2. Kapitel



1



Während er melancholisch seufzte, blickte Thomas Lieven sich in dem rot-weiß-golden dekorierten Schlafzimmer um. Das Schlafzimmer gehörte zum Appartement 107. Das Appartement 107 war eines der vier luxuriösesten des Hotels »Georges V«. Das Hotel »Georges V« war eines der vier luxuriösesten von Paris. Auf seinem Dach wehte seit Stunden die Reichskriegsflagge mit dem Hakenkreuz. An seinem Portal rasselten seit Stunden schwere Panzer vorbei. In seinem Hof stand ein schwarzer Chrysler. Und im Schlafzimmer des Appartements 107 saßen Thomas Lieven, Mimi Chambert und Oberst Jules Siméon.

Sie hatten vierundzwanzig völlig irrsinnige Stunden hinter sich. Einen Panzerspähwagen vor, einen Panzerspähwagen hinter ihrem schwarzen Chrysler, waren sie dem Korpsgefechtsstand nachgejagt. Über Funk hatte der rotblonde Oberleutnant Zumbusch seinen General zu erreichen versucht. Aber der deutsche Vormarsch ging so schnell vor sich, daß es anscheinend überhaupt kein festes Hauptquartier mehr gab. Erst seit Paris kampflos besetzt worden war, schien auch der General zur Ruhe gekommen zu sein: im Hotel »Georges V«.

Auf dem Gang trampelten schwere Landserstiefel vorbei. In der Hotelhalle lagen Kisten, Maschinenpistolen und Telefonkabel herum. Leitungen wurden gelegt. Es herrschte gewaltiger Wirrwarr.

Vor einer Viertelstunde hatte Oberleutnant Zumbusch seine drei Gefangenen in das Schlafzimmer des Appartements 107 geführt. Danach war er verschwunden. Ohne Zweifel erstattete er seinem General Bericht. Die schwarze Ledertasche lag nun auf Thomas’ Knien; er hatte sie an sich genommen, als er den Wagen abschloß. Er fand, daß sie bei ihm immer noch besser aufgehoben war.

Durch die hohe, kunstvoll verzierte Tür zum Salon erklang plötzlich zorniges Gebrüll. Die Tür flog auf. Ein baumlanger Offizier stand in ihrem Rahmen und sagte: »Herr General von Felseneck läßt bitten, Mr. Murphy.«

Noch gelte ich also als amerikanischer Diplomat, dachte Thomas Lieven. Wohlan denn …

Langsam erhob er sich, die Ledertasche unter dem Arm. An dem Adjutanten vorbei schritt er mit würdiger Miene in den Salon.

General Erich von Felseneck war ein untersetzter Mann mit kurzgeschnittenem, eisgrauem Haar und goldgefaßter Brille.

Thomas sah einen kleinen Tisch, auf welchem vor Besteck und Geschirr des Hotels zwei Blechgefäße standen. Der General war offensichtlich bei einer hastigen Mahlzeit gestört worden.

Diesen Umstand nahm Thomas Lieven zum Vorwand, um internationale Höflichkeit an den Tag zu legen: »General, ich bedauere tief, zu stören Ihre Essen.«

»An mir ist es«, sagte General von Felseneck, Thomas die Hand schüttelnd, »eine Entschuldigung auszusprechen, Mr. Murphy.«

Thomas fühlte sich plötzlich schwindlig, als der General ihm jetzt den falschen Diplomatenpaß und die falschen Pässe Mimis und Siméons zurückgab. »Ihre Papiere sind in Ordnung. Verzeihen Sie die Aktion des Oberleutnants. Er wurde durch das Verhalten Ihres Reisegefährten begreiflicherweise mißtrauisch. Aber er hat ohne Zweifel seine Befugnisse überschritten.«

»General, so etwas kann vorkommen …«, murmelte Thomas.

»So etwas hat nicht vorzukommen, Mr. Murphy! Die Deutsche Wehrmacht ist korrekt. Wir respektieren diplomatische Gepflogenheiten. Wir sind keine Raubritter!«

Menu • 15. Juni 1940

Beim Eintopf »eroberte« Thomas Lieven

einen deutschen General.

Eintopf auf verschiedene Art

Kartoffelgulasch: Man nehme Fett und Zwiebeln, die man glasig dünsten lasse; dabei müssen sie gut gesalzen und mit Paprika gewürzt werden. Alsdann schneide man kleingewürfeltes Rindfleisch hinein. Kurz bevor das Fleisch weich wird, schneide man kleingewürfelte Kartoffeln dazu. Man beachte: Es müssen ebensoviel Pfund Zwiebeln sein wie Fleisch! Außerdem gebe man ganz zum Schluß Majoran und kleingehackte süß-saure Gurken in den Topf.

Risi-Pisi: Fertig gekochter Reis wird mit grünen Erbsen (entweder aus der Konserve oder frische – dann separat bereits vorgekocht) vermengt. Unter kurzem Umrühren werden nun bei kleiner Flamme Butter oder Fett dazugetan und entweder Fleisch- oder Bratenreste oder Frankfurter Würstchen – natürlich kleingeschnitten – hineingemengt. Nach Belieben würzen, am besten mit Curry, und bei Tisch mit etwas Parmesankäse bestreuen.

Irish-Stew: Unter diesem Namen gibt es verschiedene Rezepte, Hammelfleisch und Weißkohl zu einem feinen Eintopf zuzubereiten. Eine der besten Arten ist das mecklenburgische Rezept: Das Hammelfleisch wird in viereckige Stückchen gehauen, gesalzen und eine bis eineinhalb Stunden gekocht. Darauf werden die Kohlköpfe von den äußeren Blättern und dem Stengel befreit, in vier Teile geschnitten, eine Viertelstunde in kochendem Wasser abgekocht und dann stark in einem Tuch ausgedrückt. Dann belege man einen großen Topf mit dünnen Speckscheiben, gebe darauf eine Lage Weißkohl, die runde Seite muß immer nach oben zeigen, darauf einige Stückchen Fleisch, feingeschnittene Zwiebeln, Kerbel, Salz und Pfeffer sowie ein wenig Nelken. Dann kommt immer wieder abwechselnd eine Lage Kohl, eine Lage Fleisch mit obigen Gewürzen. Die Schlußlage oben im Topf muß Kohl sein. Anschließend fülle man die vom Bodensatz abgegossene Hammelfleischbrühe hinzu und lasse das Ganze etwa eine Stunde einkochen. Beim Anrichten wird das Gericht auf eine Schüssel gestürzt.

»Certainly not …«

»Mr. Murphy, ich bin ganz ehrlich. Hatte erst vorige Woche furchtbaren Ärger. Wäre fast bis zum Führer gegangen. Haben da doch ein paar Übereifrige bei Amiens zwei Herren von der schwedischen Militärmission festgenommen und durchsucht. Gräßlicher Krach! Mußte mich persönlich entschuldigen. War mir vielleicht eine Warnung. So was passiert mir nicht zum zweitenmal. Haben Sie schon gegessen, Mr. Murphy?«

»N-Nein …«

»Darf ich Sie vor Ihrer Abfahrt einladen? Schlichte Kriegerkost. Die Hotelküche funktioniert noch nicht. Und bei ›Prunier‹ wird heute wohl noch geschlossen sein, hahaha!«

»Hahaha!«

»Also dann – kleiner Schlag aus deutscher Gulaschkanone?«

»Wenn ich nicht störe?«

»Ist mir doch eine Freude! Kogge, noch ein Gedeck! Den Herrschaften drüben lassen Sie auch was bringen …«

»Jawohl, Herr General!«

Fünf Minuten später …

»Bißchen eintönig, der Fraß, was, Mr. Murphy?«

»Oh no, entsprechend die Umstände es schmecken delikat …«, sagte Thomas Lieven, der allmählich seine Fassung wiederfand.

»Ich weiß nicht, was das ist; die Kerle können keinen Eintopf machen!« ärgerte sich der General.

»General«, sagte Thomas Lieven sanft, »ich möchte mich gerne revanchieren für Ihre Freundlichkeit und Ihnen geben einen kleinen Tip …«

»Donnerwetter, Mr. Murphy, Sie sprechen phantastisch Deutsch!«

Das ist ein lebensgefährliches Kompliment, dachte Thomas und ließ rapide in seinen Sprachkenntnissen nach. »Thank you, General. Meine Kinderfräulein sein gewesen eine mecklenburgische Amme. Ihre speciality waren mecklenburgische Eintöpfe …«

»Interessant, was, Kogge?« sagte der General zu seinem Adjutanten.

»Jawohl, Herr General!«

»Sehr zu Unrecht«, dozierte Thomas Lieven und gab sorgsam auf amerikanischen Akzent acht, »sein die Eintopf geraten in Verruf. Gerne will ich erklären, wie man herstellt eine original mecklenburgische Eintopf. Aber auch Kartoffelgulasch läßt sich machen als Delikatesse!« Thomas senkte die Stimme: »Zuvor eine Frage, die mich bewegt schon seit langer Zeit. Herr General, stimmt es, daß man beimengt der deutschen Soldatenkost – hm – Soda

»Das ist ein Gerücht, das sich hartnäckig behauptet. Ich kann dazu nichts sagen, ich weiß es nicht. Immerhin sind die Leute oft monatelang unterwegs, fern ihren Frauen, fern … Ich brauche nicht weiterzusprechen.«

»Keinesfalls, Herr General! Wie dem auch immer sei: Auf jeden Fall werden helfen Zwiebeln.«

»Zwiebeln?«

»Das A und O beim Kartoffelgulasch, Herr General: Zwiebeln! In Frankreich, weiß Gott, es gibt genug davon! Der Trick ist ganz einfach: Man nehme ebensoviel Pfund Zwiebeln wie Rindfleisch, Majoran, kleingehackte, süß-saure Gurken und …«

»Einen Moment bitte, Mr. Murphy! Kogge, schreiben Sie mit, ich will das dem Generalquartiermeister zukommen lassen!«

»Jawohl, Herr General!«

»Also«, sagte Thomas Lieven, »Man lasse glasig dünsten in Fett Zwiebeln, salze gut und würze mit Paprika …« Er diktierte, bis es klopfte und eine Ordonnanz erschien. Geflüster zwischen der Ordonnanz und dem General – dann verschwanden beide.

Thomas diktierte sein Eintopfrezept weiter.

Nach zwei Minuten kehrte der General zurück.

Er sprach leise und eisig: »Ich habe den Oberleutnant Zumbusch vorhin angerüffelt. Das ließ ihm keine Ruhe. Er hat mit der amerikanischen Botschaft telefoniert. Ein gewisser Mr. Murphy ist dort völlig unbekannt. Haben Sie dafür eine Erklärung, Mr. Murphy?«



2



Vor dem Hotel rollten noch immer schwere Panzer und Militärfahrzeuge vorbei. Das Rasseln ihrer Ketten und das Brummen ihrer Motoren klangen überlaut in Thomas Lievens Ohren.

Es geschah in einer Reflexbewegung, daß er seine Repetieruhr zog und das Schlagwerk tönen ließ: zwölf Schläge und zwei. Reglos verharrte der General. Thomas überlegte in wahnsinniger Schnelligkeit, während die silbernen Schläge tönten. Es hilft nichts, dachte er, ich muß das Äußerste riskieren …

»Nun gut. Es bleibt mir nichts anders übrig. Obwohl ich damit gegen strengsten Befehl handle … Ich bitte Herrn General um eine Unterredung unter vier Augen.« Er sprach jetzt akzentfreies Deutsch.

