Wo sind sie?
Stürmischer Aufruhr herrschte auf dem Planeten. Wie schon seit Urzeiten jagten bunte Muster, Streifen und Schnörkel einander über seine braun in braun gefärbte Oberfläche. In seiner Umgebung brodelte es vor Aktivität: Milliarden eisiger Teilchen inmitten einer Vielzahl einander umgebender Ringe, Hirtenmonde, von machtvollen Magnetfeldern hochgepeitschte Staubfontänen – alles wirbelte mit der unfaßlichen Geschwindigkeit von 200 Makasrapkithp (Eine NormRüssellänge (– 1 Srapk) mißt 1,77 m. 512 (– 8 5) Srapkithp ergeben 1 Makasrapk, entsprechend 905,13 m) pro Atemzug umher. In diesem Sturm manövrierte das Raumschiff mit dem Namen Bote.
Es verdroß den Herrn der Herde, daß sein Berater, der verzückt durch das dicke Doppelfenster hinaussah, nichts wahrzunehmen schien als die Schönheit der Szenerie. Der Herr der Herde war zuständig für industrielle Aufgaben, die Auseinandersetzung mit äußeren und inneren Feinden sowie die friedliche Integration von Schläfern und Raumgeborenen. Er hatte schon genug Schwierigkeiten ohne… das.
Das Hauptteleskop der Bote war von gleicher Qualität wie die astronomischen Einrichtungen auf der Welt, die sie hinter sich gelassen hatten. Die Raumsonde der Erdwesen war jetzt, nach astronomischen Maßstäben, ganz nah. Sie war auf dem Bildschirm deutlich und in Einzelheiten zu erkennen.
Eine kreisrunde Antenne. Von einem Ring an der Spitze eines langen Auslegers ging infrarote Wärmestrahlung aus – wohl die Energiequelle. An zwei weiteren Auslegern ragten Instrumente nach draußen – am einen vermutlich Kameras, am anderen eine Art elektronischer Sensoren. Laß unsere Grifflinge einander berühren, damit ich weiß, welcher Herde du angehörst!
Vierundsechzig Schläfer, die Arbeitsgruppe des Umerziehers, bemühten sich zu ermitteln, was über die Geschöpfe in Erfahrung zu bringen war, die das dort gebaut hatten. Bisher hatten sie Pastempihkeph, dem Herrn der Herde, nichts Nützliches zu sagen vermocht. Als sich die Kameraplattform zu drehen begann, zuckten seine Grifflinge unruhig.
»Ihr habt Eure Entscheidung vor nahezu acht Monden getroffen «, sagte sein Berater Fathistihtalk mit großer Gelassenheit, »und es damals nicht zerstört. Wie also könntet Ihr das heute tun?«
»Hier muß das zerbrechliche SpionageKleinstschiff der Erdlinge Unmengen von Weltraummüll durchqueren, der auf der Umlaufbahn kreist, muß Zusammenstöße, Strahlung und Schwingungen überstehen sowie alle möglichen Gefahren, mit denen die Beutewesen möglicherweise rechnen. Hier könnte ein Mißgeschick es am ehesten zertrampeln!«
»Wir waren uns einig, daß das ErkundungsKleinstschiff der Erdlinge keine Spur von uns finden soll. Unser Schiff ist vor diesem Hintergrund winzig. Sicherlich suchen uns die Erdlinge, unsere Beutewesen, nicht: Sie müssen ihr ErkundungsKleinstschiff lange vor unserer Ankunft ausgeschickt haben. Doch gäbe es etwas zu sehen, könnte seine Kamera dort es inzwischen entdeckt haben. Noch so unbedeutende Hinweise auf unsere Gegenwart würden in ihren Empfangsgeräten von uns künden… und dann kommt ein Lichtblitz, ihr Sender verstummt. Würde so etwas nicht auch Euren Argwohn erregen?«
»Würdet Ihr Euch darum sorgen, wenn Ihr Herr der Herde wäret?«
Die Anspielung schmerzte, denn ursprünglich war Fathistihtalk in der Tat Herr der Herde gewesen und hatte seinen Gefrierschlaf in der Erwartung angetreten, es wieder zu werden. In seiner gegenwärtigen vergleichsweise untergeordneten Stellung schienen ihn die Sorgen in keiner Weise zu bekümmern, die auf den Schultern eines Herrn der Herde lasteten. Bisweilen argwöhnte Pastempihkeph, daß er sich über ihn lustig machte.
