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»Nehmen Sie Platz, Herr Ott. Womit können wir Ihnen dienen?« fragte der Leiter der Effektenabteilung und ließ die schlichte Visitenkarte »Wilfried Ott, Industrieller, Düsseldorf« sinken. Der Leiter der Effektenabteilung hieß Jules Vermont. Sein Büro lag im ersten Stock der »Schweizer Zentralbank« in Zürich.
Thomas Lieven, der sich gerade Wilfried Ott nannte, fragte: »Sie sind Franzose, Monsieur?«
»Mütterlicherseits.«
»Dann lassen Sie uns französisch sprechen«, schlug Thomas, alias Wilfried, vor, indem er diese Sprache bereits akzentfrei benutzte. Die Sonne ging auf im Gesicht Jules Vermonts.
»Kann ich bei Ihrer Bank wohl ein Nummerndepot eröffnen?«
»Selbstverständlich, Monsieur.«
»Ich habe gerade ein paar neue Aktien der Deutschen Stahlunion erworben. Die möchte ich gerne hier in der Schweiz lassen. Wie gesagt, auf einem Nummerndepot, nicht unter meinem Namen …«
»Ich verstehe. Die böse deutsche Steuer, wie?« Vermont zwinkerte mit einem Auge.
Daß Ausländer Vermögenswerte deponierten, war ihm nichts Neues. Insgesamt 150 Milliarden Franken, die Ausländern gehörten, ruhten 1957 in der Schweiz.
»Damit ich es nicht vergesse«, sagte Thomas Lieven, »lassen Sie doch bitte die Coupons für 1958 und 1959 abschneiden. Da ich nicht weiß, wann ich wieder nach Zürich komme, werde ich diese Coupons bei mir behalten und zur gegebenen Zeit selbst einlösen. Das erspart Ihnen die Arbeit.« Er dachte: Und mir erspart es das Zuchthaus …
Wenig später war alles vorbei. In Thomas Lievens Brusttasche ruhte eine Depotbestätigung der »Schweizer Zentralbank« darüber, daß ein Herr Wilfried Ott, Industrieller aus Düsseldorf in Westdeutschland, neue Aktien der DESU-Werke im Nominalwert von einer Million D-Mark hinterlegt habe.
In seinem Sportwagen, der selbst in Zürich stark beachtet wurde, fuhr er zurück in sein Hotel »Baur au Lac«. Hier liebten ihn die Angestellten alle. In allen Hotels der Welt, die er besuchte, liebten ihn alle Angestellten. Das hing mit seinem sonnigen Wesen, seiner demokratischen Gesinnung und seinen Trinkgeldern zusammen.
Er fuhr mit dem Lift in sein Appartement hinauf. Hier ging er zunächst ins Badezimmer und spülte die abgeschnittenen Coupons für 1958 und 1959 fort, auf daß kein Unfug damit angestiftet werden konnte! Der Salon besaß einen Balkon. Thomas setzte sich unter ein buntes Sonnensegel, blickte zufrieden hinaus zu den kleinen Schiffen, die auf dem glitzernden Wasser des Zürichsees schwammen, und überlegte eine Weile. Dann verfaßte er mit einem goldenen Bleistift auf einem Briefbogen des Hotels diese Annonce:
DEUTSCHER INDUSTRIELLER
sucht gegen hohe Verzinsung und erstklassige Sicherheit zweijährige Beteiligung in der Schweiz. Nur wirklich seriöse Angebote mit Banknachweis finden Berücksichtigung.
Diese Anzeige erschien zwei Tage später an auffallender Stelle im Anzeigenteil der »Neuen Zürcher Zeitung«. Es war eine Chiffre angegeben. In drei Tagen liefen unter dieser Chiffre 46 Briefe ein.
Bei strahlend schönem Wetter auf seinem Balkon sitzend, sortierte Thomas die Angebote gewissenhaft.
Sie ließen sich in vier Gruppen einteilen:
Siebzehn Briefe hatten Immobilienbüros, Antiquitätengeschäfte, Juweliere und Autoverkäufer zum Absender, die zwar kein Geld, dafür ihre Objekte anpriesen. Zehn Briefe stammten von Herren, die zwar kein Geld hatten, jedoch ihre Vermittlung zu anderen Herren anboten, die angeblich über solches verfügten. Elf Briefe, teils mit, teils ohne Fotos, stammten von Damen, die zwar kein Geld, jedoch teils mit, teils ohne Charme sich selbst anboten.