»Hören Sie mal, Mr. Murphy, oder wie Sie heißen, ich warne Sie! So ein Standgericht tritt schnell zusammen.«

»Fünf Minuten unter vier Augen, Herr General!« Thomas Lieven bemühte sich, bedeutungsvoll auszusehen.

Der General überlegte lange. Dann entließ er seinen Adjutanten mit einer Kopfbewegung.

Kaum hatte dieser den Salon verlassen, legte Thomas los wie ein Maschinengewehr: »Herr General, ich mache Sie hiermit zum Geheimnisträger. Wenn ich gegangen bin, werden Sie augenblicklich vergessen, daß Sie mir je begegnet sind …«

»Haben Sie den Verstand verloren?«

»… ich eröffne Ihnen eine ›Geheime Führungssache‹. Sie geben mir Ihr Wort als Offizier, daß kein Wort darüber Ihren Mund verläßt …«

»Eine solche Unverschämtheit ist mir ja noch nie …«

»… Ich hatte strikten Befehl von Admiral Canaris …«

»Ca-Canaris?«

»… Canaris persönlich, unbedingt auf meiner Identität als amerikanischer Diplomat zu beharren. Die Umstände zwingen mich nun dazu, Ihnen die Wahrheit zu sagen. Bitte sehr.« Mit einer weiten Bewegung knöpfte Thomas Lieven seine Weste auf und entnahm einer Innentasche einen Ausweis. »Lesen Sie, Herr General!«

Felseneck las.

Das Dokument, das er in der Hand hielt, war ein echter Ausweis der Deutschen Abwehr, ausgestellt von einem gewissen Major Fritz Loos, Abwehroffizier beim Wehrbezirkskommando Köln. Thomas hatte den Ausweis aufbewahrt in der Überzeugung, daß er ihn noch einmal brauchen würde …

Der General sagte entgeistert: »Sie … Sie sind bei der Abwehr?«

»Wie Sie sehen!« Thomas war jetzt in Fahrt. »Wenn Herr General Zweifel an meinen Worten hegen, ersuche ich, augenblicklich ein Führungsblitzgespräch nach Köln anzumelden!« – Wenn er telefoniert, bin ich erledigt. Wenn er nicht telefoniert, bin ich gerettet – ging ihm durch den Kopf.

»Aber Sie müssen doch verstehen …«

Es scheint, ich bin gerettet, dachte Thomas und schrie: »Wissen Sie, wer die beiden Leute sind, die da nebenan warten? Wichtigste französische Geheimnisträger! Bereit, für uns zu arbeiten!« Er schlug auf die schwarze Tasche. »Hierin befinden sich Dossiers und Listen mit den Namen aller Angehörigen des ›Deuxième Bureau‹. Verstehen Sie jetzt vielleicht, was auf dem Spiel steht?« General von Felseneck war erschüttert. Nervös trommelte er auf die Tischplatte. Thomas Lieven dachte: Dossiers, Listen, Namen von Agenten. Wenn meine Landsleute, die Deutschen, diese Listen bekommen, dann werden sie die französischen Agenten töten. Blut, viel Blut wird fließen. Aber wenn sie diese nicht bekommen? Dann werden diese französischen Agenten alles tun, um Deutsche umzubringen. Mir gefällt weder das eine noch das andere. Ich hasse Gewalt und Krieg. Also muß ich mir sehr genau überlegen, was mit dieser schwarzen Tasche geschehen soll. Später werde ich mir das überlegen. Jetzt muß ich erst einmal raus hier …

Der General stotterte: »Trotzdem – trotzdem verstehe ich das nicht. Wenn die Leute für uns arbeiten wollen, warum dann diese Geheimnistuerei?«

»Herr General, begreifen Sie doch! Die französische Abwehr jagt hinter uns her! Jede Minute kann ein Anschlag erfolgen! Darum hatte der Admiral die Idee, die beiden Herrschaften unter dem diplomatischen Schutz einer neutralen Macht zu transportieren und in einem Schloß vor Bordeaux zu verstecken, bis ein Waffenstillstand geschlossen ist!« Thomas lachte bitter auf. »Wir haben die Möglichkeit nicht einkalkuliert, daß ein pflichtbewußter deutscher Oberleutnant uns einen Strich durch die Rechnung machen könnte!« Er nickte ernst. »Zeit ist verlorengegangen, kostbarste Zeit! Herr General, wenn die beiden Leute den Franzosen in die Hände fallen, dann sind die Folgen – die internationalen Folgen – unabsehbar … Und nun melden Sie schon endlich Köln an!«

»Aber ich glaube Ihnen doch!«

»Sie glauben mir! Wie gütig! Dann gestatten Sie wenigstens, daß ich Köln anrufe und diese Panne melde!«

»Hören Sie, ich hatte gerade solchen Ärger. Muß das denn sein?«

»Was heißt: muß das sein? Wie soll das weitergehen? Wenn ich mich jetzt endlich entfernen darf, dann riskiere ich doch, daß wir an der nächsten Straßenecke von einem Ihrer übereifrigen Herren wieder verhaftet werden!«

Der General stöhnte: »Ich gebe Ihnen einen Passierschein … Sie werden nicht mehr angehalten werden – nie mehr …«

»Na schön«, sagte Thomas. »Noch eines, Herr General: Machen Sie dem Oberleutnant Zumbusch keine Vorwürfe mehr. Er hat nur seine Pflicht getan. Stellen Sie sich vor, ich wäre ein französischer Agent und er hätte mich passieren lassen …«



3



Als der schwarze Chrysler mit dem Sternenbanner über dem Dach aus dem Hof des Hotels »Georges V« glitt, salutierten zwei deutsche Posten. Thomas Lieven, alias William S. Murphy, legte eine Hand an den Homburg und erwiderte ihre Aufmerksamkeit höflich.

Danach war Thomas weniger höflich. Er hielt Jules Siméon eine gewaltige Standpauke. Dieser nahm sie widerspruchslos hin.

Nach einer Unterbrechung von fast 46 Stunden erreichten sie wieder ihre geplante Fluchtstrecke. Thomas fragte: »Wer soll eigentlich die schwarze Tasche bekommen?«

»Major Débras.«

»Wer ist das?«

»Der zweitwichtigste Mann im ›Deuxième Bureau‹. Er wird die Papiere nach England oder Afrika bringen.«

Und dann, dachte Thomas besorgt, und dann? Ach, wäre die Welt schön, wenn es keine Geheimdienste gäbe!

»Der Major sitzt in Toulouse?«

»Ich habe keine Ahnung, wo er sich jetzt aufhält«, antwortete der Oberst. »Es ist unbestimmt, wann er eintrifft – und wie. Ich habe Befehl, unseren Briefkasten in Toulouse aufzusuchen.«

»Was für einen Briefkasten?« fragte Mimi.

»Briefkasten nennt man einen Menschen, der Nachrichten empfängt oder weitergibt.«

»Aha.«

»Der Mann ist absolut zuverlässig. Gérard Perrier heißt er, ein Garagenbesitzer …«

Auf den mit Flüchtlingen und Truppen verstopften Straßen waren sie viele Tage unterwegs. Der Passierschein, den Thomas von General von Felseneck erhalten hatte, wirkte Wunder. Die deutschen Kontrollen bewiesen exemplarische Höflichkeit! Zuletzt fuhr Thomas sogar mit Wehrmachtsbenzin. Ein Hauptmann in Tours hatte ihm fünf Kanister zur Verfügung gestellt.

Vor Toulouse hielt Thomas an und nahm an seinem Wagen gewisse Veränderungen vor: Er schraubte die CD-Schilder ab und entfernte den amerikanischen Stander und die Fahne auf dem Dach. Diese Utensilien verwahrte er für eventuellen späteren Gebrauch im Kofferraum, aus dem er zwei französische Kennzeichentafeln holte.

»Ich bitte euch, daran zu denken, daß ich von jetzt an nicht mehr Murphy, sondern Jean Leblanc heiße«, sagte er zu Mimi und Siméon. Auf diesen Namen war der falsche Paß ausgestellt, den ihm sein Lehrer Jupiter in der Spionenschule bei Nancy gegeben hatte …

Toulouse war eine Stadt von 250 000 Einwohnern – im Frieden. Nun hausten über eine Million Menschen in ihr. Die Stadt glich einem einzigen hektisch-tragischen Rummelplatz. Riesige Gruppen von Flüchtlingen kampierten im Freien, unter den alten Bäumen der Plätze an der Rue des Changes und in Saint-Sernin. Thomas sah Autos mit Kennzeichen aus ganz Frankreich – und aus halb Europa. Er erblickte einen städtischen Autobus der Pariser Verkehrsbetriebe, der als Fahrtziel noch immer »Arc de Triomphe« angab, und einen Lieferwagen mit der Aufschrift: »Sodawasser- und Kracherlfabrik Alois Schildhammer & Söhne, Wien XIX, Krottenbachstraße 32«.

Während der Oberst seinen »Briefkasten« aufsuchte, bemühten sich Mimi und Thomas, Zimmer aufzutreiben. Sie versuchten es in Hotels, Pensionen und Fremdenheimen. Sie versuchten es überall. Es gab kein einziges freies Zimmer in Toulouse. In den Hotels lebten Familien in Hallen, Speisesälen, Bars und Waschräumen. Die Zimmer waren zwei- oder dreifach überbelegt.

Mit schmerzenden Füßen trafen Mimi und Thomas nach Stunden wieder am Standplatz ihres Wagens ein. Der Oberst saß auf dem Trittbrett des Chryslers. Er sah verstört aus. Die schwarze Tasche hielt er unter dem Arm.

»Was ist passiert?« fragte Thomas. »Haben Sie die Garage nicht gefunden?«

»Doch«, sagte Siméon müde. »Aber Monsieur Perrier nicht mehr. Der Mann ist tot. Es lebt nur noch eine Halbschwester von ihm, Jeanne Perrier. Sie wohnt in der Rue des Bergères 16.«

»Fahren wir hin«, sagte Thomas. »Vielleicht hat sich Major Débras bei ihr gemeldet.«

Die Rue des Bergères lag in der Altstadt, die sich mit ihren engen Kopfsteinstraßen und -gassen und malerischen Häusern seit dem 18. Jahrhundert kaum verändert hatte. Kinder kreischten, Radios spielten, und über die Straßen waren Stricke gespannt, von denen bunte Wäsche flatterte.

In der Rue des Bergères mit ihren Bistros, winzigen Restaurants und kleinen Bars gab es sehr viele hübsche Mädchen. Sie waren ein wenig zu grell geschminkt und ein wenig zu offenherzig angezogen, und sie trippelten hin und her, als ob sie auf etwas Bestimmtes warten würden.

Das Haus Nummer 16 erwies sich als kleines, altmodisches Hotel mit einem verwitterten Restaurant zur ebenen Erde. Über dem Eingang hing eine Messingtafel in Form einer weiblichen Silhouette, und darauf stand:

CHEZ

JEANNE

In einer engen, dunklen Loge fanden sie einen Portier mit brillantinefunkelndem Haar. Eine steile Treppe führte in den ersten Stock des Hotels empor. Der Portier sagte, Madame würde sogleich erscheinen. Wenn die Herrschaften vielleicht inzwischen im Salon Platz nehmen wollten …

Im Salon gab es Kronleuchter, Plüsch und Pleureusen, Topfpflanzen, die verstaubt aussahen, ein Grammophon und einen großen Spiegel, der eine ganze Wand bedeckte. Es roch nach Parfüm und Puder und kaltem Zigarettenrauch.

