III. Der Fußfall

23. Aufräumarbeiten

Das Schicksal der Menschheit wird nicht durch die Aufrechnung materieller Dinge bestimmt. Sobald sich große Dinge ankündigen, merken wir, daß wir Geister und nicht Tiere sind und daß etwas in Raum und Zeit wie auch jenseits ihrer beider vor sich geht, das uns zur Pflicht mahnt, ob uns das recht ist oder nicht.

WINSTON CHURCHILL

Rochester, New York, 1941


Zeit: Vier Wochen nach der Stunde Null

Der Boden im Westen des Staates Kansas war schwarz und von Kratern zernarbt.

Der Heerespilot umflog sie in weitem Bogen gegen die Windrichtung. Er sprach nur selten und zitterte. Filmaufnahmen von Todesstrahlen, die andere Hubschrauber zielsicher heimgesucht hatten, konnte er nicht gesehen haben, aber bestimmt hatte er gerüchtweise davon gehört. Jenny nahm an, daß er damit rechnete, von grünem Licht durchbohrt zu werden.

Jack Clybourne saß stumm wie ein Fisch neben ihr.

Jenny sah sich die Berichte der Observatorien an, so, wie sie sie hereinbekam, und hielt vor Jack nichts geheim. Zu den neuesten Erdmonden gehörten jetzt an die zwei Dutzend Raumfahrzeuge von Zerstörergröße, aber das Mutterschiff hatte sich mit der Hälfte der kleineren Raumschiffe in den interplanetarischen Raum geflüchtet, und die verbliebenen schienen untätig zu warten. Hätte der Pilot gewußt, was Jenny bekannt war, wäre er vielleicht ruhiger gewesen. Aber noch immer war der grüne Tod denkbar. So gelassen, wie Jenny aussah, war sie keineswegs.

Von Zeit zu Zeit strich der Pilot auf ihre Anweisung hin dicht über verbrannten Maisfeldern und an unterbrochenen Straßen entlang über den Boden. Auf den Straßen lagen Hunderte riesiger grellbunter Stoffetzen und Tausende flachgedrückter Kunststoffstücke von Suppentellergröße. Aus dem Material der Flugdrachen würde man im Winter Kleidungsstücke für Flüchtlinge machen können, die nur allzu froh darum sein dürften. Die Landeschuhe der Außerirdischen jedoch würden als unzerstörbarer Müll zurückbleiben, und noch in hundert Jahren würden Bauern beim Umpflügen der Maisfelder auf sie stoßen. Ob diese Bauern dann wohl Hände haben würden oder gespaltene Rüssel?

Außerdem sah man Leichen neben schwarzen Autoskeletten, Menschen und Außerirdische, halb verkohlt.

Der Hubschrauber umflog ein Dorf. Jenny konnte kein einziges heiles Gebäude entdecken. Die Bewohner waren vor dem Anrücken der Außerirdischen geflohen und diese vor den Atombomben, so daß niemand geblieben war, der die Brände bekämpfen konnte.

Gelegentlich sahen Gruppen von Flüchtlingen zu dem Hubschrauber empor. Nur wenige machten ihm Zeichen, er möge landen.

Immer wieder wanderten Jennys Blicke zu dem Transportschiff der Außerirdischen hinüber.

Schon seit fast einer Stunde hatte man es sehen können. Jetzt war es nicht einmal mehr fünfzehn Kilometer entfernt und ragte in der ebenen schwarzen Landschaft hoch auf. Es war aus mehreren Kilometern Höhe abgestürzt und beim Aufprall zerschellt, so daß es mit aufgerissenem Rumpf dalag wie ein mit dem Bug voraus gesunkenes Schlachtschiff. Auf die Flüchtlinge mußte es gigantisch und erschreckend gewirkt haben.

