was darf man nicht so weitergehen lassen?« fiel Aljoscha ein. »Höre, Vater, warum setze ich jetzt das alles in deiner Gegenwart auseinander? Weil ich wünsche und hoffe, auch dich für unseren Verein zu gewinnen. Ich habe es dort auch schon versprochen, dich hinzubringen. Du lachst; nun, das habe ich vorher gewußt, daß du lachen würdest! Aber höre! Du bist gut, du bist edel; du wirst mich verstehen. Du kennst ja diese Menschen nicht; du hast sie noch nie gesehen, sie nicht selbst gehört. Gesetzt auch, du habest von alledem schon gehört, denn du hast ja alles studiert und bist furchtbar gelehrt: aber sie selbst hast du noch nicht gehört, du bist noch nicht bei ihnen gewesen; wie kannst du also über sie ein richtiges Urteil haben? Du bildest dir nur ein, daß du sie kennst. Nein, komm zu ihnen hin, höre sie, und dann − und dann verbürge ich mich dafür, daß du einer der Unsrigen werden wirst! Und die Hauptsache ist: ich will alle Mittel anwenden, um dich vom Verderben in deinem Gesellschaftskreis zu retten, an dem du so hängst, und dich von deinen Anschauungen abzubringen.«

Der Fürst hatte Aljoschas pathetische Rede schweigend und mit einem spöttischen Lächeln angehört; sein Gesicht hatte einen boshaften Ausdruck getragen. Natascha hatte ihn mit unverhohlenem Widerwillen beobachtet. Er hatte dies gesehen, aber getan, als bemerke er es nicht. Aber als Aljoscha geendet hatte, brach der Fürst plötzlich in ein Gelächter aus. Er ließ sich sogar gegen die Lehne des Stuhles zurücksinken, als ob er nicht imstande wäre, sich zu halten. Aber dieses Lachen war entschieden gekünstelt. Es war nur zu deutlich, daß er einzig und allein in der Absicht lachte, seinen Sohn möglichst zu kränken und zu demütigen. Aljoscha fühlte sich wirklich beleidigt; sein ganzes Gesicht drückte tiefen Schmerz aus. Aber er wartete geduldig, bis die Heiterkeit seines Vaters aufhörte.

»Vater«, begann er traurig, »warum lachst du denn über mich? Ich habe offen und ehrlich zu dir gesprochen. Wenn ich deiner Meinung nach Dummheiten gesagt habe, so belehre mich, aber lache mich nicht aus! Und worüber lachst du? Über das, was mir jetzt heilig und edel erscheint? Nun, mag ich auch irren, mag das auch alles unrichtig und fehlerhaft sein, mag ich auch ein Dummkopf sein, wie du mich manchmal genannt hast: aber wenn ich auch irre, so tue ich es mit aller Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit; ich habe den Adel meiner Seele nicht eingebüßt. Ich begeistere mich für hohe Ideen. Mögen sie auch irrig sein, so ist doch ihre Grundlage heilig. Ich habe dir ja gesagt, daß du und alle Angehörigen deines Kreises mir noch nichts Derartiges gesagt haben, was mich angezogen hätte und mir als Richtschnur hätte dienen können. Widerlege diese Ideen, sage mir etwas Besseres, und ich werde dir folgen; aber lache nicht über mich; denn das kränkt mich sehr.«

Aljoscha hatte das mit edlem Anstand und mit einer Art von ernster Würde gesagt. Natascha war seinen Worten mit Teilnahme gefolgt. Der Fürst hatte seinem Sohn ganz erstaunt zugehört und änderte nun sogleich seinen Ton.

»Ich wollte dich ganz und gar nicht kränken, lieber Sohn«, antwortete er; »ich bedaure dich vielmehr. Du bereitest dich zu einem Schritt im Leben vor, bei dem es an der Zeit wäre, das leichtsinnige, knabenhafte Wesen abzulegen. Das ist meine Meinung. Ich mußte unwillkürlich lachen und habe dich durchaus nicht kränken wollen.«

»Warum schien es mir dann aber so?« fuhr Aljoscha mit dem Ausdruck tiefen Schmerzes fort. »Warum scheint es mir schon lange, daß du gegen mich eine feindliche Stellung einnimmst, mich mit kaltem Spott behandelst und nicht so, wie ein Vater seinen Sohn behandeln sollte? Warum scheint es mir, daß ich, wenn ich an deiner Stelle wäre, meinen Sohn nicht in so kränkender Weise auslachen würde, wie du es jetzt mit mir tust? Höre: sprechen wir uns doch jetzt gleich ein für allemal aufrichtig aus, so daß keinerlei Mißverständnisse mehr zurückbleiben! Und... ich will die volle Wahrheit sagen: als ich hier eintrat, schien es mir, daß auch hier ein Mißverständnis stattgefunden hatte; ich hatte erwartet, euch in anderer Stimmung hier zusammen zu finden. Ist es so oder nicht? Wenn es so ist, ist es dann nicht besser, daß ein jeder seine Empfindungen frei ausspricht? Wieviel Schaden kann durch Aufrichtigkeit verhütet werden!«

»Sprich nur, sprich nur, Aljoscha!« erwiderte der Fürst. »Was du uns da vorschlägst, ist sehr verständig. Vielleicht hätten wir das von vornherein tun sollen«, fügte er mit einem Blick auf Natascha hinzu.

»Sei also nicht böse über meine vollständige Offenherzigkeit!« begann Aljoscha. »Du wünschst sie selbst, verlangst sie selbst. So höre denn! Du hast deine Einwilligung zu meiner Heirat mit Natascha gegeben; du hast uns dieses Glück gewährt und zu diesem Zweck dich selbst überwunden. Du bist großmütig gewesen, und wir alle haben dein edles Verhalten gebührend gewürdigt. Aber warum deutest du mir denn jetzt fortwährend mit einer Art von Schadenfreude an, daß ich noch ein lächerlicher Knabe und für die Stellung eines Ehemannes ungeeignet sei? Ja noch mehr: du legst es darauf an, mich zu verhöhnen, mich zu demütigen, mich sogar in Nataschas Augen zu verunglimpfen. Es ist dir immer eine große Freude, wenn du mich von einer komischen Seite zeigen kannst; das habe ich nicht erst jetzt bemerkt, sondern schon lange. Als ob du es besonders darauf abgesehen hättest, uns zu beweisen, daß unsere Ehe lächerlich und absurd sei und wir nicht zueinander paßten. Gerade als ob du selbst nicht daran glaubtest, daß das zustande kommen werde, was du doch selbst für uns in Aussicht genommen hast; als ob du das alles nur für einen Scherz, für einen amüsanten Einfall, für ein komisches Vaudeville hieltest... Ich schließe das ja nicht nur aus deinen heutigen Worten. Gleich an jenem Abend, am Dienstag, als ich von hier zu dir zurückkehrte, hörte ich aus deinem Mund einige merkwürdige Ausdrücke, die mich verwunderten und geradezu kränkten. Auch als du am Mittwoch abreistest, machtest du einige Anspielungen auf unsere jetzige Lage und sprachst auch von Natascha, zwar nicht in beleidigender Weise, nein, aber doch so, wie ich es aus deinem Mund lieber nicht gehört hätte, gar zu leichtfertig, lieblos, respektlos. Es ist schwer, das darzulegen; aber der Ton war nicht mißverständlich; mein Herz vernahm ihn. Sage mir doch, daß ich mich irre! Belehre mich eines Besseren, beruhige mich und... und auch sie; denn du hast auch sie gekränkt. Das merkte ich beim ersten Blick, als ich hier eintrat...«

Aljoscha hatte das mit warmer Empfindung und in festem Ton gesprochen. Natascha hatte ihm mit einer Art von Triumph zugehört und in starker Erregung und mit glühendem Gesicht ein paarmal während seiner Rede vor sich hingesagt: »Ja, ja, so ist es!« Der Fürst war verlegen.

»Lieber Sohn«, entgegnete er, »ich kann mich natürlich nicht auf alles besinnen, was ich zu dir gesagt habe; aber es ist sehr sonderbar, wenn du meine Worte in einem solchen Sinn aufgefaßt hast. Ich bin bereit, dich eines Besseren zu belehren, soweit ich nur irgend kann. Wenn ich jetzt gelacht habe, so ist auch das begreiflich. Ich sage dir, daß ich mit meinem Lachen sogar meine schmerzliche Empfindung verhüllen wollte. Wenn ich mir jetzt vorstelle, daß du dich bald anschickst, ein Ehemann zu sein, so erscheint mir das jetzt völlig unmöglich, absurd, ja, nimm es mir nicht übel, sogar lächerlich. Du machst mir dieses Lachen zum Vorwurf; aber ich sage dir, daß es ganz und gar durch dich herbeigeführt ist. Eine gewisse Schuld trage allerdings auch ich: vielleicht habe ich in der letzten Zeit zu wenig auf dich achtgegeben und daher erst jetzt, heute abend, erkannt, was für einer Handlungsweise du fähig bist. Jetzt wird mir geradezu bange, wenn ich an dein künftiges Leben mit Natalja Nikolajewna denke: ich habe mich übereilt; ich sehe, daß ihr sehr wenig zusammenpaßt. Jede Liebe geht vorüber; aber die Disharmonie bleibt lebenslänglich. Ich will gar nicht einmal von deinem eigenen Schicksal reden; aber wenn anders du ehrliche Absichten hast, so bedenke, daß du mit dir zusammen auch Natalja Nikolajewna zugrunde richtest, entschieden zugrunde richtest! Da hast du nun jetzt eine ganze Stunde lang von Liebe zur Menschheit, von Adel der Gesinnung, von hochherzigen Menschen, mit denen du bekannt geworden bist, gesprochen; aber frage Iwan Petrowitsch, was ich vorhin zu ihm gesagt habe, als wir auf dieser abscheulichen Treppe zum vierten Stock hinaufstiegen und hier an der Tür stehenblieben und Gott für die Rettung unseres Lebens und unserer Beine dankten! Weißt du, welcher Gedanke mir da unwillkürlich durch den Kopf ging? Ich wunderte mich, wie du bei deiner großen Liebe zu Natalja Nikolajewna es dulden kannst, daß sie in einer solchen Wohnung lebt. Hast du dir denn gar nicht gesagt, daß, wenn du über keine Mittel verfügst und nicht die Fähigkeit besitzt, deine Pflichten zu erfüllen, daß du dann auch nicht berechtigt bist, ein Ehemann zu sein, nicht berechtigt bist, irgendwelche Pflichten auf dich zu nehmen? Die Liebe allein genügt nicht; die Liebe zeigt sich in Taten; aber so zu denken wie du: ›Magst du auch mit mir leiden; aber lebe dennoch mit mir!‹, das ist nicht human, nicht edel! Von allgemeiner Liebe zu reden, sich für allgemein menschliche Fragen zu begeistern und gleichzeitig Verbrechen gegen die Liebe zu begehen und es gar nicht einmal zu bemerken − ein solches Verhalten ist mir unverständlich! Unterbrechen Sie mich nicht, Natalja Nikolajewna, lassen Sie mich ausreden; es ist mir so weh ums Herz, und ich muß mich ganz aussprechen. Du hast gesagt, Aljoscha, du habest dich in diesen Tagen für alles, was edel, schön und ehrenhaft ist, begeistert und hast es mir zum Vorwurf gemacht, daß in unserem Gesellschaftskreis solche Begeisterung nicht zu finden sei, sondern nur trockene Vernunft. Nun sieh, was du getan hast: du hast dich für das Hohe und Schöne begeistert und hast trotz allem, was hier am Dienstag geschehen ist, vier Tage lang diejenige vernachlässigt, die, wie man meinen sollte, dir teurer sein müßte als alles auf der Welt! Du hast sogar bekannt, daß du in dem Streit mit Katerina Fjodorowna behauptet habest, Natalja Nikolajewna liebe dich so sehr und sei so großmütig, daß sie dir dein Verhalten verzeihen werde. Aber welches Recht hast du, auf eine solche Verzeihung zu rechnen und darauf zu wetten? Hast du denn wirklich kein einziges Mal daran gedacht, wie viele Qualen, wie viele bittere Gedanken, wieviel Zweifel und wieviel Argwohn du in diesen Tagen bei Natalja Nikolajewna hervorriefst? Hattest du deswegen, weil du dich dort für irgendwelche neuen Ideen begeistertest, ein Recht, deine allererste Pflicht zu vernachlässigen? Verzeihen Sie mir, Natalja Nikolajewna, daß ich meinem Wort untreu geworden bin. Aber die gegenwärtige Angelegenheit ist von ernsterer Bedeutung als dieses Versprechen; Sie werden das gewiß selbst einsehen... Weißt du wohl, Aljoscha, daß ich Natalja Nikolajewna in so tiefem Leid angetroffen habe, daß mir daraus verständlich wurde, in welche Hölle du diese vier Tage für sie verwandelt hast, die vielmehr die glücklichsten Tage ihres Lebens hätten sein sollen? Eine solche Handlungsweise auf der einen Seite und Worte, Worte und immer wieder Worte auf der anderen − habe ich da nicht recht? Und bei alledem bringst du es fertig, mich zu beschuldigen, während du doch die ganze Schuld trägst?«

Der Fürst war zu Ende. Er war sogar entzückt von seiner rednerischen Leistung und vermochte sein Triumphgefühl vor uns nicht zu verbergen. Als Aljoscha von Nataschas Leid hörte, blickte er sie mit schmerzlichem Kummer an; aber Natascha hatte bereits ihren Entschluß gefaßt.

»Laß es gut sein, Aljoscha, gräme dich nicht!« sagte sie. »Andere sind schuldiger als du. Setz dich hin und höre zu, was ich deinem Vater jetzt gleich sagen werde. Es ist Zeit, ein Ende zu machen!«

»Sprechen Sie sich deutlich aus, Natalja Nikolajewna!« fiel der Fürst ein; »ich bitte Sie dringend darum. Schon zwei Stunden lang höre ich diese rätselhaften Andeutungen. Das wird unerträglich, und ich muß gestehen, daß ich einen solchen Empfang hier nicht erwartet hatte.« »Das mag sein; denn Sie meinten, Sie würden uns durch Ihre Worte bezaubern, so daß wir Ihre geheimen Absichten nicht merkten. Was soll ich Ihnen denn erst noch deutlich machen? Sie wissen ja selbst alles und verstehen alles. Aljoscha hat recht. Was Sie vor allen Dingen wünschen ist: uns zu trennen. Sie haben alles vorher gewußt, was sich hier nach jenem Dienstagabend ereignen würde, und es sich sozusagen an den Fingern berechnet. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß Sie es mit mir und der von Ihnen in die Wege geleiteten Eheschließung nicht ernst meinen. Sie treiben mit uns Ihren Scherz, Ihr Spiel und haben dabei eine bewußte Absicht. Ihr Spiel ist gut berechnet. Aljoscha hatte recht, als er Ihnen vorwarf, Sie betrachteten diese ganze Angelegenheit wie eine Vaudeville. Sie sollten sich vielmehr über Aljoschas Benehmen freuen, statt ihm Vorwürfe zu machen; denn er hat unwissentlich alles erfüllt, was Sie von ihm erwarteten, vielleicht sogar noch mehr.«

Ich war starr vor Staunen. Ich hatte zwar erwartet, daß sich an diesem Abend eine Katastrophe ereignen werde; aber doch versetzten Aljoschas schroffe Offenherzigkeit und ihr unverhohlen verächtlicher Ton mich in die äußerste Verwunderung! ›Also weiß sie tatsächlich etwas‹, dachte ich, ›und hat sich ohne Verzug zum Bruch entschlossen. Vielleicht hat sie sogar den Fürsten mit Ungeduld erwartet, um ihm mit einemmal alles ins Gesicht zu sagen.‹ Der Fürst wurde ein wenig blaß. Aljoschas Miene drückte naive Furcht und qualvolle Erwartung aus. »Bedenken Sie, was für eine Anschuldigung Sie soeben gegen mich erhoben haben«, rief der Fürst, »und überlegen Sie wenigstens einigermaßen, was Sie sagen!... Ich verstehe nichts davon!«

»Ah! Also Sie wollen mich in dieser kurzen Fassung nicht verstehen«, sagte Natascha. »Sogar er, Aljoscha hier, hat Sie ebenso durchschaut wie ich, und doch haben wir beide nicht miteinander gesprochen und uns nicht einmal gesehen! Auch er hat die Empfindung gehabt, daß Sie mit uns ein unwürdiges, beleidigendes Spiel treiben; und doch liebt er Sie und glaubt an Sie wie an eine Gottheit! Sie haben nicht für nötig gehalten, ihm gegenüber größere Vorsicht und List anzuwenden; Sie rechneten darauf, daß er nichts merken werde. Aber er hat ein feinfühliges Herz, und Ihre Worte, Ihr ›Ton‹, wie er sagt, haben ihm einen dauernden Eindruck gemacht.«

»Ich verstehe nichts davon, gar nichts!« wiederholte der Fürst, indem er sich mit einer Miene größter Verwunderung an mich wandte, wie wenn er mich als Zeugen anrufen wollte. Er war gereizt und heftig erregt. »Sie sind argwöhnisch und befinden sich in Aufregung«, fuhr er, zu Natascha gewendet, fort. »Sie sind einfach eifersüchtig auf Katerina Fjodorowna und neigen daher dazu, die ganze Welt und in erster Linie mich anzuklagen. Gestatten Sie, daß ich Ihnen alles frei heraus sage: man muß daraus eine eigentümliche Meinung über Ihren Charakter gewinnen. Ich bin an solche Szenen nicht gewöhnt; ich würde nach dem Vorangegangenen keinen Augenblick länger hierbleiben, wenn es sich nicht um das Interesse meines Sohnes handelte... Ich warte immer noch, ob Sie nicht die Gewogenheit haben wollen, sich deutlicher auszusprechen.«

»Also Sie beharren auf diesem Verlangen und wollen mich nicht in dieser kurzen Fassung verstehen, trotzdem Sie alles ganz genau wissen? Sie wollen durchaus, daß ich Ihnen alles offen sage?«

»Das und nichts anderes ist es, was ich wünsche.«

»Gut denn; so hören Sie!« rief Natascha, deren Augen vor Zorn funkelten. »Ich werde alles sagen, alles!«

Drittes Kapitel

Sie stand auf und begann stehend zu reden, ohne dies in ihrer Aufregung zu bemerken. Nachdem der Fürst ein Weilchen zugehört hatte, erhob er sich ebenfalls von seinem Platz. Die ganze Szene wurde sehr feierlich.

»Sie werden sich wohl selbst an Ihre Worte am Dienstag erinnern«, begann Natascha. »Sie sagten: ›Ich brauche Geld, einen gebahnten Weg, eine bedeutende Stellung in der vornehmen Gesellschaft‹; erinnern Sie sich?«

»Ja.«

»Nun also, um dieses Geld und all diese Vorteile zu erlangen, die Ihnen aus den Händen zu entschlüpfen drohten, kamen Sie am Dienstag hierher und veranstalteten diese Verlobung, weil Sie darauf spekulierten, daß dieser Scherz Ihnen behilflich sein werde, das fest zu ergreifen, was Ihnen entglitt.«

»Natascha!« rief ich; »bedenke, was du sprichst!«

»Ein Scherz! Eine Spekulation!« wiederholte der Fürst mit der Miene tief gekränkter Würde.

Aljoscha saß da, von Kummer niedergedrückt, und sah dem Vorgang zu, fast ohne etwas zu begreifen.

»Ja, ja, unterbrechen Sie mich nicht! Ich habe mir fest vorgenommen, alles auszusprechen«, fuhr Natascha in gereiztem Ton fort. »Sie erinnern sich selbst: Aljoscha gehorchte Ihnen nicht. Ein halbes Jahr lang hatten Sie sich mit ihm abgemüht, um ihn von mir abzuziehen. Er fügte sich Ihnen nicht. Und auf einmal trat für Sie der Augenblick ein, wo die Zeit drängte. Wenn Sie die günstige Gelegenheit vorübergehen ließen, so glitten Ihnen die Braut und das Geld, vor allen Dingen das Geld, ganze drei Millionen Mitgift, aus den Fingern. Es blieb nur ein Mittel: Aljoscha mußte diejenige liebgewinnen, die Sie ihm zur Braut bestimmt hatten; Sie sagten sich, wenn er sich in sie verliebe, werde er sich vielleicht von mir lossagen...«

»Natascha, Natascha!« rief Aljoscha gramvoll; »was redest du!«

»So verfuhren Sie denn auch«, fuhr sie fort, ohne sich durch Aljoschas Zwischenruf aufhalten zu lassen; »aber da wiederholte sich die alte Geschichte: es hätte sich alles arrangieren lassen; aber ich bildete wieder das Hindernis! Nur ein Umstand konnte bei Ihnen Hoffnung erwecken: als erfahrener, schlauer Mensch hatten Sie vielleicht schon damals bemerkt, daß Aljoscha das bisherige enge Verhältnis zu mir manchmal als drückende Last empfand. Es konnte Ihnen nicht entgehen, daß er anfing, mich zu vernachlässigen, sich bei mir zu langweilen, und daß er mitunter fünf Tage lang nicht zu mir kam. ›Vielleicht wird er ihrer ganz überdrüssig werden und sie sitzenlassen‹, dachten Sie, als plötzlich am Dienstag Aljoschas energischer Schritt Sie vollständig überraschte. Was sollten Sie nun tun?«

»Erlauben Sie«, rief der Fürst, »das Gegenteil ist richtig; diese Tatsache...«

»Ich sage«, unterbrach ihn Natascha nachdrücklich, »Sie fragten sich an diesem Abend: ›Was ist jetzt zu tun?‹ und entschieden sich dafür, ihm die Erlaubnis zur Heirat mit mir zu geben, nicht in Wirklichkeit, sondern nur äußerlich, mit Worten, nur um ihn zu beruhigen. Den Hochzeitstermin, meinten Sie, könne man ja beliebig weit hinausschieben; und inzwischen könnte ein neue Liebe keimen; das hatten Sie bemerkt. Und so gründeten Sie denn auf den Beginn dieser neuen Liebe Ihren ganzen Plan.«

»Romane, Romane!« sagte der Fürst halblaut wie für sich. »Das einsame Leben, ein Hang zur Grübelei und das Lesen von Romanen!«

»Ja, auf diese neue Liebe gründeten Sie Ihren ganzen Plan«, wiederholte Natascha, ohne auf die Worte des Fürsten zu hören und sie irgendwie zu beachten; sie war wie im Fieber und verlor immer mehr die Selbstbeherrschung. »Und was für Chancen hatte nicht diese neue Liebe! Sie hatte ja schon damals begonnen, als er noch nicht alle Vorzüge dieses jungen Mädchens kennengelernt hatte! In eben dem Augenblick, als er an jenem Abend diesem jungen Mädchen entdeckte, daß er sie nicht lieben könne, weil seine Pflicht und eine andere Liebe es ihm verböten, in diesem Augenblick bekundete das junge Mädchen auf einmal ihm gegenüber eine so edle Gesinnung, soviel Mitgefühl mit ihm und ihrer Nebenbuhlerin, eine so prächtige Fähigkeit, zu verzeihen! Vorher hatte er zwar schon ihre Schönheit bewundert; aber er hatte bis auf diesen Augenblick nicht gedacht, daß sie eine so herrliche Seele hätte! Und als er damals zu mir kam, redete er nur von ihr; sie hatte ihn vollständig bezaubert. Ja, er mußte gleich am folgenden Tag unbedingt das unabweisbare Bedürfnis empfinden, dieses schöne Wesen wiederzusehen, sei es auch nur aus Dankbarkeit. Ja, und warum hätte er auch nicht zu ihr fahren sollen? Die andere, seine bisherige Geliebte, litt ja jetzt nicht mehr; ihr Schicksal war entschieden; ihr wollte er ja sein ganzes Leben widmen; der neuen sollte nur ein kurzer Augenblick zugedacht sein... Und wie undankbar wäre es von dieser Natascha, wenn sie der neuen aus Eifersucht nicht einmal diesen kurzen Augenblick gönnte! Und so wurde dieser Natascha statt eines kurzen Augenblicks unvermerkt ein Tag und ein zweiter, ein dritter entzogen... In der Zwischenzeit aber zeigte sich ihm das junge Mädchen von einer ganz unerwarteten, neuen Seite; sie war so edeldenkend, so enthusiastisch und zugleich ein so naives Kind und paßte daher in ihrem Charakter sehr gut zu ihm. Sie schwuren einander Freundschaft und Brüderschaft und wollten sich lebenslänglich nicht voneinander trennen. In einem fünf- bis sechsstündigen Gespräch erschloß sich ihr seine ganze Seele und nahm neue Empfindungen auf, und sein ganzes Herz gab sich ihr hin... ›Es wird endlich die Zeit kommen‹, dachten Sie, ›wo er seine frühere Liebe mit seinen neuen, frischen Gefühlen vergleichen wird: dort ist alles längst bekannt, alltäglich; dort ist man so ernst und anspruchsvoll; dort ist man eifersüchtig und schilt und weint; und wenn man selbst anfängt, mit ihm zu scherzen und zu spaßen, so behandelt man ihn dabei nicht wie einen Gleichgestellten, sondern wie ein Kind. Und die Hauptsache ist: alles ist schon so gewöhnlich, ohne den Reiz der Neuheit...‹«

Die Tränen und ein schmerzlicher Krampf drohten sie zu ersticken; aber Natascha fand noch für einen Augenblick Kraft.

»Und was dann weiter? Das Weitere konnte man der Zeit überlassen; die Hochzeit mit Natascha war ja nicht auf einen nahen Termin angesetzt; es lag noch viel Zeit dazwischen; da konnte sich alles ändern. Und dazu konnten Ihre Worte, Ihre Anspielungen, Ihre Ausdeutungen, Ihre Redekunst mitwirken. Man konnte diese hinderliche Natascha auch verleumden, sie in ein unvorteilhaftes Licht stellen; wie sich das alles im einzelnen entwickeln werde, war ungewiß; aber der Sieg gehörte Ihnen! Aljoscha, schilt mich nicht, lieber Freund! Sage nicht, daß ich für deine Liebe kein Verständnis hätte, sie nicht zu würdigen wisse. Ich weiß ja, daß du mich auch jetzt noch liebst und in diesem Augenblick meine Klagen vielleicht für unbegründet hältst. Ich weiß, daß ich sehr, sehr übel daran getan habe, jetzt dies alles auszusprechen. Aber was soll ich tun, wenn ich es einsehe und dich dennoch immer mehr liebe... mit ganzer Seele... bis zum Wahnsinn!«

Sie verbarg das Gesicht in den Händen, sank auf ihren Stuhl und schluchzte wie ein Kind. Aljoscha stürzte aufschreiend zu ihr hin. Er konnte sie nie weinen sehen, ohne daß ihm selbst die Tränen gekommen wären.

Ihr Schluchzen kam dem Fürsten, wie es schien, sehr zustatten: Nataschas ganze Erregung während dieser langen Auseinandersetzung, ihre scharfen Ausfälle gegen ihn, durch die er sich schon anstandshalber hätte beleidigt fühlen müssen, all das konnte jetzt offenbar auf einen Anfall von sinnloser Eifersucht, auf gekränkte Liebe, ja auf Krankheit zurückgeführt werden. Es war sogar schicklich, ihr seine Teilnahme auszusprechen.

»Beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich, Natalja Nikolajewna!« sagte der Fürst, freundlich zuredend; »das sind alles Hirngespinste, Phantasien, Folgen des Alleinseins. Sein leichtsinniges Benehmen hat Sie in gereizte Stimmung versetzt. Aber es ist ja von seiner Seite eben nur Leichtsinn gewesen. Das wichtigste Faktum, dessen Sie ja auch besonders Erwähnung taten, der Vorgang am Dienstag, müßte Ihnen doch eher als Beweis für seine grenzenlose Anhänglichkeit an Sie dienen; aber Sie haben im Gegenteil gemeint...«

»Oh, reden Sie nicht zu mir, quälen Sie mich wenigstens jetzt nicht weiter!« unterbrach ihn Natascha, bitterlich weinend. »Mein Herz hat mir schon alles gesagt, schon längst! Glauben Sie wirklich, ich sähe nicht, daß seine frühere Liebe vergangen ist? Während ich hier in diesem Zimmer allein war, nachdem er mich verlassen und vergessen hatte, habe ich das alles innerlich durchlebt, alles durchdacht! Was konnte ich auch anderes tun? Ich mache dir keine Vorwürfe, Aljoscha... Warum suchen Sie mich zu täuschen? Glauben Sie wirklich, daß ich nicht versucht habe, mich selbst zu täuschen? Oh, wie oft, wie oft! Habe ich nicht auf jeden Ton seiner Stimme geachtet? Habe ich nicht gelernt, auf seinem Gesicht, in seinen Augen zu lesen? Alles, alles ist gestorben und begraben... O ich Unglückliche!«

Aljoscha lag vor ihr auf den Knien und weinte.

»Ja, ja, daran bin ich schuld! Ich allein...«, wiederholte er schluchzend.