Ein wenig beklommen sagte Mimi: »O Gott, glaubst du, das ist hier ein …«

»Mhm«, sagte Thomas.

Puritanisch gequält sagte der Oberst: »Wir gehen ja gleich wieder!«

Eine hübsche Frau von fünfunddreißig Jahren kam herein. Sie trug kurzgeschnittenes, löwenfarbenes Haar und war raffiniert geschminkt. Sie sah energisch aus, eine Frau, die das Leben kannte und die es – per saldo – sehr komisch fand. Die Dame hatte Formen, welche sofort das Interesse Thomas Lievens fanden.

Die Stimme der Dame klang ein wenig heiser: »Willkommen, die Herrschaften. Oh, zu dritt! Reizend. Ich bin Jeanne Perrier. Darf ich Ihnen ein paar von meinen kleinen Freundinnen vorstellen?«

Sie klatschte in die Hände.

Eine rotseidene Tapetentür öffnete sich, und drei junge Mädchen kamen herein, unter ihnen eine Mulattin. Sie waren alle drei hübsch und alle drei nackt. Lächelnd marschierten sie zu dem großen Spiegel und drehten sich im Kreise. Die interessante Dame mit dem löwenfarbenen Haar sprach indessen: »Darf ich bekannt machen? Von links nach rechts: Sonja, Bébé, Jeanette …«

»Madame«, unterbrach der Oberst schwach.

»… Jeanette kommt aus Sansibar, sie hat …«

»Madame«, unterbrach der Oberst stärker.

»Monsieur?«

»Hier herrscht ein Mißverständnis. Wir wollen Sie allein sprechen, Madame!« Der Oberst stand auf, trat zu Jeanne Perrier und fragte leise: »Was sagte die Ameise zur Grille?«

Jeanne Perriers Augen verengten sich, als sie leise antwortete: »Tanze nur, tanze, im Winter wirst du bitterlichen Hunger leiden.« Danach klatschte sie wieder in die Hände und sagte zu den Hübschen: »Ihr könnt gehen!« Die drei verschwanden kichernd.

»Sie müssen entschuldigen, ich hatte keine Ahnung …« Jeanne lachte und sah Thomas an. Er schien ihr zu gefallen. Mimi hatte plötzlich eine ärgerliche Falte auf der Stirn. Jeanne sagte: »Zwei Tage vor seinem Tod weihte mein Bruder mich ein. Er nannte mir auch die Erkennungssätze.« Sie wandte sich an Siméon. »Sie sind also der Herr, der die Tasche bringt. Aber der Herr, der die Tasche holen soll, hat noch nichts von sich hören lassen.«

»Dann muß ich auf ihn warten. Es kann noch eine Weile dauern, bis er kommt. Seine Situation ist sehr gefährlich.«

Thomas dachte: Und sie wird noch gefährlicher werden, wenn der Herr auftaucht. Denn er soll die schwarze Tasche nicht bekommen. Siméon hat sie jetzt. Er wird sie nicht behalten. Ich werde dafür sorgen. Ich werde verhindern, daß neues Unheil geschieht, daß noch mehr Blut fließt … Ihr hättet mich in Ruhe lassen sollen, ihr alle! Nun ist es zu spät, nun spiele ich mit – aber auf meine Weise!

Er sagte zu Jeanne: »Madame, Sie wissen, Toulouse ist überfüllt. Könnten Sie uns nicht zwei Zimmer vermieten?«

»Hier?« Mimi fuhr auf.

»Mein Kind, es ist die einzige Möglichkeit, die ich sehen kann …«

Thomas schenkte Jeanne ein werbendes Lächeln: »Bitte, Madame!«

»Ich vermiete meine Zimmer eigentlich nur stundenweise …«

»Madame, erlauben Sie, daß ich Ihrem Herzen einen ganz zarten patriotischen Stoß versetze?« erkundigte sich Thomas.

Jeanne seufzte verträumt. »Ein charmanter Mieter – also gut.«



4



Der Major Débras ließ auf sich warten. Eine Woche verstrich, eine zweite – er tauchte nicht auf. Wie schön, dachte Thomas, alias Jean, wenn er überhaupt nie mehr auftauchen würde!

Er begann, sich im »Chez Jeanne« häuslich einzurichten. Wann immer es seine Zeit erlaubte, ging er der appetitlichen Hotelbesitzerin mit dem löwenfarbenen Haar zur Hand.

»Mein Koch ist mir davongelaufen, Jean«, klagte Jeanne ihrem deutschstämmigen Mieter, den sie für einen waschechten Pariser hielt und schon am zweiten Tag seiner Anwesenheit mit seinem hübschen Vornamen ansprach. »Und die Lebensmittel werden immer knapper. Was glauben Sie, was ich verdienen könnte, wenn das Restaurant funktionieren würde …«

»Jeanne«, antwortete Thomas, der seine Gastgeberin schon am zweiten Tag mit ihrem hübschen Vornamen ansprach, »ein Vorschlag zur Güte: Ich koche, ich organisiere die Lebensmittel. Und den Verdienst teilen wir halbe-halbe. Einverstanden?«

»Sind Sie immer so stürmisch?«

»Stört Sie das?«

»Im Gegenteil, Jean, im Gegenteil! Ich brenne darauf, noch andere Ihrer verborgenen Talente kennenzulernen …«

Bei dem Versuch, Jeannes Speiselokal wieder in Schwung zu bringen, bewies Oberst Siméon übrigens doch noch seine Eignung für den Geheimdienst. Nach einer Abwesenheit von zwei Tagen berichtete er Thomas und Mimi stolz: »Die beiden Mechaniker wollten mir nichts sagen, aber ich habe in der Garage herumgestöbert und dabei alle möglichen Hinweise gefunden. Einen Schlüssel. Eine Landkarte. Aufzeichnungen. Voilà! Der alte Perrier hat sich ein Benzinlager angelegt!«

»Donnerwetter! Wo?«

»Im Wald vor Villefranche-de-Laragais. Fünfzig Kilometer von hier. In einem Erdbunker. Mindestens hundert Kanister. Ich komme gerade von dort.«

Mimi sprang auf und gab Siméon einen langen, ostentativen Kuß …

Jetzt bekomme ich mein Fett für Jeanne, dachte Thomas und sagte anerkennend: »Ich gratuliere, Herr Oberst!«

»Ach«, antwortete Siméon, als er wieder sprechen konnte, bescheiden und liebenswert, »wissen Sie, mein Freund, ich bin ja so froh, daß ich endlich etwas Vernünftiges fertiggebracht habe!« – Wollte Gott, alle Geheimagenten wären so einsichtig, dachte Thomas.

Also holten sie das Benzin aus dem Wald. Thomas stellte den schwarzen Chrysler in der Garage unter und kaufte für ein paar seiner 27 730 Dollar einen kleinen Peugeot. Der verbrauchte weniger Treibstoff.

Bald war Thomas auf den holprigen Landstraßen um Toulouse eine bekannte Erscheinung. Alle Bauern grüßten ihn, grinsten und hielten den Mund. Zum einen zahlte Thomas immer gute Preise, zum anderen verschaffte er Mangelware aus der Stadt …

Thomas briet, buk und kochte, daß es eine Lust war. Jeanne assistierte ihm dabei. In der Küche war es heiß. Bekleidungsmäßig schützte Jeanne sich vor Hitze, so radikal es eben noch anging. Es war eine glückliche Partnerschaft: Sie bewunderte ihn, er bewunderte sie. Mimi machte lange Spaziergänge mit Siméon.

Das Restaurant war nun täglich bis zum letzten Platz besetzt. Es kamen fast nur männliche Gäste, Flüchtlinge aus all den Ländern, mit denen Hitler sich bislang beschäftigt hatte. So war Thomas Lievens Küche sehr abwechslungsreich. Die Flüchtlinge zeigten sich entzückt. Nicht zuletzt über die wirklich humanen Preise.

Noch entzückter waren die Mädchen des Hauses. Der junge, charmante Koch riß sie alle hin mit seiner Eleganz und Frechheit, seiner Liebenswürdigkeit und Klugheit. Stets fühlten sie sich von ihm als Damen behandelt, denn er trat keiner zu nahe.

Bald schon amtierte Thomas denn als Beichtvater, Geldverleiher, Ratgeber in juristischen und medizinischen Fragen und als nimmermüder Zuhörer, wenn sich ihm die innersten Kammern weiblicher Herzen öffneten.

Jeanette hatte ein Baby auf dem Lande. Die Bauernfamilie stellte immer unverschämtere Forderungen. Thomas brachte sie davon ab.

Sonja stand eine Erbschaft zu, die ein schurkischer Advokat ihr nicht aushändigte. Thomas brachte ihn dazu.

Bébé hatte einen brutalen Freund, der sie dauernd betrog und dauernd verdrosch. Mit einem zarten Hinweis auf gewisse polizeiliche Verordnungen und mit einem harten Jiu-Jitsu-Griff brachte Thomas ihn dazu, sich anständig zu betragen.

Alfonse hieß dieser Freund. Er sollte Thomas noch einmal viel Kummer bereiten …

Unter den Stammgästen des Restaurants befand sich ein Bankier namens Walter Lindner. Erst war er vor Hitler aus Wien geflohen, dann aus Paris.

Lindner war von seiner Frau auf der Flucht getrennt worden und wartete nun, daß sie wieder auftauchte. Sie hatten Toulouse als Treffpunkt ausgemacht.

Walter Lindner entwickelte eine große Sympathie für Thomas. Als er erfuhr, daß dieser auch Bankier war, machte er ihm folgendes Angebot: »Kommen Sie mit mir nach Südamerika. Sobald meine Frau eintrifft, gehe ich hinüber. Ich habe Vermögen drüben. Werden Sie mein Partner …« Und er wies einen Bankauszug der »Rio de la Plata Bank« vor. Der Auszug war neueren Datums und bestätigte Lindner ein Guthaben von über einer Million Dollar. Das war der Augenblick, in welchem Thomas Lieven, allem bisher Erlebten zum Trotz, noch einmal Mut faßte und an die Vernunft der Menschen und an eine lichte Zukunft glaubte.

Er wollte die Affäre mit der »schwarzen Tasche« noch würdig erledigen, so gut er konnte. Weder die Deutsche Abwehr noch der französische Geheimdienst sollten die Dossiers bekommen.

Aber dann nichts wie raus aus dem kriegslüsternen, verrotteten alten Europa! Fort in eine neue Welt! Wieder Bankier sein, ein solider Bürger, ein ziviler Mensch! Ach, welche Sehnsucht empfand er danach!

Unerfüllt sollte diese Sehnsucht bleiben. Bald schon sollte Thomas von der Gewissenspein befreit werden, für die Franzosen gegen die Deutschen gearbeitet zu haben. Bald schon sollte er für die Deutschen gegen die Franzosen arbeiten. Und dann wieder für die Franzosen. Und gegen die Engländer. Und für die Engländer. Und für alle drei. Und gegen alle drei. Der Wahnsinn hatte eben erst begonnen. Der gute Mensch in Thomas Lieven, der den Frieden liebte und die Gewalt haßte, wußte nur noch nicht, was ihm bevorstand …

Der Juni ging vorbei, der Juli. Nun saßen sie schon fast zwei Monate in Toulouse. An einem heißen Morgen hielten Siméon, Jeanne und Thomas einen kleinen Kriegsrat ab.