Ein totes Fi’ lag mitten auf der Straße, platt wie ein Pfannkuchen. Es war fast bis auf die zermalmten Knochen verwest. Sein Flugdrache hatte sich nicht geöffnet. Die Fithp entkleidete ihre Toten gewöhnlich, ließ sie oft aber auch einfach liegen, wie sie gefallen waren. Es wäre einfach gewesen, sie zu verbrennen: die Leichen aufeinanderstapeln, ein Feuerstoß aus einer Laserwaffe…

Der Hubschrauber landete nahe dem Heck des Transportschiffs. Jenny und Jack stiegen aus.

Sie gingen an seinem zerstörten Rumpf entlang. Nur das Heck hatte den Absturz unbeschädigt überstanden. Jack versuchte, durch den in Längsrichtung verlaufenden Riß im Rumpf ins Innere zu sehen. »Nichts, ein Treibstofftank.«

Vor der Tankwandung war der Rumpf aufgerissen. Vom verbogenen Bug her zwinkerte ein scheibenloses Fenster, zu einem fast geschlossenen Schlitz zusammengedrückt. Dort, wo es ihnen eine hinreichend große Lücke zwischen zerfetzten Metallteilen ermöglichte, drangen sie in sein Inneres vor, Jack voraus.

Im Laufschritt kamen sie wieder heraus. Jenny nahm die Gasmaske ab und wartete. Jack Clybourne lief in das Maisfeld, von wo schon bald ein Würgen vernehmbar wurde. Jenny versuchte es zu überhören.

»Tut mir leid«, sagte er, als er zurückkam.

»Versteh ich doch. Mir wär’s fast genauso gegangen.«

»Und das bei meinem ersten Auftrag draußen…«

»Du hast doch gar nichts falsch gemacht«, sagte Jenny. »Hier können wir wohl kaum etwas ausrichten. Das Schiff ist in einem Zustand, in dem nur Fachleute etwas mit ihm anfangen können.«

»Fachleute.« Er sah auf das Wrack. »Willst du deine Traumtänzer etwa da reinschicken?«

»Das ist ihre Arbeit.«

Jack schüttelte den Kopf. Er sagte: »Nun, Überlebende hat es hier bestimmt nicht gegeben.«

»Nein. Wirklich schade.«

»Man sollte annehmen, daß sie ein paar von ihren Leuten zurückgelassen haben.«

»Offensichtlich hatten sie sich vorsichtshalber auf eine Evakuierung eingestellt«, sagte Jenny.

»Vielleicht haben sie das Ganze sogar so geplant und hatten all ihre Vorhaben ausgeführt. Kansas jedenfalls ist zum Teufel. Der ganze Staat ist ein einziger Friedhof. Es gibt keine Staudämme mehr, keine Straßen, keine Eisenbahnen, und wir haben Angst, uns in unserem eigenen Luftraum zu bewegen. Einen einzigen Gefangenen haben wir. Wie viele von unseren Leuten sind eigentlich in ihrer Gewalt?«

Jenny schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Den Berichten nach eine ganze Menge, aber darauf können wir uns nicht verlassen.« Wir kommen nicht weiter, dachte sie. »Ich muß noch mal rein. Allein. Niemand hat was davon, wenn’s uns beiden schlecht wird.«

»Nein, ich hab mich gemeldet, und ich komme mit. In dem Loch war ich zu nichts nütze.« Clybourne setzte erneut die Gasmaske auf »Ferrrtig.« Unter der Maske klang seine Stimme hohl.

Erneut traten sie durch den Riß in der Wandung der Überlebenszelle.

Alles im Innern war verzogen und geknickt. Zerstörte Maschinen an zerstörten Wänden, aus denen zerrissene Versorgungsleitungen hingen. In den Gängen lagen die Kadaver Außerirdischer. Sie stanken zum Himmel. Es war schon einige Tage her, daß die USA und die Sowjetunion mit ihrem gemeinsamen Bombardement die Außerirdischen in den Weltraum zurückgetrieben hatten. Die Kadaver waren aufgedunsen oder sogar geplatzt. Jenny bemühte sich, nicht hinzusehen; das ging andere etwas an. Sie hoffte, daß bald die Biologen kamen, um die Überreste zu beseitigen.