»In dem Fall«, gab der Berater gelassen zur Antwort, »würde ich dasselbe tun wie jetzt Ihr. Beim Durchgang des Erkundungskörpers stillhalten. Das Schiff nicht bewegen. Keine Mitteilung an die Arbeitsgruppe draußen aussenden. Mag es ruhig weiterfliegen. Bis das nächste kommt, haben wir unseren Stützpunkt fest ausgebaut. Dann mögen die Beutewesen versuchen, uns vor einem unbekannten Hintergrund auszumachen.«
Er wandte sich vom Bildschirm ab, der das Teleskopbild zeigte, und spähte in die weite, braungemusterte Welt mit ihren riesigen Ringen hinaus. Dem Herrn der Herde schien das eine demonstrative Geste.
Pastempihkeph sagte: »Ich mache mir Sorgen. Wir beschäftigen uns seit nicht einmal einem Jahr mit etwas, das die Beutewesen bestimmt einen Großteil ihrer Geschichte hindurch gründlich erforscht haben… große, bunte Ornamente an ihrem Himmel. Sie dürften also besser wissen als wir, was sie zu erwarten haben. Was haben wir unterlassen?«
Außerhalb des breiten Hauptringsystems tanzte ein schmalerer Ring noch immer unter dem Einfluß der vom Triebwerk des interstellaren Raumschiffs Bote ausgehenden Turbulenzen.
Als Linda Gillespie das Tor schloß und dann ganz mechanisch ein Stück Papier aufhob, das auf den Hof geweht war, merkte sie, daß sie begann, dies Haus – ein typisches kalifornisches Einfamilienhaus, umgeben von Dutzenden völlig gleicher – als Zuhause zu betrachten, das zweite seit ihrer Eheschließung. Zwar hatten sie verschiedene Häuser bewohnt, aber nie lange genug, um eins davon als Zuhause anzusehen. Fünf Umzüge in vier Jahren. Angehörige der Luftstreitkräfte mußten beweglich sein, vor allem ehrgeizige Kampfflieger. Am besten war es in Texas, in El Lago, gewesen, als Edmund in der Raumfahrtüberwachung gearbeitet hatte.
Aber das hier konnte doch nicht wirklich ein Zuhause sein. Sie hatten das Haus für die Dauer von Edmunds Abordnung zum Raumfahrt- und Raketenzentrum von Los Angeles gemietet. Jetzt, er war zum Piloten einer Raumfähre ernannt worden, stand ihnen ein erneuter Umzug bevor. Zurück nach Houston! Sie freute sich darauf. Houston behandelte Astronauten und ihre Angehörigen wirklich äußerst zuvorkommend.
Es war ein trüber Novembermorgen. Linda spürte die Kälte der Luft durch den Kaschmirpullover. Die Wolkendecke hing niedrig, und Nebel lag über Los Angeles. Durch die Feuchtigkeit, die in der Luft hing, roch man, daß es bald Smog geben würde. Von der Sonne war nichts zu sehen, doch sie würde wohl bis Mittag durchkommen. Es war nicht angenehm draußen.
Drinnen war es besser. Sie setzte sich mit einer Tasse Kaffee an den Küchentisch. Für einen Anruf von Ed war es zu früh. Außerdem rief er nie an, wenn er außerhalb der Stadt war. So schön es ist, mit einem Raumfahrthelden verheiratet zu sein, so angenehm wäre es, von Zeit zu Zeit den Mann zu Hause zu haben. Geistesabwesend blätterte sie die Los Angeles Times durch.
Zwar war sie nicht gern allein zu Hause, aber sie wollte auch nicht ausgehen. Ed konnte ihr zehnmal versichern, das sei völlig ungefährlich, viel sicherer als in Washington, wo sie aufgewachsen war, und sie glaubte ihm sogar – aber dort kannte sie sich aus, und in Los Angeles nicht.
Sie könnte den Küchenboden wachsen, fand sie. Eds Vorgesetzter, Colonel McReady, würde nächste Woche zum Abendessen kommen, und es war bekannt, daß seine Frau ihre Nase in alles steckte.
Es würde Ed nicht recht sein, daß sie den Fußboden bearbeitete – nicht jetzt. Lächelnd ließ sie den Blick auf ihrem Unterleib ruhen. Man sah überhaupt noch nichts, und ihr wurde auch nicht schlecht. Trotzdem behandelte Ed sie wie eine Puppe aus Meißener Porzellan, trug den Mülleimer hinaus, hob, was es zu heben gab und hatte im Bett Angst, er könnte ihr weh tun.