Siméon zeigte sich ein wenig aufgeregt, aber das fiel Thomas erst sozusagen im nachhinein auf. Der Oberst erklärte ihm: »Wir müssen unseren Aktionsradius erweitern, mein Freund. Madame hat eine neue Adresse für Sie.« Er neigte sich über die Landkarte. »Sehen Sie mal, hier, ungefähr 150 Kilometer nordwestlich von Toulouse, im Tal der Dordogne, in der Nähe von Sarlat.«

»Da liegt ein kleines Schloß«, erklärte Jeanne, nervös rauchend – auch das kam Thomas erst später in den Sinn, »am Rande des Ortes Castelnau-Fayrac. ›Les Milandes‹ heißt es. Die Leute dort haben auch eine Farm, einen Haufen Schweine und Kühe, alles …«

Drei Stunden später holperte der kleine Peugeot über staubige Landstraßen immer noch westwärts. An den Ufern der Dordogne wurde die Gegend romantisch, und romantisch sah auch das Schloß »Les Milandes« aus – ein weißes, hohes Gemäuer aus dem 15. Jahrhundert, mit zwei großen und zwei kleineren Wachttürmen, den ganzen Höhenzug beherrschend, umgeben von einem alten Park, an den sich Wiesen und Felder schlossen.

Thomas ließ den Wagen bei der offenen Einfahrt zum Park stehen und rief ein paarmal laut. Niemand antwortete.

Er erreichte einen großen, kiesbestreuten Vorplatz. Ein gewaltiges altes Eichentor stand angelehnt. Eine Freitreppe führte hinauf.

»Hallo!« rief Thomas wieder.

Dann hörte er ein schrilles, hohes Lachen, das ihn zusammenfahren ließ, denn es war kein Menschenlachen.

Im nächsten Augenblick schoß ein kleines braunes Äffchen durch den Türspalt, hüpfte schrill kichernd die Stufen herunter und turnte an Thomas Lieven empor. Ehe er sich von seinem Schock erholt hatte, saß der Affe bereits auf seiner linken Schulter und gab ihm, dauernd keckernd, Küsse.

Eine Frauenstimme erklang: »Glou-Glou! Glou-Glou, wo bist du? Was stellst du schon wieder an?«

Das Eichentor öffnete sich. Eine blendend schöne, dunkelhäutige Frau stand im Rahmen. Sie trug enge weiße Hosen und eine überhängende weiße Bluse. An den schmalen Handgelenken klirrten goldene Armbänder. Ihr schwarzes Haar war in der Mitte gescheitelt und lag eng an.

Thomas holte Atem, denn er kannte diese Frau, und er verehrte sie seit Jahren. Er fand keine Worte. Auf alles war er gefaßt gewesen, nur darauf nicht, inmitten einer verrückten Zeit, inmitten eines von Krieg und Niederlage zerrütteten Frankreichs plötzlich einem Idol der ganzen Welt, der perfekten Verkörperung exotischer Schönheit überhaupt gegenüberzustehen: der berühmten Negertänzerin Josephine Baker.

Mit einem wundervoll leisen Lächeln sagte sie: »Guten Tag, Monsieur, entschuldigen Sie die stürmische Begrüßung. Sie scheinen Glou-Glou zu gefallen.«

»Madame … Sie sind … Sie haben … Sie wohnen hier?«

»Zur Miete, ja. Was kann ich für Sie tun?«

»Mein Name ist Jean Leblanc. Ich glaube, ich kam ursprünglich hierher, um Lebensmittel zu kaufen … Bei Ihrem Anblick, Madame, kann ich mich nicht mehr genau daran erinnern«, sagte Thomas. Dann ging er die Freitreppe hinauf und küßte, den kleinen Affen noch auf der Schulter, Josephine Baker mit einer tiefen Verneigung die Hand. »Es ist auch vollkommen unwichtig, warum ich kam. Ich bin glücklich, vor Ihnen zu stehen, vor einer der größten Künstlerinnen unserer Zeit.«

»Sie sind nett, Monsieur Leblanc.«

»Ich besitze alle Ihre Platten! ›J’ai deux amours‹ habe ich dreimal! Ich war in so vielen Ihrer Revuen …« Voll Verehrung sah Thomas Lieven die »Schwarze Venus« an. Er wußte, daß sie als Tochter eines spanischen Kaufmanns und einer Negerin in der amerikanischen Stadt St. Louis geboren worden war. Er wußte, daß sie ihre sagenhafte Karriere bettelarm begonnen hatte. Weltberühmt war Josephine Baker in Paris geworden, wo sie das Publikum zur Raserei brachte, als sie, mit einem Bananenkranz und sonst gar nichts bekleidet, ekstatische Tänze zeigte.

»Kommen Sie vielleicht aus Paris, Monsieur?«

»Ja, ich bin geflüchtet …«

»Sie müssen mir alles erzählen. Ich liebe Paris so. Ist das Ihr Wagen da vorne beim Tor?«

»Ja.«

»Sie sind allein gekommen?«

»Gewiß, warum?«

»Ich frage nur. Bitte, Monsieur Leblanc, folgen Sie mir …«

Das Schloß war mit antiken Möbeln eingerichtet. Thomas stellte fest, daß es eine ganze Menagerie beherbergte. Außer dem Affenweibchen »Glou-Glou« lernte er noch kennen: den äußerst seriösen Löwenaffen »Mica«, den winzigen, blitzschnellen »Gugusse« mit dem gesträubten Schnurrbart, eine enorme dänische Dogge namens »Bonzo«, die faule Pythonschlange »Agathe«, die sich vor dem kalten Kamin in der Halle aalte, den Papagei »Hannibal« und zwei kleine Mäuse, die Josephine Baker ihm als »Fräulein Haarwickel« und »Fräulein Fragezeichen« vorstellte.

Alle diese Tiere lebten in größter Eintracht miteinander. »Bonzo« lag auf dem Teppich und ließ sich buchstäblich von »Fräulein Fragezeichen« auf der großen Nase herumtanzen. »Mica« und »Hannibal« spielten Fußball mit einer kleinen Kugel aus Silberpapier.

»Eine glückliche Welt«, sagte Thomas.

»Die Tiere verstehen es, in Frieden zu leben«, sagte Josephine Baker.

»Die Menschen leider nicht.«

»Auch die Menschen werden es einmal verstehen«, sagte die Tänzerin. »Doch jetzt erzählen Sie von Paris!«

Thomas Lieven erzählte. Er war so fasziniert von dieser Begegnung, daß er vollkommen die Zeit vergaß. Zuletzt blickte er schuldbewußt auf seine goldene Repetieruhr. »Sechs Uhr, um Gottes willen!«

»Der Nachmittag war reizend. Wollen Sie nicht noch bleiben und mit mir essen? Ich habe allerdings nur wenig im Haus, ich war nicht auf Besuch vorbereitet. Auch mein Mädchen ist nicht da …«

Thomas strahlte jungenhaft: »Wenn ich noch bleiben darf? Aber dann müssen Sie erlauben, daß ich koche! Man kann auch aus wenigem delikate Dinge kochen!«

»Das stimmt«, sagte Josephine Baker. »Es muß nicht immer Kaviar sein.«

Die Küche war groß und altmodisch eingerichtet. In Hemdsärmeln handwerkte Thomas Lieven mit Feuereifer. Draußen versank die Sonne hinter der Hügelkette des Flusses, die Schatten wurden länger, der Abend kam.

Lächelnd sah Josephine Baker zu. Am meisten interessierten sie die pikanten Eier, die Thomas herstellte. »Madame, es handelt sich um eine eigene Komposition! Ihnen zu Ehren taufe ich sie hiermit Eier ›Josephine‹!«

»Vielen Dank. Ich werde Sie jetzt allein lassen und mich umziehen. Bis gleich also …« Josephine Baker verschwand. Bester Laune kochte Thomas weiter. Was für eine Frau, dachte er …

Als Thomas seine Arbeit beendet hatte, wusch er sich im Badezimmer die Hände und ging ins Speisezimmer. Hier brannten je zwölf Kerzen in zwei Leuchtern. Josephine Baker trug ein hautenges grünes Kleid. Sie stand neben einem großen, kräftigen Mann in einem dunklen Anzug. Das Gesicht des Mannes war von der Sonne verbrannt, sein kurzes Haar war an den Schläfen ergraut. Der Mann hatte gute Augen und einen guten Mund. Josephine Baker hielt seine Hand fest, als sie sagte: »Monsieur Leblanc, verzeihen Sie mir diese Überraschung, aber ich muß sehr vorsichtig sein.« Sie sah den Mann mit den grauen Schläfen voll Liebe an. »Maurice, ich möchte dich mit einem Freund bekannt machen.«

Der Mann im dunklen Anzug hielt Thomas die Hand hin. »Ich freue mich aufrichtig, Sie endlich kennenzulernen, Thomas Lieven. Ich habe schon viel von Ihnen gehört!«

Als so unerwartet sein echter Name fiel, erstarrte Thomas. Was für ein Wahnsinn, dachte er, nun bin ich also doch noch in die Falle gegangen.

»Oh«, rief Josephine Baker, »wie dumm von mir, Sie kennen Maurice ja noch nicht! Dies ist Maurice Débras, Herr Lieven, Major Débras vom ›Deuxième Bureau‹!«



5



Ach, verdammt noch mal, dachte Thomas Lieven, komme ich denn niemals mehr aus diesem Teufelskreis heraus? Adieu, süßer Abend zu zweit!

»Major Débras ist mein Freund«, gab Josephine bekannt.

»Ein glücklicher Mensch«, sagte Thomas verstimmt. Er sah den Major an: »In Toulouse wartet Oberst Siméon seit Wochen auf Sie!«

»Ich bin erst gestern hier angekommen. Ich habe eine schwierige Flucht hinter mir, Monsieur Lieven.«

Josephine sagte: »Maurice kann sich in Toulouse nicht sehen lassen. Sein Gesicht ist zu bekannt. In der Stadt wimmelt es von deutschen Agenten und von französischen Spitzeln.«

»Madame«, sagte Thomas, »Sie überschütten mich mit frohen Nachrichten.«

Bewegt sprach der Major: »Ich weiß, was Sie damit sagen wollen, Monsieur Lieven. Wenige haben sich für die Sache Frankreichs in größere Gefahr begeben als Sie. Wenn ich nach London komme, werde ich General de Gaulle zu berichten wissen, mit welcher Tollkühnheit Sie vor einem deutschen General die schwarze Tasche verteidigt haben!«

Die schwarze Tasche …

Seit Tagen konnte Thomas Lieven ihretwegen nicht mehr ordentlich schlafen!