»Nein, klage dich nicht selbst an, Aljoscha!... Die Schuld tragen andere... unsere Feinde... Die sind es gewesen, die!«

»Aber erlauben Sie«, begann der Fürst etwas ungeduldig, »ich möchte doch schließlich fragen: aus welchem Grund schreiben Sie mir alle diese Verbrechen zu? Das sind doch von Ihnen nur Vermutungen, die durch nichts bewiesen sind...«

»Beweise!« rief Natascha, sich schnell von ihrem Stuhl erhebend. »Beweise verlangen Sie, Sie heimtückischer Mensch? Sie konnten schlechterdings nicht anders handeln, damals, als Sie mit Ihrem Antrag herkamen! Sie mußten Ihren Sohn beruhigen, sein Gewissen einschläfern, damit er sich freier und ruhiger ganz seiner Katja hingeben konnte; ohne das hätte er immer an mich denken müssen und hätte sich Ihnen nicht gefügt; Ihnen aber war das Warten schon langweilig geworden. Nun, habe ich etwa nicht recht?«

»Ich muß bekennen«, erwiderte der Fürst mit einem spöttischen Lächeln, »wenn ich Sie hätte täuschen wollen, so würde ich tatsächlich so spekuliert haben; Sie sind sehr scharfsinnig. Aber eben das bedarf ja des Beweises, ehe Sie es sich erlauben dürfen, Leute mit solchen Vorwürfen zu beleidigen...«

»Beweise! Und Ihr ganzes früheres Benehmen, als Sie ihn mir abspenstig zu machen suchten? Wer seinem Sohn zuredet, um weltlicher Vorteile willen, um des Geldes willen solche Verpflichtungen zu vernachlässigen und mit ihnen zu spielen, der demoralisiert ihn! Was haben Sie vorhin über die Treppe und die schlechte Wohnung gesagt? Haben nicht Sie selbst ihm das Taschengeld entzogen, das Sie ihm früher gaben, damit wir durch Not und Hunger gezwungen würden, uns zu trennen? Sie, Sie sind an dieser Wohnung und an dieser Treppe schuld, und nun machen Sie ihm noch Vorwürfe, Sie heuchlerischer Mensch! Und woher kamen bei Ihnen plötzlich damals an jenem Abend so warme Gefühle, so neue, zu Ihrem Wesen gar nicht passende Anschauungen? Wozu hatten Sie mich auf einmal so nötig? Ich bin hier diese vier Tage lang auf und ab gegangen; ich habe alles durchdacht, alles abgewogen, jedes Ihrer Worte, jedes Mienenspiel auf Ihrem Gesicht, und ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß das alles Trug und Scherz war, eine beleidigende, gemeine, unwürdige Komödie. Ich kenne Sie ja, habe Sie schon längst gekannt! Jedesmal wenn Aljoscha von Ihnen zu mir kam, erriet ich aus seinem Gesicht alles, was Sie ihm gesagt, ihm eingeblasen hatten; ich spürte alle Einwirkungen heraus, die Sie auf ihn ausgeübt hatten! Nein, Sie können mich nicht mehr täuschen! Vielleicht haben Sie noch irgendwelche anderen Spekulationen; vielleicht habe ich gerade das Wichtigste jetzt nicht ausgesprochen; aber das gilt mir gleich! Sie haben mich getäuscht − das ist die Hauptsache! Das mußte ich Ihnen gerade ins Gesicht sagen!«

»Weiter nichts? Das sind alle Ihre Beweise? Aber bedenken Sie doch, Sie Rasende: durch meinen Antrag am Dienstag hatte ich mich doch gebunden. Das wäre doch gar zu leichtsinnig von mir gewesen...«

»Wodurch hatten Sie sich gebunden? Wodurch? Was kommt es Ihnen darauf an, ein Mädchen wie mich zu täuschen? Und was hat die Kränkung so eines Mädchens zu bedeuten? Ich bin ja ein unglücklicher Flüchtling, von meinem Vater verstoßen, eine Schutzlose, ein Mädchen, das sich selbst entehrt hat, ein unmoralisches Wesen! Da macht man nicht erst viel Umstände, wenn dieser Scherz irgendwelchen, wenn auch noch so geringen Vorteil bringen kann!«

»In was für eine Lage bringen Sie sich selbst, Natalja Nikolajewna? Bedenken Sie das doch nur! Sie behaupten hartnäckig, daß von meiner Seite eine Beleidigung gegen Sie vorliegt. Aber diese Beleidigung wäre so schwerwiegend und so unwürdig, daß ich nicht begreife, wie man sie für denkbar halten und nun gar auf einer solchen Behauptung bestehen kann. Sie müssen wohl an alles mögliche gewöhnt sein, um dergleichen so leichthin vorauszusetzen, nehmen Sie es mir nicht übel! Vielmehr bin ich berechtigt, Ihnen Vorwürfe zu machen, weil Sie meinen Sohn gegen mich aufhetzen: wenn er sich auch jetzt nicht zu Ihren Gunsten gegen mich empört, so ist doch sein Herz gegen mich eingenommen...«

»Nein, Vater, nein!« rief Aljoscha; »wenn ich mich nicht gegen dich empört habe, so kommt das daher, daß ich dich einer solchen Beleidigung nicht für fähig halte; und ich halte eine solche Beleidigung überhaupt für ein Ding der Unmöglichkeit!«

»Hören Sie?« rief der Fürst.

»Natascha, an allem bin ich schuld; klage ihn nicht an! Das ist sündhaft und schrecklich!«

»Hörst du wohl, Wanja? Er tritt schon gegen mich auf!« rief Natascha.

»Genug!« sagte der Fürst; »wir müssen dieser peinlichen Szene ein Ende machen. Dieser blinde, wütende Anfall maßloser Eifersucht zeigt mir Ihren Charakter von einer mir ganz neuen Seite. Ich bin nun gewarnt. Wir haben uns übereilt, haben uns tatsächlich übereilt. Sie bemerken es nicht einmal, wie sehr Sie mich gekränkt haben; für Sie ist das gar nichts. Wir haben uns übereilt... wir haben uns übereilt... mein Wort muß mir allerdings heilig sein; aber... ich bin Vater und wünsche das Glück meines Sohnes...«

»Sie sagen sich von Ihrem Wort los!« rief Natascha ganz außer sich. »Sie freuen sich über diese günstige Gelegenheit! Wissen Sie aber, daß ich selbst schon vor zwei Tagen, als ich hier allein war, den Entschluß gefaßt habe, ihn von seinem Wort zu entbinden; und jetzt erkläre ich das vor aller Ohren. Ich trete zurück!«

»Das heißt, Sie wollen vielleicht bei ihm die ganze frühere Unruhe, jenes ganze drückende Pflichtgefühl (so ungefähr drückten Sie sich vorhin aus) wieder erwecken, um ihn dadurch von neuem wie ehemals an sich zu fesseln. Das müßte ja nach Ihrer eigenen Theorie der Verlauf sein, und eben deshalb sage ich es. Aber genug; die Zeit wird die Entscheidung bringen. Ich werde einen ruhigeren Augenblick abwarten, um mich mit Ihnen auszusprechen. Ich hoffe, wir werden unsere Beziehungen nicht endgültig abbrechen. Ich hoffe auch, Sie werden mich besser schätzenlernen. Ich wollte Ihnen noch heute einen Plan mitteilen, den ich mir betreffs Ihrer Eltern zurechtgelegt habe und aus dem Sie ersehen würden... aber genug! Iwan Petrowitsch!« fügte er hinzu, indem er an mich herantrat, »jetzt wird es mir mehr als je wertvoll sein, Ihre nähere Bekanntschaft zu machen, ganz abgesehen davon, daß dies schon längst mein Wunsch war. Ich hoffe, Sie werden mich verstehen. Ich werde Sie nächster Tage besuchen; erlauben Sie es mir?«

Ich verbeugte mich. Es schien mir selbst, daß ich jetzt seiner Bekanntschaft nicht mehr aus dem Wege gehen könne. Er drückte mir die Hand, verbeugte sich schweigend vor Natascha und ging mit einer Miene gekränkter Würde hinaus.

Viertes Kapitel

Mehrere Minuten lang sprachen wir alle keine Silbe. Natascha saß, in Nachdenken versunken, traurig und niedergeschlagen da. Ihre ganze Energie war ihr plötzlich abhanden gekommen. Sie blickte gerade vor sich hin, ohne etwas zu sehen, und schien sogar vergessen zu haben, daß sie Aljoschas Hand in der ihrigen hielt. Dieser weinte still seinen Kummer aus und richtete mitunter in ängstlicher Spannung seinen Blick auf sie.

Endlich begann er schüchtern, sie zu trösten; er flehte sie an, nicht böse zu sein; er beschuldigte sich selbst; es war klar, daß er lebhaft wünschte, seinen Vater zu rechtfertigen, und daß ihm dies besonders am Herzen lag; mehrere Male fing er an davon zu sprechen, wagte aber nicht, sich deutlich auszudrücken, da er fürchtete, aufs neue Nataschas Zorn zu erregen. Er schwur ihr ewige, unveränderliche Liebe und verteidigte mit Wärme seine Anhänglichkeit an Katja; fortwährend wiederholte er, er liebe Katja nur wie eine Schwester, wie eine liebe, gute Schwester, die er doch nicht ganz verlassen könne; dies würde sogar roh und grausam von seiner Seite sein; und er versicherte immerzu, wenn Natascha Katja kennenlerne, würden sie beide sogleich so gute Freundinnen werden, daß sie sich nie mehr voneinander würden trennen wollen, und dann werde es keinerlei Mißverständnisse mehr geben. Dieser Gedanke gefiel ihm ganz besonders. Der arme Junge sagte wirklich nichts, was er nicht selbst glaubte. Er hatte kein Verständnis für Nataschas Befürchtungen und hatte überhaupt nicht recht verstanden, was sie vorher zu seinem Vater gesagt hatte. Er verstand nur, daß sie sich entzweit hatten, und das lag ihm wie ein Stein auf dem Herzen.

»Bist du mir wegen deines Vaters böse?« fragte Natascha.

»Kann ich ihn anklagen«, antwortete er traurig, »wenn ich doch selbst die Ursache von allem bin und alles verschuldet habe? Ich habe dich so erzürnt, und da hast du in deinem Zorn auch ihn beschuldigt, weil du mich rechtfertigen wolltest: du suchst mich immer zu rechtfertigen, und ich verdiene das gar nicht. Es mußte ein Schuldiger gefunden werden, und da hast du gemeint, er sei es. Aber wahrhaftig, er ist nicht schuldig, wahrhaftig nicht!« rief Aljoscha in lebhafter Erregung. »Ist er etwa in solcher Gesinnung hergekommen? Hatte er das erwartet?«

Aber als er sah, daß ihn Natascha traurig und vorwurfsvoll anblickte, wurde er sofort ängstlich.

»Nun, ich werde es nicht wieder sagen, ich werde es nicht wieder sagen; verzeih mir«, stammelte er; »ich bin an allem schuld!«

»Ja, Aljoscha«, sagte sie schwermütig, »jetzt ist er zwischen uns getreten und hat uns unsern Frieden fürs ganze Leben zerstört. Du hast immer zu mir mehr Vertrauen gehabt als zu allen andern; aber jetzt hat er in dein Herz Argwohn und Mißtrauen gegen mich hineingeträufelt; du klagst mich an; er hat mir die Hälfte deines Herzens genommen. Eine schwarze Katze ist zwischen uns hindurchgelaufen.«[13]

»Sprich nicht so, Natascha! Warum sagst du: ›eine schwarze Katze‹?«

Er fühlte sich durch diesen Ausdruck gekränkt.

»Durch heuchlerische Güte, durch erlogene Hochherzigkeit hat er dich für sich gewonnen«, fuhr Natascha fort, »und jetzt wird er dich immer mehr gegen mich aufreizen.«

»Ich schwöre dir, daß es nicht so ist!« rief Aljoscha mit noch größerer Wärme. »Er war gereizt, als er sagte: ›Wir haben uns übereilt.‹ Du wirst das selbst sehen: gleich morgen oder in den nächsten Tagen wird er sich besinnen, und sollte er so zornig geworden sein, daß er unsere Ehe wirklich nicht mehr will, so werde ich ihm nicht gehorchen; das schwöre ich dir. Vielleicht wird meine Kraft dazu ausreichen... Und weißt du, wer uns helfen wird?« rief er auf einmal, ganz entzückt über seine Idee. »Katja wird uns helfen! Und du wirst sehen, du wirst sehen, was für ein prächtiges Geschöpf sie ist! Du wirst sehen, ob sie deine Nebenbuhlerin sein und uns voneinander trennen will! Und wie ungerecht bist du vorhin gewesen, als du sagtest, ich sei einer von denen, deren Liebe am Tage nach der Hochzeit erkalten könne! Es ist mir äußerst schmerzlich gewesen, das zu hören! Nein, ich bin nicht so, und wenn ich Katja häufig besucht habe...«

»Laß gut sein, Aljoscha; besuche sie, sooft du magst! So habe ich es vorhin nicht gemeint. Du hast nicht alles verstanden. Sei glücklich, mit wem du willst! Ich kann doch von deinem Herzen nicht mehr fordern, als es mir zu geben vermag...«

Mawra trat ins Zimmer.

»Wie ist's? Soll ich den Tee hereinbringen, ja? Es ist zu ärgerlich: zwei Stunden lang kocht der Samowar schon; es ist elf Uhr.«

Sie fragte in grobem, verdrießlichem Ton; offenbar war sie sehr schlechter Laune und über Natascha aufgebracht. Die Sache war die: Sie war die ganzen Tage her, seit Dienstag, in einem solchen Freudenrausch über die bevorstehende Heirat ihrer jungen Herrin (der sie außerordentlich zugetan war) gewesen, daß sie diese Nachricht schon im ganzen Haus, in der Nachbarschaft, beim Kaufmann und beim Hausknecht verkündigt hatte. Sie hatte geprahlt und triumphierend erzählt, der Fürst, ein vornehmer Herr, ein General, und furchtbar reich, sei selbst hergekommen, um ihr Fräulein um ihre Einwilligung zu bitten; das habe sie, Mawra, mit eigenen Ohren gehört. Und nun war auf einmal alles in die Brüche gegangen. Der Fürst war zornig weggefahren, und der Tee war nicht serviert worden, und an allem war natürlich das Fräulein schuld. Mawra hatte gehört, wie respektlos sie mit dem Fürsten gesprochen hatte.

»Nun gut; bring ihn herein!« antwortete Natascha.

»Soll ich auch den Imbiß bringen?«

»Ja, bring auch den!«

Natascha lachte.

»Da habe ich nun mühsam alles zurechtgemacht«, fuhr Mawra fort. »Seit gestern fühle ich meine Beine nicht mehr. Wegen des Weines bin ich nach dem Newskiprospekt gelaufen, und nun...«

Sie ging hinaus und schlug ärgerlich die Tür hinter sich zu.

Natascha errötete und sah mich mit einem eigentümlichen Blick an.

Der Tee wurde gebracht, auch der Imbiß; es war kalter Wildbraten und Fisch da sowie zwei Flaschen guten Weines von Jelisejew. ›Wozu ist denn das alles vorbereitet?‹ dachte ich.

»Ja, siehst du, Wanja, so bin ich nun!« sagte Natascha, indem sie an den Tisch trat; sie war sogar vor mir verlegen geworden. »Ich ahnte ja, daß alles heute den Verlauf nehmen würde, den es wirklich genommen hat; aber doch dachte ich: ›Wer weiß, vielleicht endet es auch nicht so! Aljoscha wird kommen, und wir werden uns versöhnen; mein ganzer Argwohn wird sich als unbegründet herausstellen; ich werde eines Besseren belehrt werden‹, und da bereitete ich für jeden Fall einen Imbiß vor. ›Kann sein‹, dachte ich, ›daß wir länger zusammensitzen und miteinander plaudern...‹«

Die arme Natascha! Sie wurde ganz rot, als sie das sagte. Aljoscha geriet in Entzücken.

»Da siehst du's, Natascha!« rief er. »Du bist selbst deiner Sache nicht sicher gewesen; noch vor zwei Stunden hast du deinen Verdacht nicht für wahr gehalten! Nein, das muß alles wieder in Ordnung gebracht werden; ich bin schuld daran, ich bin die Ursache dieses ganzen Mißverständnisses, und ich werde auch alles wieder in Ordnung bringen. Natascha, erlaube mir, daß ich gleich zu meinem Vater gehe! Ich muß mit ihm sprechen; er ist gekränkt und beleidigt; ich muß ihn beruhigen; ich will ihm alles sagen, von mir aus, alles nur von mir aus; dich will ich dabei gar nicht hineinziehen. Und ich werde alles glücklich zurechtbringen... Sei mir nicht böse, als ob es mich so zu ihm hinzöge und ich dich verlassen wollte. Es steht ganz anders: er tut mir leid; er wird sich vor dir rechtfertigen; du wirst es sehen... Morgen in aller Frühe werde ich wieder zu dir kommen und den ganzen Tag bei dir sein und nicht zu Katja fahren.«

Natascha hielt ihn nicht zurück; sie riet ihm sogar selbst, sich zu seinem Vater zu begeben. Sie fürchtete sehr, Aljoscha werde sich jetzt absichtlich den Zwang antun, ganze Tage bei ihr zu sitzen, und werde sich bei ihr langweilen. Sie bat ihn nur, er möchte nichts in ihrem Namen sagen, und bemühte sich, ihm beim Abschied möglichst heiter zuzulächeln. Er war schon im Begriff, das Zimmer zu verlassen, als er plötzlich noch einmal an sie herantrat, sie an beiden Händen ergriff und sich neben sie setzte. Er blickte sie mit unbeschreiblicher Zärtlichkeit an.

»Natascha, meine Geliebte, mein guter Engel, sei mir nicht böse, und wir wollen uns niemals miteinander streiten. Und gib mir dein Wort darauf, daß du mir immer in allen Stücken vertrauen wirst, so wie ich dir. Es ist mir etwas eingefallen, mein Engel, was ich dir jetzt noch erzählen will. Wir hatten uns einmal gestritten; ich erinnere mich nicht mehr, weswegen; aber ich hatte schuld. Wir redeten nicht miteinander. Ich mochte nicht der erste sein, der um Verzeihung bat; aber ich war furchtbar traurig. Ich wanderte durch die Stadt, trieb mich überall umher, ging zu Freunden; aber im Herzen war mir so weh, so weh! Und da kam mir in den Sinn: wenn du nun krank würdest und stürbest? Und als ich mir das vorstellte, da überkam mich auf einmal eine solche Verzweiflung, als ob ich dich wirklich für immer verloren hätte. Meine Gedanken wurden immer schmerzlicher, immer schrecklicher. Und allmählich stellte ich mir vor, ich käme zu deinem Grabhügel, fiele besinnungslos auf ihn nieder, umfinge ihn mit meinen Armen und stürbe beinahe vor Gram. Ich stellte mir vor, daß ich diesen Grabhügel küßte, dich riefe, aus ihm herauszukommen, wenn auch nur für einen Augenblick, und Gott anflehte, er möchte ein Wunder tun und dich wenigstens für einen einzigen Augenblick vor meinen Augen auferstehen lassen; ich stellte mir vor, wie ich dann auf dich zustürzen würde, um dich zu umarmen, wie ich dich küssen und wohl sterben würde vor Seligkeit darüber, daß ich dich, wenn auch nur für einen Augenblick, noch einmal hatte wie früher umarmen können. Und als ich mir das vorstellte, mußte ich plötzlich denken: da bitte ich nun Gott um dich für einen Augenblick, und dabei bist du sechs Monate mit mir zusammen gewesen, und wie oft haben wir uns in diesen sechs Monaten gezankt, wie viele Tage lang haben wir nicht miteinander geredet! Ganze Tage lang haben wir gegrollt und unser Glück verabsäumt, und nun rufe ich dich nur für einen einzigen Augenblick aus dem Grab und bin bereit, diesen einzigen Augenblick mit meinem ganzen Leben zu erkaufen!... Als ich mir das alles vorstellte, da konnte ich es nicht mehr aushalten und eilte so schnell wie möglich zu dir und stürzte hier ins Zimmer; du erwartetest mich schon, und als wir uns nun nach unserem Streit umarmten, da drückte ich dich (daran erinnere ich mich noch) so fest an meine Brust, als ob ich dich wirklich verloren gehabt hätte, Natascha. Wir wollen uns niemals streiten! Mir ist dann immer so schwer ums Herz! Und ist es denn überhaupt denkbar, o Gott, daß ich dich jemals verlassen könnte?«

Natascha weinte. Sie hielten sich fest umschlungen, und Aljoscha schwur ihr noch einmal, sie nie zu verlassen. Dann eilte er zu seinem Vater. Er war fest überzeugt, daß es ihm gelingen werde, alles wieder auszugleichen und in Ordnung zu bringen.

»Alles ist zu Ende! Alles ist verloren!« sagte Natascha und drückte mir krampfhaft die Hand. »Er liebt mich und wird nie aufhören, mich zu lieben; aber er liebt auch Katja und wird sie nach einiger Zeit mehr lieben als mich. Diese Schlange aber, der Fürst, wird nicht ruhen, und dann...«

»Natascha, ich glaube selbst, daß der Fürst nicht ehrlich handelt; aber...«

»Du glaubst nicht alles, was ich zu ihm gesagt habe! Ich habe es an deinem Gesicht gemerkt. Aber warte nur; du wirst selbst sehen, ob ich recht habe oder nicht. Ich habe ja nur das Allgemeinste gesagt; aber Gott weiß, was er sonst noch alles im Schilde führt! Er ist ein schrecklicher Mensch. Ich bin diese vier Tage über hier im Zimmer hin und her gegangen und habe alles enträtselt. Was er wollte, war eben dies: Aljoschas Herz sollte die Traurigkeit loswerden, die ihn hinderte, wahrhaft zu leben; es sollte frei werden von der Pflicht, mich zu lieben. Er hat diese Verlobung auch zu dem Zweck ausgesonnen, um sich mit seinem Einfluß zwischen uns zu drängen und Aljoscha durch seinen Edelmut und seine Hochherzigkeit zu bezaubern. Das ist die Wahrheit, Wanja, die Wahrheit! Gerade einen solchen Charakter hat Aljoscha. Er sollte sich hinsichtlich meiner Person beruhigen; seine Besorgnisse um mich sollten schwinden. Er sollte denken: ›Jetzt ist sie schon so gut wie meine Frau und wird lebenslänglich mit mir zusammen sein‹, und sollte unwillkürlich Katja mehr Aufmerksamkeit zuwenden. Der Fürst hat offenbar den Charakter dieser Katja genau studiert und herausgefunden, daß sie zu ihm paßt und ihn stärker fesseln kann als ich. Ach, Wanja! Auf dir beruht jetzt meine ganze Hoffnung: er will zu irgendwelchem Zweck mit dir zusammenkommen, mit dir bekannt werden. Weise das nicht zurück, liebster Freund, und bemühe dich, recht bald zur Gräfin zu kommen. Mache die Bekanntschaft dieser Katja, sieh sie dir genau an und sage mir, was sie für ein Wesen ist! Es liegt mir viel daran, daß du sie siehst und mir dein Urteil sagst. Niemand versteht mich so gut wie du, und du weißt, was ich gern wissen möchte. Achte auch darauf, in welchem Grad sie miteinander befreundet sind, was für ein Verhältnis zwischen ihnen besteht, worüber sie reden; und vor allen Dingen sieh dir Katja selbst an! Beweise mir noch diesmal, liebster, bester Wanja, beweise mir noch dieses eine Mal deine Freundschaft! Auf dich, nur auf dich setze ich jetzt meine Hoffnung!...«

***

Als ich nach Hause zurückkehrte, war schon Mitternacht vorüber. Nelly öffnete mir mit verschlafenem Gesicht. Sie lächelte und blickte mich erfreut an. Das arme Kind war sehr ärgerlich auf sich selbst, weil sie eingeschlafen war. Sie hatte mich durchaus wachend erwarten wollen. Sie sagte, es habe jemand nach mir gefragt, sich zu ihr gesetzt und einen Zettel für mich auf dem Tisch hinterlassen. Der Zettel war von Masslobojew. Er ersuchte mich darin, morgen mittag zwischen zwölf und eins zu ihm zu kommen. Ich hätte Nelly gern weiter ausgefragt, verschob es aber auf den nächsten Tag und bestand darauf, sie solle sich unverzüglich schlafen legen; das arme Kind war ohnehin schon müde, da sie auf mich gewartet hatte und erst eine halbe Stunde vor meiner Ankunft eingeschlafen war.

Fünftes Kapitel

Am Morgen erzählte mir Nelly von dem gestrigen Besuch ziemlich seltsame Dinge. Übrigens war schon sonderbar, daß Masslobojew auf den Gedanken gekommen war, gerade an diesem Abend bei mir vorzusprechen; er hatte doch sicherlich gewußt, daß ich nicht zu Hause sein würde; ich hatte ihm das, wie ich mich sehr genau erinnerte, bei unserm letzten Zusammensein selbst mitgeteilt. Nelly erzählte, sie habe ihm anfänglich nicht öffnen wollen, weil sie sich gefürchtet habe; es sei schon acht Uhr abends gewesen. Aber er habe sie durch die verschlossene Tür inständig gebeten und versichert, wenn er mir jetzt nicht einen Zettel daließe, so würde ich morgen infolgedessen Unannehmlichkeiten haben. Als sie ihn eingelassen habe, habe er sogleich den Zettel geschrieben, sei dann zu ihr getreten und habe sich neben sie auf das Sofa gesetzt. »Ich stand auf und wollte nicht mit ihm reden«, erzählte Nelly; »ich fürchtete mich sehr vor ihm; er fing an, von der Bubnowa zu sprechen, daß sie jetzt sehr ärgerlich sei, daß sie aber nicht mehr wagen werde, mich zurückzuholen; und dann lobte er Sie und sagte, sie seien sehr gute Freunde und hätten einander schon als Knaben gekannt. Da fing ich an mit ihm zu reden. Er zog Konfekt heraus und bat mich, es zu nehmen; ich wollte nicht; da versicherte er mir, er sei ein guter Mensch und könne Lieder singen und tanzen; er sprang auf und fing an zu tanzen. Da mußte ich lachen. Darauf sagte er, er wolle noch ein Weilchen sitzen bleiben; ›ich will auf Wanja warten‹, sagte er; ›vielleicht kommt er bald nach Hause.‹ Und er bat mich sehr, ich möchte mich nicht fürchten und mich neben ihn setzen. Ich setzte mich neben ihn, wollte aber nicht mit ihm reden. Da sagte er zu mir, er habe meine Mama und meinen Großvater gekannt, und... da fing ich an zu reden. Und er saß lange da...«

»Wovon habt ihr denn miteinander geredet?«

»Von Mama... von der Bubnowa... vom Großvater. Er hat wohl zwei Stunden lang hier gesessen.«

Nelly schien mir nicht erzählen zu wollen, wovon sie gesprochen hatten. Ich fragte sie nicht weiter, da ich alles von Masslobojew zu erfahren hoffte. Es schien mir nur, daß Masslobojew absichtlich in meiner Abwesenheit gekommen war, um Nelly allein zu treffen. ›Was mag er dabei für einen Zweck gehabt haben?‹ dachte ich.

Sie zeigte mir die drei Stückchen Konfekt, die er ihr gegeben hatte. Es waren Bonbons in grünem und rotem Papier, gräßliches Zeug, das er wahrscheinlich in einem Kramladen gekauft hatte. Nelly lachte, als sie sie mir zeigte.

»Warum hast du sie nicht gegessen?« fragte ich.

»Ich will nicht«, antwortete sie ernst, mit zusammengezogenen Brauen. »Ich habe sie auch nicht von ihm angenommen; er hat sie selbst aufs Sofa gelegt und liegenlassen.«

An diesem Tag hatte ich viele Gänge vor. Ich begann, mich von Nelly zu verabschieden.

»Langweilst du dich, wenn du allein bist?« fragte ich sie, im Begriff fortzugehen.

»Ja und nein. Ich langweile mich, weil Sie so lange nicht da sind.«

Und bei diesen Worten sah sie mich mit solcher Liebe an! Diesen ganzen Morgen über hatte sie mich mit demselben zärtlichen Blick angesehen und hatte den Eindruck der Fröhlichkeit und Freundlichkeit gemacht; gleichzeitig aber lag in ihrem Benehmen etwas Verschämtes, sogar Ängstliches, als fürchte sie, mich durch etwas zu ärgern, mein Wohlwollen zu verlieren und... und zuviel zu sagen, gerade als ob sie sich dessen schäme.

»Und inwiefern langweilst du dich nicht? Du hast ja auf meine Frage, ob du dich langweilst, geantwortet: ›Ja und nein‹«, fragte ich; unwillkürlich lächelte ich ihr zu, so lieb und wert war sie mir geworden.

»Das möchte ich nicht sagen«, erwiderte sie lächelnd und wieder mit dem Ausdruck der Verschämtheit.

Wir sprachen auf der Schwelle, an der geöffneten Tür. Nelly stand vor mir mit niedergeschlagenen Augen; mit der einen Hand hielt sie mich an der Schulter gefaßt, mit der andern zupfte sie am Ärmel meines Rockes.

»Nun? Ist es ein Geheimnis?« fragte ich.

»Nein... das nicht gerade... ich... ich habe, während Sie fort waren, angefangen, Ihr Buch zu lesen«, sagte sie halblaut; sie hob die Augen in die Höhe, richtete einen zärtlichen, fragenden Blick auf mich und errötete über das ganze Gesicht.

»Ah, sieh mal an! Nun, gefällt es dir?«

Ich empfand die Verlegenheit eines Autors, der ins Gesicht gelobt wird; aber ich hätte Gott weiß was darum gegeben, wenn ich sie in diesem Augenblick hätte küssen können. Aber das war eben nicht möglich. Nelly schwieg einen Augenblick.

»Warum, warum ist er gestorben?« fragte sie mit tieftraurigem Gesicht, indem sie mir einen hastigen Blick zuwarf und schnell wieder die Augen niederschlug.

»Wer denn?«

»Nun er, der junge Mann, an der Schwindsucht... in dem Buch?«

»Was war zu machen? Es war notwendig, Nelly.«

»Nein, es war durchaus nicht notwendig«, antwortete sie leise, fast flüsternd; aber sie stieß die Worte schroff, beinahe ärgerlich heraus, warf die Lippen auf und richtete die Augen noch hartnäckiger auf den Fußboden.

So verging noch eine Minute.

»Aber die beiden andern... das Mädchen und der alte Mann«, flüsterte sie, während sie immer stärker an meinem Ärmel herumzupfte, »werden die nun zusammenleben? Und werden sie nicht so arm bleiben?«

»Nein, Nelly; sie zieht weit fort und heiratet einen Gutsbesitzer; er aber bleibt allein zurück«, antwortete ich mit größtem Bedauern; es tat mir wirklich leid, daß ich ihr nichts Tröstlicheres sagen konnte.

»Ach, Herrgott... das ist ja schrecklich! Ach, wie Sie aber auch sind!... Nun will ich gar nicht weiterlesen!«

Ärgerlich stieß sie meinen Arm von sich, wandte sich schnell von mir ab, ging zum Tisch und blieb dort stehen, mit dem Gesicht nach der Zimmerecke zu, die Augen auf den Boden geheftet. Sie war dunkelrot geworden und atmete ungleichmäßig, wie wenn jemand sie furchtbar gekränkt hätte. »Laß gut sein, Nelly; du bist ja ganz böse geworden!« begann ich, zu ihr tretend. »Das ist ja alles nicht wahr, was da geschrieben steht... nur ausgesonnen; na, was gibt es da böse zu sein! Was bist du für ein empfindsames Mädchen!«

»Ich bin nicht böse«, sagte sie schüchtern und sah mit einem hellen, liebevollen Blick zu mir auf; dann ergriff sie plötzlich meine Hand, drückte ihr Gesicht an meine Brust und fing an zu weinen.

Aber im selben Augenblick lachte sie auch auf: sie weinte und lachte, alles zugleich. Ich verspürte ebenfalls sowohl Lachlust als auch... ein Art von süßem Gefühl. Aber sie wollte um keinen Preis ihren Kopf zu mir in die Höhe heben, und als ich mich anschickte, ihr Gesichtchen von meiner Schulter loszulösen, schmiegte sie sich immer fester und fester daran an und lachte immer stärker.