Bei dem Gedanken runzelte sie die Stirn. Seit sie schwanger war, hatte er das Interesse an ihr verloren! Vielleicht will ich in einem Monat oder so auch nicht mehr. Wie er sich aufführt, muß ich das fast hoffen.
Linda goß sich Kaffee nach. Das Klingeln des Telefons erschreckte sie so, daß ihr die Tasse aus der Hand fiel. Zum Glück war sie aus unzerbrechlichem feuerfesten Glas und klapperte nur laut über den Fußboden, während der Kaffee in alle Richtungen spritzte.
»Hallo?«
»Linda?«
»Ja?«
»Äh… Hier spricht Roger.«
»Nanu, wie geht es?«
»Prima. Schön, daß du noch weißt, wer ich bin.«
»Na hör mal!« Den ersten Mann vergißt man nicht, sagte sie sich, die erste Liebe. So vieles hatte sie mit Roger zum erstenmal erlebt, noch als Schulmädchen und unmittelbar nach der Schulzeit. Was soll ich ihm sagen? Daß er sich lange nicht gemeldet hat, ich das aber auch gar nicht gewollt hätte? »Woher hast du denn unsere Nummer?«
»Wir Zeitungsleute haben da unsere Mittel und Wege. Ich würde dich gern treffen. Hast du Lust auf ein wirklich ungewöhnliches Erlebnis?«
Sie kicherte. »Roger, ich bin verheiratet.«
»Als ob ich das nicht wüßte. Glücklich?«
»Selbstverständlich.«
»Gut für euch beide. Es schlägt übrigens in Eds Fach. Im JPL (Jet Propulsion Laboratory) laufen Bilder vom Saturn ein. Wir können sie dort aus erster Hand ansehen.« Er ließ eine kurze Pause eintreten. »Ich berichte von hier aus über die Sache. Auch wenn es damit keine Lorbeeren zu ernten gibt, hab ich den Auftrag angenommen, weil ich mal ‘ne Weile von Washington weg wollte. Wissenschaftler erklären das Ganze, und es kommen wirklich äußerst interessante Aufnahmen herein. Es sind auch Science FictionAutoren da. Die Sache ist im großen Stil aufgezogen. Wie wär’s, wenn ich vorbeikäme und dich abholte? Ihr wohnt praktisch an meinem Weg. Ich versprech auch, daß ich nicht versuchen will, dich zu verführen.«
Ed war schon seit einer ganzen Woche fort. »Wirklich verlockend. Aber ich kann nicht.«
»Klar kannst du.«
»Roger, meine Schwester ist hier bei uns…«
»Na und? Bis zum Abendessen bist du längst wieder zu Hause.«
Linda überlegte. Jenny war heute ausgegangen. Bilder vom Saturn. Zeitungsleute. Vielleicht ganz interessant. »Du sagst, Science FictionAutoren sind da. Auch Nat Reynolds?«
»Ich glaub schon. Augenblick, ich hab hier ‘ne Liste – ja, er ist da. Kennst du ihn?«
»Nein, aber Edmund liest seine Bücher so gern. Ich hab ihm eins zum Geburtstag gekauft. Meinst du, Reynolds würde es mir signieren?«
»Der Frau eines Astronauten? Na hör mal, die Jungs werden sich darum schlagen, dich endlich kennenzulernen.«
Nat Reynolds hatte einen entsetzlichen Kater, außerdem war es zum Aufstehen viel zu früh. Ein Wunder, daß er es mit seinem Porsche bis zum Parkplatz des Jet Propulsion Laboratory geschafft hatte.
Fast einen Kilometer lang parkten Autos neben der Straße, die zum JPL führte, das in einem einst verlassenen Trockental errichtet worden war. Unmittelbar vor dem Pressezentrum versperrten ÜWagen des Fernsehens fast die Zufahrt. Ein Gewirr von Kabeln wand sich über den Gehweg und verschwand durch offene Türen. Kameras und Reporter waren so zahlreich, als werde ein Bankraub live übertragen.
Der VonKarman Hörsaal war ein Tollhaus. Dicht an dicht drängten sich Naturwissenschaftler und Medienleute.