»Die Tasche liegt in Toulouse bei Oberst Siméon.«

»Nein«, sagte Débras freundlich, »die Tasche liegt unter dem Werkzeug im Kofferraum Ihres Wagens.«

»Meines –«

»Ihres kleinen Peugeots, der beim Parktor steht. Kommen Sie, Herr Lieven, lassen Sie uns vor dem Essen noch schnell hingehen und sie holen …«

Sie haben mich hereingelegt, dachte Thomas Lieven wütend. Siméon und Mimi und Jeanne haben mich hereingelegt. Was mache ich jetzt? Es ist wahr, ich wollte nicht, daß der deutsche Geheimdienst die Tasche bekommt. Aber ich will auch nicht, daß der französische sie bekommt. Es würde doch nur Blut fließen, französisches oder deutsches … Ich will überhaupt nicht, daß Blut fließt … Ich war ein friedlicher Mensch. Ihr habt mich zum Geheimagenten gemacht. Hättet ihr mich in Ruhe gelassen … Nun seht zu, was ihr davon habt!

Diesen Gedankengängen hing Thomas Lieven nach, während er, zur Linken von Josephine Baker und gegenüber dem Major Débras, bei Tisch saß und lustlos in den delikaten Wurstnestern herumstocherte, die er selber zubereitet hatte.

Die schwarze Tasche lag nun auf einer antiken Anrichte beim Fenster. Sie hatte sich tatsächlich im Kofferraum seines Wagens befunden.

Mit Appetit essend, erklärte Débras, wie sie dorthin gekommen war: »Ich telefonierte gestern mit Siméon, Monsieur Lieven. Ich sagte ihm: ›Wie erhalte ich die schwarze Tasche?‹ Er sagte: ›Sie können nicht nach Toulouse kommen, man wird Sie erkennen. Aber dieser phantastische Lieven, dieser ganz außerordentliche Mensch, fährt seit Wochen kreuz und quer durch die Gegend und kauft Lebensmittel ein. Niemand wird sich wundern, ihn zu sehen. Er kann die Tasche überbringen.‹« Débras schnupperte: »Großartig, diese Füllung, was ist das?«

»Gedünstete Zwiebeln, Tomaten und Kräuter. Wozu die Heimlichtuerei, Major? Siméon hätte mich informieren müssen.«

»Ich habe es so angeordnet. Ich kannte Sie doch nicht …«

»Bitte noch ein paar Nester, Monsieur Lieven!« Josephine schenkte Thomas ein strahlendes Lächeln. »Es war schon besser so. Sie sehen, die Tasche hat ihr Ziel wohlbehalten erreicht.«

»Ja, das sehe ich«, sagte Thomas. Er sah sie an, die blödsinnige Tasche mit den blödsinnigen Listen, die Hunderten noch das Leben kosten konnte. Da stand sie. Den Deutschen mühsam entrissen. Bei den Franzosen gelandet.

Schade, dachte Thomas. Ohne Politik, ohne Geheimdienste, Gewalt und Tod hätte das ein so hübscher Abend werden können!

Eine Strophe aus der »Dreigroschenoper« fiel ihm ein:

Denn leider sind auf diesem Sterne eben

die Mittel kärglich und die Menschen roh.

Wer möchte nicht in Fried und Eintracht leben?

Doch die Verhältnisse, die sind nicht so …

Nein, dachte Thomas, die Verhältnisse, sie waren nicht so. Und darum dachte er von nun an zu jedem Satz, den er sprach, Gedanken, die mit den Sätzen nicht das geringste zu tun hatten …

Thomas Lieven sagte: »Nun serviere ich eine Spezialität, die ich Madame zu Ehren Eier ›Josephine‹ genannt habe.« Und er dachte: Die Tasche darf nicht bei Débras bleiben. Er ist mir sympathisch. Josephine ist mir sympathisch. Ich will ihnen nicht schaden. Aber ich kann, ich darf, ich mag ihnen auch nicht nützen!

Der Major zeigte sich von Thomas Lievens Eiern entzückt: »Delikat, Monsieur; Sie sind wirklich ein großer Mann!«

Josephine fragte: »Ist da Muskat dabei?«

Thomas Lieven sagte: »Eine Spur, Madame. Das wichtigste ist, daß man zuerst die Butter zerläßt und dann das Mehl verrührt, aber so, daß beide hell bleiben.«

Thomas Lieven dachte: Ich verstehe Josephine, ich verstehe Débras. Ihr Land ist in Gefahr, wir haben sie überfallen, sie wollen sich verteidigen, sie wollen sich wehren gegen Hitler. Aber ich, ich will nicht blutige Hände bekommen!

Thomas sagte: »Erst nach dem Mehl füge man unter Rühren Milch zu, bis die Sauce dick wird.«

Thomas dachte: Da haben sie mir in dieser idiotischen Spionenschule bei Nancy doch mal ein Buch in die Hand gedrückt. Zum Chiffrieren. Dem Helden jenes Romans ging es eigentlich genauso wie mir. Wie hieß der gleich? Ach ja, der Graf von Monte Christo …

Mit Engelszungen sprach Thomas Lieven: »Sie wollen nach England, Major Débras. Welchen Weg werden Sie nehmen?«

»Über Madrid und Lissabon.«

»Ist das nicht sehr gefährlich?«

»Ich habe noch einen falschen Paß.«

»Trotzdem. Wie Madame sagte, es wimmelt hier von Spitzeln. Wenn man die Tasche bei Ihnen findet …«

»Ich muß es riskieren. Siméon wird in Paris gebraucht, er soll zurück. Ich habe niemanden.«

»Doch!«

»Wen?«

»Mich!«

»Sie?«

Der Teufel soll alle Geheimdienste der Welt holen, dachte Thomas und antwortete mit Feuer: »Jawohl, mich. Es ist mir ein unerträglicher Gedanke, daß die Deutschen die Tasche bekommen!« – Es ist mir genauso unerträglich, zu denken, daß ihr sie habt! – »Sie kennen mich jetzt, Sie wissen, daß ich zuverlässig bin.« – Wenn ihr wüßtet, wie unzuverlässig ich bin! – »Außerdem macht es mir Spaß. Sportlicher Ehrgeiz hat mich gepackt!« – Ach, könnte ich doch nur wieder ein friedlicher Bürger sein!

Von ihren Eiern aufblickend, sagte Josephine: »Monsieur Lieven hat recht, Maurice. Du bist für die Deutschen und ihre Spitzel dasselbe wie das rote Tuch für den Stier.«

»Natürlich, chérie! Aber wie sollen wir die Tasche vor der Deutschen Abwehr in Sicherheit bringen?«

Vor der Deutschen Abwehr und vor allen anderen Diensten, dachte Thomas und sagte: »Ich habe in Toulouse einen Bankier namens Lindner getroffen. Der wartet nur noch auf seine Frau, dann geht er nach Südamerika. Er hat mir angeboten, sein Partner zu werden. Wir werden über Lissabon auswandern.«

Josephine sagte zu Débras: »In Lissabon könntet ihr euch treffen.«

Débras fragte: »Und warum wollen Sie das alles tun?«

Improvisiertes Menu • 19. August 1940

Thomas Lievens Eierspeise verzauberte

die »Schwarze Venus«.

Wurstnester

Eier »Josephine«

Schwedenfrüchte

Wurstnester: Man nehme eine Wurstsorte, die sich in breite, feste Scheiben teilen läßt, schneide sie in ein Zentimeter dicke Scheiben, ohne die Haut zu entfernen. In einer Pfanne mache man Fett heiß, gebe die Wurstscheiben hinein und lasse sie kurz so warm werden, daß sie sich zu einem »Nest« wölben. Dann nehme man die Scheiben rasch vom Feuer auf eine Schüssel zum Anrichten, fülle einige Nester mit Apfelcreme (geriebener Meerrettich und geriebene Äpfel, ein Schuß Weinessig und Salz), andere Nester mit einer Farce aus gedünsteten Zwiebeln, Tomaten und Kräutern sowie Petersilie, Schnittlauch und Olivenöl. Dazu esse man kräftiges Bauernbrot.

Eier »Josephine«: Man bereite zunächst eine weiße Sauce aus 110 Gramm Butter, 50 Gramm Mehl und einem viertel Liter Milch, in die man später zwei Eidotter quirlt. Wichtig dabei ist, daß man zuerst die Butter zerläßt, dann Mehl zugibt; es muß aber so zerrührt werden, daß beides hell bleibt, und die Milch kommt unter ständigem Rühren hinzu. Die Sauce muß dicklich sein, und die Eidotter gebe man erst hinein, wenn die Sauce vom Feuer genommen ist. Etwas Muskat erhöht den Wohlgeschmack.

Diese – auch für andere Gerichte geeignete – weiße Sauce vervollständige man in diesem Fall mit feinzerhacktem Schinken und Parmesankäse. Dann gebe man »verlorene Eier« hinein, daß sie gut von der Sauce bedeckt sind, streue noch einmal Parmesankäse und Butterflocken darüber und lasse alles in der Form fünf Minuten überbacken.

Kleiner Trick für »verlorene Eier«: Ein richtiges »verlorenes Ei« muß nur eben pflaumenweich sein und trotzdem ohne Schale halten. Um das zu erreichen, lasse man die Eier aus der Schale vorsichtig in kochendes Essigwasser gleiten. Nach gut drei Minuten hole man sie am besten mit Hilfe eines Siebes heraus, tue sie in kaltes Wasser und tupfe sie – nach völliger Abkühlung – vorsichtig mit einem Tuch ab.

Für den Einkauf der immer wieder erwähnten Muskatnuß sollte man wissen, daß die guten Nüsse rund, schwer und ölhaltig sein sollen, sie dürfen beim Reiben nicht bröckeln. Verhältnismäßig leichte sind meist ohne Aroma und oft wurmstichig. Der leichte mehlige Überzug auf der Nuß stammt vom Kalkwasser, in das die Nüsse vor dem Versand gelegt werden, um sie vor Insektenfraß zu schützen.

Schwedenfrüchte: eine Büchse gemischtes Kompott, gut im Eisschrank gekühlt, mit etwas Rum abgespritzt und mit viel flüssiger Sahne übergossen. Im Notfall kann man auch Büchsensahne verwenden.

Aus Überzeugung, dachte Thomas Lieven und antwortete: »Aus Überzeugung.«

Sinnend sprach Débras: »Ich wäre Ihnen zu unendlichem Dank verpflichtet …« Abwarten, abwarten, dachte Thomas. »Außerdem bietet uns diese zweifache Reise noch besondere Möglichkeiten.« – Mir bestimmt, dachte Thomas. – »Ich werde die Aufmerksamkeit der Verfolger auf mich ziehen. Damit sind Sie und die schwarze Tasche geschützt.« – Ganz recht, dachte Thomas. – »Also klar, ich fahre mit der Bahn über Madrid. Sie, Monsieur Lieven, werden mit Ihrem Transitvisum in Marseille noch ein Flugzeug bekommen …«

Thomas dachte: Ihr seid so nett mit eurem Mut und euren Plänen. Hoffentlich werdet ihr mir später nicht böse sein. Aber kann ein anständiger Mensch in meiner Lage anders handeln? Ich will nun mal nicht, daß französische Agenten sterben. Aber ich will auch nicht, daß deutsche Landser sterben! Es gibt nicht nur Nazis in meinem Land!