Endlich endete diese empfindsame Szene. Wir nahmen voneinander Abschied; ich eilte davon. Nelly, deren Gesicht ganz von roter Glut übergossen war und immer noch den Ausdruck der Verschämtheit trug und deren Augen wie Sterne leuchteten, lief mir bis auf die Treppe nach und bat mich, recht bald wieder nach Hause zu kommen. Ich versprach, jedenfalls zum Mittagessen zurück zu sein und, wenn es ginge, noch früher.

Zuerst ging ich zu den beiden alten Leuten. Sie waren beide unpäßlich. Anna Andrejewna war geradezu krank; Nikolai Sergejewitsch befand sich in seinem Zimmer. Er hatte gehört, daß ich gekommen war; aber ich wußte, daß er nach seiner Gewohnheit, um uns Zeit zur Aussprache zu lassen, erst nach einer Viertelstunde zu uns hereinkommen werde. Ich wollte Anna Andrejewna nicht zu sehr aufregen und schwächte darum meinen Bericht über den gestrigen Abend nach Möglichkeit ab, sagte aber doch die Wahrheit; zu meiner Verwunderung nahm aber die alte Frau, wenn sie auch betrübt wurde, doch die Nachricht von einem möglichen Bruch ohne Erstaunen auf.

»Na, lieber Freund, das hatte ich mir schon gedacht«, sagte sie. »Als du damals weggegangen warst, habe ich lange über die Sache nachgedacht und kam zu dem Resultat, daß nichts daraus werden kann. Wir haben es nicht verdient, daß uns Gott eine solche Wohltat erweist; und dann ist das auch ein so gemeiner Mensch; kann man etwa von dem etwas Gutes erwarten? Es ist kein Spaß, daß er uns zehntausend Rubel wegnimmt, die ihm nicht zukommen; er weiß, daß sie ihm nicht zukommen, und nimmt sie uns dennoch weg. Unser letztes Stück Brot raubt er uns; Ichmenewka wird verkauft. Natascha handelt nur gerecht und klug, daß sie ihm nicht getraut hat. Und noch eins, lieber Freund«, fuhr sie mit gedämpfter Stimme fort, »mein Mann, mein Mann! Er ist durchaus gegen diese Heirat. Er ließ so ein Wort fallen: ›Ich will es nicht‹, sagte er. Ich dachte anfangs, das wäre nur so eine Kaprice von ihm; aber nein, es ist ihm ganz Ernst damit. Was würde dann aus meinem Töchterchen werden? Er würde sie ja ganz und gar verfluchen. Na, und er, dieser Aljoscha, wie stellt er sich dazu?«

Noch lange fragte sie mich aus und stöhnte und wehklagte nach ihrer Gewohnheit bei jeder meiner Antworten. Überhaupt hatte ich bemerkt, daß sie in der letzten Zeit ganz haltlos geworden war. Jede Nachricht erschütterte sie. Der Kummer um Natascha nagte ihr am Herzen und untergrub ihre Gesundheit.

Der Alte kam herein, in Schlafrock und Pantoffeln; er klagte über Fieber, sah aber seine Frau zärtlich an, sorgte die ganze Zeit über, während ich bei ihnen war, wie eine Wärterin für sie, blickte ihr in die Augen und wurde sogar vor ihr verlegen. Eine große Zärtlichkeit lag in seinen Blicken. Er war in Angst über ihre Krankheit; er fühlte, daß er alles im Leben verlieren würde, wenn er sie verlöre.

Ich saß bei ihnen ungefähr eine Stunde lang. Beim Abschied kam er mir bis ins Vorzimmer nach und begann von Nelly zu reden. Er dachte ernstlich daran, sie als Tochter zu sich ins Haus zu nehmen. Er wollte mich um Rat fragen, wie man Anna Andrejewna diesem Plan geneigt machen könne. Mit besonderem Interesse befragte er mich über Nelly, und ob ich über sie noch nichts Neues gehört hätte. Ich erzählte ihm in Kürze das Geschehene. Meine Erzählung machte auf ihn einen großen Eindruck.

»Wir reden noch darüber«, sagte er in resolutem Ton; »inzwischen aber... übrigens werde ich selbst zu dir kommen, sobald sich nur meine Gesundheit ein bißchen gebessert haben wird. Dann wollen wir unsere Entscheidung treffen.«

Punkt zwölf war ich bei Masslobojew. Die erste Person, die ich erblickte, als ich bei ihm eintrat, war zu meinem größten Erstaunen der Fürst. Er zog sich im Vorzimmer den Mantel an; Masslobojew half ihm geschäftig dabei und reichte ihm seinen Stock hin. Er hatte mir gegenüber schon seiner Bekanntschaft mit dem Fürsten Erwähnung getan; aber doch überraschte mich diese Begegnung außerordentlich.

Der Fürst schien verlegen zu werden, als er mich erblickte.

»Ah, Sie sind es!« rief er mit übertriebener Herzlichkeit. »Nun sehen Sie, was für ein merkwürdiges Zusammentreffen! Übrigens hatte ich soeben schon von Herrn Masslobojew erfahren, daß Sie mit ihm bekannt sind. Ich freue mich, freue mich außerordentlich, Sie getroffen zu haben; ich habe den lebhaften Wunsch, mit Ihnen zu sprechen, und gedenke, so bald wie möglich einmal zu Ihnen zu kommen; Sie erlauben es mir doch? Ich habe eine Bitte an Sie: helfen Sie mir; erklären Sie mir unsere jetzige Situation! Sie verstehen gewiß, daß ich von den gestrigen Vorgängen rede. Sie sind dort befreundet; Sie haben den ganzen Gang dieser Angelegenheit verfolgt; Sie haben Einfluß... Ich bedaure außerordentlich, daß ich mich nicht gleich jetzt mit Ihnen unterreden kann... Geschäfte! Aber in einigen Tagen, und vielleicht sogar schon früher, werde ich mir das Vergnügen machen, Sie zu besuchen. Jetzt aber...«

Er drückte mir gar zu innig die Hand, wechselte mit Masslobojew einen Blick und ging hinaus.

»Sage mir um Gottes willen...« begann ich, indem ich ins Zimmer trat.

»Nichts, gar nichts werde ich dir sagen«, unterbrach mich Masslobojew, der eilig nach seiner Mütze griff und sich nach dem Vorzimmer zu wandte. »Bin geschäftlich verhindert! Ich muß selbst laufen, lieber Freund; ich habe mich schon verspätet!...«

»Aber du hast mir doch selbst geschrieben, ich sollte um zwölf Uhr...«

»Was folgt daraus, daß ich das geschrieben habe? Gestern habe ich dir das geschrieben, und heute haben andre Leute mir etwas geschrieben, wovon mir der Kopf brummt; so viel habe ich zu tun! Man wartet schon auf mich. Verzeih, Wanja! Alles, was ich dir als Genugtuung anbieten kann, ist die Erlaubnis, mich dafür durchzuprügeln, daß ich dich vergeblich herbemüht habe. Wenn du diese Genugtuung haben willst, so prügle mich, aber um Gottes willen recht schnell! Halte mich nicht auf; ich habe Geschäfte; man wartet auf mich...«

»Wozu soll ich dich denn durchprügeln? Wenn dich deine Geschäfte rufen, so eile hin; eine unvorhergesehene Abhaltung kann jedem Menschen vorkommen. Nur...«

»Nein, von diesem ›nur‹ werde ich schon noch mit dir reden«, unterbrach er mich, indem er ins Vorzimmer lief und sich den Mantel anzog (ich folgte ihm und zog mich ebenfalls wieder an). »Ich habe auch eine Angelegenheit, die dich angeht; eine sehr wichtige Angelegenheit; um ihretwillen hatte ich dich auch herbestellt; sie betrifft ganz direkt dich und deine Interessen. Aber da ich es dir jetzt in einem Augenblick nicht auseinandersetzen kann, so gib mir, bitte, dein Wort darauf, daß du heute Punkt sieben zu mir kommen wirst, nicht früher und nicht später. Ich werde zu Hause sein.«

»Heute«, erwiderte ich unentschlossen, »weißt du, lieber Freund, heute abend wollte ich eigentlich woanders hingehen...«

»Dann geh jetzt gleich dahin, mein Bester, wo du am Abend hingehen wolltest, und komm am Abend zu mir! Denn du kannst dir gar nicht vorstellen, Wanja, was für Dinge ich dir mitzuteilen habe.«

»Nun, meinetwegen, meinetwegen; was kann das nur sein? Ich muß gestehen, du hast mich neugierig gemacht.«

Unterdessen traten wir aus dem Tor des Hauses und blieben auf dem Trottoir stehen.

»Also, wirst du kommen?« fragte er im Ton dringlicher Bitte.

»Ich habe ja schon gesagt, daß ich kommen werde.«

»Nein, gib mir dein Ehrenwort!«

»Nanu! Was bist du für ein wunderlicher Mensch! Nun also, Ehrenwort!«

»Sehr nett und edel von dir! Nach welcher Seite gehst du?«

»Dorthin«, antwortete ich, nach rechts zeigend.

»Na, und ich muß hierhin«, erwiderte er, nach links zeigend. »Adieu, Wanja. Vergiß nicht: um sieben Uhr!«

›Sonderbar!‹ dachte ich, während ich ihm nachsah.

Am Abend hatte ich bei Natascha sein wollen. Aber da ich jetzt Masslobojew mein Wort gegeben hatte, so beschloß ich, mich jetzt gleich zu ihr zu begeben. Ich war überzeugt, daß ich Aljoscha bei ihr finden würde. Er war tatsächlich da und freute sich sehr, als ich eintrat.

Er war gegen Natascha sehr liebenswürdig und außerordentlich zärtlich und wurde infolge meiner Ankunft ganz vergnügt. Natascha suchte zwar heiter zu scheinen, aber es war deutlich, daß sie sich Zwang antat. Ihr Gesicht sah kränklich und blaß aus; sie hatte in der Nacht schlecht geschlafen. Aljoscha gegenüber zeigte sie eine erzwungene Freundlichkeit.

Aljoscha redete und erzählte zwar viel, anscheinend in der Absicht, sie aufzuheitern und ihren unwillkürlich ernst zusammengedrückten Lippen ein Lächeln abzugewinnen, aber er vermied es sichtlich, im Gespräch Katja und seinen Vater zu erwähnen. Wahrscheinlich war ihm sein gestriger Versöhnungsversuch mißlungen.

»Weißt du was?« flüsterte mir Natascha eilig zu, als er für einen Augenblick hinausgegangen war, um Mawra etwas zu sagen. »Er möchte sehr gern von mir weggehen; aber er fürchtet sich. Und ich selbst fürchte mich, ihm zu sagen, daß er fortgehen möchte, weil er dann womöglich absichtlich nicht fortgeht; und am allermeisten fürchte ich, daß er sich unbehaglich fühlt und infolgedessen seine Liebe zu mir ganz erkaltet! Was soll ich nur tun?«

»Mein Gott, in was für eine Lage bringt ihr euch selbst! Und wie argwöhnisch seid ihr; wie paßt ihr einer auf den andern auf! Sprecht euch doch einfach aus, und damit fertig! Diese Situation wird vielleicht zur Folge haben, daß er sich tatsächlich unbehaglich fühlt.«

»Was soll ich nur tun?« rief sie ängstlich.

»Warte, ich werde euch die Sache in Ordnung bringen...«

Ich ging in die Küche unter dem Vorwand, Mawra zu bitten, sie möchte mir den einen meiner Überschuhe, der sehr schmutzig geworden war, abwischen.

»Nur recht vorsichtig, Wanja!« rief Natascha mir nach.

Kaum war ich zu Mawra in die Küche gekommen, als Aljoscha, wie wenn er auf mich gewartet hätte, auf mich zustürzte.

»Bester Iwan Petrowitsch, was soll ich nur anfangen? Raten Sie mir: ich habe schon gestern mein Wort gegeben, heute zu Katja zu kommen, gerade zu dieser Tageszeit. Ich kann doch nicht ausbleiben! Ich liebe Natascha unsäglich und bin bereit, für sie durchs Feuer zu gehen; aber sagen Sie selbst, den Verkehr dort ganz aufzugeben, das ist doch unmöglich...«

»Nun, dann fahren Sie doch hin!«

»Aber was wird Natascha dazu sagen? Es wird sie sehr kränken. Iwan Petrowitsch, helfen Sie mir irgendwie aus der Verlegenheit!...«

»Meiner Ansicht nach ist es das beste, wenn Sie hinfahren. Sie wissen, wie sehr Natascha Sie liebt: sie wird die Empfindung haben, daß Sie sich bei ihr unbehaglich fühlen und nur wider Ihren Willen bei ihr bleiben. Das beste ist, man benimmt sich ganz natürlich. Aber kommen Sie; ich werde Ihnen behilflich sein.«

»Liebster Iwan Petrowitsch! Wie gut Sie sind!«

Wir gingen hinein; einen Augenblick darauf sagte ich zu ihm:

»Ich habe soeben Ihren Vater gesehen.«

»Wo?« rief er erschrocken.

»Auf der Straße, zufällig. Er hielt mich für einen Augenblick an und bat mich nochmals, mit ihm näher bekannt zu werden. Er fragte nach Ihnen: ob ich nicht wüßte, wo Sie jetzt wären; er wünsche sehr, Sie zu sehen, um Ihnen etwas zu sagen.«

»Ach, Aljoscha, fahre doch hin und geh zu ihm!« fiel Natascha ein, die begriff, worauf ich hinauswollte.

»Aber... wo werde ich ihn denn jetzt finden? Ist er zu Hause?«

»Nein, ich besinne mich, daß er sagte, er werde die Gräfin besuchen.«

»Nun, wie kann ich dann also...«, sagte Aljoscha naiv, indem er Natascha traurig ansah.

»Ach, Aljoscha, was ist denn dabei!« erwiderte sie. »Willst du denn wirklich diese Bekanntschaft ganz abbrechen, um mich zu beruhigen? Das wäre ja kindisch. Erstens ist das unmöglich, und zweitens wäre es von dir geradezu undankbar gegen Katja. Ihr seid Freunde; solche Bande darf man nicht mit rauher Hand zerreißen. Und schließlich beleidigst du mich einfach, wenn du meinst, ich wäre so eifersüchtig. Fahre hin, fahre gleich hin; ich bitte dich darum! Auch deinen Vater wirst du dadurch beruhigen.«

»Natascha, du bist ein Engel, und ich bin nicht deinen kleinen Finger wert!« rief Aljoscha voller Entzücken und voller Reue aus. »Du bist so gut, und ich... ich... nun höre nur: ich hatte soeben dort in der Küche Iwan Petrowitsch gebeten, er möchte mir dazu verhelfen, daß ich von dir wegfahren könnte. Und da hat er dies ausgesonnen. Aber verurteile mich nicht, gute, liebe Natascha! Meine Schuld ist nicht so überaus schwer; denn ich liebe dich tausendmal mehr als alles auf der Welt. Und da ist mir ein neuer Gedanke gekommen: ich will alles Katja entdecken und ihr unverzüglich alles, was gestern geschehen ist, und unsere ganze jetzige Situation auseinandersetzen. Sie wird schon etwas zu unserer Rettung ersinnen; sie ist uns von ganzer Seele ergeben...«

»Nun, dann geh!« antwortete Natascha lächelnd. »Und noch eins, lieber Aljoscha: ich möchte gern selbst Katjas Bekanntschaft machen. Wie läßt sich das wohl einrichten?«

Aljoschas Entzücken kannte keine Grenzen. Er erging sich sofort in Vorschlägen, wie die Bekanntschaft zu ermöglichen sei. Schließlich machte er sich die Sache sehr leicht: Katja werde einen Weg ausfindig machen. Er setzte diesen seinen Gedanken mit Wärme und Eifer auseinander. Er versprach, heute noch Antwort zu bringen, in zwei Stunden, und dann den ganzen Abend bei Natascha zu bleiben.

»Wirst du wirklich kommen?« fragte Natascha beim Abschied.

»Kannst du daran zweifeln? Leb wohl, Natascha, leb wohl, meine Geliebte, du, die ich mein ganzes Leben lang lieben werde! Leb wohl, Wanja! Ach, mein Gott, ich habe Sie aus Versehen mit dem bloßen Vornamen angeredet; hören Sie, Iwan Petrowitsch, ich habe Sie sehr gern − warum duzen wir uns nicht? Wir wollen uns duzen!«

»Schön, duzen wir uns!«

»Gott sei Dank! Das ist mir nämlich schon hundertmal durch den Kopf gegangen; aber ich wagte immer nicht, es Ihnen zu sagen. Sehen Sie, ich sage auch jetzt ›Sie‹. Es ist ja auch sehr schwer, zu jemandem ›du‹ zu sagen. Das wird, glaube ich, irgendwo bei Tolstoi sehr schön dargestellt: zwei sind übereingekommen, zueinander ›du‹ zu sagen, können es aber gar nicht fertigbringen und vermeiden immer solche Ausdrücke, in denen das Fürwort vorkommt! Ach, Natascha, wir wollen einmal ›Kindheit und Knabenalter‹ lesen; das ist wunderschön!«

»Na, nun geh nur, geh nur!« jagte ihn Natascha lachend fort. »Du bist vor Freude ganz ins Plaudern hineingekommen...«

»Lebe wohl! In zwei Stunden bin ich wieder bei dir!«

Er küßte ihr die Hand und lief eilig hinaus.

»Da siehst du's, Wanja, da siehst du's!« sagte sie und brach in Tränen aus.

Ich saß noch ungefähr zwei Stunden bei ihr, tröstete sie, und es gelang mir, sie in allen Punkten zu beruhigen. Natürlich hatte sie in allen Punkten, in allen ihren Befürchtungen recht. Das Herz zog sich mir schmerzlich zusammen, wenn ich an ihre jetzige Lage dachte; ich war um sie in großer Besorgnis. Aber was konnte ich tun?

Auch Aljoscha kam mir sonderbar vor: er liebte sie nicht weniger als früher, ja vielleicht noch stärker, schmerzvoller, eine Wirkung der Reue und Dankbarkeit. Aber gleichzeitig schlug die neue Liebe in seinem Herzen feste Wurzeln. Wie das enden werde, das ließ sich unmöglich vorhersehen. Ich selbst war sehr gespannt darauf, Katja zu sehen. Ich versprach Natascha noch einmal, ihre Bekanntschaft zu machen.

Zuletzt schien sie sogar heiter zu werden. Unter anderm erzählte ich ihr alles über Nelly, über Masslobojew, über die Bubnowa, über mein heutiges Zusammentreffen mit dem Fürsten bei Masslobojew und über unsere auf sieben Uhr angesetzte Zusammenkunft. Alles dies interessierte sie sehr. Von den alten Leuten sagte ich ihr nur wenig, und von Ichmenews Besuch schwieg ich vorläufig; die Absicht ihres Vaters, sich mit dem Fürsten zu duellieren, hätte sie erschrecken können. Auch ihr erschienen die Beziehungen des Fürsten zu Masslobojew und sein lebhafter Wunsch, mich näher kennenzulernen, sehr sonderbar, obwohl all dies sich aus der jetzigen Situation hinreichend erklärte...

Um drei Uhr kehrte ich nach Hause zurück. Nelly empfing mich mit strahlendem Gesicht...

Sechstes Kapitel

Pünktlich um sieben Uhr abends war ich bei Masslobojew. Er empfing mich mit großem Hallo und mit offenen Armen. Selbstverständlich war er halb betrunken. Am meisten aber erstaunten mich die außerordentlichen Vorbereitungen zu meiner Aufnahme. Es war klar, daß ich erwartet wurde. Ein hübscher, rotmessingner Samowar siedete auf einem runden Tischchen, auf dem eine schöne, kostbare Decke lag. Das Teeservice glänzte von Kristall, Silber und Porzellan. Auf einem zweiten Tisch, der mit einer andersartigen, aber nicht minder wertvollen Decke bedeckt war, lagen auf Tellern Konfekt, sehr schönes Kiewer Eingemachtes, flüssiges und trockenes, Marmelade, Pastillen, Gelee, französisches Eingemachtes, Apfelsinen, Äpfel und drei oder vier Sorten Nüsse, kurz, ein ganzer Obstladen. Auf einem dritten, mit einer schneeweißen Serviette gedeckten Tisch standen allerlei kalte Speisen: Kaviar, Käse, eine Pastete, Würstchen, geräucherter Schinken, Fisch und eine ganze Batterie prächtiger Kristallflaschen mit Likören von den verschiedensten Sorten und den lockendsten Farben: grün, rubinrot, braun, golden. Auf einem kleinen Tischchen endlich, das seitwärts stand und ebenfalls mit einer weißen Serviette bedeckt war, standen zwei Kübel mit Champagner. Auf dem Tisch vor dem Sofa prangten drei Flaschen: Sauternes, Lafitte und Kognak; sie stammten aus dem Geschäft von Jelisejew und waren gewiß sehr teuer. Am Teetisch saß Alexandra Semjonowna; ihr Kleid und ihr Kopfputz waren zwar einfach, aber offenbar mit längerer Überlegung ausgesucht, und mit gutem Erfolg. Sie wußte, daß es ihr gut stand, und war sichtlich stolz darauf; zu meiner Begrüßung erhob sie sich mit einer gewissen Feierlichkeit. Zufriedenheit und Heiterkeit glänzten auf ihrem frischem Gesichtchen. Masslobojew saß in schönen chinesischen Pantoffeln, einem kostbaren Schlafrock und frischer, eleganter Wäsche da. An seinem Hemd waren überall, wo es nur möglich war, moderne Zierknöpfchen angebracht. Sein Haar war sorgsam gekämmt, pomadisiert und der Mode gemäß schräg gescheitelt.

Ich war so verblüfft, daß ich mitten im Zimmer stehenblieb und mit offenem Mund bald Masslobojew, bald Alexandra Semjonowna anblickte, bei der die Zufriedenheit sich dadurch bis zur Glückseligkeit steigerte.

»Was stellt das vor, Masslobojew? Ist etwa bei dir heute eine größere Gesellschaft?« rief ich endlich beunruhigt.

»Nein, du bist der einzige Gast«, antwortete er feierlich.

»Aber wozu denn das alles?« (ich wies auf die Speisen) »Daran hat ja ein ganzes Regiment genug zu essen!«

»Und zu trinken! Du hast die Hauptsache vergessen: zu trinken!« fügte Masslobojew hinzu.

»Und das alles für mich allein?«

»Und für Alexandra Semjonowna. Es hat ihr beliebt, das alles so zu arrangieren.«

»Na, da haben wir's! Das hab ich doch gewußt!« rief Alexandra Semjonowna errötend, aber ohne ihre zufriedene Miene zu verlieren. »Ich darf nicht einmal einen Gast anständig aufnehmen; gleich bekomme ich Vorwürfe!«

»Vom frühen Morgen an (kannst du dir das vorstellen?), vom frühen Morgen an, sowie sie nur erfahren hatte, daß du zum Abend herkommen würdest, ist sie geschäftig gewesen; ihr Geist hat in Geburtswehen gelegen, um alles auszusinnen...«

»Da hast du wieder gelogen! Nicht vom frühen Morgen an, sondern von gestern abend an. Als du gestern abend nach Hause kamst, da hast du mir gesagt, daß der Herr auf den ganzen Abend zu uns kommen werde...«

»Da hast du dich verhört.«

»Ich habe mich nicht verhört; sondern so war es. Ich lüge nie. Und warum sollen wir einen Gast nicht anständig aufnehmen? Da leben wir nun so dahin, und kein Mensch kommt zu uns, und dabei haben wir doch alle möglichen schönen Dinge im Hause. Mögen doch ordentliche Leute sehen, daß auch wir wie Menschen zu leben verstehen!«

»Und mögen sie vor allen Dingen erfahren, was du für eine vorzügliche Wirtin bist und wie gut du alles zu arrangieren verstehst!« fügte Masslobojew hinzu. »Stelle dir nur mal vor, Freundchen, wie es mir selbst, mir selbst gegangen ist! Ein Hemd von holländischer Leinwand hat sie mir über den Leib gezogen und Knöpfchen hineingesteckt, und Pantoffeln und einen chinesischen Schlafrock habe ich anziehen müssen, und das Haar hat sie mir selbst gekämmt und pomadisiert, mit Bergamottenpomade; und mit Parfüm hat sie mich bespritzen wollen, mit crème brûlée; aber das habe ich nicht ertragen, da habe ich revoltiert und meine eheherrliche Macht herausgekehrt...«

»Es war gar keine Bergamottenpomade, sondern die beste französische Pomade aus einem buntbemalten Porzellanbüchschen!« fiel Alexandra Semjonowna mit dunkelrotem Gesicht ein. »Urteilen Sie selbst, Iwan Petrowitsch: er läßt mich weder ins Theater noch zu einem Tanzvergnügen; er schenkt mir immer nur Kleider; aber was soll ich mit den Kleidern? Ich putze mich an und gehe allein im Zimmer umher. Neulich hatte ich ihn doch durch Bitten überredet, und wir hatten uns schon fertiggemacht, um ins Theater zu gehen; aber während ich mich einen Augenblick abwandte, um mir eine Brosche anzustecken, geht er an den Likörschrank und trinkt ein Glas nach dem andern, bis er betrunken ist. Da blieben wir denn zu Hause. Kein Mensch, kein Mensch, kein Mensch kommt zu uns zu Besuch; nur vormittags kommen allerlei Leute in Geschäften; dann werde ich hinausgejagt. Und dabei haben wir Samoware und ein Teeservice und schöne Tassen; alles haben wir, alles wird uns geschenkt. Und auch Lebensmittel werden uns als Geschenk ins Haus gebracht; wir kaufen fast nur Wein, und solche Pomade; nun ja, auch den Imbiß da, die Pastete, den Schinken und das Konfekt haben wir für Sie gekauft. Wenn doch jemand sähe, was wir für ein gutes Leben führen! Das ganze Jahr über habe ich gedacht: wenn einmal ein Gast kommt, ein richtiger Gast, dann wollen wir ihm auch das alles zeigen und ihn bewirten; und der Gast wird die Aufnahme loben, und wir selbst werden unsere Freude haben. Daß ich aber ihn, den Dummkopf hier, pomadisiert habe, das ist er gar nicht einmal wert; er würde am liebsten immer schmutzig herumlaufen. Da, was hat er für einen schönen Schlafrock an; das ist auch ein Geschenk; aber ist er eines solchen Schlafrocks würdig? Er möchte sich immer vor allen Dingen volltrinken. Sie werden sehen: er wird Sie noch vor dem Tee zum Schnapstrinken auffordern.«

»Siehst du wohl, da hast du ganz recht; wir wollen ein Gläschen Goldwasser trinken, Wanja, und ein Gläschen Silberwasser und uns dann mit erfrischter Seele an die anderen Getränke heranmachen!«

»Na, habe ich es doch gewußt!«

»Beunruhige dich nicht, liebe Alexandra, wir werden auch Tee trinken, mit Kognak, auf deine Gesundheit.«

»Na, also wirklich!« rief sie und schlug die Hände zusammen. »Es ist Khan-Tee, zu sechs Rubeln; vorgestern hat ihn uns der Kaufmann geschenkt; und den will er mit Kognak trinken! Hören Sie nicht auf ihn, Iwan Petrowitsch; ich werde Ihnen gleich eingießen... da werden Sie sehen, da werden Sie selbst sehen, was das für ein Tee ist!«

Sie machte sich eifrig am Samowar zu schaffen.

Es war deutlich, daß sie darauf rechneten, mich den ganzen Abend bei sich zu behalten. Alexandra Semjonowna hatte ein ganzes Jahr lang auf einen Gast gewartet und sich nun vorgenommen, an mir ihr Herz zu erquicken. Aber das paßte nicht in meine Dispositionen hinein.

»Hör mal, Masslobojew«, sagte ich, indem ich mich setzte, »ich bin ja eigentlich überhaupt nicht als Gast zu dir gekommen, sondern in Geschäften; du hast mich selbst herbestellt, um mir etwas mitzuteilen...«

»Na, Geschäft hin, Geschäft her; ein freundschaftliches Gespräch will auch sein Recht haben.«

»Nein, mein Bester, daraus wird heute nichts! Um halb neun muß ich mich verabschieden. Ich habe zu tun; ich habe mein Wort gegeben...«

»Daraus wird nichts! Ich bitte dich, wie kannst du mir so etwas antun? Und wie kannst du gar Alexandra Semjonowna so etwas antun? Sieh sie nur an: sie ist ganz starr geworden. Wozu hätte sie mich denn dann pomadisiert; ich dufte ja nach Bergamottenpomade; bedenke doch!«

»Du treibst immer Scherz, Masslobojew. Ich werde Alexandra Semjonowna das heilige Versprechen geben, in der nächsten Woche, sagen wir zum Beispiel am Freitag, zum Mittagessen zu euch zu kommen; jetzt aber, lieber Freund, habe ich mein Wort gegeben, oder, richtiger gesagt, ich muß eben notwendig an einen bestimmten Ort. Also sage mir lieber: was wolltest du mir mitteilen?«

»Also wollen Sie wirklich nur bis halb neun hierbleiben?« rief Alexandra Semjonowna mit ängstlicher, kläglicher Stimme, beinahe weinend, und reichte mir eine Tasse vorzüglichen Tees.

»Beunruhige dich nicht, liebe Alexandra; das ist alles Unsinn«, fiel Masslobojew ein. »Er wird hierbleiben; das ist Unsinn. Weißt du, Wanja, sage mir lieber, wohin gehst du eigentlich immer? Was hast du für Geschäfte? Kann man das erfahren? Du läufst ja alle Tage irgendwohin, du arbeitest nicht...«

»Wozu willst du das denn wissen? Indessen werde ich es dir vielleicht nachher sagen. Dafür erkläre du mir lieber, warum du gestern zu mir gekommen bist, obwohl ich dir, wie du dich erinnern wirst, selbst gesagt hatte, daß ich nicht zu Hause sein würde.«

»Nachher fiel es mir ein; aber gestern hatte ich es vergessen. Ich wollte wirklich mit dir etwas Geschäftliches besprechen; vor allen Dingen aber wollte ich Alexandra Semjonowna ein Vergnügen bereiten. ›Da ist nun ein Mensch‹, sagte sie, ›der sich als ein Freund von dir herausgestellt hat; warum lädst du ihn nicht ein?‹ Und so hat sie mir deinetwegen vier Tage und vier Nächte zugesetzt, lieber Freund. Für die Bergamottenpomade werden mir gewiß einmal in jener Welt viele Sünden vergeben werden; aber ich dachte so: warum soll ich nicht einen Abend mit dir freundschaftlich zusammensitzen? Und da habe ich eine Kriegslist angewandt: ich habe dir geschrieben, es liege etwas so Wichtiges vor, daß dein Ausbleiben die allerschlimmsten Folgen haben würde.«

Ich ersuchte ihn, in Zukunft nicht wieder so zu handeln, sondern mir gegenüber lieber aufrichtig zu sein. Übrigens befriedigte mich diese Erklärung nicht vollständig. »Nun, und warum bist du heute mittag von mir weggelaufen?« fragte ich ihn.