Letztere bestanden aus zwei Gruppen: Journalisten von der Publikumspresse und die Science FictionAutoren. Es war klar, wer zu welcher Gruppe gehörte. Die ersteren waren zum Arbeiten gekommen, und wenn es sich einige auch wohl sein ließen, mußten doch alle an den Redaktionsschluß denken. Die SFLeute standen herum, gehörten sozusagen zum Dekor und nahmen die Atmosphäre in sich auf. Vielleicht würde eines Tages eine Geschichte dabei herauskommen, vielleicht auch nicht. Hier entstand ihre Welt, und sie waren als Zeugen dabei.
Da ist der Saturn!
Auf riesigen Bildwänden sah man die Fernsehaufnahmen in dem Augenblick, da sie von Voyager hereinkamen. Eine Nahaufnahme des Planeten zeigte schwarzweiße Strömungslinien und spiralige Windungen. Hunderte von Ringen, als betrachte man eine Schallplatte von ganz nah. Dann kam eine Weitwinkelaufnahme des Saturn mit seinen Ringen, in Farbe. Einzelne Abschnitte dieser Ringe wurden in Nahaufnahme gezeigt, Fotos der Monde. Alles sahen die Medienvertreter im selben Augenblick wie die Wissenschaftler, sobald es hereinkam.
Erneut wechselten die Bilder, und das angeregte Geplauder im Raum verstummte für einen Augenblick. Ein Mond wie ein riesiger Augapfel: einungeheurer Krater wie eine Iris, mit einer Spitze in der Mitte als Pupille. Eine Frauenstimme sagte: »Na, da haben wir ja wohl den Todesstern.« Nat grinste vor sich hin, ohne sich umzudrehen. Er brachte es nicht fertig, die Sache ernst zu nehmen. Auf einem der Bildschirme zeigte sich jetzt etwas wie ein ausgetrocknetes Flußbett oder auch drei ineinander gewundene Rauchfäden oder… FRing sagte die Bildunterschrift. Nat setzte an: »Was, zum Teufel…?«
»Wärst du gestern abend hier gewesen, wüßtest du es.«
»Ich muß zusehen, daß ich etwas Schlaf bekomme.« Nat brauchte sich gar nicht umzusehen. Die Stimme würde er in der Hölle wiedererkennen – er hatte gemeinsam mit Wade Curtis zwei Bücher geschrieben. Es klang, als habe der Mann einen voll aufgedrehten Verstärker im Kehlkopf. Das lag zum Teil an seiner militärischen Ausbildung, zum Teil an der Taubheit, die er sich als Artillerieoffizier eingehandelt hatte.
Er neigte zum Dozieren. »Der FRing «, sagte er. »Du weißt ja, es gibt die Ringe A, B, C, nur daß man sie in der Reihenfolge der Entdeckung und nicht entsprechend ihrer Entfernung vom Planeten bezeichnet hat, so daß das ganze System völlig wirr ist. Der FRing liegt unmittelbar außerhalb der breiten Ringe da vorne. Er ist ganz schmal. Niemand hatte ihn je gesehen, bevor die Raumsonden hingeflogen sind, und damals hat nicht malPioneer besonders gute Bilder davon geliefert.«
Nat hielt die Hand hoch: Schon gut, ich weiß, bedeutete die Geste. Curtis zuckte die Achseln und verstummte.
Aber der FRing sah keineswegs normal aus. Er sah aus, als seien drei Bänder aus Gas oder Staub oder weiß Gott was ineinander verknotet. »Total verdreht«, sagte Nat. »Wie kommt das?«
»Das wollte von den Astronomen keiner sagen.«
»Kann ich verstehen. Wenn ich mal Mist baue, juckt es mich nicht. Bei ‘nem Wissenschaftler steht gleich die Karriere auf dem Spiel.«
»Ja. Nun, ich kenne kein physikalisches Gesetz, das das zuließe!«
Auch Nat kannte keines. Er sagte: »Was ist los, hast du noch nie drei verliebte Regenwürmer gesehen?« Wades zustimmendes Gelächter quittierte er wie einen ihm zustehenden Tribut.
Die Pressekonferenz begann. Techniker des JPL machten sich bereit, die Veranstaltung in sämtliche Räume zu übertragen, und eine der für PR zuständigen Damen ging daran, die Bildschirme im Konferenzraum auszuschalten.