Thomas sagte: »Es ist eine reine Frage der Vernunft, Monsieur Débras. Sie sind ein von allen Hunden gehetzter Mann. Ich bin für die Deutsche Abwehr noch immer ein unbeschriebenes Blatt …«



6



Ein seltsames Spiel des unergründlichen Zufalls wollte es, daß etwa zur gleichen Zeit an diesem Abend der General Otto von Stülpnagel, Militärbefehlshaber in Frankreich, im »Hôtel Majestic«, dem deutschen Stabsquartier zu Paris, sein Sektglas hob, um mit zwei Herren anzustoßen. Einer dieser Herren war der Chef der Deutschen Abwehr, Admiral Wilhelm Canaris, der andere war der kleine, grauhaarige Panzerkorpsgeneral Erich von Felseneck.

Silberhell klangen die Kristallgläser. Vor einem großen Gemälde Napoleons I. prosteten die Herren einander zu. Bunt leuchteten Uniformen aller Waffengattungen. Ordensspangen blitzten.

General von Stülpnagel sagte: »Auf die Leistung der unbekannten, unsichtbaren Helden Ihrer Organisation, Herr Canaris!«

»Auf die ungleich größere Ihrer Soldaten, meine Herren!«

General von Felseneck hatte schon ein bißchen viel getrunken, er lachte verschmitzt: »Seien Sie nicht so bescheiden, Admiral! Ihr Kerle wart schon verflucht gerissen!« Er amüsierte sich. »Darf Ihnen das leider nicht erzählen, Stülpnagel. Wurde nämlich zum Geheimnisträger gemacht. Aber: Er hat schon ein Köpfchen, unser Canaris!«

Sie tranken.

Die Generäle Kleist und Reichenau traten heran und entführten den Kollegen Stülpnagel.

Canaris betrachtete den General von Felseneck mit plötzlichem Interesse. Er offerierte Zigarren und erkundigte sich beiläufig: »Wovon sprachen Sie eben, Herr von Felseneck?«

Felseneck kicherte: »Bin Geheimnisträger, Herr Canaris! Aus mir bekommen Sie kein Wort heraus!«

»Wer hat Ihnen denn dieses absolute Schweigen auferlegt?« wollte der Admiral wissen.

»Einer Ihrer Leute – toller Junge, also wirklich, Hut ab!«

Canaris lächelte, aber seine Augen blieben ernst. »Nun erzählen Sie schon! Ich möchte doch wissen, welcher unserer kleinen Tricks solchen Eindruck auf Sie gemacht hat!«

»Na schön. Wäre ja auch zu dämlich, wenn man mit Ihnen nicht darüber reden dürfte! Also, ich sage nur: die schwarze Tasche!«

»Aha!« Canaris nickte freundlich. »Jaja, die schwarze Tasche!«

»Das war vielleicht ein Kerl, Herr Canaris! Wie der vor mir als amerikanischer Diplomat auftrat. Die Sicherheit! Die Ruhe, nachdem ihn einer meiner Leute verhaftet hatte!« Von Felseneck lachte herzlich: »Bringt zwei französische Spione und die gesamten Dossiers des ›Deuxième Bureau‹ für uns in Sicherheit und nimmt sich noch die Zeit, mir zu erklären, wie man Kartoffelgulasch kocht! Immer wieder muß ich an den Jungen denken. Wollte wahrhaftig, ich hätte so etwas in meinem Stab!«

»Ja«, sagte Canaris, »es gibt schon ein paar fixe Knaben in der Branche. Ich erinnere mich an die Geschichte …« Er hatte natürlich keine Ahnung von der Geschichte. Aber sein Instinkt sagte ihm: Hier mußte etwas Fürchterliches passiert sein! Gespielt harmlos überlegte er: »Warten Sie mal, wie hieß der Mann doch gleich?«

»Lieven, Thomas Lieven! Leitstelle WBK Köln. Er zeigte mir zuletzt seinen Ausweis. Thomas Lieven! Werde den Namen nie vergessen!«

»Lieven, natürlich. Das ist auch ein Name, den man sich merken muß!« Canaris winkte eine Ordonnanz heran und nahm zwei Gläser voll Champagner von einem schweren Silbertablett. »Kommen Sie, lieber General, trinken wir noch einen Schluck. Setzen wir uns in diesen Alkoven. Erzählen Sie mir mehr von Ihrer Begegnung mit Freund Lieven. Ich bin gern stolz auf meine Leute …«



7



Unbarmherzig schrillte das Telefon. Schweißgebadet fuhr Major Fritz Loos in seinem Bett hoch. Immer diese Aufregungen, dachte er schlaftrunken. Sauberuf, den ich habe!

Endlich fand er den Schalter der Nachttischlampe, endlich hatte er den Hörer am Ohr. Er krächzte: »Loos!«

In der Leitung knisterte und krachte es: »Führungsblitzgespräch aus Paris. Verbinde mit Herrn Admiral Canaris …«

Bei dem letzten Wort zuckte ein stechender Schmerz durch des Majors Leib. Die Galle, dachte er bitter. Na fein. Also das auch noch.

Dann hörte er eine bekannte Stimme: »Major Loos?«

»Herr Admiral?«

»Hören Sie mal, da ist eine ungeheure Schweinerei passiert …«

»Schweinerei, Herr Admiral?«

»Kennen Sie einen gewissen Thomas Lieven?«

Der Hörer entglitt der Hand des Majors und fiel auf die Bettdecke. Die Membrane quakte. Aufgeregt nahm Major Loos den Hörer wieder ans Ohr und stammelte: »Jawohl, Herr Admiral, kenne den – den Namen …«

»Sie kennen also den Kerl? Haben Sie ihm einen Abwehrausweis gegeben?«

»Jawohl, Herr Admiral!«

»Warum?«

»Er … Lieven wurde von mir angeworben, Herr Admiral. Aber es – es hat nicht funktioniert … Er ist verschwunden. Ich habe mir bereits Sorgen gemacht …«

»Mit Recht, Major Loos, mit Recht! Nehmen Sie den nächsten Zug, das nächste Flugzeug. Ich erwarte Sie im ›Hôtel Lutetia‹! So bald wie möglich, verstanden?«

Das »Hôtel Lutetia« am Boulevard Raspail war das Hauptquartier der militärischen Abwehr Paris.

»Jawohl, Herr Admiral«, sagte Major Loos ergeben. »Ich komme, so schnell ich kann. Was – wenn ich Herrn Admiral fragen darf –, was hat der Kerl denn angestellt?«

Canaris sagte, was der Kerl angestellt hatte. Major Loos wurde bleich und bleicher. Zuletzt schloß er die Augen. Nein, nein, nein, das ist doch nicht möglich! Und ich bin an allem schuld …

Die Stimme aus Paris dröhnte wie eine der Posaunen von Jericho: »… Der Mann besitzt Listen mit den Namen, Adressen und Erkennungszeichen aller französischen Agenten! Wissen Sie, was das bedeutet? Der Mann ist lebenswichtig und lebensgefährlich für uns! Wir müssen ihn kriegen, koste es, was es wolle!«

»Jawohl, Herr Admiral, ich nehme meine fähigsten Leute …« Kriegerisch richtete sich Major Loos im Bett auf. Das Nachthemd verwischte die eindrucksvolle Pose. »Wir kriegen die Listen. Wir machen den Mann unschädlich. Und wenn ich ihn persönlich niederknallen muß …«

»Sie sind wohl wahnsinnig geworden, Major Loos!« sagte die Stimme aus Paris sehr leise. »Den Mann will ich lebend haben! Der ist viel zu gut zum Erschießen!«



8



20. August 1940, 02 Uhr 15:

– achtung ssg – achtung ssg – dringlichkeit römisch eins – von chef abwehr – an alle dienststellen geheime feldpolizei frankreich – gesucht wird deutscher staatsangehöriger thomas lieven – 30 jahre alt – schlank – schmales gesicht – dunkle augen – kurzgeschnittenes, schwarzes haar – elegant zivil gekleidet – spricht fließend deutsch, englisch, französisch – besitzt echten ausweis der deutschen abwehr, ausgestellt von major fritz loos, wbk köln – echten reisepaß deutsches reich nr 54 32 3 11 serie c – falschen amerikanischen diplomatenpaß auf den namen william s. murphy – gesuchter verließ paris am 15. juni 1940 in schwarzem chrysler mit cd-zeichen und amerikanischer flagge auf dem dach – besaß passierschein, ausgestellt von general erich von felseneck – reiste in begleitung einer jungen französin und eines franzosen – gesuchter im besitz wichtigster feinddokumente – fahndung sofort aufnehmen – informationen und fehlanzeigen sofort melden an major loos, leiter sondergruppe z, hauptquartier gfp paris – bei verhaftung lievens nur in äußerstem notfalle von waffe gebrauch machen – ende –

Während dieses Fahndungsschreiben die Geheime Feldpolizei und viele Wehrmachtsangehörige aufschreckte – zum Beispiel jenen Hauptmann, der am 16. Juni in Tours einem gewissen Murphy fünf Kanister deutsches Wehrmachtsbenzin zur Verfügung gestellt hatte –, kletterte der so nachdrücklich gesuchte Thomas Lieven in der Rue des Bergères zu Toulouse vergnügt aus seinem kleinen Peugeot. Zufrieden klemmte er eine schwarze Tasche unter den Arm und warf den Wagenschlag zu.

Im »Chez Jeanne« schliefen die fröhlichen Mädchen bereits. Das kleine Restaurant war geschlossen. Nur in dem altmodischen Salon mit dem Riesenspiegel und den roten Plüschmöbeln brannte noch Licht. Hier warteten Mimi, Siméon und die aufregende Besitzerin des Etablissements mit dem löwenfarbenen Haar auf Thomas.

Als er eintrat, wurden Seufzer der Erleichterung laut. Jeanne gab bekannt: »Wir haben uns solche Sorgen gemacht!«

»Ja, wirklich?« sagte Thomas gedehnt. »Auch schon, als ihr mich losgeschickt habt?«

»Das geschah auf Befehl!« rief Siméon. »Ich verstehe im übrigen überhaupt nichts mehr! Wieso haben Sie die Tasche?«

Thomas nahm eine Flasche Remy Martin zur Hand, die auf dem Tisch stand, und goß einen ordentlichen Schluck in ein Schwenkglas.

»Ich trinke auf unsere Zukunft«, sagte er. »Die Zeit der Trennung ist gekommen, ihr Lieben. Ich habe Major Débras davon überzeugt, daß es besser ist, wenn ich die Dokumente nach Lissabon bringe. Sie, Herr Oberst, kehren nach Paris zurück und melden sich dort bei Lotosblume vier – wer immer das ist.«

»Das bedeutet Untergrund«, sagte der Oberst bedeutungsschwer.

»Viel Spaß dabei«, sagte Thomas. Er sah die hübsche Hotelbesitzerin an. »Und auch Ihnen viel Spaß, Jeanne, möge Ihr Etablissement blühen und gedeihen.«

»Ich werde Sie sehr vermissen«, sagte Jeanne traurig. Thomas küßte ihre Hand. »Scheiden tut immer weh«, sagte er.