Was suche ich hier eigentlich? Sie drang tiefer in das Raumschiff ein. Im Schein ihrer Taschenlampe sah sie die Reste der Ausrüstung, und wo immer sie hinleuchtete, machte Jack Fotos. Das hohe Pfeifen, mit dem sich sein elektronisches Blitzgerät nach jeder Aufnahme wieder auflud, ertönte in dem toten Raumschiff unwirklich laut.

Nichts war mehr heil. Wenn hier noch was zu finden wäre, halten sie ja wohl das ganze Schiff vom Weltraum aus zerschmolzen. Wie stehen sie zu ihren Toten? Ich muß Harpanet fragen. Reynolds soll ihn fragen, verbesserte sie sich. Die Science Fiction Autoren schienen ihre gesamte Zeit mit dem gefangenen Außerirdischen zu verbringen. Nachdem sie das hier miterlebt hatte, würde Jenny es nicht fertigbringen, ihm gegenüberzutreten.

Vor ihr lag ein schweres stählernes Schott. Es war geschlossen gewesen, aber bei dem Aufprall teilweise aufgesprungen. Sie zerrte daran, und es bewegte sich ein wenig. Ihre Kräfte reichten nicht aus, es ganz zu öffnen. Jack hängte sich die Kamera über die Schulter und bemühte sich seinerseits. Mit gemeinsamer Anstrengung gelang es ihnen, das Schott so weit aufzuschieben, daß sie sich hindurchquetschen konnten.

Sie kamen in eine Art riesige Halle mit niedriger Decke und gepolstertem Fußboden, der jetzt seitlich von ihnen eine Wand bildete. Der ganze Raum war erfüllt vom Geruch des Todes.

Einen Augenblick lang begriff sie nicht, was sie sah. Dann tanzte der Schein ihrer Taschenlampe über menschliche Züge: ein lieblich lächelndes Kindergesicht. Voll Erleichterung merkte sie, daß es eine Puppe war. Unter ihr lag etwas Weißes, Aufgedunsenes, in leuchtendbunten SchottenkaroStoff gehüllt. Jenny trat näher, und sie sah, worauf die Puppe lag.

Es war wie bei einem Vexierbild: Jetzt erkannten ihre Augen menschliche Körperteile. Hier war ein Knie, dort ein Hinterkopf, ein um sein zerbrochenes Rückgrat herum zusammengeknickter Mann, alle aufeinandergepackt wie Töpferton. Wie Vieh mußten sie hier hineingepfercht worden sein. Was sie da sah, verstand sie nicht, zum Teil hatte es Menschen-, zum Teil Elefantengestalt. Dann wurde ihr klar, daß ein außerirdischer Wächter beim Aufschlag des Raumschiffs wie eine Bombe in diesen Haufen hineingefahren sein mußte und mindestens drei Gefangene buchstäblich unter sich begraben hatte.

Würgereiz überfiel sie, Galle trat ihr in den Mund und sprühte gegen die Gasmaske. Sie riß sie sich vom Gesicht, und der Gestank des Todes füllte ihre Lunge. Sie wandte sich um und lief, so rasch sie konnte, aus dem Raumschiff.


* * *

Auf der Kommandobrücke summten leise Stimmen.

Hinter der Bote verschwamm ein Glühen und wurde immer schwächer. Sein Dahinschwinden wurde aufmerksam verfolgt. Man konnte das Haupttriebwerk nicht wie einen Lichtschalter einfach ein- und ausschalten, wollte man nicht Gefahr laufen, daß sich aus der Magnetflasche Schauer tödlicher Teilchen lösten und ihren Weg durch das Raumschiff suchten.

Flammenkegel entströmten den Triebwerken der sechzehn rings um das Heck angeordneten Grifflingsschiffe. So wurde die Geschwindigkeit derBote feinreguliert. Die Brückenbesatzung beobachtete das Ganze über eine Art SensorPeriskop, das sich wie eine großköpfige Metallschlange aus dem Rumpf erhob. Ohne selbst einzugreifen, hielt Pastempihkeph den Blick auf die Bildschirme gerichtet. Für diese Aufgabe brauchten seine Fithp seine Hilfe nicht.