»Hmm. Da kommen immer noch interessante Sachen«, sagte Curtis. »Und ich muß stehen. Dabei hatte ich einen Sitzplatz, noch dazu in der ersten Reihe, hab ihn aber an den Mann von der Washington Post abgetreten.«
»Pech«, sagte Nat. »Dann sehen wir uns das Ganze doch von der Vorhalle aus an. Jilly ist auch schon draußen.«
Am Vormittag des 12. November 1980 herrschte im Presseraum des JPL drangvolle Enge; zwischen zahlreichen Videogeräten schafften sich die Besucher mit den Ellbogen Platz. Roger und Linda waren zwar frühzeitig gekommen, aber nicht früh genug, um noch freie Sitzplätze vorzufinden. Ein Science Fiction Autor im Buschhemd trat ihnen seine beiden Plätze in der vordersten Reihe ab.
»Sind Sie sicher?« erkundigte sich Roger.
Der Mann zuckte die Achseln. »Sie brauchen sie dringender als ich. Erklären Sie dem Kongreß, daß das Raumfahrtprogramm von äußerster Wichtigkeit ist, mehr verlange ich nicht.«
Roger dankte ihm und nahm Platz. Linda Gillespie war in der Nähe des maßstabgetreuen Raumfahrzeugmodells eingezwängt und wehrte einen weiteren Reporter ab, der sie interviewen wollte: wie fühlte sie sich, sozusagen auf der Erde festgebunden, während ihr Mann im Skylab war?
Sie sah hinreißend aus. Roger hatte sie nicht mehr gesehen seit – ja, seit wann? Erst zweimal seit der Heirat mit Ed. Natürlich war er auch bei der Hochzeit gewesen. Lindas Mutter hatte geweint. Wieso habe ich sie aufgegeben?, dachte Roger. Aber ich war damals ja nicht bereit, sie zu heiraten. Vielleicht hätte ich es tun sollen…
Wahrscheinlich alles Gefühlsduselei. Man erinnert sich gern an das Schöne. Unruhig rutschte er auf seinem Sitz hin und her. Und schön war es gewesen. Er sah verstohlen zu ihr hinüber, aber sie hielt den Blick aufmerksam auf das Modell gerichtet. Am besten, er vergaß das alles.
Die Schwierigkeit bestand darin, daß er keinen Bericht auf die Beine bekam. Es war einfach nichts Zusammenhängendes aus den Leuten herauszukitzeln. Sie waren zwar aufgeregt, sagten aber nicht, warum. Die Wissenschaftsjournalisten hielten gleichfalls den Mund. Sie alle kannten einander, und bei großen Ereignissen wie diesem hatten sie was gegen Außenseiter.
Roger kritzelte gelangweilt auf seinem Notizblock herum. Er riß sich nicht um diese Art von journalistischer Tätigkeit.
Er hörte: »Hast du noch nie drei verliebte Regenwürmer gesehen?« und sah auf. Eine Gruppe von Science FictionAutoren stand unter einem Bildschirm, auf dem zu sehen war… ja, es waren drei verliebte Regenwürmer, oder auch ein unscharfes Foto von Spaghettiresten auf einem Teller, vielleicht war es auch einfach Störstrahlung. Er schrieb: »FRing: drei verliebte Regenwürmer«, und klopfte Linda auf die Schulter. »Hältst du mir den Platz frei?«
»Wo willst du hin?«
»Vielleicht krieg ich aus den Science FictionLeuten was raus.« Niemand schien sie zu fragen – vielleicht bekam er auf diese Weise einen neuen Blickwinkel.
»Es sieht aus, als ob es losginge.«
Frank Bristow, Pressesprecher des JPL, hatte seinen Platz auf dem Podium eingenommen. Roger hatte ihn flüchtig kennengelernt, als er sich in die Liste der Berichterstatter eintrug. Rogers Kollegen schienen ihn alle ebensogut zu kennen wie einander. Roger kannte niemanden.
Bristow stand im Begriff, die Pressekonferenz zu eröffnen. Der Leiter des VoyagerProjekts und vier Astrophysiker nahmen ihre Plätze an einem erhöht stehenden Tisch ein. Roger setzte sich wieder. Er wünschte sich weit weg.