Mimi, die immer fröhliche, immer unbeschwerte kleine Mimi Chambert, begann plötzlich fürchterlich zu weinen. Sie würgte und schluchzte und stöhnte und rief mit hoher, verlorener Stimme: »Es ist ja zu dumm … Verzeiht mir – ich will gar nicht weinen …«

Stunden später, als sie an Thomas Lievens Seite lag – draußen wurde es schon hell, es regnete –, da hörte Thomas den Regen und Mimis Stimme: »… Ich habe es mir überlegt, wieder und wieder. Ich habe mich herumgequält damit …«

»Ich verstehe schon«, sagte er dezent. »Du denkst an Siméon, nicht wahr?«

Plötzlich lag sie an seiner Brust. Ihre Tränen tropften auf seine Lippen, und sie waren heiß und schmeckten salzig: »Ach, chéri, ich habe dich lieb, wirklich furchtbar lieb … Aber gerade die letzten Wochen in – in diesem Haus haben mir gezeigt, daß du kein Mann zum Heiraten bist …«

»Wenn du Jeanne meinst …«, begann er, aber sie unterbrach ihn:

»Nicht nur Jeanne, überhaupt! Du bist ein Mann für Frauen – aber für alle, nicht für eine. Du kannst nicht treu sein …«

»Ich könnte es versuchen, Mimi.«

»Nicht so treu wie Jules! Er ist so viel weniger klug als du! Aber er ist viel romantischer, viel idealistischer.«

»Mon petit chou, du mußt dich doch nicht dafür entschuldigen! Ich habe schon lange darauf gewartet. Ihr beide seid Franzosen. Ihr liebt euer Land, eure Heimat. Ich – ich habe vorläufig keine mehr. Darum will ich fort. Und ihr wollt hierbleiben …«

»Und du kannst mir verzeihen?«

»Es gibt nichts zu verzeihen.«

Sie schmiegte sich an ihn. »Ach, bitte, bitte, sei nicht so nett, chéri, ich muß sonst gleich wieder weinen … Ach, wie schrecklich, daß man nicht zwei Männer heiraten darf!«

Thomas lächelte, dann bewegte er den Kopf. Die schwarze Tasche drückte ihn, sie lag unter seinem Kopfkissen. Thomas war entschlossen, sie nicht mehr aus der Hand zu geben bis zu seinem Abflug. Das, was er vorhatte, konnte er in Toulouse nicht erledigen, dazu fehlte ihm die Zeit. Aber in Lissabon wollte er dann dafür sorgen, daß die Tasche kein Unheil mehr anrichtete.

»Danke, chéri« , hörte er Mimi schläfrig flüstern. »Ich danke dir.«

»Wofür?«

»Ach, für alles …« Sie wollte ihm danken, sie mußte ihm noch einmal danken, das fühlte sie ganz stark! Danken für seine Fröhlichkeit und seine Großzügigkeit, für die kurzen Stunden des Glücks, der schimmernden Lichter, der vornehmen Hotels, der Schlafwagenabteile, der Bars mit ihrer leisen Musik und der teuren Restaurants mit ihrem wunderbaren Essen.

Und so dankte Mimi Thomas noch einmal in dieser trüben Morgenstunde, während draußen der Regen auf das schwarze Katzenkopfsteinpflaster der Rue des Bergères trommelte, und sie beendeten ihre Affäre so, wie sie sie begonnen hatten und wie alle Liebenden ihre Affäre beenden sollten: in Liebe.



9



Daß er von Wehrmacht und Abwehr des Großdeutschen Reiches wie eine Stecknadel gesucht wurde, wußte Thomas Lieven nicht. Darum war er zwei Tage später jeder Freude aufgeschlossen, als der Emigrant Walter Lindner, hochrot im Gesicht und völlig außer Atem, in die Küche von Jeannes Restaurant gestürzt kam. Thomas kochte gerade Zwiebelsuppe.

Lindner ließ sich auf einen Hocker fallen, warf ein Gurkenglas um und rief: »Meine Frau – meine Frau … Ich habe meine Frau gefunden!«

»Wo? Wie?«

»Hier in Toulouse!« Lindner lachte und weinte zugleich; es schien sich um eine gute Ehe zu handeln. »Ich gehe in das kleine Café am Place du Capitole und will mich gerade zu den Schachspielern aus Brünn setzen – da sagt eine Frauenstimme hinter mir: ›Entschuldigen Sie, kennen Sie vielleicht einen Herrn Lindner?‹ Und im nächsten Moment schreit sie: ›Walter!‹ Und ich habe sie in den Armen!« Lindner vollführte mit Thomas einen kleinen Freudentanz, bei welchem das Ende einer Salatschüssel zu beklagen war.

»Sprung auf, marsch, marsch – zum Konsulat!« rief Lindner. »Jetzt können wir fahren, Herr Lieven. Ach Gott, wie freue ich mich auf unser neues Leben!« Und ich erst, dachte Thomas.

Dann stürzten sich die künftigen Partner einer noch zu gründenden südamerikanischen Bank in ihre Reisevorbereitungen. Kein Grenzland Frankreichs gab zu dieser Zeit Einreisevisen. Das Feinste und Beste, was man erhalten konnte, war ein Durchreisevisum. Dieses wiederum hatte ein Übersee-Einreisevisum zur Voraussetzung.

Nachdem Walter Lindner dem argentinischen Konsul in Marseille den Nachweis erbracht hatte, daß er auf der »Rio de la Plata Bank« ein Guthaben von einer Million Dollar besaß, erhielt er ohne Schwierigkeiten ein Visum für sich und seine Frau.

Lindner erklärte, Monsieur Jean Leblanc als seinen Partner nach Buenos Aires bringen zu wollen. Darauf gab man auch diesem Monsieur Jean Leblanc ein echtes Einreisevisum in den falschen Paß, den er dereinst auf der Spionenschule bei Nancy von dem Mann erhalten hatte, der sich Jupiter nannte. Am 26. August bekamen die drei dann auch die portugiesischen Durchreisevisen. Der Abfahrt stand nichts mehr im Wege. Für das, was er noch vorhatte, stellte Thomas Lieven nun einen genauen Zeitplan auf. Von der Einhaltung dieses Planes hing eine Menge ab – unter anderem sein Leben. Nachdem er noch einmal mit Major Débras in »Les Milandes« telefoniert hatte, sah dieser Terminkalender so aus:

28. August: Abfahrt von Thomas Lieven und Ehepaar Lindner nach Marseille.

29. August: Abfahrt von Major Débras per Zug über Perpignan, Barcelona und Madrid nach Lissabon.

30. August: Abreise von Thomas Lieven und Ehepaar Lindner von Marseille via Flugzeug nach Lissabon.

10. September: Abreise von Thomas Lieven und Ehepaar Lindner von Lissabon an Bord des portugiesischen Passagierdampfers »General Carmona« nach Buenos Aires.

Vom 3. September an waren Major Débras und Thomas Lieven allabendlich ab 22 Uhr im Spielcasino von Estoril verabredet zwecks Übergabe der ominösen schwarzen Tasche. Zwischen dem 30. August und dem 3. September hoffte Thomas genügend Zeit zu finden, um an ihrem Inhalt gewisse Veränderungen vorzunehmen …

Mit einem gewinnenden Lächeln betrat am Vormittag des 29. August ein elegant gekleideter junger Herr das Büro der privaten amerikanischen Chartergesellschaft »Rainbow Airways« in der Rue de Rome in Marseille. Seinen Homburg lüftend, trat er an den Buchungsschalter und sprach in fließendem Französisch: »Guten Morgen, Monsieur, mein Name ist Leblanc. Ich hole die Flugkarten nach Lissabon für das Ehepaar Lindner und mich.«

»Einen Moment bitte.« Der Angestellte blätterte in seinen Listen. »Ja, hier. Morgen, 15 Uhr 45 …« Er begann die Tickets auszuschreiben.

Vor dem Büro hielt ein kleiner Autobus. Zwei Piloten und eine Stewardeß kamen herein. Ihrem Gespräch entnahm Thomas, daß sie eben gelandet waren und daß sie morgen um 15 Uhr 45 nach Lissabon fliegen würden. Da kam ihm die Erleuchtung.

Die höchstens 25jährige Stewardeß schminkte sich. Sie besaß die Formen einer Rennjacht, schräge Augen, hohe Backenknochen, goldbraunen Teint und wundervolles kastanienbraunes Haar, das ihr in weichen Wellen in die schöne Stirn fiel. Sie wirkte kühl und scheu. Ein Rehlein … Thomas kannte die Gattung. Er wußte genau, was er da vor sich hatte. Wenn so ein wandelnder Eiszapfen zu schmelzen begann, gab es kein Halten mehr.

Dreißig gemütvolle Sekunden widmete Thomas Lieven noch der Erinnerung an seinen Abschied von Mimi, Siméon, Jeanne und ihren Damen in der Rue des Bergères. Alle hatten sie ihn geküßt, auch der Oberst: »Es lebe die Freiheit, mein Kamerad!« Und Jeanne hatte bitterlich losgeschluchzt, als das Taxi anfuhr. Ach, das war mal eine schöne, rührende Familienszene gewesen!

Die dreißig Sekunden waren um. Je nun, dachte Thomas, doch die Verhältnisse, sie sind nicht so!

Das Rehlein schminkte sich noch immer. Das Rehlein ließ den Lippenstift fallen.

Ich handle aus edlen Motiven, bestätigte sich Thomas Lieven zum Zweck der ethischen Untermauerung dessen, was er vorhatte. Dann hob er den Lippenstift auf und reichte ihn dem scheuen Reh mit den braunen Augen, in denen goldene Funken leuchteten.

»Vielen Dank«, sprach das Rehlein.

»Können wir gehen?« erkundigte sich Thomas.

»Was soll das heißen?«

»Oder haben Sie hier noch zu tun? Ich warte gern. Ich denke, wir gehen zuerst ins ›Grand Hôtel‹, da wohne ich, und nehmen einen Apéritif. Essen werden wir dann wohl am besten bei ›Guido‹ in der Rue de la Paix. Und nach dem Essen wollen wir baden.«

»Erlauben Sie mal …«

»Nicht baden? Bitte, bleiben wir im Hotel und ruhen wir uns aus.«

»So etwas habe ich noch nicht erlebt!«

»Mein Fräulein, ich will mir alle Mühe geben zu erreichen, daß Sie das morgen auch noch sagen!« Thomas zog die geliebte Repetieruhr aus der Westentasche und ließ sie schlagen. Elf Schläge und zwei erklangen glockenrein und mild.

»Halb zwölf. Ich sehe, ich mache Sie nervös. Es ist mir bewußt, daß ich eine sehr starke Wirkung auf Frauen ausübe. Voilà, ich warte auf Sie in der Bar des ›Grand Hôtel‹. Sagen wir um zwölf?«

Das Rehlein warf den Kopf zurück und stelzte davon. Die hohen Absätze hämmerten empört auf dem Steinboden.

Thomas ging ins »Grand Hôtel«, setzte sich in die Bar und bestellte Whisky. Das Rehlein kam drei Minuten nach zwölf. Es brachte einen Badeanzug mit.



10



Neben dem rundlichen Ehepaar Lindner marschierte Thomas Lieven – grauer Flanellanzug, weißes Hemd, blaue Krawatte, schwarze Schuhe, Homburg, Regenschirm – in der Gruppe der anderen Passagiere über das Rollfeld auf die wartende Maschine zu. Er sah zufrieden, wenn auch übernächtigt aus.

Auf der Höhe der herangerollten Treppe, im Eingang zur Kabine, stand Mabel Hastings, die Stewardeß. Sie sah zufrieden, wenn auch übernächtigt aus.

»Hallo«, sagte Thomas, als er die Treppe emporkam.

»Hallo«, sagte Mabel. Die goldenen Funken in ihren schönen Augen glitzerten.