»Da hatte ich wirklich geschäftlich zu tun; dabei ist nicht das geringste gelogen.«

»Doch nicht mit dem Fürsten?«

»Schmeckt Ihnen unser Tee?« fragte Alexandra Semjonowna in schmeichelndem Ton.

Sie hatte schon fünf Minuten lang darauf gewartet, daß ich ihren Tee loben sollte; aber ich hatte es gar nicht beachtet.

»Er ist ausgezeichnet, Alexandra Semjonowna, ganz vorzüglich! Ich habe noch nie so guten Tee getrunken.«

Alexandra Semjonowna wurde ganz rot vor Vergnügen und beeilte sich, mir noch einmal einzugießen.

»Der Fürst!« rief Masslobojew. »Dieser Fürst, lieber Freund, ist ein solcher Schurke, ein solcher Gauner... na! Ich will dir etwas sagen: ich bin ja selbst ein Gauner; aber in dessen Haut zu stecken, das würde doch meinem Anstandsgefühl widerstreiten! Aber genug davon! Schweigen wir darüber! Weiter darf ich über ihn nichts sagen.«

»Und ich bin gerade zu dir gekommen, um mich unter anderem nach ihm zu erkundigen. Aber davon nachher! Warum hast du aber gestern in meiner Abwesenheit Jelena Bonbons gegeben und ihr etwas vorgetanzt? Und wovon hast du denn anderthalb Stunden lang mit ihr reden können?«

»Jelena, das ist ein kleines Mädchen von elf oder zwölf Jahren, das einstweilen bei Iwan Petrowitsch wohnt«, bemerkte Masslobojew erklärend, indem er sich an Alexandra Semjonowna wandte. »Sieh nur, Wanja, sieh nur«, fuhr er fort und zeigte mit dem Finger auf sie, »wie sie aufgefahren ist, sowie sie hörte, daß ich einem unbekannten jungen Mädchen Bonbons gebracht hätte; ganz rot ist sie geworden; ordentlich zusammengezuckt ist sie, wie wenn wir plötzlich einen Pistolenschuß abgefeuert hätten... ei, die Äuglein funkeln nur so wie Kohlen. Ja, nun kannst du es nicht mehr verbergen, Alexandra Semjonowna, nun kannst du es nicht mehr verbergen: du bist eifersüchtig! Wenn ich nicht erklärt hätte, daß es sich um ein elfjähriges Mädchen handelt, dann hätte sie mich sogleich an den Haaren gerissen, und die Bergamottenpomade hätte mich nicht gerettet!«

»Sie wird dich auch jetzt nicht retten!«

Bei diesen Worten sprang Alexandra Semjonowna mit einem Satz hinter dem Teetisch hervor zu uns hin, und ehe noch Masslobojew seinen Kopf schützen konnte, hatte sie ihn schon an einem Haarbüschel gepackt und ihn gehörig gezaust.

»Da hast du es, da hast du es! Untersteh dich nicht, in Gegenwart eines Gastes zu sagen, daß ich eifersüchtig wäre; untersteh dich nicht!«

Sie war ganz rot geworden, und obgleich sie lachte, hatte Masslobojew doch tüchtig etwas abbekommen. »Immer macht er mich schlecht!« fügte sie, zu mir gewendet, in ernstem Ton hinzu.

»Na, siehst du, Wanja, solch ein Leben führe ich! Deshalb muß ich unbedingt ein Schnäpschen trinken!« erklärte Masslobojew, indem er sich die Haare wieder zurechtstrich und, beinahe laufend, zu den Karaffen hineilte. Aber Alexandra Semjonowna kam ihm zuvor; sie sprang zu dem Tisch hin, goß selbst ein Gläschen voll, reichte es ihm und klopfte ihm sogar freundlich auf die Wange. Masslobojew blinzelte mir stolz zu, schnalzte mit der Zunge und trank feierlich sein Gläschen aus.

»Die Geschichte mit den Bonbons ist schwer zu erklären«, begann er, indem er sich zu mir auf das Sofa setzte. »Ich kaufte sie vorgestern in betrunkenem Zustand in einem Kramladen, ich weiß selbst nicht, warum. Übrigens tat ich es vielleicht zur Beförderung des vaterländischen Handels und Gewerbes; ich weiß es nicht genau; ich erinnere mich nur, daß ich damals betrunken auf der Straße ging, in den Schmutz fiel, mir die Haare ausraufte und darüber weinte, daß ich zu nichts tauglich sei. Die Bonbons vergaß ich dann natürlich, so daß sie bis gestern in meiner Tasche blieben, und als ich auf deinem Sofa Platz nahm, setzte ich mich darauf. Was das Tanzen anlangt, so bildet auch hier derselbe Zustand mangelnder Nüchternheit den Grund: ich war gestern tüchtig betrunken, und in betrunkenem Zustand fühle ich mich manchmal mit meinem Schicksal zufrieden und fange an zu tanzen. Das ist alles; nur hat vielleicht außerdem diese kleine Waise mein Mitleid wachgerufen, und außerdem wollte sie nicht mit mir reden, wie wenn sie auf mich böse wäre. Und da fing ich, um sie zu erheitern, an zu tanzen und traktierte sie mit Bonbons.«

»Hast du sie nicht damit erkaufen wollen, um etwas von ihr herauszubekommen? Gestehe offen: bist du nicht absichtlich zu mir zu einer Zeit gekommen, wo du sicher warst, mich nicht zu Hause anzutreffen, um mit ihr unter vier Augen zu sprechen und etwas aus ihr herauszulocken? Ich weiß ja, daß du anderthalb Stunden bei ihr gesessen und ihr versichert hast, du hättest ihre verstorbene Mutter gekannt, und daß du sie nach allerlei gefragt hast.«

Masslobojew kniff die Augen zusammen und lächelte schlau.

»Das wäre keine üble Idee«, sagte er. »Nein, Wanja, es ist nicht so. Das heißt, warum sollte ich sie nicht bei Gelegenheit ausfragen? Aber es ist nicht so. Höre, alter Freund, ich bin zwar jetzt wie gewöhnlich ziemlich betrunken; aber wisse, daß Filipp dich niemals in schlimmer Absicht betrügen wird, das heißt in schlimmer Absicht.«

»Na, aber ohne schlimme Absicht?«

»Na... auch ohne schlimme Absicht nicht. Aber hol das alles der Teufel; laß uns trinken und von unserer Angelegenheit reden! Die Sache ist sehr einfach«, fuhr er fort, nachdem er ein Glas hinuntergegossen hatte. »Diese Bubnowa hatte kein Recht, das Mädchen festzuhalten; ich habe alles in Erfahrung gebracht. Es hat keine Adoption oder dergleichen stattgefunden. Die Mutter war ihr Geld schuldig geblieben, und da hat sie die Kleine zu sich genommen. Die Verstorbene hatte einen vollgültigen Paß; folglich ist alles in guter Ordnung. Jelena kann bei dir wohnen bleiben, obwohl es sehr gut wäre, wenn irgendeine wohltätige Familie sie in ernster Absicht zur Erziehung übernähme. Aber einstweilen mag sie bei dir bleiben. Das hat keine Schwierigkeit! Ich werde dir alles erledigen. Die Bubnowa wird nicht wagen, auch nur einen Finger zu rühren. Über die verstorbene Mutter habe ich so gut wie nichts Genaues in Erfahrung bringen können. Sie war Witwe und hieß Salzmann.«

»Ja; das hat mir auch Nelly gesagt.«

»Na, diese Sache ist also abgetan. Jetzt aber, Wanjuscha«, begann er mit einer gewissen Feierlichkeit, »habe ich eine kleine Bitte an dich. Schlage sie mir nicht ab! Erzähle mir möglichst eingehend, was du für Geschäfte hast, wohin du zu gehen pflegst, wo du dich den ganzen Tag über aufhältst. Ich habe zwar einzelnes darüber gehört, möchte aber gern alles mit weit mehr Details wissen.«

Eine solche Feierlichkeit versetzte mich in Erstaunen und beunruhigte mich sogar.

»Aber was ist denn los? Warum willst du das wissen? Du fragst so feierlich...«

»Also, Wanja, ohne unnötige Worte: ich will dir einen Dienst erweisen. Siehst du, Freundchen, wenn ich dich überlisten wollte, dann würde ich es verstehen, dich auch ohne Feierlichkeit auszufragen. Du argwöhnst, daß ich dich überlisten will: wegen der Bonbons von neulich; das verstehe ich ja. Aber da ich mit Feierlichkeit rede, so ist daraus zu ersehen, daß ich mich nicht um meinetwillen für die Sache interessiere, sondern um deinetwillen. Also laß du deine Bedenken und sage mir geradeheraus die lautere Wahrheit...«

»Was denn für einen Dienst? Hör mal, Masslobojew, warum willst du mir nichts über den Fürsten erzählen? Daran ist mir viel gelegen. Das würde wirklich ein Freundschaftsdienst sein.«

»Über den Fürsten? Hm!... Na, meinetwegen, ich will es dir offen sagen: ich befrage dich jetzt gerade in einer den Fürsten betreffenden Angelegenheit.«

»Wie?«

»Die Sache ist die: Ich habe bemerkt, lieber Freund, daß er sich in deine Angelegenheiten einmischt; unter anderem hat er mich über dich befragt. Wie er erfahren hat, daß wir beide miteinander bekannt sind, das geht dich nichts an. Aber die Hauptsache ist: nimm dich vor diesem Fürsten in acht! Das ist so ein Judas Ischariot und sogar schlimmer als der. Und als ich daher sah, daß er sich für deine Angelegenheiten interessierte, fing ich an, für dich zu zittern. Übrigens weiß ich ja nichts; eben darum bitte ich dich, mir alles zu erzählen, damit ich mir ein Urteil bilden kann... Und gerade deswegen habe ich dich heute zu mir gebeten. So steht es mit dieser ernsten Angelegenheit; ich rede ganz offen.«

»Du wirst mir doch wenigstens etwas sagen, zum Beispiel, warum ich mich gerade vor dem Fürsten hüten soll.«

»Na gut, meinetwegen! Die Leute bedienen sich meiner manchmal in allerlei Angelegenheiten, lieber Freund; aber du kannst dir wohl selbst sagen: sie schenken mir eben deswegen Vertrauen, weil ich kein Schwätzer bin. Wie soll ich dir also etwas erzählen? Darum nimm fürlieb, wenn ich dir nur im allgemeinen, nur so ganz im allgemeinen etwas erzähle, nur um zu zeigen, was er für ein Schurke ist. Na, nun fange zuerst von dir an!«

Ich sagte mir, daß ich eigentlich keinen Grund hatte, etwas von meinen Angelegenheiten vor Masslobojew zu verbergen. Nataschas Sache war nicht geheim; überdies konnte ich mir von Masslobojew irgendwelchen Nutzen für sie versprechen. Selbstverständlich umging ich in meiner Erzählung einige Punkte nach Möglichkeit. Mit besonderer Aufmerksamkeit hörte Masslobojew alles an, was den Fürsten betraf; an vielen Stellen unterbrach er mich und stellte über vieles neue Fragen, so daß meine Erzählung ziemlich detailliert herauskam. Sie dauerte etwa eine halbe Stunde.

»Hm! Einen klugen Kopf hat dieses Mädchen«, äußerte Masslobojew. »Wenn sie den Fürsten auch vielleicht nicht vollständig durchschaut, so ist doch schon das gut, daß sie gleich von vornherein wußte, mit wem sie es zu tun hat, und alle Beziehungen abbrach. Ein tüchtiges Frauenzimmer, diese Natalja Nikolajewna! Ich trinke auf ihre Gesundheit!« (Er goß ein Glas hinunter.) »Es gehörte nicht nur Verstand, sondern auch Herz dazu, um sich nicht täuschen zu lassen. Und an Herz hat es ihr nicht gefehlt. Selbstverständlich ist ihre Sache verloren, der Fürst wird seinen Willen durchsetzen, und Aljoscha wird sie sitzenlassen. Leid tut mir nur Ichmenew: diesem Schurken zehntausend Rubel zu bezahlen! Aber wer hat seine Sache vor Gericht geführt, wer ist dafür tätig gewesen? Natürlich er selbst! O weh, o weh! So sind sie alle, diese vornehm denkenden Hitzköpfe! Dieses Volk ist zu nichts zu gebrauchen! Mit dem Fürsten muß man anders verfahren. Ich hätte dem alten Ichmenew einen Advokaten verschafft, ei weih!«

Er schlug ärgerlich mit der Faust auf den Tisch.

»Nun, und wie ist es jetzt mit dem Fürsten?«

»Ach, du immer mit deinem Fürsten! Was soll ich von dem sagen? Es tut mir leid, daß ich etwas versprochen habe. Ich wollte dich nur vor diesem Gauner warnen, Wanja, um dich gegen seine Einwirkung sozusagen mit einer Schutzmauer zu umgeben. Wer sich mit ihm einläßt, der ist in Gefahr. Du hattest aber wohl schon gedacht, ich würde dir Gott weiß was für Geheimnisse von Paris mitteilen. Da sieht man, daß du ein Romanschriftsteller bist! Na, was soll ich von dem Schurken sagen? Er ist eben ein Schurke, einfach ein Schurke... Na, ich will dir zum Beispiel ein Stückchen von ihm erzählen, ohne Angabe von Städten und Personen, also ohne historiographische Genauigkeit. Du weißt, daß er schon in früher Jugend, als er genötigt war, von seinem Gehalt als Büroangestellter zu leben, eine reiche Kaufmannstochter heiratete. Na, diese Kaufmannstochter behandelte er nicht besonders höflich; um sie handelt es sich jetzt zwar nicht; aber ich bemerke doch, Freund Wanja, daß er sein ganzes Leben lang vorzugsweise auf diese Art seinen Erwerb gesucht hat. Und nun noch so ein Fall! Er war ins Ausland gereist. Dort...«

»Warte mal, Masslobojew, von welcher Reise sprichst du da? In welchem Jahr war das?«

»Das war genau vor neunundzwanzig Jahren und drei Monaten. Na also, dort lockte er eine Tochter von ihrem Vater weg und entführte sie nach Paris. Und damit hatte es folgende Bewandtnis. Der Vater war so etwas wie Fabrikbesitzer oder Teilnehmer an einem derartigen Unternehmen. Genau weiß ich das nicht. Was ich dir da erzähle, das beruht auf meinen eigenen Vermutungen und Schlüssen aus anderen Tatsachen. Der Fürst hatte ihn betört und sich in das Unternehmen mit eingedrängt. Er hatte ihn vollständig betört und sich von ihm Geld geliehen. Über das empfangene Geld hatte der Alte natürlich Urkunden. Der Fürst aber wünschte, das Darlehen nie zurückzugeben, also, nach unserer Auffassung, das Geld einfach zu stehlen. Der Alte hatte eine Tochter, und die Tochter war eine Schönheit, und in diese Tochter hatte sich ein ideal gerichteter junger Mann verliebt, so ein Gesinnungsgenosse von Schiller, ein Dichter, gleichzeitig Kaufmann, ein Phantast, kurz, ein richtiger Deutscher, ein gewisser Pfefferkuchen.«

»Das heißt, sein Familienname war ›Pfefferkuchen‹?«

»Na, vielleicht hieß er auch nicht Pfefferkuchen; hol ihn der Teufel; es kommt nicht darauf an. Aber der Fürst machte sich an die Tochter heran und so erfolgreich, daß sie sich ganz unsinnig in ihn verliebte. Der Fürst verfolgte damals zwei Ziele: erstens, sich der Tochter zu bemächtigen, und zweitens, die Urkunden über das dem Alten abgeborgte Geld in seine Gewalt zu bekommen. Die Schlüssel zu allen Schränken und Kästen des Alten waren in den Händen der Tochter. Der Alte liebte seine Tochter maßlos, dergestalt, daß er sie nicht einmal verheiraten wollte. Im Ernst. Auf jeden Freier war er eifersüchtig; er begriff gar nicht, wie es ihm möglich sein sollte, sich von ihr zu trennen, und jagte auch Pfefferkuchen weg; so ein wunderlicher Kauz von Engländer war er...«

»Ein Engländer? Aber wo trug sich denn das alles zu?«

»Den Ausdruck ›Engländer‹ habe ich nur so zum Vergleich benutzt, und da klammerst du dich nun gleich daran! Zugetragen aber hat sich das in Santa Fé de Bogotá, vielleicht aber auch in Krakau, am wahrscheinlichsten aber im Fürstentum Nassau, das hier auf der Seltersflasche geschrieben steht, also in der Tat in Nassau; bist du nun zufrieden? Nun also, der Fürst umgarnte das Mädchen und entführte sie ihrem Vater, und auf Verlangen des Fürsten nahm das Mädchen auch einige Urkunden mit. Es gibt ja wirklich solche Liebe, Wanja! Schändlich; aber doch war es ein ehrenhaftes, edeldenkendes, hochgesinntes Mädchen. Allerdings verstand sie von solchen Papieren wohl nicht viel. Ihre einzige Sorge war: der Vater werde sie verfluchen. Aber auch hier wußte der Fürst Rat: er gab ihr ein in gesetzlicher Form abgefaßtes schriftliches Versprechen, daß er sie heiraten werde. Auf diese Art redete er ihr ein, sie würden nur wegfahren und eine Weile vergnügt umherreisen; und wenn dann der Zorn des Alten verraucht sein werde, würden sie als Vermählte zu ihm zurückkehren und ihr lebelang zu dreien leben und Geld verdienen und so weiter in infinitum. Sie lief davon, der Alte verfluchte sie und machte auch Bankrott. Nach Paris folgte ihr auch Frauenmilch nach; er hatte alles im Stich gelassen, auch sein Handelsgeschäft; er war eben furchtbar verliebt.«

»Halt! Was für ein Frauenmilch?«

»Na, jener... wie hieß er doch? Feuerbach... wie hieß der verdammte Kerl nur? Pfefferkuchen! Na, der Fürst konnte sie natürlich nicht heiraten: was hätte die Gräfin Chlestowa dazu gesagt? Und wie würde sich Baron Pomoikin darüber geäußert haben? Somit mußte er eine Schändlichkeit in Szene setzen. Na, und das tat er denn auch in der unverschämtesten Weise. Erstens prügelte er sie beinahe, und zweitens lud er Pfefferkuchen absichtlich zu ihr ein. Der kam denn auch und wurde der Freund des armen Mädchens; na, sie schluchzten zusammen, saßen ganze Abende allein beieinander, weinten über ihr Unglück, und er suchte sie zu trösten: es waren eben ein paar schöne, edle Seelen. Der Fürst aber arrangierte es absichtlich so, daß er sie einmal spät abends zusammen traf; er behauptete nun, sie seien intim geworden, und machte einen großen Lärm: er habe es, sagte er, mit eigenen Augen gesehen. Er stieß sie also beide aus dem Hause und fuhr selbst auf einige Zeit nach London. Sie aber war schon ihrer Entbindung nahe; bald nachdem er sie von sich gestoßen hatte, gebar sie eine Tochter... das heißt nicht eine Tochter, sondern einen Sohn, richtig, ein Söhnchen. Er wurde Wladimir getauft. Pfefferkuchen stand Pate. Na, seitdem reiste sie nun mit Pfefferkuchen. Dieser hatte ein kleines Kapital. Sie bereiste mit ihm die Schweiz, Italien... sie war in all diesen poetischen Ländern, wie sich das so gehört. Sie weinte immer, und Pfefferkuchen schluchzte; so vergingen viele Jahre, und das kleine Mädchen wuchs heran. Für den Fürsten wäre nun alles gut gewesen; nur eins war übel: das schriftliche Heiratsversprechen hatte er von ihr nicht zurückbekommen können. ›Du bist ein gemeiner Mensch‹, hatte sie ihm beim Abschied gesagt; ›du hast mich bestohlen und entehrt und verläßt mich nun. Leb wohl! Aber das Heiratsversprechen werde ich dir nicht zurückgeben. Nicht, weil ich die Absicht hätte, dich jemals zu heiraten, sondern weil du dieses Dokument fürchtest. Darum soll es, solange ich lebe, in meinen Händen bleiben.‹ Kurz, sie war hitzig geworden; der Fürst jedoch blieb ruhig. Überhaupt ist es für solche Schurken sehr vorteilhaft, wenn sie es mit sogenannten Idealisten zu tun haben. Die sind so edel, daß sie sich leicht betrügen lassen, und zweitens reagieren sie immer nur mit einer edlen, erhabenen Verachtung statt mit praktischer Anwendung des Gesetzes, auch wo eine solche möglich ist. Na, nimm zum Beispiel gleich diese Mutter: sie begnügte sich mit stolzer Verachtung, und obgleich sie jenes Dokument zurückbehalten hatte, so wußte der Fürst doch, daß sie sich eher aufhängen als dasselbe zu einem Prozeß verwenden werde; na, und so war er denn vorläufig beruhigt. Sie hatte ihm zwar bittere Worte in sein gemeines Gesicht geschleudert; aber die Sorge für ihren kleinen Wladimir lastete doch auf ihr allein, und wenn sie starb, was sollte dann aus ihm werden? Aber das überlegte sie nicht. Brüderschaft sprach ihr wohl Mut ein, stellte aber ebensowenig wie sie vernünftige Überlegungen an; sie hatten Schiller gelesen. Schließlich begann Brüderschaft zu kränkeln und starb...«

»Du meinst Pfefferkuchen?«

»Na ja, hol ihn der Teufel! Aber sie...«

»Warte! Wie viele Jahre lang waren sie herumgereist?«

»Genau zweihundert Jahre. Na, sie kehrte nun also nach Krakau zurück. Ihr Vater nahm sie nicht auf, verfluchte sie, und sie starb; der Fürst aber bekreuzigte sich vor Freude... Trinken wir ein Gläschen, Freund Wanja!«

»Ich vermute, daß du in dieser Sache für ihn tätig bist, Masslobojew.«

»Das möchtest du wohl durchaus wissen?«

»Ich verstehe nur nicht, was du dabei tun kannst!«

»Siehst du, als sie nach zehnjähriger Abwesenheit unter einem fremden Namen nach Madrid zurückkehrte, da mußten über alle diese Dinge Erkundigungen eingezogen werden: über Brüderschaft und über den Alten, und ob sie wirklich zurückgekehrt sei, und über das Kind, und ob sie gestorben sei, und ob sie keine Papiere hinterlassen habe, und so endlos weiter. Und sonst noch über dieses und jenes. Er ist ein ganz nichtswürdiger Mensch; nimm dich vor ihm in acht, Wanja! Was aber Masslobojew anlangt, so will ich dir sagen, wie du über den denken mußt: nenne ihn niemals einen Schurken! Wenn er auch ein Schurke ist (meines Erachtens gibt es keinen Menschen, der nicht ein Schurke wäre), so ist er es doch nicht dir gegenüber. Ich bin tüchtig betrunken; aber höre: wenn es dir jemals, in naher oder in ferner Zeit, jetzt oder im nächsten Jahr, scheinen sollte, daß Masslobojew in irgendwelcher Hinsicht mit List gegen dich verfahren ist (bitte, vergiß diesen Ausdruck nicht: mit List verfahren ist), so wisse, daß keine schlechte Absicht dabei gewesen ist. Masslobojew wacht über dich. Und darum gib keinem Verdacht Raum, sondern komm lieber her und sprich dich offen und freundschaftlich mit Masslobojew selbst aus. Nun, wie ist's? Willst du jetzt trinken?«

»Nein.«

»Essen?«

»Nein, lieber Freund, entschuldige mich...«

»Na, dann mach, daß du fortkommst; es ist drei Viertel auf neun. Du bist ein hochmütiger Mensch. Jetzt ist es für dich Zeit, zu gehen.«

»Wie? Was? Er hat sich vollgetrunken, und nun jagt er den Gast davon! Und so ist er immer! Du schämst dich aber auch gar nicht!« rief Alexandra Semjonowna beinahe weinend.

»Ein Fußgänger ist kein Weggenosse für einen Reiter! Alexandra Semjonowna, dann werden wir beide hier zusammenbleiben und uns gegenseitig vergöttern. Er ist ein Herr mit Generalsrang! Nein, Wanja, ich habe gelogen; du bist kein Herr mit Generalsrang; aber ich bin ein Schuft! Sieh nur, wie greulich ich jetzt aussehe! Was bin ich im Vergleich mit dir? Aber verzeih mir, Wanja; brich nicht den Stab über mir; laß mich dir mein Herz ausschütten...« Er umarmte mich und brach in Tränen aus. Ich schickte mich an, fortzugehen.

»Ach mein Gott! Und bei uns ist alles zum Abendessen fertig!« sagte Alexandra Semjonowna tiefbetrübt. »Aber am Freitag werden Sie doch zu uns kommen?«

»Ja, ich werde kommen, Alexandra Semjonowna. Mein Wort darauf!«

»Vielleicht schätzen Sie ihn gering, weil er so... trunksüchtig ist. Tun Sie das nicht, Iwan Petrowitsch; er ist ein guter, sehr guter Mensch, und wie gern er Sie hat! Er redet jetzt zu mir Tag und Nacht von Ihnen, immer von Ihnen. Er hat mir expreß Ihre Bücher gekauft; ich habe sie noch nicht gelesen; morgen werde ich anfangen. Aber wie werde ich mich freuen, wenn Sie herkommen! Ich bekomme ja keinen Menschen zu sehen; niemand besucht uns. Wir haben alle möglichen guten Dinge; aber wir sitzen immer allein. Jetzt habe ich dagesessen und immer zugehört, immer zugehört, wie Sie beide geredet haben; es war gar zu schön... Also auf Freitag!«

Siebentes Kapitel

Ich ging eilig nach Hause: Masslobojews Worte hatten auf mich einen starken Eindruck gemacht. Mir gingen Gott weiß was für Gedanken durch den Kopf... Und gerade jetzt mußte mich zu Hause ein Ereignis erwarten, das mich wie ein elektrischer Schlag erschütterte.

Dem Tor des Hauses, in dem ich wohnte, gerade gegenüber stand eine Straßenlaterne. Kaum war ich unter das Tor getreten, als plötzlich von der Laterne eine seltsame Gestalt auf mich zustürzte, so daß ich sogar aufschrie; es war ein geängstigtes, zitterndes, halb wahnsinniges Wesen, das sich mit einem Schrei an meine Arme klammerte. Ich bekam einen furchtbaren Schreck: es war Nelly.

»Nelly! Was ist dir?« rief ich. »Was tust du hier?«

»Da oben... er sitzt da... bei uns.«

»Wer sitzt da? Komm; komm mit mir mit!«

»Ich will nicht, ich will nicht! Ich werde warten, bis er weggeht... auf dem Flur... ich will nicht.«

Mit einer seltsamen Ahnung stieg ich zu meiner Wohnung hinauf, öffnete die Tür und erblickte den Fürsten. Er saß am Tisch und las meinen Roman. Wenigstens hatte er das Buch aufgeschlagen vor sich liegen.

»Iwan Petrowitsch!« rief er freudig. »Wie freue ich mich, daß Sie endlich nach Hause kommen! Ich wollte eben schon wegfahren. Ich warte auf Sie schon über eine Stunde. Ich habe heute auf die dringenden, inständigen Bitten der Gräfin mein Wort darauf gegeben, Sie heute abend mitzubringen. Sie hat mich so sehr darum gebeten; sie wünscht so lebhaft, Ihre Bekanntschaft zu machen! Da Sie mir bereits Ihr Versprechen gegeben hatten, so beschloß ich, möglichst früh, ehe Sie noch irgendwohin weggingen, selbst zu Ihnen zu fahren und Sie gleich mitzunehmen. Denken Sie sich meinen Verdruß: ich komme an, und Ihre Dienerin teilt mir mit, daß Sie nicht zu Hause seien. Was sollte ich tun? Ich hatte mein Wort gegeben, Sie mitzubringen; so setzte ich mich denn hin, um auf Sie zu warten, in der Meinung, das werde etwa eine Viertelstunde dauern; aber es ist eine etwas lange Viertelstunde geworden! Ich schlug Ihren Roman auf und habe mich ganz in seine Lektüre vertieft. Iwan Petrowitsch! Das ist ja grandios! Da muß ich wirklich sagen: man weiß Sie noch nicht nach Gebühr zu schätzen. Sie haben mir Tränen entlockt. Ich habe geweint, und ich weine doch nicht häufig...«

»Sie wünschen also, daß ich mitfahre? Ich muß Ihnen gestehen, jetzt... ich bin zwar durchaus nicht abgeneigt; aber...«

»Ich bitte Sie um alles in der Welt: kommen Sie mit! Was wollen Sie mir antun? Ich habe ja anderthalb Stunden auf Sie gewartet!... Außerdem muß ich notwendig, ganz notwendig mit Ihnen reden − Sie verstehen, worüber. Sie kennen die ganze Angelegenheit besser als ich... Wir werden vielleicht eine Entscheidung treffen, zu einer Abmachung gelangen; bedenken Sie nur! Um des Himmels willen, geben Sie mir keine abschlägige Antwort!«

Ich sagte mir, daß ich früher oder später doch hinfahren müßte. Allerdings war Natascha jetzt allein und bedurfte meiner; aber sie hatte mich ja selbst beauftragt, Katjas Bekanntschaft möglichst bald zu machen. Zudem würde ich vielleicht auch Aljoscha dort treffen... Ich wußte, daß Natascha sich nicht eher beruhigt fühlen werde, ehe ich ihr nicht Nachrichten von Katja brächte, und so entschloß ich mich denn, mitzufahren. Aber ich war in Sorge um Nelly.

»Entschuldigen Sie mich einen Augenblick!« sagte ich zum Fürsten und ging auf die Treppe hinaus.

Nelly stand dort in einem dunklen Winkel.

»Warum willst du nicht hereinkommen, Nelly? Was hat er dir getan? Was hat er mit dir geredet?«

»Nichts... Ich will nicht, ich will nicht...«, wiederholte sie. »Ich fürchte mich...«

Alles Zureden half nichts. Ich verabredete mit ihr, sie solle, sobald ich mit dem Fürsten herauskäme, ins Zimmer gehen und sich einschließen.

»Und laß niemanden zu dir herein, Nelly, wenn dich jemand auch noch so sehr bittet.«

»Wollen Sie mit ihm gehen?«

»Ja.«

Sie fing an zu zittern und ergriff meine Hand, wie wenn sie mich bitten wollte, das nicht zu tun; aber sie sagte kein Wort. Ich nahm mir vor, sie am nächsten Tag eingehend zu befragen.