Roger Brooks näherte sich den Dreißig, und das gefiel ihm nicht. Zu den vielfältigen Verlockungen in seinem Beruf gehörten zuviel kostenloses Essen und Trinken. Er achtete darauf, sich körperlich in Form zu halten, wenn er wieder einmal zu gut gelebt hatte. Sein glattes blondes Haar wurde allmählich schütter, und das machte ihm ein wenig Sorgen, aber sein Unterkiefer wirkte immer noch kantig und männlich und zeigte keine Spuren der weichlichen Rundungen, die er bei den anderen sah. Drei Jahre zuvor hatte er von einem Tag auf den anderen das Rauchen eingestellt und danach unter entsetzlichen Entzugserscheinungen gelitten. Seine Zähne waren wieder weiß, aber die Narben zwischen Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand würden bleiben. Da hatte in Vietnam mal eine Zigarette zu Ende gebrannt, als er im Vollrausch gewesen war.
Dies hier war nur ein kleiner Auftrag, und gern hätte er größere gehabt. Geheimgehalten wurde hier nichts – alles, was Voyager Eins lieferte, wurde in die Welt hinausposaunt. Vermutlich hätten sie es am liebsten bis zum Mond geschrien. Der Kniff bestand darin zu verstehen, worum es ging.
Auch wenn es keine große Sache war, hatte sich das Kommen gelohnt, dachte er mit einem Blick auf Linda. Unbehaglich zuckte er zusammen, als alte Erinnerungen in ihm aufstiegen. Wie unerfahren sie damals gewesen waren! Aber sie hatten gelernt, und keine körperliche Beziehung zu einer anderen Frau war in seiner Erinnerung je so gut gewesen wie das letzte Mal mit Linda. Möglicherweise sah er das verklärt – vielleicht auch nicht. Schluß damit! Wenn man es mir nun ansieht… Worüber soll ich, um Himmels willen nur schreiben?
Eine weitere Gruppe drängte sich unter dem Modell, das Voyager in natürlicher Größe nachbildete. Sicher Naturwissenschaftler. Die Science FictionAutoren in ihrer Nähe wirkten eher wie ihresgleichen als wie Medienleute. Sie gaben sich nicht die geringste Mühe, gelassen zu erscheinen. Es machte ihnen nichts aus, wenn andere ihre Begeisterung merkten. Journalisten taten so etwas nicht, sie versuchten, die übliche gelangweilte Miene von Unbeteiligten zur Schau zu stellen.
Die Pressekonferenz begann. Der Missionsleiter gab Erklärungen ab, teilte Einzelheiten über die Mission mit, nannte Leistungsdaten und so weiter.
»Sie schicken Bilder aus fünf Milliarden Kilometern Entfernung «, sagte jemand zu seiner Rechten. Eine hübsche junge Frau mit langen Beinen, schlanken Fesseln und kurzem Haar, Bubikopf. Jeri Wilson stand auf ihrem Namensschild, sie kam von irgendeiner geologischen Fachzeitschrift. Trauring, aber das mußte nichts bedeuten. Sie war wohl allein. Vielleicht würde sie auch den Rest der Woche dasein.
Die für die Planung Verantwortlichen verließen das Podium, und die Wissenschaftler Brad Smith, Ed Stone und Carl Sagan gingen hinauf, um zu berichten, was die Mission ihrer Ansicht nach an Neuem erbracht hatte. Roger hörte zu und versuchte sich eine interessante Frage zu überlegen. In einer Situation wie dieser kam es darauf an, daß man auffiel, damit man später bekannt war und dann versuchen konnte, ein Exklusivinterview zu bekommen. Spielerisch warf er einige Entwürfe aufs Papier.
»Nicht ein paar Dutzend Ringe – Hunderte! Wir sind immer noch damit beschäftigt, sie zu zählen.« Eine lange Pause. »Manche sind exzentrisch.«
»Was heißt das?« erkundigte sich jemand leise.
Der Science FictionAutor im khakifarbenen Buschhemd antwortete, vermutlich glaubte er zu flüstern: »Die herkömmliche Annahme geht von vollkommenen Kreisen aus, in deren Mittelpunkt Saturn liegt. Jetzt haben sie ein paar Ringe entdeckt, die nicht kreisförmig, sondern elliptisch sind.«
Weitere Wissenschaftler äußerten sich: »… möglicherweise der größte Krater im Sonnensystem, im Verhältnis zum Himmelskörper, auf dem er sich befindet…«
»Es gibt keinen Janus. Wo wir ihn vermuteten, sind zwei Monde, coorbital, das heißt, sie haben dieselbe Umlaufbahn und wechseln bei jedem Durchgang die Plätze. Ja, wir wissen schon seit einer ganzen Weile, daß diese Umlaufbahnen denkbar waren. Es ist eine Standardprüfungsfrage in der Himmelsmechanik. Wir haben nur einfach nie etwas in der Art im Universum gefunden.«
Brooks notierte sich Einzelheiten dazu; sicherlich war es eine Erwähnung wert – Janus, der innerste Mond des Saturn, benannt nach dem doppelgesichtigen römischen Gott der Ein- und Durchgänge.