So etwas wie Thomas Lieven hatte sie tatsächlich noch nie erlebt. Nach dem Mittagessen bei »Guido« waren sie dann doch nicht schwimmen gegangen, sondern hatten sich im Hotel – sie wohnten zufälligerweise im selben – ausgeruht.

Als er Mabel Hastings am Morgen des 30. August ihren Koffer packen half, erwies sie ihm, allerdings ohne es zu ahnen, noch einen weiteren Gefallen, der innig mit einer schwarzen Tasche zusammenhing …

Die Maschine rollte am Flughafengebäude vorbei zum Start. Thomas sah aus dem Kabinenfenster auf den kurzgeschnittenen Rasen und eine große Schafherde hinaus, die friedlich graste. Schafe bringen Glück, dachte er. Dann sah er ein Auto, das vor dem Flughafengebäude hielt. Aus dem Wagen sprang ein Mann. Er trug einen blauen, zerdrückten Anzug und einen gelben, zerdrückten Regenmantel. Das Gesicht des Mannes glänzte vor Schweiß. Er winkte mit beiden Armen.

Thomas dachte mitleidig: Das ist aber Pech. Gleich wird die Maschine starten, und der arme Kerl hat das Nachsehen.

Tatsächlich ließ der Pilot die beiden Motoren eben noch einmal auf vollen Touren laufen – letzte Kontrolle vor dem Start.

Eine eisige Hand strich über Thomas Lievens Rücken: Der winkende Mann dort drüben am Flughafengebäude … Das Gesicht – das kannte er doch – hatte er doch schon einmal gesehen …

Und plötzlich wußte Thomas Lieven, wo er dieses Gesicht schon einmal gesehen hatte: im Gestapo-Hauptquartier zu Köln! Major Loos hieß der Mann da drüben, Offizier der Deutschen Abwehr! Kombiniere, dachte Thomas Lieven, sie sind hinter mir her. Ach, aber es scheint einen lieben Gott zu geben! Major Loos wird mit mir jetzt gleich zum zweitenmal das Nachsehen haben. Denn in den nächsten fünf Sekunden wird unsere Maschine starten, und dann …

Die Maschine startete nicht. Das Gedröhne der voll laufenden Motoren verstummte. Auf flog die Tür zur Pilotenkabine. Die kühle Mabel Hastings erschien und sprach mit Samtstimme: »Meine Damen und Herren, es besteht kein Grund zur Beunruhigung. Wir wurden soeben über Funk davon verständigt, daß ein verspäteter Passagier eingetroffen ist, der unter allen Umständen unsere Maschine erreichen muß. Wir nehmen ihn auf und rollen in wenigen Minuten noch einmal zum Start.«

Wenig später kam Major Fritz Loos an Bord, entschuldigte sich in englischer Sprache bei den Passagieren für das Ungemach, das er ihnen bereitet hatte, und verneigte sich gemessen vor Thomas Lieven. Der sah durch ihn hindurch, als wäre der Major aus Glas …



11



Lissabon! Schmaler Balkon der Freiheit und des Friedens in einem mehr und mehr von Krieg und Barbarei verwüsteten Europa.

Lissabon!

Phantastisches Paradies des Reichtums, der Fülle, Schönheit und Eleganz inmitten einer Welt voll Not und Elend.

Lissabon!

Eldorado der Geheimdienste, Schauplatz ungeheuerlicher und ungeheuer lächerlicher Intrigen.

Vom Augenblick seiner Landung an war Thomas Lieven bereits tief in sie verstrickt. Verfolgt und beäugt von dem erschöpften Major Loos – er war während des Fluges sogar eingeschlafen, mit offenem Mund, leise röchelnd –, wurde Thomas Lieven sogleich einer auffällig genauen Zollkontrolle unterzogen. Bis auf die Haut entkleidete man ihn, durchwühlte sein Gepäck, stöberte in allen seinen Taschen. Der portugiesische Sicherheitsdienst schien einen kleinen Hinweis bekommen zu haben.

Aber seltsamerweise fanden sich weder sein beachtliches Dollarvermögen noch die gewisse schwarze Tasche in Thomas Lievens Besitz. Mit förmlicher Höflichkeit entließen ihn die Zöllner. Das Ehepaar Lindner war längst ins Hotel vorausgefahren.

Thomas marschierte zum Paßschalter. Major Loos marschierte hinterher. Thomas marschierte zu der Taxireihe am Flughafen. Major Loos marschierte hinterher. Noch immer war kein Wort zwischen ihnen gefallen.

Nun will ich dir ein bißchen Bewegung verschaffen, mein Alter, dachte Thomas, in ein Taxi springend. Auch Loos sprang. Zwei Taxis sausten los, dem Zentrum der Siebenhügelstadt entgegen. Von sechs herrlichen Urlaubswochen her kannte Thomas die imposante Hauptstadt Portugals recht gut.

Auf dem Praça Dom Pedro ließ er das Taxi halten und stieg wieder aus. Hinter ihm hielt das Taxi des Majors. Die Kaffeehäuser mit ihren Straßengärten rund um den großen Platz quollen über von Portugiesen und Emigranten, die leidenschaftlich miteinander debattierten. Im Vorübergehen hörte Thomas Lieven sämtliche Sprachen Europas.

Er ließ sich in dem Menschenstrudel ebenso treiben wie der Major, der sich verzweifelt bemühte, ihn nicht aus den Augen zu verlieren.

Jetzt, sagte Thomas in Gedanken zu dem Major, wollen wir ein bißchen laufen, mein Alter; Bewegung ist gut für die Gesundheit. Und so marschierte Thomas denn eilig hinab zu den engen, winkeligen Straßen am Meer und wieder empor zu den steil ansteigenden Hauptverkehrsadern, benützte Durchgänge und Arkaden, bog unerwartet um Ecken, sorgte jedoch stets dafür, daß er dem Major nichts Übermenschliches zumutete. Dieser sollte ihn verfluchen – aber nicht verlieren.

Über eine Stunde trieb Thomas Lieven solcherlei Hasch-mich-Spiel, dann nahm er wieder ein Taxi und fuhr, gefolgt von dem Major, zu dem Fischerdorf Cascais in der Nähe des Luxusbadeortes Estoril hinaus. Hier kannte er ein elegantes Terrassenrestaurant.

Die Sonne versank blutrot im Meer, der Abend kam mit lauen Winden. Das kleine Fischerdorf in einer Bucht der Tejo-Mündung war der malerischste Ort in der Umgebung von Lissabon. Thomas Lieven freute sich darauf, ein Schauspiel zu genießen, das man hier allabendlich verfolgen konnte: die Heimkehr der Fischerflotte. Vor dem Restaurant stieg er aus seinem Taxi. Hinter ihm bremste der alte, klapprige Wagen des Majors. Der deutsche Abwehroffizier kletterte, nach Luft schnappend, ins Freie. Er sah elend aus.

Thomas beschloß, das grausame Spiel zu beenden. Er ging auf Loos zu, lüpfte den Homburg und sprach freundlich wie zu einem verlorenen Kind: »Hier wollen wir uns erst einmal ein wenig ausruhen. Die letzten Tage waren gewiß sehr anstrengend für Sie.«

»Das kann man wohl sagen.« Der Major versuchte den Nimbus seines Berufes zu wahren. Er schnarrte: »Und wenn Sie bis ans Ende der Welt fahren, mir entkommen Sie nicht mehr, Lieven!«

»Nicht doch, mein Alterchen, nicht doch! Wir sind nicht mehr in Köln. Hier gilt ein deutscher Major nicht besonders viel, mein lieber Loos!«

Der Major in Zivil schluckte schwer. »Wenn Sie mich freundlicherweise Lehmann nennen wollten, Monsieur Leblanc.«

»Na also! Der Ton gefällt mir schon wesentlich besser. Nehmen Sie Platz, Herr Lehmann. Sehen Sie mal hinunter, ist das nicht wundervoll?«

In der Tiefe kehrte die Fischerflotte, ein Gewimmel von Booten mit lateinischen Segeln, einem gewaltigen Schmetterlingsgeschwader gleich, in die Tejo-Mündung heim. Wie vor tausend Jahren zogen die Schiffer ihre Boote über Holzrollen an Land, schreiend und singend. Frauen und Kinder halfen mit, und überall auf dem dunklen Strand wurden Feuer in kleinen Tonöfen entzündet.

Zum Strand hinabblickend, erkundigte sich Thomas: »Wie haben Sie mich eigentlich gefunden?«

»Wir konnten Ihre Spur bis Toulouse verfolgen. Alle Achtung übrigens! Die Damen bei Madame Jeanne haben sich hervorragend benommen. Weder mit Drohungen noch mit Versprechungen war etwas aus ihnen herauszubekommen.«

»Wer hat mich verraten?«

»Ein übles Subjekt … Alfonse heißt er … Dem müssen Sie einmal etwas angetan haben.«

»Der armen Bébé wegen, ja, ja.« Thomas erinnerte sich träumerisch. Er sah den Major offen an. »Portugal ist ein neutrales Land, Herr Lehmann. Ich möchte Sie warnen. Ich werde mich wehren.«

»Aber, lieber Herr Lieven … pardon, Monsieur Leblanc, Sie leben unter vollkommen falschen Vorstellungen. Ich habe Auftrag von Admiral Canaris, Ihnen volle Straffreiheit zuzusichern, wenn Sie nach Deutschland zurückkehren. Und ich habe ferner den Auftrag, Ihnen die bewußte schwarze Tasche abzukaufen.«

»Oh.«

»Was verlangen Sie dafür?« Der Major neigte sich über den Tisch. »Ich weiß, daß Sie die Listen noch haben.«

Thomas senkte den Blick. Dann stand er auf und entschuldigte sich kurz. »Ich muß telefonieren.«

Er ging aber nicht zum Telefon des Restaurants. Unter den Umständen schien ihm das nicht sicher genug zu sein. Er wanderte ein paar Schritte die Straße entlang zu einer Fernsprechzelle und rief das Hotel »Palacio do Estoril-Parque« an. Er verlangte Miß Hastings. Die amerikanische Stewardeß meldete sich sofort. »Oh, Jean, wo bleibst du bloß? Ich habe solche Sehnsucht nach dir!«

»Es wird wohl spät werden, hm, hm. Eine geschäftliche Besprechung. Mabel, heute morgen, als ich dir in Marseille packen half, habe ich aus Versehen eine schwarze Ledertasche in deinen Koffer gelegt. Sei ein Schatz und trage sie hinunter zum Portier. Er soll sie in den Tresor legen.«

»Gerne, Darling … Und bitte, bitte, sieh zu, daß es nicht zu spät wird. Ich muß doch morgen nach Dakar fliegen!«

Während er noch diese Worte vernahm, hatte Thomas Lieven plötzlich das untrügliche Gefühl, daß jemand vor der Zelle stand und lauschte. Er stieß die Tür jäh auf. Mit einem Aufschrei taumelte ein hagerer Mann zurück und hielt sich die schmerzende Stirn.

»O pardon«, sagte Thomas Lieven. Dann hob er die Brauen und lächelte gottergeben. Er kannte diesen Mann, der aussah wie ein naher Verwandter des Majors Loos. Auf dem Flughafen von London war Thomas ihm begegnet, damals im Mai 1939, als er ausgewiesen wurde. Ausgewiesen von diesem Mann.

Загрузка...