Und acht Briefe schließlich stammten von Menschen, die Geld offerierten.
Die achtunddreißig Briefe der ersten drei Gruppen zerriß Thomas Lieven in viele kleine Stücke.
Von den verbleibenden Offerten erregten zwei wegen ihrer absoluten Gegensätzlichkeit das besondere Interesse Thomas Lievens.
Der eine Brief war mit einer nicht sehr guten Maschine auf nicht sehr gutes Papier geschrieben worden – in nicht sehr gutem Deutsch. Der Absender bot »… gegen eine Verzinsung, wo für mich interessant ist, Beträge bis zu Schweizer Franken 1 000 000«. Unterzeichnet war die Offerte: »Pierre Muerrli, Häusermakler«.
Der andere Brief war in kleiner, zierlicher Schrift mit der Hand geschrieben. Der gelbliche Bogen aus feinstem Bütten trug in der Mitte des oberen Randes eine kleine goldene Krone mit fünf Zacken.
Der Text lautete:
Château Montenac, 8. Mai 1957
Sehr geehrter Herr!
In Zusammenhang mit Ihrer Annonce in der Neuen Zürcher Zeitung bitte ich – nach telefonischer Anmeldung – um Ihren Besuch.
H. de Couville
Sinnend legte Thomas die so ungleichen Bogen nebeneinander, sinnend betrachtete er sie. Sinnend holte er aus der Westentasche die goldene Repetieruhr und ließ die silberhellen Schläge ertönen – eins, zwei, drei … und noch zwei Schläge: halb vier Uhr.
Pierre Muerrli, überlegte Thomas, war gewiß ein sehr reicher Mann, wenn auch ein sehr geiziger. Er kaufte schlechtes Papier und schrieb auf einer alten Maschine.
Dieser H. de Couville schrieb zwar mit der Hand, aber auf bestes Papier. Ob er ein Graf war? Ein Baron?
Mal sehen …
Das Château Montenac lag in einem mächtigen Park auf dem Südhang des Zürichberges. In Serpentinen führte ein breiter Kiesweg zu dem kleinen, kaisergelb gestrichenen Palais mit den grünen Fensterläden empor. Thomas parkte seinen Wagen vor einer mächtigen Auffahrt.
Ein ungemein hochmütiger Diener stand plötzlich vor ihm: »Monsieur Ott? Ich bitte, mir zu folgen.« Er führte ihn ins Haus, durch mehrere prunkvolle Räume und zuletzt in ein prunkvolles Arbeitszimmer.
Hinter einem zierlichen Schreibtisch erhob sich hier eine schlanke, elegante junge Frau von etwa 28 Jahren. In weichen Wellen fiel ihr kastanienbraunes Haar bis fast auf die Schultern. Hellrosa glänzte der große Mund. Schräggeschnitten waren die braunen Augen, hochgestellt die Backenknochen. Lange, seidige Wimpern besaß die Dame, samtweiche, goldgetönte Haut.
Thomas verspürte einen Stich. Damen mit schrägen Augen und hohen Backenknochen hatten in seinem Leben Verheerungen angerichtet. Dieser Typ, dachte er, beträgt sich immer gleich. Abweisend. Kühl. Überheblich. Aber wenn man ihn dann näher kennenlernt – dann gibt’s kein Halten mehr!
Die junge Dame sah ihn ernst an: »Guten Tag, Herr Ott. Wir haben miteinander telefoniert. Bitte, nehmen Sie Platz.«
Sie setzte sich und kreuzte die Beine. Das Kleid glitt etwas zurück. Auch noch lange, schöne Beine! dachte Thomas.