Er flüsterte das Linda zu, die zustimmend nickte. Auch die Wilson schrieb etwas.
»Die Speichen der Ringe gehen allem Anschein nach auf winzige Teilchen zurück, etwa in der Größe der Wellenlänge des Lichts. Der Prozeß scheint oberhalb des Ringes stattzufinden und nicht in ihm selbst.«
Speichen zwischen den Ringen! Die müßten eigentlich durch die Rotation der Ringe verschwinden, da sich die inneren rascher bewegten als die äußeren, taten es aber nicht. Merkwürdige Neuigkeiten von überall aus dem Saturnsystem. Einige von Brooks’ Kollegen würden die Erklärungen sicher verstehen.
Doch die Pressekonferenz bot weit mehr, als Brooks erwartet hatte. Im Vergleich zu früheren Interviews mit Naturwissenschaftlern fiel ihm hier auf, daß keine Antworten kamen.
»Wir wissen nicht, was das bedeutet.«
»Wir möchten darüber noch nichts sagen.«
»Je mehr Daten wir von Voyager bekommen, desto weniger wissen wir über die Ringe.«
»Wenn wir mit den Zahlen ein bißchen herumspielen, können wir ziemlich genau erklären, warum die Cassinische Teilung so viel größer ist, als sie sein müßte.« Effektvolle Pause. »Natürlich erklärt das nicht die fünf schwach erkennbaren Ringe.«
»Hätte ich eine Liste mit allem aufstellen müssen, was wir keinesfalls zu sehen bekämen, hätten exzentrische Ringe ganz obenan gestanden.«
»Und ineinander verflochtene Ringe, Brad?«
»Völlig undenkbar.«
Brooks hatte den Eindruck, daß alle auf dem Podium glücklich wirkten. Lustig ging es zu. Wenn er nicht über genug Hintergrundwissen verfügte, um das alles zu verstehen, wer dann?
Jemand von der Presse wollte wissen: »Habt ihr noch mehr über die Speichen? Ich hatte gedacht, daß das gegen die Gesetze der Physik verstößt.«
David Morrison von der Universität Hawaii beantwortete das: »Ich bin sicher, daß die Ringe alles richtig machen. Wir verstehen es bloß noch nicht.« Brooks notierte sich den Satz.
»Ich wäre jetzt gern mit dir in einem Motelzimmer«, sagte Roger. Sie spazierten über das Gelände des JPL: Rasen, Springbrunnen, fernöstlich wirkende Steingärten, eine Brücke, alles recht hübsch.
»Das ist viele Jahre her«, sagte Linda, »aus und vorbei.«
»Sicher?«
»Ja, Roger, ganz sicher. Sei lieb. Du hast es versprochen. Ich möchte nicht, daß es mir leid tut, mitgekommen zu sein.«
»Natürlich bin ich lieb«, sagte Roger. »Es ist wirklich schön, dich wiederzusehen. Und ich freue mich, daß du mit Edmund glücklich bist.«
Bin ich das? überlegte Linda. Natürlich, sogar sehr – mit Ed. Nur, wenn er fort ist, und ich mich um alles selbst kümmern muß und die ganze Zeit allein bin und die verdammte romantische Parfumwerbung und all das sehe, werde ich beim Gedanken an Major Edmund Gillespie unglücklich. Ich bin nicht sicher, ob uns die Feministinnen einen Gefallen damit getan haben, daß wir uns jetzt unsere Begierden eingestehen und zugeben, daß wir genauso scharf auf die Sache sind wie die Männer.
Sie lächelte breit.
»Nun?« wollte Roger wissen.
»Nichts.« Nichts, was ich dir sagen würde. Aber es ist schön zu wissen, daß es Gesellschaft gäbe, wenn ich welche wollte…
Das Mittagessen fand in der Kantine des JPL statt. Roger und Linda wurden an den Tisch der Science FictionAutoren gebeten. Die wußten auch nicht mehr als er. Aber das Ganze schien ihnen dennoch richtig Spaß zu machen.