Der Schub preßte ihn gegen den Gurt, der ihn auf seiner Liege hielt. Er sah, wie sich eine schwarzgraue Masse dem Schiff näherte.

Der FUSS war schrecklich verändert.

Innerhalb des äußeren Randes eines der Ringe, die den gasförmigen Riesen umgaben, hatten sie vor einem Hintergrund von schauerlicher Schönheit ein weißes Ei von grober Oberfläche gefunden, das zwei Makasrapkithp in der Längsachse maß. Es war wie etwas aus den Gestaltkriegen, eine ketzerische Darstellung der Vorlinge: ein Kopf ohne erkennbare Gesichtszüge, Greifglieder oder Rumpf. Ihm fehlte alles außer dem Gehirn.

Die Abbaugruppe hatte den MiniMond wegen seiner Größe und Zusammensetzung aus einer Achthoch drei Zahl ähnlicher ausgewählt. Im Verlauf der nächsten zehn HeimatweltJahre hatten ihnen seine Eisschichten Wasser, Luft und Brennstoff geliefert und sein aus Gestein und Metall bestehender Kern Stahllegierungen und Bodenzusätze für den Pflanzenanbau.

Jetzt war es kein Ei mehr. Sechs Achtel seiner Masse waren verschwunden. Dort, wo sich einst Eis befunden hatte, sah man in einem einen Makasrapk langen schwarzen Stück Schlacke Kanten, Grate, Riefen und Gruben. Aus einem gesichtslosen, fremdartigen Kopf war ein asymmetrischer, fremdartiger Schädel geworden. Er trieb jetzt näher, wie ein häßliches Vorzeichen.

»Ich hatte gehofft, ihn links liegenlassen zu können,« sagte Pastempihkeph.

»Wir haben uns diese Lösung vorbehalten«, sagte sein Berater. »Wären die Beutewesen umgänglich gewesen, hätte uns unser erster Vorstoß einen festen Stützpunkt verschaffen können, und wir wären imstande gewesen, Winterheim ohne Rückgriff auf das hier einzunehmen.«

In einem plötzlichen Wutanfall trompetete Pastempihkeph: »Warum warten diese Wesen so lange mit dem Angriff?«

»Das ist keine ernsthafte Frage, Herr der Herde.« Fathistihtalk war so gelassen wie immer. »Wir haben den Vorstoß über die letzten Jahre hinweg vorbereitet. Warum sollten sie nicht einige AchtTage Zeiten nutzen, um ihre Kräfte zu sammeln? Jetzt haben sie ihre eigenen Anbauregionen für Nahrungsmittel mit Kernspaltungsbomben verseucht und verwüstet, und ich muß gestehen, daß mir das übertrieben scheint.«

»Die WinterheimBewohner sind wahnsinnig.«

»Mag sein. In dem Fall sähen wir uns einem noch größeren Problem gegenüber, als wir dachten. Seid dankbar, daß das der Thaktan der Umerzieher ist und wir uns nicht den Kopf darüber zu zerbrechen brauchen, jedenfalls jetzt noch nicht.«

»Wir werden es aber bald müssen.«

»Ja. Aber Grifflingsschiff Sechs nähert sich mit weiteren Gefangenen und einer beachtlichen Menge an Beutestücken. Sobald es da ist, werden die Umerzieher eine Menge Neues erfahren.«

Der Herr der Heide stieß einen befriedigten Trompetenlaut aus. Das zumindest lief ab wie erwartet. Sonst aber auch nichts. »Warum haben die WinterheimBewohner keine Botschaften geschickt?«

»Bevor es etwas zu sagen gab, wollten sie reden«, sagte Fathistih talk. »Jetzt, wo wir eine ungefähre Vorstellung von ihrer Stärke haben, kommt nichts – keine Forderungen, keine Angebote. Zwölf Grifflingsschiffe und riesige Gebiete von Ernteland sind zerstört, und die Herren der Herde der Beutewesen haben uns nichts zu sagen. Vielleicht werden die Umerzieher in Erfahrung bringen, woran das liegt.« Wieder sagte er das mit seiner betont gelassenen, geradezu aufreizend gelangweilt wirkenden Stimme. Was bleibt mir anders übrig, mahnte sich der Herr der Herde. Er ist der Berater. Was täte ich an seiner Stelle?