»Herr Ott, Sie suchen eine Beteiligung. Sie sprachen von erstklassigen Sicherheiten. Darf ich wissen, worum es sich dabei handelt?«
Das geht denn doch ein bißchen weit, dachte Thomas. Kühl sagte er: »Ich denke, damit muß ich Sie nicht belästigen. Wenn Sie freundlicherweise Herrn de Couville sagen möchten, daß ich da bin. Er hat mir geschrieben.«
»Ich habe Ihnen geschrieben. Ich heiße Hélène de Couville. Ich erledige alle Geldgeschäfte für meinen Onkel«, erklärte die junge Dame überkühl. »Also, Herr Ott, was nennen Sie eine erstklassige Sicherheit?«
Thomas neigte lächelnd den Kopf: »Neu aufgelegte Aktien der DESU-Werke, hinterlegt in einem Depot der ›Schweizer Zentralbank‹. Nominalwert: eine Million. Börsenkurs der Altaktien: zwohundertsiebzehn …«
»Welche Verzinsung bieten Sie?«
»Acht Prozent.«
»Und an welche Summe denken Sie?«
Herrgott, diese kühlen Augen, dachte er und sagte: »Siebenhundertfünfzigtausend Schweizer Franken.«
»Bitte?«
Zu seinem Erstaunen sah Thomas Lieven, daß Hélène de Couville plötzlich nervös wurde. Die Zungenspitze glitt über die hellroten Lippen. Die Wimpern flatterten ein wenig. »Ist das nicht eine – hm, etwas hohe Summe, Herr Ott?«
»Wieso bitte? Bei dem Börsenwert der Aktien?«
»Gewiß … ja … aber …« Sie stand auf. »Es tut mir leid, ich glaube, da muß ich doch meinen Onkel holen. Verzeihen Sie, bitte, einen Augenblick.«
Er stand auf. Sie verschwand. Er setzte sich wieder. Er wartete, nach Auskunft seiner alten Repetieruhr, acht Minuten lang. Instinkt, gewonnen in vielen Jahren eines gesetzlosen Lebens, sagte ihm: Hier stimmt etwas nicht! Aber was?
Die Tür ging auf, Hélène kam zurück. Mit ihr erschien ein Mann, groß und hager, mit sonnverbranntem Gesicht und breitem Kiefer, mit kurzen, eisgrauen Haaren und weißem Nylonhemd unter einem Einreiher. Hélène stellte vor: »Baron Jacques de Couville, mein Onkel.«
Die Herren schüttelten einander die Hand. Immer mißtrauischer dachte Thomas: Eine Pfote wie ein Cowboy hat er. Und einen Kiefer, als würde er dauernd Gummi kauen. Und einen Akzent … Wenn das ein Aristokrat französischer Abstammung ist, fresse ich einen Besen!
Er war jetzt entschlossen, kurzen Prozeß zu machen: »Baron, ich fürchte, ich habe Ihre bezaubernde Nichte erschreckt. Lassen Sie uns die ganze Sache vergessen. Es war mir eine Ehre, Sie kennenzulernen.«
»Moment mal, Monsieur Ott, seien Sie doch nicht so entsetzlich hastig. Setzen wir uns.« Auch der Baron war nervös. Er klingelte. »Wir wollen in Ruhe über die Geschichte reden. Bei ein paar Drinks.«
Als der hochmütige Diener die Drinks brachte, erwies sich der Whisky als Bourbon, nicht als Scotch.
Mehr und mehr mißfällt mir dieser Couville, dachte Thomas.
Der Baron nahm das Gespräch wieder auf. Er bekannte, daß er eigentlich nur an eine wesentlich geringere Beteiligung gedacht hätte: »… vielleicht hunderttausend?«
»Baron, wollen wir es doch lassen«, sagte Thomas.
»Oder hundertfünfzigtausend …«
»Wirklich, Baron, wirklich …«
»Vielleicht auch zweihundert …« Es klang fast flehend.
Plötzlich trat der hochmütige Diener ein und meldete, ein Ferngespräch sei da. Daraufhin verschwand der Baron mit seiner Nichte.
Thomas fing allmählich an, sich über diese Aristokratenfamilie zu amüsieren. Als nach beinahe zehn Minuten der Baron allein zurückkam, fahl im Gesicht und furchtbar schwitzend, tat ihm der arme Mann beinahe leid. Aber er verabschiedete sich abrupt.
In der Halle begegnete ihm Hélène. »Sie gehen schon, Monsieur Ott?«
»Ich habe Sie viel zu lange belästigt«, sagte Thomas und küßte ihre Hand. Da roch er ihr Parfüm und den Duft ihrer Haut und sagte: »Sie würden mich glücklich machen, wenn Sie heute abend mit mir dinieren wollten, im ›Baur au Lac‹, oder wo Sie befehlen. Bitte, kommen Sie.«
»Herr Ott«, sagte Hélène, und es klang, als spräche eine Marmorstatue, »ich weiß nicht, wieviel Sie getrunken haben, aber ich führe es darauf zurück. Leben Sie wohl.«