Ich bat den Fürsten um Entschuldigung und begann mich umzukleiden. Er erging sich in Versicherungen, zu einem Besuch dort seien kein besonderer Anzug, keine besondere Toilette erforderlich.

»Höchstens etwas frische Wäsche!« fügte er hinzu, nachdem er mich mit einem inquisitorischen Blick vom Kopf bis zu den Füßen gemustert hatte. »Wissen Sie, diese törichten Anschauungen über äußere Formen... man kann sich schlechterdings davon nicht ganz frei machen. Ein vernünftiger Standpunkt wird in unseren Kreisen noch lange nicht zu finden sein«, schloß er, nachdem er mit Vergnügen gesehen hatte, daß ich einen Frack besaß.

Wir gingen hinaus. Aber ich ließ ihn auf der Treppe stehen, ging ins Zimmer zurück, in das Nelly inzwischen bereits hineingeschlüpft war, und nahm noch einmal von ihr Abschied. Sie befand sich in furchtbarer Aufregung. Ihr Gesicht sah ordentlich bläulich aus. Ich ängstigte mich um sie; es wurde mir schwer, sie zu verlassen.

»Sie haben eine sonderbare Dienerin«, sagte der Fürst zu mir, als wir die Treppe hinunter stiegen. »Dieses kleine Mädchen ist ja wohl Ihre Dienerin?«

»Nein... sie nimmt keine bestimmte Stellung ein... sie wohnt vorläufig bei mir.«

»Ein eigentümliches Mädchen! Ich bin überzeugt, daß sie nicht ganz bei Verstand ist. Stellen Sie sich vor: Anfangs antwortete sie mir ganz vernünftig; aber dann, nachdem sie mich genauer angesehen hatte, stürzte sie auf mich zu, schrie, zitterte und klammerte sich an mich; sie wollte etwas sagen, war aber dazu nicht imstande. Ich muß bekennen, ich bekam es mit der Angst und wollte schon vor ihr flüchten; aber Gott sei Dank, sie lief selbst von mir fort. Ich war höchst erstaunt. Wie bekommen Sie es nur fertig, mit ihr zusammen zu leben?«

»Sie leidet an Epilepsie«, antwortete ich. »Ah so! Nun, dann ist es nicht weiter auffällig, wenn sie solche Anfälle hat.«

Gleich in diesem Augenblick bildete sich bei mir eine gewisse Ansicht heraus. Der gestrige Besuch Masslobojews bei mir, obwohl er wußte, daß ich nicht zu Hause war, und seine heutige Aufforderung, um sieben Uhr zu ihm zu kommen, und mein Besuch bei ihm und seine Erzählung, die er in trunkenem Zustand, und ohne es recht zu wollen, vorgetragen hatte, und seine Bitte, nicht an ein listiges Verfahren von seiner Seite zu glauben, und endlich der Umstand, daß der Fürst, der vielleicht gewußt hatte, daß ich bei Masslobojew war, auf mich anderthalb Stunden hatte warten mögen, und daß Nelly von ihm weg auf die Straße gelaufen war − alles dies schien mir untereinander in einem gewissen Zusammenhang zu stehen. Dies gab mir Anlaß zu ernstem Nachdenken.

Am Tor erwartete uns die Equipage des Fürsten; wir stiegen ein und fuhren weg.

Achtes Kapitel

Wir hatten nicht weit zu fahren, nach der Torgowy-Brücke. Zunächst schwiegen wir. Ich dachte unterdessen: wie wird er das Gespräch mit mir anknüpfen? Ich meinte, er werde mich sondieren und den Versuch machen, etwas aus mir herauszuholen. Aber er begann ohne alle Umschweife zu reden und kam sogleich zur Sache:

»Es macht mir jetzt eine Frage große Sorge, Iwan Petrowitsch«, hob er an, »und ich möchte darüber vor allen Dingen mit Ihnen Rücksprache nehmen und Sie um Ihren Rat bitten: Ich habe schon vor längerer Zeit beschlossen, auf das Geld, das ich in meinem Prozeß gewonnen habe, zu verzichten und die Streitsumme im Betrag von zehntausend Rubel Herrn Ichmenew zu überlassen. Wie soll ich nun diese Überlassung bewerkstelligen?«

Mir schoß der Gedanke durch den Kopf: ›Es ist doch unmöglich, daß du nicht wüßtest, wie du das anfangen sollst! Willst du dich etwa nur über mich lustig machen?‹

»Das weiß ich nicht, Fürst«, antwortete ich in möglichst harmlosem Ton; »in der anderen Angelegenheit, das heißt, was Natalja Nikolajewna angeht, bin ich bereit, Ihnen alle für Sie und für uns notwendigen Mitteilungen zu machen; aber in diesem Punkt wissen Sie natürlich mehr als ich.«

»Nein, nein, sicherlich weniger. Sie sind mit ihnen bekannt, und vielleicht hat sogar Natalja Nikolajewna selbst Ihnen wiederholt ihre Gedanken über diesen Gegenstand ausgesprochen; und das würde für mich ein wichtiger Fingerzeig sein. Sie können mir dabei viel helfen; die Sache hat ihre sehr großen Schwierigkeiten. Ich bin bereit, ihm das Geld zu überlassen, und habe mir sogar fest vorgenommen, dies zu tun, ohne Rücksicht darauf, welchen Ausgang die andere Angelegenheit nimmt; Sie verstehen? Aber wie und in welcher Form ich diese Überlassung vornehmen soll, das ist die Frage. Der Alte ist stolz und eigensinnig; am Ende wird er mich zum Dank für meine Gutherzigkeit noch beleidigen und mir das Geld vor die Füße werfen...«

»Aber erlauben Sie, wie denken Sie über dieses Geld: gehört es Ihnen oder ihm?«

»Selbstverständlich bin ich der Ansicht, daß es mir gehört«, antwortete er, etwas pikiert über meine Ungeniertheit. »Übrigens scheinen Sie den eigentlichen Kernpunkt dieses Prozesses nicht zu kennen. Ich beschuldige den alten Mann nicht des absichtlichen Betruges und habe das, wie ich Sie versichern kann, niemals getan. Es war sein eigener freier Wille, das Vorhandensein einer Beleidigung zu behaupten. Seine Schuld besteht in Unachtsamkeit, in nachlässiger Ausführung der ihm anvertrauten Geschäfte, und nach unserer ursprünglichen Abrede war er für gewisse derartige Geschäfte haftbar. Aber wissen Sie wohl, daß auch das nicht der eigentliche Kern der Sache ist? Der Kern der Sache liegt in unserm Zank, in den wechselseitigen damaligen Beleidigungen, kurz, in dem beiderseitig verletzten Ehrgefühl. Ich hätte mich damals um diese elenden zehntausend Rubel vielleicht gar nicht gekümmert; aber es ist Ihnen selbstverständlich bekannt, weswegen und wie damals dieser ganze Prozeß entstand. Ich gebe zu, ich war argwöhnisch, ich war vielleicht im Unrecht (das heißt: damals); aber ich bemerkte das nicht, und in meinem Ärger, in dem Gefühl der Kränkung über seine Grobheiten wollte ich die Gelegenheit nicht aus der Hand lassen und strengte einen Prozeß an. Es scheint Ihnen vielleicht, daß dieses ganze Verfahren meinerseits nicht sehr anständig war. Ich will mich nicht zu rechtfertigen suchen; ich möchte nur bemerken, daß Jähzorn und Reizbarkeit des Ehrgefühls noch nicht von Mangel an anständiger Gesinnung zeugen, sondern etwas Natürliches und Menschliches sind, und ich wiederhole Ihnen: ich muß bekennen, daß ich damals Ichmenew noch so gut wie gar nicht kannte und all den Gerüchten über Aljoscha und seine Tochter völlig glaubte und somit auch an einen vorsätzlichen Diebstahl von Geld glauben konnte... Aber das nur nebenbei. Die Hauptsache ist: was soll ich jetzt tun? Ich möchte auf das Geld verzichten; aber wenn ich dabei sage, daß ich auch jetzt noch meine Sache in dem Prozeß für gerecht halte, so bedeutet das, daß ich ihm das Geld schenke. Und nun nehmen Sie noch die heikle Lage in bezug auf Natalja Nikolajewna hinzu... Er wird mir jedenfalls das Geld vor die Füße werfen...«

»Nun, sehen Sie, Sie sagen selbst: ›Er wird es mir vor die Füße werfen‹; folglich halten Sie ihn doch für einen ehrenhaften Menschen und können daher auch vollständig davon überzeugt sein, daß er Ihnen Ihr Geld nicht gestohlen hat. Wenn es aber so ist, warum wollen Sie dann nicht zu ihm hingehen und geradezu erklären, daß Sie Ihre Sache nicht für gerecht halten? Das wäre edel gedacht, und Ichmenew würde sich dann vielleicht nicht weigern, das Geld als ihm gehörig anzunehmen.«

»Hm!... als ihm gehörig; eben darum handelt es sich. In welche Lage bringen Sie mich dadurch? Ich soll hingehen und ihm erklären, ich hielte meine Sache nicht für gerecht. Aber dann wird mir jeder ins Gesicht sagen: ›Warum hast du denn dann einen Prozeß angestrengt, wenn du wußtest, daß du das Recht nicht auf deiner Seite hattest?‹ Das habe ich aber nicht verdient, da meine Klage rechtlich begründet war; ich habe nie gesagt oder geschrieben, daß er mich bestohlen hätte; aber von seinem Mangel an Vorsicht, von seiner Leichtfertigkeit, von seiner Unkenntnis der Geschäftsführung bin ich auch jetzt noch überzeugt. Dieses Geld gehört zweifellos mir, und daher wäre es mir peinlich, mich selbst zu verleumden. Schließlich, ich wiederhole es Ihnen, ist es eine eigene Erfindung des alten Mannes, daß ihm eine Beleidigung zugefügt sei; und da wollen Sie mich nun veranlassen, ihn wegen dieser Beleidigung um Entschuldigung zu bitten; das ist doch hart.«

»Mir scheint, wenn zwei Menschen sich versöhnen wollen, so...«

»So ist das leicht, meinen Sie?«

»Ja.«

»Nein, manchmal ist das sehr schwer, namentlich wenn...«

»Namentlich wenn damit noch andere Umstände verknüpft sind. Darin stimme ich Ihnen bei, Fürst. Die Angelegenheit mit Natalja Nikolajewna und Ihrem Sohn muß von Ihnen in allen Punkten, die von Ihnen abhängen, entschieden sein, und zwar in einer für die Familie Ichmenew völlig befriedigenden Weise. Erst dann können Sie sich mit Ichmenew auch über den Prozeß mit völliger Offenheit aussprechen. Jetzt aber, wo noch nichts entschieden ist, gibt es für Sie nur einen Weg: die Ungerechtigkeit Ihrer Klage zuzugeben und sie offen, nötigenfalls sogar vor der Öffentlichkeit, zu bekennen; das ist meine Meinung. Ich spreche zu Ihnen ganz aufrichtig, da Sie selbst mich ja um meine Meinung befragt und doch wohl nicht gewünscht haben, daß ich sie schlau verstecke. Das macht mich so kühn, Sie zu fragen: warum beunruhigen Sie sich denn so sehr um die Rückgabe dieses Geldes an Ichmenew? Wenn Sie bei diesem Prozeß das Recht auf Ihrer Seite zu haben glauben, warum wollen Sie dann das Geld zurückgeben? Verzeihen Sie meine Neugier; aber dies hängt mit den anderen Umständen eng zusammen.«

»Wie denken Sie darüber?« fragte er plötzlich, wie wenn er meine Frage gar nicht gehört hätte. »Sind Sie davon überzeugt, daß der alte Ichmenew die zehntausend Rubel zurückweisen wird, wenn sie ihm ohne alle Entschuldigungen und... und... ohne all solche Milderungsversuche angeboten werden?«

»Selbstverständlich wird er sie zurückweisen!«

Ich wurde ganz rot und zuckte ordentlich zusammen vor Empörung. Diese unverschämte, zynische Frage wirkte auf mich, wie wenn mir der Fürst geradezu ins Gesicht gespien hätte. Und zu meiner Kränkung trug noch etwas anderes bei: die brutale, vornehme Manier, mit der er, ohne auf meine Frage zu antworten, wie wenn er sie gar nicht gehört hätte, seinerseits eine Frage stellte, wahrscheinlich um mir zu verstehen zu geben, daß ich zu weit gegangen und zu familiär geworden sei, indem ich mich erdreistet hätte, ihm solche Fragen vorzulegen. Diese vornehme Manier war mir widerwärtig, ja geradezu verhaßt, und ich hatte mich früher aus aller Kraft bemüht, sie Aljoscha abzugewöhnen.

»Hm!... Sie sind zu hitzig; aber in der Welt werden manche Dinge nicht so behandelt, wie Sie sich das vorstellen«, bemerkte der Fürst ruhig auf meinen Ausruf. »Ich glaube übrigens, daß darüber auch Natalja Nikolajewna mitreden könnte; machen Sie ihr doch Mitteilung davon! Sie könnte einen Rat geben.«

»Fällt mir nicht ein!« erwiderte ich grob. »Sie haben nicht beliebt, zu Ende zu hören, was ich soeben anfing Ihnen zu sagen, und haben mich unterbrochen. Natalja Nikolajewna wird einsehen, daß, wenn Sie das Geld ohne aufrichtige Aussprache und ohne all diese, wie Sie sich ausdrücken, Milderungsversuche zurückgeben, dies nichts anderes bedeutet, als daß Sie dem Vater für die Tochter und ihr für Aljoscha eine pekuniäre Entschädigung zahlen...«

»Hm!... Also so haben Sie mich verstanden, mein bester Iwan Petrowitsch!« Der Fürst lachte. Warum lachte er? »Indessen«, fuhr er fort, »wir haben noch so vieles, so vieles miteinander zu besprechen. Aber jetzt haben wir keine Zeit. Ich bitte Sie nur, eines im Auge zu behalten: die Sache betrifft direkt Natalja Nikolajewna und ihre ganze Zukunft, und all das hängt zum Teil davon ab, wie wir beide, Sie und ich, darüber befinden und worauf wir uns einigen. Sie sind dabei unentbehrlich; das sehen Sie selbst. Und darum können Sie, wenn Sie auch fernerhin Natalja Nikolajewnas treuer Anhänger bleiben, mir eine Unterredung nicht abschlagen, so unsympathisch ich Ihnen auch sein mag. Aber wir sind am Ziel... à bientôt!«

Neuntes Kapitel

Die Gräfin lebte in einer prachtvollen Umgebung. Die Zimmer waren komfortabel und geschmackvoll möbliert, dennoch durchaus nicht luxuriös. Alles trug jedoch den Charakter eines nur provisorischen Domizils; dies war nur ein anständiges Quartier für eine gewisse Zeit, aber nicht der ständige, feste Wohnsitz einer reichen Familie mit aller Großartigkeit des Herrenstandes und mit allen seinen zur Notwendigkeit gewordenen launischen Eigenheiten. Es ging das Gerücht, die Gräfin werde im Sommer auf ihr (sehr heruntergekommenes und mit Hypotheken überlastetes) Gut nach dem Gouvernement Simbirsk fahren, und der Fürst werde sie begleiten. Ich hatte schon davon gehört und mit ernster Sorge gedacht: ›Wie wird sich Aljoscha verhalten, wenn Katja mit der Gräfin wegfährt?‹ Mit Natascha hatte ich noch nicht darüber gesprochen; ich fürchtete mich; aber aus gewissen Anzeichen glaubte ich zu ersehen, daß auch ihr dieses Gerücht bekannt geworden war. Aber sie schwieg und litt im stillen.

Die Gräfin empfing mich sehr freundlich, streckte mir liebenswürdig die Hand entgegen und versicherte, daß sie schon lange gewünscht habe, mich bei sich zu sehen. Sie schenkte selbst den Tee aus einem schönen, silbernen Samowar ein, um den wir uns gruppierten, ich, der Fürst und noch ein sehr vornehmer, schon bejahrter Herr mit einem Ordensstern, einem etwas steifen Benehmen und diplomatischen Manieren. Dieser Gast schien sehr respektiert zu werden. Die Gräfin hatte nach ihrer Rückkehr aus dem Ausland in diesem Winter noch nicht die Möglichkeit gehabt, in Petersburg größere Verbindungen anzuknüpfen und ihre Position zu festigen, wie das ihren Wünschen und Erwartungen entsprochen hätte. Außer diesem Gast war niemand anwesend, und es erschien auch den ganzen Abend über niemand weiter. Ich suchte mit den Augen Katerina Fjodorowna; sie war mit Aljoscha im Nebenzimmer, kam aber, als sie von unserem Kommen hörte, sogleich zu uns herein. Der Fürst küßte ihr liebenswürdig die Hand; die Gräfin aber machte ihr eine auf mich hinweisende Handbewegung, worauf uns der Fürst sofort miteinander bekannt machte. Ich betrachtete sie mit ungeduldiger Aufmerksamkeit: Sie war eine zarte Blondine, weiß gekleidet, von kleiner Statur, mit stillem, ruhigem Gesichtsausdruck, mit unwahrscheinlich blauen Augen, wie Aljoscha gesagt hatte, mit der Schönheit der Jugend, weiter nichts. Ich hatte erwartet, ein Ideal von Schönheit zu sehen; aber eigentliche Schönheit besaß sie nicht. Ein regelmäßiges, fein gezeichnetes Gesichtsoval, sehr regelmäßige Züge, dichtes, wirklich schönes Haar, eine schlichte Frisur fürs Haus, ein stiller, fester Blick − wäre ich ihr irgendwo begegnet, so wäre ich an ihr vorbeigegangen, ohne ihr irgendwelche besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden; aber das war nur der Eindruck beim ersten Blick, und ich lernte sie später, im Verlauf dieses Abends, wesentlich besser kennen. Schon allein die Art, wie sie mir die Hand reichte und mir mit naiver, gespannter Aufmerksamkeit in die Augen sah, ohne ein Wort zu sagen, überraschte mich durch ihre Seltsamkeit, und unwillkürlich lächelte ich sie an. Ich hatte die bestimmte Empfindung, ein Wesen mit wahrhaft reinem Herzen vor mir zu haben. Die Gräfin verwandte kein Auge von ihr. Nachdem Katja mir die Hand gedrückt hatte, ging sie mit einer gewissen Hast von mir weg und setzte sich am anderen Ende des Zimmers mit Aljoscha zusammen hin. Aljoscha hatte mir bei der Begrüßung zugeflüstert: »Ich bleibe hier nur einen Augenblick; dann gehe ich gleich dorthin.«

Der ›Diplomat‹ (ich kenne seinen Familiennamen nicht und nenne ihn daher, um ihn irgendwie zu bezeichnen, den Diplomaten) entwickelte in ruhiger, würdevoller Redeweise irgendeine Idee. Der Fürst lächelte zustimmend in schmeichelhafter Weise; der Redende wandte sich häufig an ihn, wahrscheinlich weil er ihn für einen würdigen Zuhörer erachtete. Es wurde mir Tee gereicht, und dann ließ man mich in Ruhe, womit ich sehr zufrieden war. Inzwischen musterte ich die Gräfin. Mein erster Eindruck war der, daß sie mir sozusagen wider meinen Willen gefiel. Sie war vielleicht in Wirklichkeit nicht mehr jung; aber mir schien sie nicht älter als achtundzwanzig Jahre zu sein. Ihr Gesicht sah noch frisch aus und war früher einmal, in ihrer ersten Jugend, gewiß sehr hübsch gewesen. Das dunkelblonde Haar war noch recht dicht; ihr Blick war außerordentlich gutmütig, hatte aber etwas Flatterhaftes, Mutwilliges, Spöttisches. Jetzt jedoch suchte sie sich aus irgendeinem Grund zu beherrschen. In diesem Blick kam auch viel Verstand zum Ausdruck, aber vor allem Gutherzigkeit und Heiterkeit. Ihre Haupteigenschaften waren, wie es mir schien, ein gewisser Leichtsinn, Vergnügungssucht und ein gutmütiger Egoismus, letzterer vielleicht sogar von bedeutender Dimension. Sie stand ganz unter der Botmäßigkeit des Fürsten, der auf sie einen außerordentlich großen Einfluß ausübte. Ich wußte, daß sie ein Verhältnis miteinander hatten, und hatte auch gehört, daß er, während sie sich beide im Ausland aufhielten, für einen Liebhaber recht wenig eifersüchtig gewesen war; aber es wollte mir immer scheinen (und es scheint mir auch jetzt so), daß es, abgesehen von ihren früheren Beziehungen, noch ein anderes einigermaßen geheimnisvolles Band zwischen ihnen gab, eine Art von wechselseitiger Verpflichtung, die auf irgendwelcher Spekulation beruhte; kurz, etwas in dieser Art mußte vorliegen. Ich wußte auch, daß der Fürst im gegenwärtigen Augenblick ihrer überdrüssig war, daß ihre Beziehungen aber trotzdem nicht abgebrochen worden waren. Vielleicht bildeten das Bindemittel damals besonders gewisse Pläne in bezug auf Katja, Pläne, zu denen die Initiative natürlich auf den Fürsten zurückging. Auf dieser Grundlage war der Fürst auch von einer Heirat mit der Gräfin losgekommen; die Gräfin hatte tatsächlich verlangt, daß er sie heirate; er aber hatte sie überredet, dazu mitzuwirken, daß eine Ehe Aljoschas mit ihrer Stieftochter zustande käme. Das hatte ich wenigstens aus den früheren naiven Mitteilungen Aljoschas geschlossen, der doch etwas davon hatte merken müssen. Es schien mir auch, zum Teil auf Grund ebenderselben Mitteilungen, daß der Fürst, obwohl die Gräfin vollständig unter seiner Herrschaft stand, doch irgendwelchen Grund hatte, sie zu fürchten. Selbst Aljoscha hatte das bemerkt. Ich erfuhr später, daß der Fürst sehr wünschte, die Gräfin mit jemandem zu verheiraten, und daß er mit in dieser Absicht sie zu der Reise nach dem Gouvernement Simbirsk überredet hatte, weil er in der Provinz einen passenden Mann für sie zu finden hoffte.

Ich saß und hörte zu und zerbrach mir den Kopf darüber, wie ich es möglich machen könnte, recht bald mit Katerina Fjodorowna unter vier Augen zu reden. Der Diplomat antwortete auf eine Frage der Gräfin nach dem derzeitigen Stand der Dinge im Staat, nach den beginnenden Reformen und ob man sie fürchten müsse oder nicht. Er redete viel und lange, in ruhigem, autoritativem Ton. Er entwickelte seinen Gedanken scharfsinnig und klug; aber der Gedanke selbst war widerwärtig. Er behauptete namentlich, dieser ganze Geist der Reformen und Verbesserungen werde sehr bald bestimmte Früchte zeitigen; wenn man dann diese Früchte sehe, werde man wieder zur Vernunft kommen, und dieser neue Geist werde nicht nur in der Gesellschaft (selbstverständlich meinte er damit nur einen gewissen Teil derselben) wieder vergehen, sondern man werde auch durch diese Erfahrung den begangenen Irrtum erkennen und dann mit verdoppelter Energie die alten Einrichtungen aufrechterhalten. Das jetzige Experiment, so traurig es an sich sei, werde sich doch als sehr nützlich erweisen; denn es werde lehren, daß man die allein Rettung bringenden alten Einrichtungen aufrechterhalten müsse, und werde dafür neue Mittel an die Hand geben; mithin müsse man sogar wünschen, daß jetzt so bald wie möglich mit den Reformen bis zum äußersten Grad der Unvorsichtigkeit vorgegangen werde. »Ohne uns geht es nicht«, schloß er; »ohne uns hat noch nie ein sozialer Zustand Dauer gehabt. Wir werden nicht verlieren, sondern im Gegenteil noch gewinnen; wir werden wieder obenauf kommen, und unsere Devise muß im jetzigen Augenblick sein: Pire ça va, mieux ça est![14]« Der Fürst lächelte ihm beifällig zu; es war ein widerliches Lächeln. Der Redner war mit sich völlig zufrieden. Ich war so dumm, daß ich etwas darauf erwidern wollte; denn in mir kochte es. Aber ein boshafter Blick des Fürsten hielt mich zurück; dieser Blick glitt flüchtig nach der Gegend hin, wo ich saß, und es schien mir, als erwarte der Fürst tatsächlich einen absonderlichen, jünglingshaften Gefühlsausbruch von meiner Seite; er wünschte das sogar vielleicht, um sich daran zu ergötzen, wie ich mich bloßstellte. Zugleich war ich fest davon überzeugt, daß der Diplomat unfehlbar meine Erwiderung und vielleicht sogar mich selbst unbeachtet lassen werde. Es wurde mir zu einer wahren Pein, mit diesen Menschen zusammenzusitzen; aber Aljoscha wurde mein Retter.

Er trat sachte zu mir heran, berührte mich an der Schulter und bat mich, auf ein paar Worte mitzukommen. Ich erriet, daß er von Katja geschickt war. So war es auch. Einen Augenblick darauf saß ich bereits neben ihr. Anfangs blickte sie mich nur unverwandt an, wie wenn sie im stillen sagte: ›Also so siehst du aus!‹, und im ersten Augenblick fanden wir beide nicht die richtigen Worte, um das Gespräch zu beginnen. Ich war jedoch überzeugt, daß sie nur anzufangen brauchte, um dann nicht wieder aufzuhören, und wenn es bis zum anderen Morgen dauerte. Es huschte mir ein Gedanke an das ›fünf- bis sechsstündige Gespräch‹ durch den Kopf, das Aljoscha einmal erwähnt hatte. Aljoscha saß bei uns und wartete mit Ungeduld darauf, daß wir anfangen würden zu reden.

»Warum redet ihr denn nicht?« fragte er, indem er uns lächelnd anblickte. »Nun sind sie zusammengekommen und schweigen!«

»Ach, Aljoscha, wie du auch bist... wir werden gleich miteinander reden«, antwortete Katja. »Wir haben ja so vieles zusammen zu besprechen, Iwan Petrowitsch, daß ich gar nicht weiß, womit ich anfangen soll. Wir sind sehr spät miteinander bekannt geworden; es hätte schon viel früher geschehen sollen; ich kenne Sie allerdings schon lange. Und ich habe so sehr gewünscht, Sie zu sehen. Ich habe sogar schon daran gedacht, Ihnen einen Brief zu schreiben...«

»Worüber denn?« fragte ich, unwillkürlich lächelnd. »Über alles mögliche«, antwortete sie ganz ernsthaft. »Zum Beispiel darüber, ob es richtig ist, was er von Natalja Nikolajewna erzählt, daß sie es nicht übelnimmt, wenn er sie gerade in dieser Zeit allein läßt. Nun, darf sich denn jemand so benehmen, wie er es tut? Nun, warum sitzt du denn hier, sag doch mal!«

»Ach, mein Gott, ich werde ja gleich hinfahren. Ich habe ja gesagt, daß ich nur noch einen Augenblick hierbleiben und sehen will, wie ihr beide miteinander redet, und dann will ich sofort hin.«

»Aber was tun wir beide denn hier zusammen, was dich so interessiert? Nun, da sitzen wir, hast du es gesehen? Und so ist er immer«, fügte sie, leise errötend, hinzu und wies mit dem Finger auf ihn. »›Ein Augenblickchen,‹ sagt er, ›nur ein Augenblickchen!‹, aber ehe man es sich versieht, hat er bis Mitternacht dagesessen, und dann ist es für andere Besuche zu spät. Er sagt: ›Sie wird nicht böse darüber; sie hat ein gutes Herz!‹ Das ist seine Denkungsweise! Nun, ist das hübsch? Ist das edel?«

»Nun, meinetwegen, ich will hinfahren«, antwortete Aljoscha in kläglichem Ton. »Ich wäre nur so gern noch ein bißchen bei euch geblieben...«

»Was hast du denn von uns? Wir müssen vielmehr über viele Dinge unter vier Augen sprechen. Aber höre, nimm das nicht übel; es ist eben notwendig; versteh das wohl!«

»Wenn das notwendig ist, dann will ich sogleich... was ist dabei übelzunehmen? Ich will nur noch auf ein Augenblickchen zu Lew und dann gleich zu ihr. Noch eins, Iwan Petrowitsch«, fuhr er fort, während er nach seinem Hut griff, »Sie wissen, daß mein Vater auf das Geld verzichten will, das er in dem Prozeß mit Ichmenew gewonnen hat?«

»Ja, ich weiß es; er hat es mir gesagt.«

»Wie edel er daran handelt! Katja glaubt nicht, daß das edel von ihm gehandelt ist. Setzen Sie ihr das doch auseinander! Leb wohl, Katja, und, bitte, zweifle nicht daran, daß ich Natascha liebe. Und warum gebt ihr alle mir solche Vorschriften und macht mir Vorwürfe und beobachtet mein Tun und Lassen, gerade als stände ich unter eurer Aufsicht? Sie weiß, wie sehr ich sie liebe, und hat Vertrauen zu mir, und ich weiß, daß sie zu mir Vertrauen hat. Ich liebe sie ohne alle Künsteleien, ohne alle Verpflichtungen. Ich weiß nicht, wie ich sie liebe. Ich liebe sie einfach. Und darum ist gar kein Grund vorhanden, mich wie einen Verbrecher ins Verhör zu nehmen. Da, frage nur Iwan Petrowitsch; jetzt ist er hier und wird es dir bestätigen, daß Natascha eifersüchtig ist und daß sie mich zwar sehr liebt, daß aber in ihrer Liebe doch viel Egoismus steckt, weil sie mir nichts zum Opfer bringen will.«

»Wie meinen Sie das?« fragte ich erstaunt; ich traute meinen Ohren nicht.

»Was redest du da, Aljoscha?« rief Katja, beinah schreiend, und schlug die Hände zusammen.

»Nun ja; was gibt's da sich zu wundern? Iwan Petrowitsch weiß es. Sie verlangt immer, daß ich bei ihr bleiben soll. Und wenn sie es auch nicht mit Worten verlangt, so ist doch deutlich, daß sie es gern möchte.«

»Schämst du dich denn nicht? Schämst du dich denn nicht?« sagte Katja, die vor Zorn ganz rot geworden war.