Falls der Saturn Geheimnisse hatte, so gab er sie nicht preis. Sonderbar, daß die Autoren keine vernünftige Erklärung für die seltsamen Bilder mit den ineinander verflochtenen Ringen wußten.
Irgendwann rief Linda zu jemandem hinüber: »Nanu, Wes. Daß du auch hier bist…«
Der Angesprochene war schlank, athletisch gebaut und trug eine ausgebleichte BaseballMütze. Linda stellte ihn den Anwesenden vor. »Wes hat Carlotta geheiratet«, sagte sie zu Roger. »Du erinnerst dich doch an Carlotta Trujillo, meine beste Freundin im College.«
»Klar«, sagte Roger. »Wie geht’s?«
Einer der Autoren sah nachdenklich drein. »Wes Dawson… Bewerben Sie sich nicht um Craig Hosmers Sitz im Repräsentantenhaus?«
»Ja.«
»Wes war schon immer für das Raumfahrtprogramm«, sagte Linda. »Vielleicht gebt ihr Jungs ihm eure Stimme.«
»Ist nicht unser Wahlbezirk«, sagte Wade Curtis. »Aber vielleicht können wir trotzdem helfen. Wir sind immer an Leuten interessiert, die was für die Raumfahrt übrig haben.«
Erst am Spätnachmittag brachte Roger Linda nach Hause.
»Du kannst gern mit reinkommen und meiner Schwester Jenny guten Tag sagen«, lud sie ihn ein. »Erinnerst du dich noch an sie?«
»Na klar. Ich mußte das kleine Biest doch immer schmieren, damit sie uns allein ließ.«
»Nun, inzwischen ist sie ein bißchen gewachsen.« Linda ging voraus und schloß die Haustür auf. Drinnen war es seltsam still. In der Küche hielt ein Magnet in Tomatenform einen Zettel an der Kühlschranktür. Roger las über Lindas Schulter mit.
Linda: Bin rasch zu ‘ner Strandparty in San Diego.
Charlene ist auch mit. Morgen bin ich zurück. Jenny.
Linda runzelte die Stirn.
»Strandparty?« fragte Roger.
»Sie studiert Anthropologie im ersten Jahr, verbringt aber einen großen Teil ihrer Zeit mit Tauchsport, wie auch ihr gegenwärtiger Freund.« Betrübt schüttelte sie den Kopf. »Mutter bringt mich um, wenn sie erfährt, daß ich sie die ganze Nacht über habe weggehen lassen.«
Roger schüttelte den Kopf. »Was, die Göre ist auf dem College? Mein Gott, Linda, die ist doch höchstens – na, fünfzehn?«
»Siebzehn.«
Roger seufzte. »Scheint doch länger her zu sein, als ich dachte.«
»Offenbar. Kaffee?«
»Aber immer.«
Sie machte den Kaffee. Ohne daß Roger ein Wort gesagt oder etwas getan hätte, spürte sie die Schwingungen in der Atmosphäre. Hatte sie das geplant? Unmöglich; sie hatte ja nicht mal gewußt, daß Roger da war. Außerdem hätte sie nicht einmal dann etwas eingefädelt, wenn sie es gewußt hätte, denn so gern sie Roger einmal gehabt hatte, Edmund mochte sie lieber…
Obwohl es lange zurücklag, wußte Linda noch jede Einzelheit. Verwöhnte Studentin an einer bekannten Universität hat ein Verhältnis mit einem Reporter der Washington Post. Ein Wochenende gemeinsam im Häuschen ihrer Eltern in den Bergen. Es war Sommer, und niemand außer ihnen war dort. Herrliches Wetter. Während sie die gewundene Straße emporfuhren, hatte ein merkwürdiges Vorgefühl in der Luft gelegen. Dieses Gefühl hatte sie seither nie wieder gespürt.
Bei Edmund war es anders. Er war älter und viel eindrucksvoller. Kampfflieger. Astronaut. Alles, was einen Helden ausmachte… Alles, nur kein großer Liebhaber… Das ist nicht nett, damit wirst du ihm nicht gerecht.
Als sie Edmund kennenlernte, hatte auch ein Vorgefühl in der Luft gelegen. Es hatte angedauert, solange er um sie warb – und war in der Hochzeitsnacht dahingeschwunden.
Die Kaffeemaschine brauchte nicht beaufsichtigt zu werden. Linda wandte sich um. Roger stand ganz dicht hinter ihr. Es war nicht weit bis in seine Arme.