Ein Ruck ging durch die Bote, das Raumschiff schien sich rückwärts bewegen. Ein Fi’ wandte sich um und sagte: »Herr der Herde, wir sind mit dem FUSS verpaart. Bald können wir mit der Beschleunigung beginnen. Liegt der Kurs fest?«

Das war der Augenblick. Vor langer Zeit hatten die Vorlinge einen Planeten zerstört, und jetzt – »Weiter wie vorgesehen. Lenkt den FUSS auf Winterheim. Die Gruppe der Umerzieher wird uns ein genaues Ziel nennen.« Mit einemmal erstarrte er. Mit leiserer Stimme sagte er: »Fathistihtalk, ich glaube, ich habe über meinen Anordnungen den Schlammraum vergessen!«

»Fu. Herr der Verteidigung…«

»Ich habe veranlaßt, daß er vollständig vereist wurde, bevor wir in die Rotationsphase eingetreten sind«, sagte Tantarentfid selbstgefällig. »Auch euren privaten Schlammraum habe ich leeren lassen, Herr der Herde.«

»Gut gemacht.« Pastempihkeph erschauderte bei der Vorstellung, daß Schlammkügelchen die Luft erfüllten und Fithp in Druckanzügen sie zu beseitigen versuchten.

Daß jetzt kein Gemeinschaftsschlammraum mehr zur Verfügung stand, würde Probleme heraufbeschwören. Ab sofort würden sich alle Fithp unbehaglich fühlen – als genügte es nicht, daß die Paarungszeiten versetzt waren. Er hob seinen Snffp. Ich ertrinke in einer Flut von Problemen.

Fathistihtalk machte Gesten, die bedeuteten, daß er mit ihm fühlte.

Mitgefühl brauche ich nicht, ich will Lösungen. »Herr der Verteidigung, schafft die Umerzieher, den Herrn des Angriffs und den Priester zur Besprechungsgrube. Es gilt Entscheidungen mit Bezug auf die Beutewesen und den FUSS zu treffen.«


* * *

»Herr des Angriffs?«

»Wir haben den Stützpunkt in Kansas aufgegeben«, sagte Kuthfektilrasp. »Grifflingsschiffe sind mit Gefangenen und Beute auf dem Weg hierher. Wir haben Grifflingsschiff Dreizehn eingebüßt. Es hatte den größten Teil dessen an Bord, was wir herbringen wollten, aber einige Gefangene und etwas Material befinden sich auf den anderen Schiffen.«

»Wie ist es zum Verlust von Dreizehn gekommen?«

Kuthfektilrasps Grifflinge zuckten hoch, um seinen Kopf zu bedecken. Fühlte er sich etwa bedroht? »Wir haben nicht vorausgesehen, daß die amerikanische Herde ihre wichtigste Nahrungsquelle bombardieren würde! Ebensowenig wie wir voraussehen konnten, daß die sowjetische Herde mit ihr gemeinsame Sache machen würde. Wir haben mit unseren Strahlen eine ganze Anzahl ihrer, der Erdkrümmung folgenden Bomben gestoppt, aber viele sind durchgekommen, und die Abschußeinrichtungen hatten sich bewegt, bevor wir das Feuer auf sie eröffnen konnten.«

»Das Schiff?«

»Dreizehn stand im Begriff, auf einem Laserstrahl aufzusteigen, als ein Atomgeschoß von einem Fahrzeug unter der Wasserfläche den Lasergenerator zerstörte.«

»Sind alle Bomben von der sowjetischen Herde gekommen?«

»Aus Wüstengebieten auf dem sowjetischen Kontinent und aus Bezirken vor der Küste des amerikanischen Kontinents, von Fahrzeugen unter der Wasserfläche, die durch das Wasser geschützt waren, als unsere Laserstrahlen auf sie fielen. Keine der thermonuklearen Waffen kam aus den Vereinigten Staaten selbst.«