»Warum soll ich mich denn schämen? Aber wirklich, wie du auch bist, Katja! Ich liebe sie ja mehr, als sie glaubt; aber wenn sie mich in der richtigen Art liebte, so wie ich sie liebe, dann brächte sie mir gewiß ihr Vergnügen zum Opfer. Sie schickt mich allerdings selbst weg; aber ich sehe es ihr ja am Gesicht an, daß ihr das schmerzlich ist; also ist es für mich ganz dasselbe, wie wenn sie mich zurückhielte.«

»Nein, da steckt etwas dahinter!« rief Katja, indem sie sich mit zornfunkelnden Augen wieder an mich wandte. »Gestehe, Aljoscha, gestehe sofort: alles das hat dir dein Vater gesagt? Heute gesagt? Und bitte, suche mich nicht zu täuschen: ich bekomme es doch sofort heraus! Ist es so oder nicht?«

»Nun ja, er hat es zu mir gesagt«, antwortete Aljoscha verlegen. »Aber was ist dabei? Er hat mit mir heute so freundlich und herzlich gesprochen; und sie hat er mir gegenüber immer gelobt, so daß ich ordentlich erstaunt war: sie hat ihn beleidigt, und er lobt sie noch!«

»Und Sie, Sie haben ihm geglaubt«, sagte ich, »Sie, dem sie alles gegeben hat, was sie nur geben konnte? Ja selbst jetzt, noch heute, war ihre einzige Sorge, Sie könnten sich bei ihr unbehaglich fühlen und sie könnte Ihnen an dem Besuch bei Katerina Fjodorowna hinderlich sein! Das hat sie mir selbst heute gesagt. Und auf einmal haben Sie diesen Lügenreden Glauben geschenkt! Schämen Sie sich denn nicht?«

»Du Undankbarer! Aber er schämt sich ja nie, über nichts!« sagte Katja mit einer wegwerfenden Handbewegung nach ihm hin, als ob er ein total verdorbener Mensch wäre.

»Aber was wollt ihr denn eigentlich?« fuhr Aljoscha in kläglichem Ton fort. »Und so bist du immer, Katja! Immer findest du an mir nur Schlechtes... Von Iwan Petrowitsch will ich schon gar nicht reden! Ihr glaubt, daß ich Natascha nicht liebe. Das mit ihrem Egoismus habe ich anders gemeint. Ich wollte nur sagen, daß sie mich gar zu sehr liebt, in einer maßlosen Weise, und daß sie dadurch sowohl mir als auch sich selbst das Leben schwer macht. Mein Vater aber wird mich nie betrügen, selbst wenn er es wollte. Ich lasse mich nicht betrügen. Er hat überhaupt nicht gesagt, daß sie eine Egoistin wäre, im schlimmen Sinn des Wortes; ich habe ihn ganz gut verstanden. Er hat alles genau so gesagt, wie ich es jetzt wiedergegeben habe: ihre Liebe zu mir sei so groß und übermäßig, daß sie geradezu zum Egoismus werde; sie mache dadurch sowohl mir als auch sich selbst das Leben schwer, und das werde später für mich noch schlimmer werden. Na, damit hat er doch die Wahrheit gesagt, aus Liebe zu mir, und darin liegt doch nichts Beleidigendes für Natascha; im Gegenteil hat er anerkannt, daß ihre Liebe sehr groß ist, ja übermäßig, geradezu sinnlos...«

Aber Katja unterbrach ihn und ließ ihn nicht zu Ende reden. Sie machte ihm heftige Vorwürfe und bewies ihm, daß sein Vater nur deswegen Natascha zuerst gelobt habe, um ihn durch seine scheinbare Güte zu täuschen, und nur in der Absicht, heimlich und unmerklich Aljoscha selbst gegen sie aufzuwiegeln und so ihre Verbindung zu zerreißen. Sie setzte ihm mit ebensoviel Wärme als Klugheit auseinander, daß Natascha ihn liebe, daß aber keine Liebe das verzeihen könne, was er ihr antue, und daß der wahre Egoist hierbei er selbst, Aljoscha, sei. Allmählich brachte Katja ihn in einen Zustand schrecklicher Traurigkeit und tiefer Reue; er saß mit niedergeschlagenen Augen und einer Märtyrermiene neben uns, gab keine Antworten mehr und schien völlig vernichtet zu sein. Aber Katja war unerbittlich. Ich betrachtete sie mit größter Spannung. Es war mein lebhafter Wunsch, dieses seltsame Mädchen sobald wie möglich kennenzulernen. Sie war noch vollständig Kind, aber ein merkwürdiges Kind mit bestimmten Ansichten, festen Grundsätzen und einer leidenschaftlichen angeborenen Liebe zum Guten und zur Gerechtigkeit. Wenn man sie wirklich noch ein Kind nennen konnte, so gehörte sie zu der Kategorie der denkenden Kinder, die in unseren Familien ziemlich zahlreich sind. Es war klar, daß sie schon viel nachgedacht hatte. Es mußte interessant sein, in dieses denkende Köpfchen hineinzublicken und zu sehen, wie sich dort rein kindliche Ideen und Vorstellungen mit ernsten, aus eigener Erfahrung gewonnenen Gefühlen und Lebensbeobachtungen (denn Katja hatte schon gelebt) mischten und zugleich auch mit Ideen, die ihr noch unverständlich waren und nicht ihrer Erfahrung entstammten, sondern ihr theoretisch, in Büchern, imponiert hatten; diese letzteren Ideen waren wahrscheinlich sehr zahlreich, und sie bildete sich wohl ein, durch eigene Erfahrung zu ihnen gelangt zu sein. Im Verlauf dieses ganzen Abends und in der Folgezeit habe ich, wie ich glaube, Katja ziemlich gut kennengelernt. Ihr Herz war leicht erregbar und den Affekten zugänglich. In manchen Fällen verschmähte sie gewissermaßen die Kunst der Selbstbeherrschung, stellte die Wahrheit über alles, hielt den gesamten Zwang des gesellschaftlichen Lebens für törichte konventionelle Form und war, wie es schien, auf diese Anschauung stolz, wie man das bei vielen temperamentvollen Menschen findet, sogar bei solchen, die über die Jahre der Jugend schon hinaus sind. Aber gerade das verlieh ihr einen besonderen Reiz. Sie liebte es sehr, nachzudenken und nach der Wahrheit zu forschen, verfuhr aber dabei so frei von aller Pedanterie und mit so kindlicher Munterkeit, daß man gleich beim ersten Blick dieses ihr originelles Benehmen nett fand und sich mit ihm aussöhnte. Ich dachte an Lew und Boris, und es schien mir, daß das alles durchaus in der Natur der Dinge liege. Und merkwürdig: ihr Gesicht, an dem ich beim ersten Blick nichts besonders Schönes wahrgenommen hatte, wurde gleich an diesem Abend mit jedem Augenblick für mich immer schöner und anziehender. Diese naive Verquickung von Kind und denkendem Weib, dieser kindliche und im höchsten Grad aufrichtige Durst nach Wahrheit und Gerechtigkeit und dieser unerschütterliche Glaube an den Erfolg des eigenen Strebens, all dies erleuchtete ihr Gesicht gleichsam von innen heraus mit einem schönen Licht und verlieh ihm eine hohe, geistige Schönheit, und man begriff, daß es einem nicht so schnell gelingen konnte, diese Schönheit, die sich nicht jedem gewöhnlichen, gleichgültigen Blick darbot, in ihrem ganzen Umfang und Inhalt zu erfassen. Und es wurde mir verständlich, daß Aljoscha sich zu ihr leidenschaftlich hingezogen fühlen mußte. Er, der nicht selbst denken und urteilen konnte, liebte gerade diejenigen, die für ihn dachten und dies sogar gern taten; Katja aber hatte ihn schon ganz unter ihre Vormundschaft genommen. Sein Herz war von unerschütterlichem Edelsinn und unterwarf sich allem, was ehrenhaft und schön war; Katja aber hatte schon mit all der Offenheit, die eine Folge ihres kindlichen Wesens und ihrer Sympathie mit ihm war, ihn in ihren Gesprächen vieles von ihrer Seele sehen lassen. Er besaß nicht eine Spur von eigener Willenskraft; sie dagegen hatte einen sehr energischen, kräftigen, feurig aufflammenden Willen; Aljoscha aber konnte sich nur an jemand anschließen, der imstande war, ihn zu beherrschen und ihm geradezu zu befehlen. Dies war es auch zum Teil gewesen, was ihn in der ersten Zeit seiner Verbindung mit Natascha an diese gefesselt hatte; aber Katja hatte etwas sehr Wesentliches vor Natascha voraus: sie war selbst noch Kind, und es war zu erwarten, daß sie noch lange Kind bleiben würde. Diese ihre Kindlichkeit, ihr klarer Verstand und gleichzeitig ein gewisser Mangel an Urteilskraft, alle diese Momente machten sie zu Aljoschas Geistesverwandter. Er fühlte das, und daher übte Katerina auf ihn eine immer stärker werdende Anziehungskraft aus. Ich bin überzeugt, daß, wenn sie miteinander unter vier Augen sprachen, sie neben ernsten Auseinandersetzungen Katjas über »Propaganda« sich auch manchmal über Spielsachen unterhielten. Und obgleich Katja ihn wahrscheinlich sehr oft abkanzelte und ihn schon ganz in ihrer Botmäßigkeit hielt, so fühlte er sich im Verkehr mit ihr doch behaglicher als mit Natascha. Sie waren gleichartiger, und das war die Hauptsache. »Hör auf, Katja, hör auf; genug davon; das Resultat ist immer, daß du recht hast und ich unrecht. Das kommt daher, daß deine Seele reiner ist als die meine«, sagte Aljoscha, indem er aufstand und ihr zum Abschied die Hand reichte. »Ich will sofort zu ihr, ohne erst zu Lew zu fahren.«

»Bei Lew hast du auch gar nichts zu tun; daß du aber jetzt folgsam bist und zu ihr fährst, das ist sehr liebenswürdig von dir.«

»Und du bist tausendmal liebenswürdiger als alle«, antwortete Aljoscha betrübt. »Iwan Petrowitsoh, ich möchte noch ein paar Worte mit Ihnen reden.« Wir traten einige Schritte zur Seite.

»Ich habe mich heute unwürdig benommen«, flüsterte er mir zu; »ich habe mich gemein betragen; ich muß mich vor allen Menschen der Welt schämen und habe mich am allermeisten gegen die beiden vergangen. Heute nach dem Mittagessen machte mich mein Vater mit Mademoiselle Alexandrine bekannt, einer Französin, einem entzückenden Weib. Ich... ließ mich hinreißen und... nun, was soll ich noch weiter sagen, ich bin nicht mehr wert, mit ihnen zu verkehren... Leben Sie wohl, Iwan Petrowitsch!«

»Er ist ein guter, edel denkender Mensch«, sagte Katja eilig, als ich mich wieder zu ihr setzte; »aber über ihn werden wir später noch viel zu sprechen haben; jetzt müssen wir uns vor allen Dingen über einen Punkt einigen: wie denken Sie über den Fürsten?«

»Ich halte ihn für einen sehr schlechten Menschen.«

»Ich ebenfalls. Also sind wir darin einer Meinung; dadurch werden uns die weiteren Erörterungen erleichtert werden. Nun zu Natalja Nikolajewna!... Wissen Sie, Iwan Petrowitsch, ich sitze hier sozusagen im Dunkeln und habe auf Sie gewartet wie auf das Licht. Sie müssen mir das alles erklären; denn gerade in diesem Hauptpunkt beruht mein Urteil nur auf Mutmaßungen, auf dem, was mir Aljoscha erzählt hat. Und außer ihm hatte ich bisher niemand, von dem ich hätte etwas erfahren können. Sagen Sie erstens (und das ist die Hauptsache), wie denken Sie darüber: werden Aljoscha und Natascha miteinander glücklich sein? Das muß ich vor allen Dingen wissen, um mir ein endgültiges Urteil zu bilden; erst dann werde ich wissen, wie ich selbst zu handeln habe.«

»Wie kann man aber das mit Sicherheit sagen?«

»Mit Sicherheit kann man es natürlich nicht sagen«, unterbrach sie mich. »Aber was ist Ihre Ansicht? Denn Sie sind ein sehr verständiger Mensch.«

»Meiner Ansicht nach können sie miteinander nicht glücklich sein.«

»Warum denn nicht?«

»Sie sind nicht gleichartig.«

»Das hatte ich mir doch gedacht!« Sie faltete wie in tiefem Kummer die Hände.

»Setzen Sie mir das eingehender auseinander! Hören Sie: Ich möchte schrecklich gern mit Natascha zusammenkommen; denn ich habe mit ihr vieles zu besprechen und meine, daß wir beide, sie und ich, für alle schwebenden Fragen die richtige Lösung finden werden. Jetzt aber muß ich mir immer nur so im Kopf ein Bild von ihr machen: sie ist gewiß furchtbar klug, ernst, wahrheitsliebend und schön. Nicht wahr?« »Ja.«

»Davon bin ich überzeugt gewesen. Nun aber, wenn sie so ist, wie hat sie denn Aljoscha, einen solchen Knaben, liebgewinnen können? Das erklären Sie mir! Ich denke oft darüber nach.«

»Das läßt sich nicht erklären, Katerina Fjodorowna; es ist schwer, zu verstehen, warum und wie jemand einen anderen liebgewinnen kann. Ja, er ist ein Kind. Aber wissen Sie wohl, daß man auch ein Kind liebgewinnen kann?« (Das Herz wurde mir ganz weich, während ich sie so ansah und ihr in die Augen blickte, die unverwandt mit tiefer, ernster, ungeduldiger Aufmerksamkeit auf mich gerichtet waren.) »Und je weniger Ähnlichkeit Natascha selbst mit einem Kind hat«, fuhr ich fort, »je ernster sie ist, um so eher konnte sie ihn liebgewinnen. Er ist wahrheitsliebend, aufrichtig, schrecklich naiv und manchmal in seiner Naivität allerliebst. Vielleicht hat sie ihn... wie soll ich mich ausdrücken?... vielleicht hat sie ihn sozusagen aus Mitleid liebgewonnen. Ein hochgesinntes Herz kann jemanden aus Mitleid liebgewinnen... Ich fühle jedoch, daß ich nicht imstande bin, Ihnen in dieser Hinsicht etwas zu erklären; statt dessen möchte ich an Sie selbst die Frage richten: Sie lieben ihn ja doch?« Ich stellte ihr kühn diese Frage und fühlte, daß ich durch die Eilfertigkeit derselben die völlige, kindliche Reinheit ihrer klaren Seele nicht trüben konnte. »Ich weiß es wirklich noch nicht«, antwortete sie mir leise, indem sie mir mit hellem Blick in die Augen sah; »aber ich glaube, ich liebe ihn sehr...« »Nun, also sehen Sie! Können Sie aber auseinandersetzen, warum Sie ihn lieben?«

»Er ist ohne Falsch«, antwortete sie nach einigem Nachdenken. »Und wenn er mir gerade in die Augen blickt und dabei redet, so gefällt mir das... Hören Sie, Iwan Petrowitsch, da rede ich nun mit Ihnen davon, und ich bin ein Mädchen und Sie ein Mann: ist das nun gut von mir gehandelt oder schlecht?«

»Was kann denn daran schlecht sein?«

»Das meine ich auch. Gewiß, was kann daran schlecht sein? Aber die da« (sie deutete mit den Augen nach der Gruppe hin, die um den Samowar saß), »die würden gewiß sagen, es sei schlecht. Haben sie nun recht oder unrecht?«

»Unrecht! Da Sie in Ihrem Herzen nicht das Gefühl haben, schlecht zu handeln, so...«

»Ja, so mache ich es immer«, unterbrach sie mich; sie hatte es offenbar eilig, da sie noch recht vieles mit mir besprechen wollte. »Sobald ich über irgend etwas im unklaren bin, befrage ich sogleich mein Herz, und wenn das ruhig ist, dann bin ich auch selbst ruhig. So muß man es immer machen. Und mit Ihnen rede ich deshalb so ganz offen, als ob ich mit mir selbst spräche, weil Sie erstens ein prächtiger Mensch sind und ich von Ihren früheren Beziehungen zu Natasche weiß, vor dem Verhältnis mit Aljoscha, und ich habe geweint, als ich es hörte.«

»Wer hat Ihnen denn das erzählt?«

»Natürlich Aljoscha, und er weinte selbst dabei: das war sehr gut von ihm und gefiel mir sehr. Mir scheint, daß er Sie mehr liebt als Sie ihn, Iwan Petrowitsch. Sehen Sie, durch solche Züge hat er mir eben gefallen. Nun, und zweitens rede ich mit Ihnen deshalb so aufrichtig wie mit mir selbst, weil Sie ein sehr kluger Mensch sind und mir viele gute Ratschläge geben und mich belehren können.«

»Woher wissen Sie denn, daß ich so klug bin, Sie belehren zu können?«

»Ach, was ist das für eine Frage!«

Sie dachte nach.

»Ich habe ja davon nur so nebenbei angefangen zu reden; lassen Sie uns nun von der Hauptsache sprechen! Belehren Sie mich, Iwan Petrowitsch: Sehen Sie, ich fühle jetzt, daß ich Nataschas Nebenbuhlerin bin; ich weiß das; wie soll ich nun handeln? Aus diesem Grund habe ich Sie auch gefragt, ob die beiden miteinander glücklich sein werden. Ich denke darüber Tag und Nacht nach. Nataschas Lage ist schrecklich, ganz schrecklich! Er hat ja ganz aufgehört, sie zu lieben, und mich liebt er von Tag zu Tag mehr. Es ist doch so ?«

»Es scheint allerdings so.«

»Und dabei betrügt er sie nicht. Er weiß selbst nicht, daß er aufhört, sie zu Heben; sie aber weiß es sicherlich. Welche Qualen mag sie da ausstehen!«

»Was wollen Sie nun tun, Katerina Fjodorowna?«

»Ich habe eine ganze Menge Pläne«, antwortete sie ernst, »bin aber in großer Verwirrung. Eben deswegen habe ich Sie mit solcher Ungeduld erwartet, damit Sie mir alle diese Zweifel lösen. Sie kennen die ganze Angelegenheit weit besser als ich. Sie sind für mich jetzt sozusagen ein Gott. Hören Sie, am Anfang hatte ich so gedacht: ›Wenn sie einander lieben, so ist es recht und billig, daß sie glücklich werden, und daher muß ich mich zum Opfer bringen und ihnen helfen.‹ So ist es doch?«

»Ich weiß, daß Sie sich zum Opfer gebracht haben.«

»Ja, ich habe mich zum Opfer gebracht; aber dann später, als er anfing, häufiger zu mir zu kommen und mich immer mehr zu lieben, da wurde ich nachdenklich und denke nun immer: »Soll ich mich zum Opfer bringen oder nicht?« Das ist doch sehr schlecht von mir, nicht wahr?«

»Es ist nur natürlich«, erwiderte ich; »es muß so sein... und Sie tragen keine Schuld.«

»Ich bin doch anderer Ansicht; Sie sagen das nur, weil Sie so gut sind. Ich meine aber, daß mein Herz nicht ganz rein ist. Wäre mein Herz rein, so würde ich wissen, wofür ich mich zu entscheiden habe. Aber lassen wir das! Darauf habe ich etwas mehr über ihre gegenseitigen Beziehungen gehört, vom Fürsten, von Mama, von Aljoscha selbst, und habe herausgefühlt, daß sie nicht zueinander passen; und Sie bestätigen mir das jetzt. Da habe ich nun weiter überlegt: »Wie soll ich mich jetzt verhalten?« Denn wenn zu erwarten ist, daß sie miteinander unglücklich sein werden, so ist es für sie das beste, sich zu trennen; und darauf habe ich mir vorgenommen, Sie recht genau nach allem zu befragen und selbst zu Natascha zu fahren und mit ihr die ganze Sache zu erledigen.«

»Aber wie zu erledigen, das ist die Frage.«

»Ich will zu ihr sagen: »Sie lieben ihn ja über alles; daher müssen Sie auch sein Glück höherstellen als das Ihrige; folglich müssen Sie sich von ihm trennen.«

»Ja, aber was meinen Sie, wie sie das aufnehmen wird? Und wenn sie Ihnen zustimmt, wird sie imstande sein, es auszuführen?«

»Das ist's gerade, worüber ich Tag und Nacht nachdenke, und... und...«

Sie brach plötzlich in Tränen aus.

»Sie glauben gar nicht, wie leid mir Natascha tut«, flüsterte sie mit zuckenden Lippen.

Ich hatte nichts weiter hinzuzufügen. Ich schwieg und hätte, wie ich sie so ansah, am liebsten selbst losgeweint, nicht aus Schmerz, sondern aus einer Art von Liebe. Was war sie für ein liebes, liebes Kind! Ich fragte sie nicht, weshalb sie denn sich selbst für fähig halte, Aljoscha glücklich zu machen.

»Lieben Sie Musik?« fragte sie, nachdem sie sich einigermaßen beruhigt hatte, aber noch wehmütig von den soeben vergossenen Tränen.

»O ja«, antwortete ich etwas verwundert.

»Wenn wir Zeit hätten, würde ich Ihnen das dritte Konzert von Beethoven vorspielen. Ich spiele es jetzt. Darin sind alle diese Gefühle ausgedrückt... ganz genau so, wie ich sie jetzt empfinde. So scheint es mir wenigstens. Aber das müssen wir auf ein andermal verschieben; jetzt haben wir noch miteinander zu reden.«

Wir berieten nun darüber, wie ihre geplante Begegnung mit Natascha ins Werk zu setzen sei. Sie teilte mir mit, daß sie streng gehalten werde; wiewohl ihre Stiefmutter gut sei und sie hebe, werde sie ihr doch unter keinen Umständen erlauben, Natalja Nikolajewnas Bekanntschaft zu machen; daher habe sie sich zur Anwendung einer List entschlossen. Vormittags fahre sie manchmal spazieren, aber fast immer mit der Gräfin zusammen. Mitunter jedoch fahre die Gräfin nicht mit, sondern lasse sie mit der Französin allein fahren, die jetzt krank sei. Das geschehe, wenn die Gräfin Kopfschmerzen habe, und daher müsse man abwarten, bis die Kopfschmerzen sich wieder einmal einstellten. Bis dahin aber werde es ihr schon gelingen, ihre Französin (eine alte Dame, so eine Art von Gesellschafterin) auf ihre Seite zu bringen; denn diese Französin sei eine herzensgute Person. Als Resultat ergab sich, daß es schlechterdings unmöglich sei, im voraus den Tag zu bestimmen, an dem der Besuch bei Natascha stattfinden solle.

»Sie werden es nicht bereuen, Nataschas Bekanntschaft gemacht zu haben«, sagte ich. »Sie wünscht selbst lebhaft, Sie kennenzulernen, und das ist auch nötig, schon damit sie weiß, wem sie ihren Aljoscha übergibt. Grämen Sie sich über diese ganze Angelegenheit nicht zu sehr. Die Zeit wird auch ohne Ihre Sorgen die Lösung bringen. Sie fahren ja doch aufs Land?«

»Ja, bald, vielleicht in einem Monat«, antwortete sie; »und ich weiß, daß der Fürst darauf bestehen wird.«

»Was meinen Sie, wird Aljoscha mit Ihnen fahren?«

»Sehen Sie, daran hatte ich soeben auch gedacht!« sagte sie, mich unverwandt anblickend. »Glauben Sie nicht, daß er mitkommen wird?«

»Ganz bestimmt.«

»Mein Gott, was aus alledem noch werden wird, das weiß ich nicht! Hören Sie, Iwan Petrowitsch, ich werde Ihnen von allem, was vorfällt, schreiben; ich werde Ihnen oft und viel schreiben. Ich bin nun einmal Ihr Quälgeist geworden. Werden Sie vorher noch oft zu uns kommen?«

»Das weiß ich nicht, Katerina Fjodorowna; das wird von den Umständen abhängen. Vielleicht werde ich überhaupt nicht wieder herkommen.«

»Warum denn nicht?«

»Das können verschiedene Ursachen bewirken, besonders meine Beziehungen zum Fürsten.«

»Er ist ein unehrlicher Mensch!« erwiderte Katja in entschiedenem Ton. »Aber wissen Sie, Iwan Petrowitsch, wie wär's, wenn ich zu Ihnen käme? Würde das von mir gut gehandelt sein oder nicht?«

»Wie denken Sie selbst darüber?«

»Ich glaube, gut. Ich käme einfach so gelegentlich zu Ihnen hin...« fügte sie lächelnd hinzu. »Ich sage das, weil ich Sie nicht nur hochschätze, sondern auch sehr gern habe... Und ich kann von Ihnen vieles lernen. Und ich habe Sie sehr gern... Ich brauche mich doch nicht darüber zu schämen, daß ich so zu Ihnen spreche?«

»Was gibt's da zu schämen? Auch Sie sind mir heb und wert wie eine nahe Verwandte.«

»Sie wollen also mein Freund sein?«

»Das will ich, gewiß!« antwortete ich.

»Nun, die da würden bestimmt sagen, daß ich mich schämen müsse und daß sich ein junges Mädchen nicht so benehmen dürfe«, bemerkte sie, indem sie wieder mit den Augen nach der Gesellschaft am Teetisch hindeutete.

Ich schiebe hier die Bemerkung ein, daß der Fürst uns anscheinend absichtlich allein ließ, damit wir uns nach Belieben miteinander aussprechen könnten.

»Ich weiß ja sehr gut«, fügte sie hinzu, »der Fürst hat es auf mein Geld abgesehen. Von mir glauben sie, daß ich noch ein vollständiges Kind sei, und sagen mir das sogar geradezu. Ich jedoch glaube das nicht. Ich bin kein Kind mehr. Sie sind sonderbare Menschen; sie sind ja selbst wie Kinder; wozu machen sie sich nur soviel Mühe und Sorge?«

»Katerina Fjodorowna, ich wollte Sie noch fragen: was sind das für Leute, Lew und Boris, die Aljoscha so oft besucht?«

»Es sind entfernte Verwandte von mir. Sie sind sehr kluge und sehr ehrenhafte Menschen; aber sie reden furchtbar viel... Ich kenne sie genau...«

Sie lächelte.

»Ist es wahr, daß Sie ihnen zu gegebener Zeit eine Million schenken wollen?«

»Nun, sehen Sie, zum Beispiel gleich diese Million! Da schwatzen sie nun schon so viel von ihr, daß es gar nicht mehr zu ertragen ist. Gewiß, ich gebe mit Freuden für alle nützlichen Zwecke etwas her; wozu hat man denn sonst das viele Geld, nicht wahr? Vorläufig jedoch bin ich ja noch gar nicht in der Lage, etwas herzugeben; sie aber verteilen es jetzt schon und überlegen und schreien und disputieren über die beste Verwendung und zanken sich sogar deswegen; es ist ein ganz wunderliches Benehmen. Sie haben es gar zu eilig. Aber doch sind sie so offenherzige und... verständige Menschen. Sie lernen fleißig. Das ist immer besser als die Art, in der manche anderen leben. Nicht wahr?«

So sprachen wir noch über vieles miteinander. Sie erzählte mir beinahe ihre ganze Lebensgeschichte und hörte mit lebhaftem Interesse meine Erzählungen an. Immer verlangte sie, ich solle ihr noch mehr von Natascha und Aljoscha erzählen. Es war schon zwölf Uhr, als der Fürst zu mir trat und mir zu verstehen gab, daß es Zeit sei aufzubrechen. Ich empfahl mich. Katja drückte mir herzlich die Hand und sah mich bedeutsam an. Die Gräfin bat mich, meinen Besuch zu wiederholen; ich ging mit dem Fürsten zusammen hinaus.

Ich kann mich nicht enthalten, eine seltsame und vielleicht gar nicht zur Sache gehörige Bemerkung hier herzusetzen. Aus meinem dreistündigen Gespräch mit Katja hatte ich unter anderem die wunderliche, aber zugleich feste Überzeugung gewonnen, daß sie noch bis zu dem Grad völlig Kind war, daß sie von den besonderen Beziehungen zwischen Mann und Frau keine Kenntnis besaß. Manchen ihrer Darlegungen und überhaupt dem ernsten Ton, mit dem sie über viele sehr wichtige Dinge sprach, verlieh das eine unfreiwillige Komik.

Zehntes Kapitel

»Wissen Sie was?« sagte der Fürst zu mir, als er sich mit mir in den Wagen setzte, »wie wär's, wenn wir jetzt soupierten? Wie denken Sie darüber?«

»Ich weiß wirklich nicht, Fürst«, antwortete ich unentschlossen. »Ich esse nie zu Abend...«

»Nun, selbstverständlich wollen wir beim Abendessen auch miteinander reden«, fügte er hinzu, indem er mir unverwandt und listig gerade in die Augen sah.

Das war nicht mißzuverstehen! »Er will sich mit mir aussprechen« dachte ich; »und mir ist das gerade sehr erwünschte.« Ich willigte ein.

»Also abgemacht. Nach der Großen Morskaja zu B.!«

»Ein Restaurant?« fragte ich, etwas unangenehm berührt.

»Ja. Was ist dabei? Ich soupiere nur selten zu Hause. Erlauben Sie mir denn nicht, Sie einzuladen?«

»Aber ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß ich nie zu Abend esse.«

»Nun, einmal können Sie schon eine Ausnahme machen. Überdies lade ich Sie ja ein...«

Das hieß: ›Ich werde für dich bezahlen‹; ich war überzeugt, daß er das absichtlich hinzufügte. Ich ließ mich von ihm mitnehmen, nahm mir aber vor, im Restaurant für mich selbst zu bezahlen. Wir kamen hin. Der Fürst nahm ein besonderes Zimmer und wählte mit Geschmack und Sachkenntnis zwei, drei Gerichte aus. Diese Gerichte waren teuer, ebenso wie die Flasche seinen Tischweines, die er bringen ließ. All das paßte nicht für mein Portemonnaie. Ich warf einen Blick auf die Karte und bestellte mir ein halbes Haselhuhn und ein Glas Lafitte. Der Fürst war entrüstet.

»Sie wollen nicht mit mir soupieren! Das ist ja geradezu lächerlich. Pardon, mon ami; aber das ist... eine empörende Pedanterie. Das ist eine ganz kleinliche Eigenliebe. Es scheint fast, als ob da die Standesinteressen ins Spiel kämen; ich möchte darauf wetten, daß es der Fall ist. Ich versichere Ihnen, daß Sie mich beleidigen.«

Aber ich bestand auf meinem Willen.

»Nun, wie Sie wollen«, sagte er. »Ich will Sie nicht nötigen... Sagen Sie, Iwan Petrowitsch, kann ich mit Ihnen ganz freundschaftlich reden?«

»Ich bitte darum.«

»Nun also, meiner Ansicht nach schaden Sie durch eine solche Pedanterie sich selbst. In derselben Weise schaden sich auch alle Ihre Berufsgenossen. Sie sind Schriftsteller und müssen dazu die Welt kennen; aber Sie ziehen sich von allem zurück. Ich rede jetzt nicht von Haselhühnern; aber Ihr Streben geht ja dahin, jede Berührung mit unseren Kreisen vollständig zu vermeiden, und das ist entschieden nachteilig. Ganz abgesehen davon, daß Sie in materieller Hinsicht viel verlieren (ich meine die Karriere), ist doch schon zu erwägen, daß Sie das, was Sie schildern wollen, kennenlernen müssen, und in den Novellen kommen doch auch Grafen und Fürsten und Boudoirs vor... Aber was rede ich da! Bei euch neueren Schriftstellern ist ja immer nur die Rede von Armut, von verlorenen Mänteln, von Revisoren, von hitzigen Offizieren und Beamten, von alten Zeiten und vom Sektiererwesen, ich weiß, ich weiß...«

»Sie irren sich, Fürst; wenn ich mich von Ihren sogenannten höheren Kreisen fernhalte, so tue ich das deswegen, weil es erstens dort langweilig ist und ich zweitens da nichts zu suchen habe! Indessen verkehre ich doch...«

»Ich weiß, bei dem Fürsten R., einmal im Jahr; da habe ich Sie ja auch getroffen. Die übrige Zeit hindurch aber versteifen Sie sich auf Ihren demokratischen Stolz und führen ein kümmerliches Dasein in Ihrer Dachstube. Allerdings handeln nicht alle Ihre Kollegen so; es gibt darunter Liebhaber von solchen Abenteuern, daß selbst mir davon übel wird...«

»Ich möchte Sie bitten, Fürst, dieses Thema zu verlassen und nicht wieder auf unsere Dachstuben zurückzukommen.«

»Ach, mein Gott, sehen Sie, da fühlen Sie sich schon beleidigt. Übrigens hatten Sie mir doch selbst erlaubt, mit Ihnen freundschaftlich zu reden. Aber Pardon, ich habe Ihre Freundschaft noch durch nichts verdient. Der Wein ist recht trinkbar. Versuchen Sie ihn doch!«

Er goß mir ein halbes Glas aus seiner Flasche ein.

»Sehen Sie wohl, mein lieber Iwan Petrowitsch, ich begreife ja sehr wohl, daß es unschicklich ist, jemandem seine Freundschaft aufzudrängen; wir sind ja nicht alte dreist und unverschämt gegen Sie, wie Sie das von uns glauben. Na, ich begreife ferner sehr wohl, daß Sie hier mit mir zusammen sitzen, nicht weil ich Ihnen sympathisch wäre, sondern weil ich versprochen habe, mich mit Ihnen auszusprechen. Nicht wahr?«

Er lachte.

»Und da Sie die Interessen einer gewissen Person wahrnehmen, so möchten Sie gern hören, was ich Ihnen sagen will. Ist es nicht so?« fügte er mit einem boshaften Lächeln hinzu.

»Sie haben sich nicht geirrt«, unterbrach ich ihn ungeduldig. (Ich merkte, daß er zur Kategorie derjenigen gehörte, die, wenn sie einen Menschen auch nur ein wenig in ihrer Gewalt haben, ihn dies sofort fühlen lassen. Ich aber befand mich in seiner Gewalt; ich konnte nicht weggehen, ehe ich nicht alles gehört hatte, was er mir zu sagen beabsichtigte, und er wußte das recht gut. Sein Ton hatte sich rasch geändert und war immer dreister, familiärer und spöttischer geworden.) »Sie haben sich nicht geirrt, Fürst; eben deswegen bin ich mitgekommen; sonst säße ich wahrhaftig hier nicht... noch so spät.«

Ich hatte sagen wollen: »Sonst säße ich wahrhaftig hier nicht mit Ihnen zusammen«; aber ich sagte es nicht und gab dem Satz eine andere Wendung, nicht aus Furcht, sondern infolge meiner verdammten Schwäche und meines nichtswürdigen Zartgefühls. In der Tat, ich bringe es nicht fertig, jemandem eine Grobheit gerade ins Gesicht zu sagen, wenn er es auch verdient und wenn ich auch faktisch beabsichtigt habe, ihm eine Grobheit zu sagen. Ich glaube, der Fürst merkte das am Ausdruck meiner Augen und blickte mich während meiner ganzen letzten Antwort spöttisch an, wie wenn er sich über meine Schwachmütigkeit freute und mich mit seinem Blick reizen wollte: »Siehst du wohl, du hast es nicht gewagt; du hast es mit der Angst bekommen, ja, ja, Freundchen!« So war es sicherlich; denn als ich schloß, fing er an zu kichern und klopfte mir mit gönnerhafter Freundlichkeit auf das Knie.

»Ich muß über dich lachen, Freundchen!« las ich in seinem Blick. − »Warte nur!« dachte ich im stillen.

»Ich bin heute sehr vergnügt!« rief er; »und wirklich, ich weiß nicht, warum. Ja, ja, mein Freund, ja! Gerade über diese Person wollte ich mit Ihnen reden. Man muß sich doch einmal gründlich aussprechen und zu einem Resultat gelangen, und ich hoffe, daß Sie mich diesmal vollständig verstehen werden. Ich begann vorhin, mit Ihnen von diesem Geld und dieser Schlafmütze von Vater, dem sechzigjährigen Säugling, zu reden... Na, es ist nicht der Mühe wert, noch einmal davon zu sprechen. Ich habe es ja nur im Scherz gesagt! Hahaha, Sie als Schriftsteller mußten das doch merken...«

Ich sah ihn erstaunt an. Betrunken schien er noch nicht zu sein.

»Nun, aber was dieses Mädchen anbelangt, so habe ich wirklich vor ihr, alle Hochachtung; ich liebe sie sogar, versichere ich Sie. Sie ist ein bißchen launisch; aber »keine Rose ohne Dornen«, wie man vor fünfzig Jahren zu sagen pflegte, und das ist ein schöner Spruch: die Dornen stechen zwar, aber gerade das ist das Reizvolle; und obgleich mein Aljoscha ein Dummkopf ist, habe ich ihm doch schon teilweise verziehen − wegen seines guten Geschmacks. Kurz, solche Mädchen gefallen mir, und ich habe« (er kniff vielsagend die Lippen zusammen) »sogar meine besonderen Absichten...Nun, davon später!...«

»Fürst, hören Sie, Fürst!« rief ich. »Ich verstehe diesen raschen Wechsel Ihrer Anschauungen nicht; aber... verlassen Sie dieses Thema; ich bitte Sie darum.«

»Sie werden wieder hitzig! Nun gut... ich werde dieses Thema verlassen! Nur eins möchte ich Sie fragen, mein lieber Freund: schätzen Sie sie sehr hoch?«

»Selbstverständlich!« antwortete ich in grobem, ungeduldigem Ton.

»Na, und lieben Sie sie auch?« fuhr er fort; er fletschte in widerwärtiger Weise die Zähne und kniff die Augen zusammen.

»Sie vergessen sich!« rief ich.

»Nun, nun, ich werde es nicht wieder tun! Beruhigen Sie sich! Ich bin heute in wunderbar guter Laune. Ich bin so vergnügt wie lange nicht. Wollen wir nicht Champagner trinken? Wie denken Sie darüber, mein lieber Poet?«

»Ich werde nicht mittrinken; ich will nicht!«

»Ach was, reden Sie nicht! Sie müssen mir heute unbedingt Gesellschaft leisten. Ich fühle mich sehr wohl, und da ich ein bis zur Sentimentalität gutherziger Mensch bin, so kann ich nicht allein glücklich sein. Wer weiß, wir kommen vielleicht noch dahin, miteinander Brüderschaft zu trinken, hahaha! Nein, mein junger Freund, Sie kennen mich noch nicht! Ich bin davon überzeugt, daß Sie mich liebgewinnen werden. Ich will, daß Sie heute Leid und Freude, Frohsinn und Tränen mit mir teilen, wiewohl ich hoffe, daß wenigstens ich für meine Person nicht weinen werde. Nun, wie ist's, Iwan Petrowitsch? Bedenken Sie nur, daß, wenn Sie mir nicht den Willen tun, meine ganze gehobene Stimmung vergeht, verschwindet, verfliegt und Sie nichts zu hören bekommen; na, und Sie sind doch einzig und allein zu dem Zweck hier, um etwas zu hören. Nicht wahr?« fügte er hinzu und blinzelte mir dabei wieder unverschämt zu. »Nun, dann wählen Sie also!«

Die Drohung war schwerwiegend. Ich willigte ein. »Ob er mich betrunken machen will?« dachte ich. Hier dürfte es am Platze sein, ein Gerücht über den Fürsten zu erwähnen, das mir schon vor längerer Zeit zu Ohren gekommen war. Es hieß von ihm, er, der in Gesellschaft immer so sein und elegant auftrat, liebe es, sich manchmal nachts zu betrinken, sich stierartig zu betrinken und dann geheime Orgien zu feiern, garstige geheime Orgien... Ich hatte schändliche Dinge über ihn gehört. Aljoscha wußte, wie man sagte, davon, daß sein Vater manchmal trinke, bemühte sich aber, dies vor allen und namentlich vor Natascha geheimzuhalten. Einmal verplapperte er sich im Gespräch mit mir, brach aber sofort ab und gab auf meine Fragen keine Antwort. Übrigens hatte ich vorher das, was ich von anderen gehört hatte, offen gestanden, nicht geglaubt. Jetzt nun wartete ich, was da kommen werde.

Der Wein wurde gebracht; der Fürst goß zwei Gläser ein, für sich und für mich.

»Ein reizendes, ganz reizendes Mädchen, wenn sie mich auch ausgescholten hat!« fuhr er fort und kostete mit Genuß den Wein; »aber gerade dann, in solchen Augenblicken, sind diese reizenden Geschöpfe besonders reizend... Sie hat gewiß gedacht, sie hätte mich dazu gebracht, mich zu schämen, Sie erinnern sich, an jenem Abend, und sie hätte mich in Grund und Boden geschmettert. Hahaha! Und wie gut ihr das Erröten steht! Sind Sie Weiberkenner? Manchmal steht ein plötzliches Erröten blassen Wangen ausgezeichnet; haben Sie das schon bemerkt? Ach, mein Gott! Es scheint, Sie ärgern sich schon wieder?«

»Ja, ich ärgere mich!« rief ich, ohne mir länger Zwang aufzuerlegen; »und ich will nicht, daß Sie jetzt von Natalja Nikolajewna sprechen... Das heißt, nicht in diesem Ton. Ich... ich erlaube Ihnen das nicht!«

»Oho! Nun, meinetwegen, ich werde Ihnen das Vergnügen machen und das Thema wechseln. Ich bin ja nachgiebig und weich wie Teig. Wir wollen von Ihnen reden. Ich habe Sie sehr gern, Iwan Petrowitsch; wenn Sie wüßten, wie freundschaftlich und aufrichtig ich mich für Sie interessiere!«

»Fürst, wäre es nicht besser, wenn Sie sachlich redeten?« unterbrach ich ihn. »Das heißt von unserer Sache, wollen Sie sagen. Ich verstehe Sie auf eine bloße Andeutung hin, mon ami; aber Sie ahnen gar nicht, wie nahe wir die Sache berühren, wenn wir jetzt von Ihnen sprechen, und selbstverständlich, wenn Sie mich nicht unterbrechen. Also, ich fahre fort: ich wollte Ihnen sagen, mein wertester Iwan Petrowitsch, daß ein Leben, wie Sie es führen, einfach Selbstmord ist. Gestatten Sie mir, diesen delikaten Gegenstand zu berühren; ich tue es aus Freundschaft. Sie sind arm; Sie lassen sich von Ihrem Verleger Vorschüsse geben, bezahlen davon Ihre kleinen Schulden, nähren sich für den Rest ein halbes Jahr lang nur von Tee und frieren in Ihrer Dachstube, bis Ihr Roman in dem Journal Ihres Verlegers erscheint. Ist's nicht so?«

»Mag es auch so sein, so ist das doch...«

»Ehrenwerter als zu stehlen, Bücklinge zu machen, sich bestechen zu lassen, zu intrigieren und so weiter und so weiter. Ich weiß, ich weiß, was Sie sagen wollen; das ist alles schon längst gedruckt.«

»Folglich haben Sie gar keinen Anlaß, über meine Lebensweise zu reden. Muß ich Sie wirklich erst taktvolles Benehmen lehren, Fürst?«

»Nun, Sie, lieber Freund, brauchen das allerdings nicht zu tun. Aber was ist zu machen, wenn wir gerade diese zarte Saite berühren müssen? Umgehen läßt es sich nicht. Na, dann wollen wir die Dachstuben in Ruhe lassen. Ich bin auch selbst kein Liebhaber von Dachstuben, außer in gewissen Fällen« (er kicherte in widerwärtiger Weise). »Aber über eines muß ich mich wundern: was haben Sie für eine wunderliche Passion, die zweite Rolle zu spielen? Es hat ja freilich ein Schriftsteller, ein Berufsgenosse von Ihnen, irgendwo, wie ich mich erinnere, gesagt, es sei vielleicht die größte Tat, die ein Mensch vollbringen könne, wenn er es verstehe, sich im Leben mit der zweiten Rolle zu begnügen. So ungefähr lautete es. Ich habe denselben Gedanken auch schon irgendwo gesprächsweise erörtern gehört. Aljoscha hat Ihnen doch die Braut abspenstig gemacht, das weiß ich; aber Sie quälen sich wie so ein Schiller für die beiden ab und leisten ihnen alle möglichen Dienste und machen bei ihnen fast den Laufburschen... Nehmen Sie es mir nicht übel, mein Lieber; aber das ist doch ein garstiges Spiel mit hochherzigen Gefühlen... Daß Ihnen das nicht widerwärtig wird, wirklich! Sie sollten sich geradezu schämen! Ich glaube, ich würde mich an Ihrer Stelle totärgern, besonders aber mich schämen, schämen!«

»Fürst! Es scheint, Sie haben mich absichtlich hierhergeführt, um mich zu beleidigen!« rief ich, außer mir vor Wut.

»O nein, mein Freund, nein; ich bin in diesem Augenblick ganz einfach ein ruhig denkender Mensch und wünsche Ihr Bestes. Kurz gesagt, ich möchte die ganze Sache in Ordnung bringen. Aber lassen wir vorläufig die ›ganze Sache‹, und hören Sie mich bis zu Ende an; geben Sie sich Mühe, nicht hitzig zu werden, wenn auch nur für zwei Minuten. Nun, was meinen Sie, wie wär's, wenn Sie sich verheirateten? Sehen Sie, ich rede jetzt von einem vollständig abseits liegenden Gegenstand; warum sehen Sie mich denn so erstaunt an?«

»Ich warte, bis Sie ganz ausgesprochen haben werden«, antwortete ich; ich sah ihn allerdings sehr verwundert an.

»Es ist eigentlich weiter nichts zu sagen. Ich wollte nur wissen, was Sie sagen würden, wenn einer Ihrer Freunde, der Ihnen ein dauerhaftes, wahres Glück wünscht, nicht so ein flüchtiges, Ihnen ein junges, hübsches Mädchen vorschlüge, das aber... schon seine Erfahrungen gemacht hat; ich rede nur ganz im allgemeinen, aber Sie werden mich verstehen, ein Mädchen in der Art von Natalja Nikolajewna, selbstverständlich mit einer anständigen Kompensation... (beachten Sie wohl: ich rede von etwas Abseitsliegendem, nicht von unserer Angelegenheit); nun, was würden Sie dann sagen?«

»Ich antworte Ihnen, daß Sie... verrückt geworden sind.«

»Hahaha! Holla! Sie wollen mich wohl gar prügeln?« Ich war in der Tat nahe daran, mich auf ihn zu stürzen.

Ich konnte mich nicht länger beherrschen. Er machte mir den Eindruck eines ekelhaften Reptils, einer riesigen Spinne, und ich hatte die größte Lust, das garstige Geschöpf zu zertreten. Er fand sein Vergnügen daran, mich zu verspotten; er spielte mit mir wie die Katze mit der Maus, in der Voraussetzung, daß ich ganz in seiner Gewalt sei. Es schien mir (und ich hatte Verständnis dafür), daß er eine Art von Genuß, vielleicht sogar eine Art von Wollust bei seiner Frechheit, bei dieser Unverschämtheit, bei diesem Zynismus empfand, mit dem er sich endlich vor meinen Augen die Maske abriß. Er wollte sich an meinem Erstaunen, an meinem Schrecken werden. Er verachtete mich aufrichtig und machte sich über mich lustig.

Ich hatte schon von vornherein vermutet, daß dies alles vorher überlegt sei und er ein bestimmtes Ziel verfolge; aber ich befand mich in einer solchen Lage, daß ich ihn wohl oder übel bis zu Ende anhören mußte. Das lag in Nataschas Interesse, und ich mußte mich entschließen, alles zu ertragen, weil sich in diesem Augenblick vielleicht die ganze Sache entschied. Aber wie konnte ich diese zynischen, gemeinen Äußerungen über sie anhören, wie konnte ich sie kaltblütig ertragen? Überdies wußte er selbst sehr wohl, daß ich genötigt war, ihn anzuhören, und dadurch wurde die Beleidigung noch verschärft. ›Übrigens hat auch er mich nötig‹, dachte ich bei mir und begann, ihm in schroffem, feindseligem Ton zu antworten. Er verstand das.

»Hören Sie mal, mein junger Freund«, begann er, mich ernst anblickend, »so können wir beide nicht fortfahren, und daher tun wir besser, einen Vertrag miteinander abzuschließen. Sehen Sie, ich beabsichtige, Ihnen etwas mitzuteilen; na, da müssen Sie denn aber so liebenswürdig sein, ruhig alles anzuhören, was ich zu sagen habe. Ich möchte gern so reden, wie ich will und wie es mir gefällt, und eigentlich ist das ja auch das Richtige. Nun also, wie ist es, mein junger Freund, werden Sie Geduld haben?«

Ich überwand mich und schwieg, obwohl er mich mit einer solchen Miene höhnischen Spottes ansah, als ob er mich selbst zum schärfsten Protest herausfordern wollte. Aber er begriff, daß ich einwilligte dazubleiben, und fuhr fort:

»Ärgern Sie sich nicht über mich, mein Freund! Worüber sind Sie denn so böse geworden? Wegen einer Äußerlichkeit, nicht wahr? Sie haben ja doch, was den Kern der Sache anlangt, von mir nichts anderes erwartet, mochte ich nun so oder so mit Ihnen reden, mit parfümierter Höflichkeit oder so wie jetzt; der Inhalt würde doch immer derselbe sein. Sie verachten mich, nicht wahr? Aber sehen Sie, wieviel liebenswürdige Schlichtheit, Offenherzigkeit und Bonhomie in mir steckt! Ich bekenne Ihnen alles, sogar meine kindischen Launen. Ja, mon eher, ja, etwas mehr Bonhomie auch von Ihrer Seite, und wir werden uns in allen Punkten einigen und schließlich einander vollständig verstehen. Über mich aber wundern Sie sich, bitte, nicht! All diese Unschuldsspiele, diese ganze Idylle Aljoschas, diese ganze Schwärmerei à la Schiller, diese ganze Verstiegenheit bei dieser verdammten Liaison mit dieser Natascha (die übrigens ein sehr liebenswürdiges Mädchen ist) sind mir schließlich dermaßen zum Ekel geworden, daß ich mich sozusagen auf eine Gelegenheit freute, wo ich über all das mal ein kräftiges Wort würde sagen können. Na, diese Gelegenheit ist nun gekommen. Und überdies wollte ich Ihnen sowieso mein Herz ausschütten. Hahaha!«

»Sie setzen mich in Erstaunen, Fürst, und ich erkenne Sie gar nicht wieder. Sie verfallen in den Ton eines Hanswurstes; diese unerwartete Offenherzigkeit...«

»Hahaha! Das ist zum Teil richtig! Ein allerliebster Vergleich! Hahaha! Ich zeche heute, mein Freund, ich zeche heute; na, und da müssen Sie, mein lieber Poet, mir gegenüber schon eine weitgehende Nachsicht üben. Aber lassen Sie uns trinken!« rief er in höchst selbstzufriedenem Ton und füllte die Gläser nach. »Sehen Sie, mein Freund, schon allein jener dumme Abend bei Natascha (Sie erinnern sich) hat mich aufs äußerste aufgebracht. Allerdings, sie selbst war sehr liebenswürdig; aber ich verließ die Wohnung in einer schrecklichen Wut und will das nicht vergessen. Weder vergessen noch verbergen. Sicherlich wird auch meine Zeit einmal kommen, und sie rückt sogar schon rasch näher; aber wir wollen das jetzt lassen. Unter anderem wollte ich Ihnen mitteilen, daß ich einen Charakterzug besitze, den Sie noch nicht kennen: nämlich einen Haß gegen all diese abgeschmackten, wertlosen Tändeleien und Schäferspiele; und einer der pikantesten Genüsse ist es für mich immer gewesen, zunächst selbst in diesen Ton einzustimmen, so einen ewig-jungen Schillerianer liebenswürdig zu behandeln und zu ermutigen und ihm dann plötzlich auf einmal einen Keulenschlag zu versetzen, plötzlich vor seinen Augen die Maske abzunehmen und statt des bisherigen entzückten Gesichtes ihm eine Grimasse zu schneiden, ihm die Zunge herauszustrecken, gerade in dem Augenblick, wo er auf eine solche Überraschung am wenigsten gefaßt ist. Wie? Sie haben dafür kein Verständnis? Das scheint Ihnen vielleicht garstig, absurd, gemein? Ja?«

»Selbstverständlich.«

»Sie sind offenherzig. Na, aber was soll ich anfangen, wenn diese Leute mich durch ihr Benehmen peinigen? Dummerweise bin auch ich offenherzig; aber das Hegt nun einmal in meinem Charakter. Übrigens möchte ich Ihnen ein paar Geschichtchen aus meinem Leben erzählen. Sie werden dadurch ein besseres Verständnis für mich gewinnen, und sie werden Sie interessieren. Ja, ich habe heute vielleicht wirklich Ähnlichkeit mit einem Hanswurst; und ein Hanswurst ist ja offenherzig, nicht wahr?«

»Hören Sie mal, Fürst, es ist jetzt schon spät, und ich möchte wirklich...«

»Was? Mein Gott, welche Ungeduld! Wohin haben Sie es denn so eilig? Lassen Sie uns doch noch ein Weilchen sitzen und freundschaftlich reden, ganz aufrichtig, wissen Sie, so beim Glase Wein, wie gute Freunde! Sie meinen, ich sei betrunken; nun, das würde ja nichts schaden; um so besser für Sie. Hahaha! Wirklich, diese freundschaftlichen Zusammenkünfte bleiben einem nachher immer lange im Gedächtnis, und man erinnert sich ihrer mit großem Genuß. Sie sind kein guter Mensch, Iwan Petrowitsch! Sie sind nicht empfindsam und gefühlvoll genug. Na, wie kann es Ihnen darauf ankommen, einem solchen Freund wie mir ein oder ein paar Stündchen zum Opfer zu bringen? Und außerdem hängt das doch auch mit unserer Angelegenheit zusammen... Na, das müssen Sie doch verstehen! Und dazu sind Sie noch Schriftsteller; Sie sollten den Zufall segnen. Sie können mich ja schriftstellerisch als Modell verwerten, hahaha! Mein Gott, von was für einer liebenswürdigen Offenherzigkeit ich heute bin!«

Der Wein stieg ihm offenbar schon in den Kopf. Sein Gesicht veränderte sich und nahm einen boshaften Ausdruck an. Er hatte augenscheinlich Lust, jemandem wehe zu tun, ihn zu stechen, zu beißen, zu verspotten. »In einer Hinsicht ist es gut, daß er betrunken ist«, dachte ich; »ein Betrunkener schwatzt leicht etwas aus.« Aber er war auf seiner Hut.

»Mein Freund«, begann er, und er hörte sich offenbar mit Genuß reden, »ich habe Ihnen soeben ein Geständnis gemacht, das vielleicht sogar deplaciert war, das Geständnis, daß sich manchmal in mir der unüberwindliche Wunsch regt, jemandem in einem bestimmten Fall die Zunge herauszustrecken. Zum Dank für diese meine naive, harmlose Offenheit haben Sie mich mit einem Hanswurst verglichen, was mich zum herzlichen Lachen gebracht hat. Aber wenn Sie mir einen Vorwurf daraus machen wollen oder sich darüber wundern wollen, daß ich mich jetzt gegen Sie grab und vielleicht gar mit bauernhafter Ungeschliffenheit benehme, kurz, daß ich auf einmal den Ton Ihnen gegenüber geändert habe, so tun Sie in diesem Fall durchaus unrecht. Erstens paßt es mir so, und zweitens befinde ich mich nicht bei mir zu Hause, sondern an einem andern Ort mit Ihnen zusammen... das heißt, ich will sagen, wir trinken jetzt zusammen als gute Freunde; und drittens liebe ich es sehr, meinen Launen zu folgen. Wissen Sie wohl, daß ich früher einmal aus Laune sogar Philosoph und Philanthrop war und mich beinah in denselben Ideen bewegte wie Sie? Das liegt übrigens schon furchtbar weit zurück, in den goldenen Tagen meiner Jugend. Ich erinnere mich, ich fuhr damals, von humanen Absichten erfüllt, auf mein Gut und langweilte mich dort natürlich gottsjämmerlich; und Sie werden kaum glauben, was mit mir da geschah: aus Langerweile fing ich an, mit hübschen Mädchen Bekanntschaft zu machen... Sie schneiden ja schon wieder ein Gesicht? Oh, mein junger Freund! Wir sitzen ja jetzt so freundschaftlich zusammen. Das ist doch die beste Zeit, um zu trinken und sich aufzuknöpfen! Ich bin ja eine russische Natur, eine echt russische Natur, ein Patriot, ich knöpfe mich gern einmal auf, und zudem muß man den Augenblick ergreifen und das Leben genießen. Wir sterben, und was dann? Na, also ich gab mich mit Weibern ab. Ich erinnere mich, da war eine Hirtenfrau, die einen hübschen jungen Mann hatte. Ich verhängte eine schwere Züchtigung über ihn und wollte ihn unter die Soldaten stecken (das sind so Streiche, die der Vergangenheit angehören, mein lieber Poet!); aber ich steckte ihn nicht unter die Soldaten; er starb bei mir im Krankenhaus... Ich hatte nämlich damals bei mir im Dorf ein Krankenhaus mit zwölf Betten; vorzüglich eingerichtet; höchst reinlich; Parkettfußboden. Übrigens habe ich es schon längst eingehen lassen; aber damals war ich stolz darauf: ich war eben Philanthrop; na, aber den Hirten ließ ich mit Ruten fast zu Tode peitschen wegen seiner Frau... Aber warum schneiden Sie denn wieder eine Grimasse? Ist es Ihnen widerwärtig, so etwas zu hören? Empört sich Ihr edles Gefühl darüber? Nun, nun, beruhigen Sie sich! All das liegt weit zurück. Das tat ich, als ich ein Romantiker war und ein Wohltäter der Menschheit werden und eine philanthropische Gesellschaft gründen wollte... ich war damals in eine solche Richtung hineingeraten. Damals ließ ich auch mit Ruten peitschen. Jetzt lasse ich nicht mit Ruten peitschen; jetzt muß man über dergleichen eine Grimasse des Abscheus schneiden; wir alle schneiden jetzt solche Grimassen; es ist nun einmal eine solche Zeit gekommen... Aber am allermeisten muß ich jetzt über den Dummkopf, den Ichmenew, lachen. Ich bin überzeugt, er hatte diese ganze Geschichte mit dem Hirten erfahren; und was tat er? Weil er eine so gute Seele hatte, die, wie es scheint, aus Honigseim geschaffen ist, und weil er sich damals in mich verliebt hatte und von mir ganz entzückt war, entschied er sich dafür, nichts davon zu glauben, und glaubte es auch wirklich nicht; das heißt, er glaubte nicht, was doch Tatsache war, und verteidigte mich zwölf Jahre lang aus allen Kräften, bis es ihm selbst an den Kragen ging. Hahaha! Nun, das ist alles Unsinn! Trinken wir, mein junger Freund. Hören Sie mal: sind Sie ein Weiberfreund?«

Ich gab ihm keine Antwort. Ich hörte ihm nur zu. Er hatte schon die zweite Flasche begonnen.

»Ich rede beim Abendessen gern von Weibern. Soll ich Sie nachher mit einer gewissen Mademoiselle Philiberte bekannt machen, ja? Wie denken Sie darüber? Aber was ist Ihnen? Sie wollen mich nicht einmal ansehen... hm!«

Er wurde nachdenklich. Aber auf einmal hob er den Kopf in die Höhe, blickte mich bedeutsam an und fuhr fort:

»Sehen Sie, mein lieber Poet, ich will Ihnen ein Geheimnis der Natur enthüllen, das Ihnen anscheinend noch ganz unbekannt ist. Ich bin überzeugt, daß Sie mich in diesem Augenblick einen Sünder, vielleicht sogar einen Schurken, ein Monstrum von Ausschweifung und Lasterhaftigkeit nennen. Aber ich will Ihnen etwas sagen! Wenn es möglich wäre (was allerdings nach der Beschaffenheit der menschlichen Natur niemals möglich sein wird), wenn es möglich wäre, daß ein jeder von uns sein ganzes geheimes Inneres schilderte und dabei ohne jede Scheu alles darlegte, was er sich sonst scheut, den Menschen zu sagen und ihnen um keinen Preis sagen würde, und alles, was er sich sonst scheut, seinen besten Freunden zu sagen, ja sogar das, was er sich mitunter scheut, sich selbst zu gestehen: dann würde sich in der Welt ein solcher Gestank erheben, daß wir alle ersticken müßten. Darum sind unsere konventionellen Verkehrsformen und Anstandsregeln so gut und nützlich. Es liegt in ihnen ein tiefer Sinn; ich will nicht gerade sagen, daß sie moralisch wären, aber sie wirken vorbeugend und tragen zur Behaglichkeit des Lebens bei, was natürlich noch besser ist, da auch die Moralität in Wirklichkeit nur auf die Behaglichkeit abzielt, das heißt einzig und allein zum Zweck der Behaglichkeit erfunden ist. Aber von den Anstandsregeln will ich nachher noch reden; ich schweife jetzt immer ab; erinnern Sie mich nachher an sie. Was ich meine, ist dies: Sie beschuldigen mich der Lasterhaftigkeit, der Ausschweifung, der Sittenlosigkeit; aber mein ganzes Vergehen besteht jetzt vielleicht nur darin, daß ich aufrichtiger bin als andere, weiter nichts; daß ich das nicht verheimliche, was andere sogar vor sich selbst verbergen, wie ich soeben gesagt habe... Daran handle ich ja verdreht; aber ich will einmal jetzt so handeln. Beunruhigen Sie sich übrigens nicht«, fuhr er mit einem spöttischen Lächeln fort; »ich habe gesagt ›Vergehen‹; aber ich bitte durchaus nicht um Verzeihung. Beachten Sie auch dies noch: Ich setze Sie nicht durch die Frage in Verlegenheit, ob auch Sie derartige Geheimnisse haben, um dann mich selbst mit Ihren Geheimnissen zu rechtfertigen. Ich handle anständig und vornehm. Überhaupt handle ich immer...«

»Sie sind einfach ins Schwatzen hineingeraten«, sagte ich, indem ich ihn verächtlich ansah.