Der Herr der Herde ließ sich das durch den Kopf gehen. »UmerzieherEins, müssen wir annehmen, daß sich die Herde der Vereinigten Staaten der anderen ergeben hat? Oder hat die sowjetische Herde unseren Brückenkopf in Kansas angegriffen und dabei das Risiko in Kauf genommen, den Zorn der amerikanischen Herde zu erregen?«

Rästapispmins warf einen Blick auf Takpassih, bevor er antwortete. »Ihr solltet auch die Möglichkeit einbeziehen, daß zwei Erdlingsherden zusammenarbeiten, ohne daß sich eine der anderen unterworfen hat.«

Das hatte der Herr der Herde befürchtet. Zu viele Lösungen waren gleichbedeutend mit keiner Lösung.

»Trotzdem kann es uns noch gelingen, wenn wir nach dem Fußfall landen«, sagte der Herr des Angriffs Kuthfektilrasp beschwichtigend. »Im von uns ausgewählten Zielgebiet gibt es nur wenig Industrie und kaum Verkehrswege.«

»Ja, der Fußfall.« Genau an die Vorgaben halten. »Muß der FUSS fallen? UmerzieherEins?«

Rästapispmins sagte: »Sie sollen begreifen, daß sie getroffen sind.« Takpassih bewegte sich, schwieg aber.

»Getroffen? In Amerika werden die WinterheimEingeborenen verhungern! Sie haben ihre eigene Ernte mit radioaktivem Feuer vernichtet!« Der Herr der Herde bemühte sich, seine Empfindungen zu beherrschen. Die Luft war voller Pheromone, und sieben raumgeborene Männchen waren bereit, mit gesenkten Schädeln aufeinander loszugehen! »Herr des Angriffs? Der FUSS?«

Die Antwort Kuthfektilrasps lautete wie erwartet »Wir zertrampeln sie. Wir zeigen unsere Macht. Wir haben die Stelle ausgewählt, Herr der Herde. Diesmal greifen wir eine schwächere Herde an. Wir müssen einen Stützpunkt auf Winterheim haben und von dort aus den Planeten Stück für Stück erobern. Das auf den Fußfall folgende Wetter wird eine Vergeltung durch die WinterheimEingeborenen schwierig machen und eine für uns erfreuliche Nebenwirkung haben: Das Klima wird auf dem ganzen Planeten feuchter und damit für uns günstiger werden.«

»Zeigt!«

Kuthfektilrasp ließ den die ganze Wand bedeckenden Bildschirm aufleuchten. Nach seinen Anweisungen drehte sich der Globus von Winterheim und blieb stehen. Mit seinen Grifflingen wies der Herr des Angriffs auf die von Rogatschow als ›indischer Ozean‹ bezeichnete Wasserfläche. »Hier in der Mitte. Seht nur, wie sich die Wellen von der Aufschlagstelle fortbewegen werden. Ostwärts rollen sie viele Makasrapkithp weit bis zu den Inselvölkern und nordwärts noch weiter. Nach Westen bedecken sie das Tiefland, wo wir die Lichter der Städte sehen; die Hochlandregionen bleiben frei. Nach Nordwesten werden die Brennstoffquellen der Erdlinge im Wasser versinken, die die Industrie auf Winterheim mit Energie versorgen. Die Herden, die gegen uns zusammengearbeitet haben, werden möglicherweise nicht bereit sein, mit denen der südlichen Halbkugel gemeinsame Sache zu machen, außerdem dürften ihnen turbulente Luftmassen einen Transport dorthin unmöglich machen. Wohin auch sollten sie ihre Streitkräfte schicken? Wir können im Osten, im Westen oder im Norden landen; die sich ausdehnende See treibt die Beutewesen in alle Richtungen, Meine Gehilfen unter den Schläfern teilen mir mit, daß der FUSS über die für unsere Zwecke erforderliche Masse und Geschwindigkeit verfügt.«