»Ich bin ins Schwatzen hineingeraten, hahaha! Soll ich aber sagen, was Sie jetzt denken? Sie denken: »Warum hat er mich, mir nichts, dir nichts, hergeschleppt und entblößt sich nun so vor mir?« Ist es so?«

»Ja.«

»Nun, den Grund werden Sie nachher erfahren.«

»Die einfachste Erklärung für Ihre Offenherzigkeit ist, daß Sie beinah schon zwei Flaschen getrunken haben und... angeregt sind.«

»Das soll einfach heißen: betrunken. Auch das ist möglich. »Angeregt!« Das ist ein zarterer Ausdruck für »betrunken«. O Sie Muster von einem zartfühlenden Menschen! Aber es scheint, wir fangen wieder an, uns zu zanken, und begannen doch gerade von einem so interessanten Gegenstand zu sprechen. Ja, mein lieber Poet, wenn es noch auf der Welt etwas Angenehmes, Genußreiches gibt, so sind es die Weiber.«

»Wissen Sie, Fürst, ich begreife nur nicht, wie Sie auf den Einfall gekommen sind, gerade mich zum Vertrauten Ihrer Geheimnisse und erotischen Neigungen zu erwählen.«

»Hm!... Ich habe Ihnen ja gesagt, daß Sie das nachher erfahren werden. Beunruhigen Sie sich darüber nicht; meinetwegen mögen Sie übrigens auch glauben, daß ich Sie nur so zufällig, ohne jeden Grund hergebracht habe; Sie sind ein Poet und imstande, mich zu verstehen; darüber habe ich ja schon mit Ihnen gesprochen. Es liegt ein besonderer Genuß in diesem plötzlichen Abreißen der Maske, in diesem Zynismus, mit dem jemand sich auf einmal vor einem anderen in einer solchen Weise ausspricht, als halte er ihn nicht einmal für wert, daß man sich vor ihm schäme. Ich werde Ihnen da ein Geschichtchen erzählen. Es lebte in Paris ein verrückter Beamter; er wurde nachher ins Irrenhaus gebracht, als man die volle Überzeugung gewonnen hatte, daß er geisteskrank war. Nun also, zu der Zeit, als er verrückt wurde, hatte er sich ein besonderes Vergnügen ersonnen: Er entkleidete sich zu Hause vollständig, wie Adam, behielt nur die Stiefel an, warf einen weiten, bis auf die Fersen reichenden Mantel um, hüllte sich in ihn ein und ging mit ernster, würdiger Miene auf die Straße hinaus. Na, wenn man ihn von der Seite sah, mußte man denken, das sei ein Mensch wie alle und er gehe zu seinem Vergnügen in einem weiten Mantel spazieren. Aber sobald ihm ein Passant an einer einsamen Stelle begegnete, wo weiter niemand ringsum zu sehen war, ging er, schweigend mit der ernstesten, tiefsinnigsten Miene auf ihn zu, blieb plötzlich vor ihm stehen, schlug seinen Mantel auseinander und präsentierte sich in seiner ganzen Nacktheit. Das dauerte nur einen Augenblick; dann wandte er sich schweigend, ohne mit einem Gesichtsmuskel zu zucken, ab und ging ruhig und würdevoll wie der Geist im »Hamlet« an dem vor Erstaunen starren Zuschauer vorüber. So verfuhr er mit allen, mit Männern, Frauen und Kindern, und darin bestand sein ganzes Vergnügen. Nun, sehen Sie: einen Teil eben dieses Vergnügens kann man auch empfinden, wenn man plötzlich so einem Schillerianer einen Keulenschlag versetzt und ihm die Zunge herausstreckt in einem Moment, wo er es am allerwenigsten erwartet. »Einen Keulenschlag versetzen« − wie gefällt Ihnen dieser Ausdruck? Ich habe ihn irgendwo in der modernen Literatur gelesen.«

»Nun, das war ein Irrsinniger; aber Sie...«

»Sie meinen: ich sei bei Verstand?«

»Ja.«

Der Fürst lachte auf.

»Sie urteilen ganz richtig, mein Lieber«, fügte er mit einem überaus frechen Gesichtsausdruck hinzu.

»Fürst«, sagte ich, aufgebracht über seine Unverschämtheit, »Sie hassen uns, und darunter auch mich, und rächen sich jetzt an mir für alles und für alle. Alles das geht bei Ihnen aus der kleinlichsten Eigenliebe hervor. Sie sind boshaft, in kleinlicher Weise boshaft. Wir haben Sie geärgert, und vielleicht ärgern Sie sich am allermeisten über jenen Abend. Natürlich konnten Sie es mir durch nichts so gut heimzahlen als dadurch, daß Sie mir so gründlich Ihre Verachtung bezeigen; Sie dispensieren sich sogar von der gewöhnlichen Höflichkeit, zu der wir alle im Verkehr miteinander verpflichtet sind. Dadurch, daß Sie sich so offen und unerwartet vor meinen Augen Ihre widerwärtige Maske abreißen und sich in Ihrem moralischen Zynismus präsentieren, wollen Sie mir deutlich zum Ausdruck bringen, ich sei nach Ihrem Urteil nicht einmal wert, daß man sich vor mir schäme...«

»Wozu sagen Sie mir das alles?« fragte er in grobem Ton, indem er mich boshaft anblickte. »Um mir Ihren Scharfsinn zu beweisen?«

»Um Ihnen zu zeigen, daß ich Sie durchschaue, und Ihnen das auszusprechen.«

»Quelle idée, mon cher[15]«, fuhr er fort; aber er hatte seinen Ton plötzlich geändert und war zu dem früheren heiteren, gutmütigen Plauderton zurückgekehrt. »Sie haben mich jetzt nur von meinem Gegenstand abgelenkt. Buvons, mon ami[16]; gestatten Sie, daß ich Ihnen eingieße! Ich war eben im Begriff, Ihnen ein reizendes, höchst interessantes Abenteuer zu erzählen. Ich erzähle es Ihnen nur in allgemeinen Zügen. Ich war einmal mit einer Dame bekannt; sie stand nicht mehr in der Blüte der Jugend, sondern mochte etwa sieben- oder achtundzwanzig Jahre alt sein; eine erstklassige Schönheit; welch eine Büste, welch eine Haltung, welch ein Gang! Sie hatte einen scharfen, adlerartigen Blick, der immer ernst und streng war; ihr Benehmen war majestätisch und unnahbar. Sie galt für so kalt wie der Winter in seiner kältesten Zeit und erschreckte alle durch ihre unerreichbare, grausame Tugend. Ja, »grausam«, das ist der richtige Ausdruck. Es gab in der ganzen Gegend keine so unnachsichtige Richterin wie sie. Sie verdammte an anderen Frauen nicht nur das Laster, sondern sogar die geringste Schwäche, und dieses Verdammungsurteil war unwiderruflich, und es gab von ihm keine Appellation. In ihrem Kreise besaß sie ein gewaltiges Ansehen. Die stolzesten und wegen ihrer Tugend am meisten gefürchteten alten Damen hatten den größten Respekt vor ihr und suchten sich sogar bei ihr einzuschmeicheln. Sie blickte auf alle kühl und streng herab wie die Äbtissin eines mittelalterlichen Klosters. Die jungen Frauen zitterten vor ihrem Blick und ihrem Urteilsspruch. Eine Bemerkung, eine Andeutung von ihr genügte, um einen Ruf zu vernichten; eine solche Position hatte sie sich in der besseren Gesellschaft erworben; sogar die Männer hatten vor ihr Furcht. Schließlich warf sie sich auf eine Art von beschaulichem Mystizismus, der aber ebenfalls einen ruhigen, erhabenen Charakter trug. Und sollte man es glauben? Es gab auf der ganzen Welt kein Weib, das wollüstiger gewesen wäre als sie, und ich hatte das Glück, ihr volles Vertrauen zu genießen. Kurz, ich war ihr heimlicher Geliebter. Für unseren Verkehr hatte sie mit so meisterhafter Geschicklichkeit alle Einrichtungen getroffen, daß nicht einmal jemand von ihren Hausgenossen den geringsten Verdacht hegen konnte; nur ihre hübsche Zofe, eine Französin, war in das Geheimnis eingeweiht; aber auf diese Zofe konnten wir uns vollständig verlassen; sie war ebenfalls an der Sache beteiligt; wie, das will ich jetzt nicht erörtern. Meine Dame war derartig wollüstig, daß selbst der Marquis de Sade viel von ihr hätte lernen können. Aber das stärkste, die Nerven am meisten reizende und aufrüttelnde Moment bei diesem Genußleben war seine Heimlichkeit und die Unverschämtheit des Betruges. Diese Verhöhnung alles dessen, was die Gräfin in der Gesellschaft als etwas Hohes, Unantastbares, Unverletzliches predigte, dieses innerliche, teuflische Lachen, dieses bewußte Mit-Füßen-Treten aller Gesetze, die heiliggehalten werden sollen, und all das in ganz maßloser Weise, bis zum äußersten Grade, bis zu einem Grade, den sich auch die wildeste Einbildungskraft nicht vorzustellen wagen würde − gerade das bildete den allergrößten Reiz dieses Genusses. Ja, dieses Weib war eine Inkarnation des Teufels; aber sie hatte etwas unwiderstehlich Bezauberndes. Auch jetzt kann ich nicht ohne Entzücken an sie zurückdenken. Mitten in der Glut des heißesten Genusses lachte sie auf einmal los wie eine Irrsinnige, und ich verstand dieses Lachen, verstand es vollkommen und lachte selbst mit. Auch jetzt noch stockt mir der Atem bei der bloßen Erinnerung, obwohl es schon viele Jahre zurückliegt. Nach einem Jahr schaffte sie mich ab und gab mir einen Nachfolger. Wenn ich es auch gewollt hätte, so hätte ich ihr doch nicht schaden können. Wer hätte mir geglaubt? Wie finden Sie einen solchen Charakter? Was sagen Sie dazu, mein junger Freund ?«

»Pfui, welche Gemeinheit!« antwortete ich; ich hatte dieses Bekenntnis mit einem Gefühl steigenden Ekels angehört.

»Sie wären sich selbst untreu geworden, mein junger Freund, wenn Sie anders geantwortet hätten! Ich wußte im voraus, daß Sie das sagen würden. Hahaha! Warten Sie, mon ami; wenn Sie länger leben, werden Sie Verständnis dafür gewinnen; jetzt ist Ihr Appetit noch auf Kinderkonfekt gerichtet. Nein, als Dichter haben Sie sich hier nicht erwiesen; aber diese Frau verstand das Leben und wußte es zu genießen.«

»Aber welchen Zweck hatte es, sich so zum Tier zu erniedrigen?«

»Wie meinen Sie das?«

»Nun, diese Frau erniedrigte sich doch zum Tier und Sie sich mit ihr.«

»Ah, Sie nennen das Erniedrigung zum Tier − ein Anzeichen dafür, daß Sie noch in den Kinderschuhen stecken und am Gängelband gehen. Gewiß, ich gebe zu, daß jemand auch bei einer Anschauungsweise, die der meinigen völlig entgegengesetzt ist, Selbständigkeit an den Tag legen kann; aber... wir wollen einfach und klar reden, mon ami... Sie werden selbst zugeben müssen, daß das alles Unsinn ist!«

»Was ist denn kein Unsinn?«

»Kein Unsinn ist die Persönlichkeit, mein eigenes Ich. Alles ist für mich da, und die ganze Welt ist für mich geschaffen. Hören Sie, mein Freund, ich glaube noch daran, daß man auf der Welt gut leben kann. Und das ist der allerbeste Glaube; denn ohne ihn könnte man nicht einmal schlecht leben: man müßte sich vergiften. Wie man sagt, hat es auch einen Dummkopf gegeben, der das tat. Er ging in seinem Philosophieren so weit, daß er alles negierte, alles, sogar die Gesetzmäßigkeit aller normalen und natürlichen menschlichen Pflichten; so gelangte er dahin, daß ihm nichts übrigblieb; das Resultat war Null; und da verkündete er denn, das Beste im Leben sei die Blausäure. Sie werden sagen, das sei ein Hamlet, eine schreckliche Verzweiflung, mit einem Wort, etwas so Großartiges, daß es uns auch nicht einmal im Traum beikommen könne. Aber Sie sind ein Dichter und ich ein einfacher Mensch, und daher sage ich Ihnen, daß man die Sache vom einfachen, praktischen Gesichtspunkt aus ansehen muß. Ich zum Beispiel habe mich schon längst von allen Fesseln und sogar von allen Pflichten frei gemacht. Ich halte mich nur dann für verpflichtet, wenn etwas mir irgendwelchen Vorteil bringt. Sie können die Dinge natürlich nicht so ansehen; Ihre Füße sind gefesselt, und Ihr Geschmack ist krank. Sie legen bei Ihrem Räsonnement das Ideal und die Tugenden zugrunde. Indessen, mein Freund, ich bin ja selbst gern bereit, alles zuzugeben, was Sie wünschen; aber was soll ich tun, wenn ich bestimmt weiß, daß die Grundlage aller menschlichen Tugenden der größte Egoismus bildet? Und je tugendhafter eine Handlung ist, um so mehr Egoismus steckt dahinter. Liebe dich selbst! Das ist die einzige Maxime, die ich anerkenne. Das Leben ist ein Handelsgeschäft; werfen Sie Ihr Geld nicht umsonst weg; aber bezahlen Sie meinetwegen für die genossene Bewirtung; damit erfüllen Sie alle Ihre Pflichten gegen Ihren Nächsten. Das ist mein Moralkodex, wenn Sie ihn durchaus kennenlernen wollen, obwohl ich Ihnen gestehe, daß es meiner Ansicht nach noch besser ist, seinem Nächsten nichts zu bezahlen, sondern ihn mit Klugheit dahin zu bringen, daß er einem seine Dienste umsonst leistet. Ideale habe ich keine, und ich wünsche auch keine zu haben; Sehnsucht nach ihnen habe ich nie verspürt. Auch ohne Ideale kann man auf der Welt so nett und vergnügt leben... und, en somme, ich bin recht froh, daß ich ohne Blausäure auskommen kann. Wäre ich ein bißchen tugendhafter, so würde ich vielleicht nicht ohne sie auskommen können, wie jener Dummkopf von Philosoph (es wird gewiß ein Deutscher gewesen sein). Nein, es gibt im Leben noch so viele gute Dinge! Ich liebe eine einflußreiche Stellung, einen hohen Rang, ein elegantes Restaurant, hohes Kartenspiel (ich spiele schrecklich gern Karten). Aber die Hauptsache, die Hauptsache bleiben doch die Frauen... und Frauen von aller Art; ich liebe sogar geheime, versteckte Wollust, so eine, die ein bißchen seltsam und originell ist, sogar zur Abwechslung mit etwas Schmutz... Hahaha! Ich sehe Ihr Gesicht an: mit welcher Verachtung blicken Sie jetzt auf mich herab!«

»Da haben Sie reicht«, erwiderte ich.

»Nun, angenommen auch, daß Sie recht hätten, so ist doch jedenfalls ein bißchen Schmutz besser als Blausäure. Nicht wahr?«

»Nein; da ist doch die Blausäure besser.«

»Ich hatte Sie absichtlich gefragt: ›Nicht wahr?‹, um mich an Ihrer Antwort zu ergötzen, die ich schon vorherwußte. Nein, mein Freund, wenn Sie ein wahrer Menschenfreund sind, dann müssen Sie allen verständigen Menschen denselben Geschmack wünschen, den ich habe, sogar mit ein bißchen Schmutz; sonst haben ja die verständigen Menschen bald nichts mehr auf der Welt zu suchen, und es bleiben nur die Dummköpfe auf ihr übrig. Da hätten die einmal Glück! Es gibt ja auch jetzt schon ein Sprichwort: die Dummen haben das Glück. Und wissen Sie, es gibt nichts Angenehmeres als mit Dummköpfen zusammen zu leben und sich bei ihnen einzuschmeicheln; das ist sehr profitabel! Wundern Sie sich nicht darüber, daß ich auf gewisse hergebrachte Anschauungen Wert lege, an manchen konventionellen Formen festhalte, nach einer einflußreichen Stellung trachte; ich sehe ja, daß ich in einer hohlen Gesellschaft lebe; aber in dieser Gesellschaft sitze ich vorläufig weich und warm, und darum schmeichle ich mich bei diesen Leuten ein und spiele mich als ihr eifriger Verteidiger auf, würde aber im gegebenen Fall der erste sein, der sie verläßt. Ich kenne ja alle Ihre neuen Ideen, obgleich ich nie für sie gelitten habe; ich habe auch keinen Anlaß, das zu tun. Gewissensbisse habe ich nie über etwas gehabt. Ich bin mit allem einverstanden, wenn es mir nur gut geht. Und solcher Menschen wie mich gibt es eine Legion, und es geht uns tatsächlich gut. Alles in der Welt kann zugrunde gehen; nur uns wird das niemals begegnen. Wir existieren, solange die Welt existiert. Die ganze Welt kann irgendwohin versinken; aber wir kommen immer wieder in die Höhe, wir schwimmen immer obenauf. Apropos, beachten Sie beispielsweise nur den einen Umstand, wie langlebig solche Leute wie wir sind. Wir sind ja von einer phänomenalen Lebenszähigkeit; ist Ihnen das noch nie aufgefallen? Wir leben bis zu achtzig, neunzig Jahren! Also nimmt uns die Natur selbst unter ihren Schutz, hahaha! Ich will unbedingt neunzig Jahre alt werden. Ich liebe den Tod nicht und fürchte ihn sogar. Weiß der Teufel, auf welche Weise man noch wird sterben müssen! Aber wozu sollen wir davon reden! Dazu hat mich nur dieser Philosoph, der sich vergiftete, verleitet. Zum Teufel mit der Philosophie! Buvons, mon eher! Wir fingen ja an, von hübschen Mädchen zu reden... Wo wollen Sie denn hin?«

»Ich gehe, und auch für Sie dürfte es Zeit sein...«

»Nicht doch, nicht doch! Ich habe Ihnen sozusagen mein ganzes Herz erschlossen, und Sie scheinen einen so deutlichen Beweis von Freundschaft nicht einmal recht zu würdigen. Hahaha! Sie haben kein liebevolles Herz, mein lieber Poet. Aber warten Sie, ich will noch eine Flasche...«

»Die dritte?«

»Ja, die dritte. Über die Tugend, meine junger Zögling (gestatten Sie, daß ich Sie mit dieser freundlichen Benennung bezeichne; wer weiß, vielleicht trägt mein Unterricht noch Früchte) − also, mein Zögling, über die Tugend habe ich Ihnen schön gesagt: je tugendhafter eine Tugend ist, um so mehr Egoismus steckt in ihr drin. Ich möchte Ihnen über dieses Thema ein allerliebstes Geschichtchen erzählen. Ich liebte einmal ein Mädchen und liebte sie beinahe aufrichtig. Sie brachte mir sogar vieles zum Opfer...«

»Ist das die, die Sie bestohlen haben?« fragte ich grob, da ich keine Lust: mehr hatte, mich zurückzuhalten.

Der Fürst fuhr zusammen; sein Gesicht nahm einen anderen Ausdruck an, und er richtete seine heißen Augen starr auf mich; in seinem Blick lag Erstaunen und Wut.

»Warten Sie«, sagte er, als ob er vor sich hin spräche; »warten Sie; lassen Sie mich nachdenken! Ich bin wirklich betrunken, und es fällt mir schwer, meine Gedanken zu sammeln...«

Er verstummte und sah mich forschend mit demselben grimmigen Blick an, wobei er meine Hand in der seinigen hielt, wie wenn er fürchtete, ich könnte fortgehen. Ich bin überzeugt, daß er in diesem Augenblick überlegte und herauszubekommen suchte, woher ich diese fast niemandem bekannte Tatsache wohl wissen könne und ob sich darin irgendwelche Gefahr für ihn verberge. Das dauerte ungefähr eine Minute; aber dann ging mit seinem Gesicht plötzlich eine schnelle Veränderung vor; der frühere Ausdruck von Spott und trunkener Heiterkeit erschien von neuem in seinen Augen. Er lachte auf.

»Hahaha! Sie sind ja der reine Talleyrand! Nun ja, ich stand wirklich wie ein Schuljunge vor ihr, als sie mir den Vorwurf ins Gesicht schleuderte, ich hätte sie bestohlen! Wie sie damals kreischte und schimpfte! Sie war wütend und... hatte alle Selbstbeherrschung verloren. Aber urteilen Sie selbst: erstens hatte ich sie überhaupt nicht bestohlen, wie Sie sich soeben ausdrückten. Sie hatte mir ihr Geld selbst geschenkt, und es gehörte also mir. Na, nehmen wir an, Sie schenken mir Ihren besten Frack« (bei diesen Worten warf er einen Blick auf meinen einzigen, recht unschönen Frack, den mir vor drei Jahren der Schneider Iwan Skornjagin gemacht hatte); »ich bin Ihnen dafür dankbar und trage ihn; ein Jahr darauf überwerfen Sie sich plötzlich mit mir und fordern ihn zurück; ich habe ihn aber inzwischen schon abgetragen... Das ist nicht anständig von Ihnen gehandelt; warum haben Sie ihn mir denn zuerst geschenkt? Zweitens hätte ich ihr das Geld, obwohl es mir gehörte, unfehlbar zurückgegeben; aber sagen Sie selbst: wo hätte ich denn eine solche Summe so plötzlich hernehmen sollen? Die Hauptsache aber war: ich kann, wie ich Ihnen schon gesagt habe, Hirtenidyllen und Schillerianer nicht leiden; na, und gerade das war die Ursache des ganzen Zerwürfnisses. Sie glauben gar nicht, was sie vor mir für eine Pose annahm und wie sie schrie, sie schenke mir das Geld (das doch mir gehörte). Da wurde auch ich ärgerlich, und da mich meine Geistesgegenwart nie verläßt, so stellte ich klugerweise sogleich eine durchaus richtige Erwägung an: ich sagte mir, daß ich sie durch die Rückgabe des Geldes vielleicht sogar unglücklich machen würde. Ich hätte ihr den Genuß geraubt, sich durch mich völlig unglücklich zu fühlen und mich ihr ganzes Leben lang zu verfluchen. Glauben Sie mir, mein Freund, solches Unglück ist sogar die Quelle eines Entzückens höherer Art, welches darin besteht, daß man sich bewußt ist, vollkommen im Recht zu sein und großmütig gehandelt zu haben und den Gegner mit vollem Recht einen Schurken nennen zu dürfen. Dieses Entzücken des Ingrimms findet sich natürlich nur bei solchen Schillernaturen; vielleicht hatte sie später nichts zu essen; aber ich bin überzeugt, daß sie glücklich war. Ich wollte sie dieses Glückes nicht berauben und schickte ihr das Geld nicht zurück. Auf diese Weise hat auch mein Lehrsatz seine volle Bestätigung gefunden: daß, je stärker und bedeutender die Großmut eines Menschen ist, ein um so größeres Quantum des widerwärtigsten Egoismus darin steckt... Ist Ihnen das wirklich nicht klar?... Aber... Sie wollten mich ja nur fangen, hahaha!... Na, gestehen Sie es nur, Sie wollten mich fangen?... Oh, Sie Talleyrand!«

»Leben Sie wohl!« sagte ich und stand auf.

»Noch ein Augenblickchen! Nur noch ein paar Worte zum Schluß!« rief er, indem er seinen widerlichen Ton plötzlich mit einem ernsten vertauschte. »Hören Sie das Letzte, was ich Ihnen sagen möchte! Aus allem, was ich Ihnen gesagt habe, ergibt sich klar und deutlich (ich meine, das werden auch Sie selbst bemerkt haben), daß ich niemals und um niemandes willen meinen Vorteil aufgeben will. Ich liebe das Geld und brauche Geld. Katerina Fjodorowna besitzt viel Geld; ihr Vater ist zehn Jahre lang Branntweinpächter gewesen. Sie hat drei Millionen, und diese drei Millionen werden mir sehr zustatten kommen. Aljoscha und Katja passen vorzüglich zueinander; beide sind Dummköpfe erster Klasse; das ist's gerade, was ich brauche. Und darum wünsche und will ich unbedingt, daß ihre Heirat zustande kommt, und zwar möglichst bald. In zwei, drei Wochen werden die Gräfin und Katja aufs Land reisen. Aljoscha soll sie begleiten. Benachrichtigen Sie doch Natalja Nikolajewna vorher davon, damit es keine gefühlvollen Szenen setzt und sich niemand gegen mich auflehnt. Ich bin rachsüchtig und boshaft und bestehe auf meinem Willen. Furcht habe ich vor ihr nicht; es wird zweifellos alles nach meinem Willen geschehen, und wenn ich sie jetzt warnen lasse, so tue ich das fast nur in ihrem eigenen Interesse. Sorgen Sie dafür, daß keine Dummheiten passieren und daß sie sich vernünftig benimmt. Sonst wird es ihr schlecht gehen, sehr schlecht. Sie hat allen Grund, mir schon dafür dankbar zu sein, daß ich nicht mit ihr verfahren bin, wie es sich gehört, nach dem Gesetz. Lassen Sie sich sagen, mein lieber Poet, daß die Gesetze die Ruhe des Familienlebens beschirmen, indem sie dem Vater den Gehorsam des Sohnes gewährleisten, und daß diejenigen, die ein Kind von seinem heiligen Pflichten gegen seine Eltern abbringen, beim Gesetz keinen Schutz finden. Bedenken Sie schließlich noch, daß ich Konnexionen besitze und sie nicht, und... begreifen Sie denn wirklich nicht, was ich alles mit ihr tun könnte? Aber ich habe noch nichts getan, weil sie sich bisher vernünftig benommen hat. Seien Sie versichert: während dieses ganzen halben Jahres haben in jedem Augenblick scharfsichtige Augen jede Bewegung der beiden überwacht, und ich habe alles bis auf die geringste Kleinigkeit gewußt. Und darum habe ich ruhig gewartet, bis Aljoscha selbst sich von ihr abwenden würde, was jetzt bereits beginnt; bis dahin mochte es für ihn eine angenehme Zerstreuung sein. Ich aber bin in seinen Augen der humane Vater geblieben; und es liegt in meinem Interesse, daß er so über mich denkt. Hahaha! Ich denke eben daran, daß ich ihr damals, an jenem Abend, beinahe Komplimente deswegen gesagt habe, weil sie so großmütig und uneigennützig gewesen ist, ihn nicht zu heiraten; ich möchte wohl wissen, wie sie das hätte anfangen wollen! Was aber meinen damaligen Besuch bei ihr anlangt, so geschah das alles einzig und allein, weil es nunmehr Zeit war, der Liaison der beiden ein Ende zu machen. Aber ich hielt für nötig, mir alles mit eigenen Augen anzusehen, mich von allem persönlich zu überzeugen... Nun, sind Sie jetzt zufrieden? Oder möchten Sie vielleicht noch wissen, warum ich Sie hierhergeschleppt, mich vor Ihnen so eigentümlich benommen und eine solche Offenherzigkeit bewiesen habe, während ich doch das alles ohne jede Offenherzigkeit hätte aussprechen können, ja?«

»Ja.«

Ich überwand mich und horchte begierig auf. Zu antworten hatte ich ihm nichts weiter.

»Einzig deswegen, mein Freund, weil ich bei Ihnen etwas mehr Vernunft und klaren Blick für die Dinge bemerkte als bei unseren beiden Dummköpfen. Allerdings mochten Sie auch schon vorher wissen, wer ich bin, mochten es erraten haben, allerlei über mich kombiniert haben; aber ich wollte Sie dieser Mühe überheben und beschloß, Ihnen anschaulich zu zeigen, mit wem Sie es zu tun haben. Es ist ein großes Ding um so einen tatsächlichen Eindruck. Lernen Sie mich verstehen, mon ami! Sie wissen jetzt, mit wem Sie es zu tun haben; Sie lieben das Mädchen, und daher hoffe ich jetzt, daß Sie all Ihren Einfluß (und Sie besitzen Einfluß auf sie) aufbieten werden, um ihr gewisse Unannehmlichkeiten zu ersparen. Sonst wird sie Unannehmlichkeiten haben, und ich versichere Sie, versichere Sie mit aller Bestimmtheit: solche, über die nicht zu spaßen sein wird. Nun, und endlich der dritte Grund meiner Offenherzigkeit gegen Sie ist der (aber Sie haben ihn ja gewiß schon erraten, mein Lieber): ich wollte wirklich einmal meinem Ekel über diese ganze Angelegenheit Ausdruck geben, und zwar gerade vor Ihren Ohren...«

»Und Sie haben Ihre Absicht erreicht«, sagte ich, zitternd vor Erregung. »Ich gebe zu, daß Sie mir Ihren ganzen Ingrimm und Ihre ganze Verachtung für mich und uns alle auf keine Weise besser hätten zum Ausdruck bringen können als gerade durch diese Offenherzigkeit. Sie haben nicht gefürchtet, daß Sie sich durch Ihre Offenherzigkeit einem Menschen wie mir gegenüber kompromittieren könnten; noch mehr: Sie haben sich nicht einmal vor mir geschämt. Sie glichen tatsächlich jenem Irrsinnigen im Mantel. Sie haben mich nicht für einen Menschen erachtet.«

»Sie haben es erraten, mein junger Freund«, erwiderte er, sich erhebend. »Sie haben alles erraten; man sieht, daß Sie Literat sind. Ich hoffe, wir scheiden voneinander in aller Freundschaft. Brüderschaft werden wir aber wohl nicht zusammen trinken?«

»Sie sind betrunken, und nur deshalb antworte ich Ihnen nicht so, wie es sich gehören würde...«

»Wieder die Redefigur der Verschweigung eines Gedankens! Sie haben nicht gesagt, wie es sich denn gehören würde zu antworten, hahaha! Für Sie zu bezahlen, erlauben Sie mir wohl nicht?«

»Bemühen Sie sich nicht; ich werde selbst für mich bezahlen.«

»Nun, versteht sich. Wir haben wohl nicht denselben Weg?«

»Ich werde nicht mit Ihnen fahren.«

»Leben Sie wohl, mein lieber Poet! Ich hoffe, Sie haben mich verstanden...«

Er ging mit etwas unsicherem Schritt hinaus, ohne sich nach mir weiter umzusehen. Der Diener war ihm beim Einsteigen in die Equipage behilflich. Ich schlug meinen Weg ein. Es war zwischen zwei und drei Uhr. Es regnete; die Nacht war dunkel.

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