Ertrinken würden die Erdlinge, in Achtschaften zur achten Potenz. Der Herr der Herde betrauerte sie schon im voraus. »Habt Ihr den Ort für unseren Stützpunkt ausgewählt?«

»Ich denke, hier. Wir finden dort nicht nur abbauwürdige Vorkommen von Rohstoffen, die wir brauchen, sondern vielleicht sogar Verbündete. Eine Schwierigkeit jedoch besteht, Herr der Herde. Die Startmöglichkeiten werden dort und auch an anderen Orten mit Sicherheit durch ständig fallenden Regen beeinträchtigt. Die erforderliche größere Laserkraft macht Starts auffälliger…«

Der Herr der Herde entspannte sich. Von militärischer Strategie verstand er etwas. Das war einfacher als Gespräche über den Wahnsinn der Beutewesen, der ihm Kopfschmerzen verursachte.

Der Berater Fathistihtalk schnaubte leise. »Verbündete?« Seine Grifflinge zuckten ziellos durch die Luft. Das kann man vorher nicht wissen.

Der Herr des Angriffs gab scharf zurück: »Sie haben nur wenig Transportmöglichkeiten! Wir werden richtige Herden finden. Wenn sie sich ergeben…«

Der Herr der Herde war müde. »Genug! Tut, was Ihr für richtig haltet, Herr des Angriffs. Ich habe keine besseren Vorschläge gehört. Umerzieher, haltet mich auf dem laufenden. Wir müssen die Beutewesen verstehen und ihnen unsere Lebensweise und Verhaltensweise beibringen. An eure Aufgaben!«

Er wartete, während sich die übrigen zerstreuten. Dann sagte er zu Fathistihtalk gewandt: »Ihr kennt die Planetenbewohner besser als wir.«Haben wir etwas falsch gemacht? Könnten wir siegen, ohne den FUSS abzuwerfen? Solche Fragen durfte ein Herr der Herde nicht stellen.

Der Berater wiederholte, was UmerzieherEins gesagt hatte. »Sie müssen wissen, daß sie getroffen sind. Ob das genügt… Herr der Herde, könnt ihr mich jetzt entlassen?«

»Geht, Fathistihtalk! Die Stunde eurer Gefährtin naht heran.«


* * *

Die Sowjets bewegten sich in flachen Sprüngen. Von Satz zu Satz legten sie langgezogene Flugbahnen durch den Gang zurück. Die Anziehungskraft war so gering, daß es viele Sekunden dauerte, bis man von der Mitte des Gangs aus die Wand berührte. Für Nikolai konnten die Umstände gar nicht günstiger sein. Er kam mühelos ebenso rasch voran wie die anderen, obwohl sie sich mit den Beinen abstießen, während er auf die Kraft seiner Arme angewiesen war.

Bisweilen schlug er Purzelbäume, während er durch den langen Gang vorwärtsstrebte.

»Sie halten Dawson in seiner Zelle fest«, sagte Dmitri. »Schon seit fünf Tagen. Warum wohl?«

Arwid zuckte die Achseln. »Ich hatte nicht den Eindruck, daß er ihnen besonders zugesetzt hat. Vielleicht grollt ihm Takpassih.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Dmitri. »Dawson ist ein Hornochse. Wenn er so weitermacht, bringt er uns alle in Lebensgefahr.«

»Wir könnten ihn zum Schweigen bringen«, schlug Arwid vor.

Dmitri sah einen Augenblick nachdenklich drein. »Nein. Wir wissen nicht, wie unsere Bezwinger darauf reagieren würden. Immer schön unauffällig, Genosse. Wir werden weiterhin kooperativ sein. Wenn sie weiter Geographiestunden wünschen, gibst du sie ihnen. Sie lernen nichts daraus, was sie nicht auch aus amerikanischen Kinderbüchern erfahren würden. Sie wollen, daß wir uns ihrer Herde anschließen, also tun wir das.«

Sie erreichten die Zutrittsöffnung. Nikolai nahm das Luftgitter ab und kletterte in den Belüftungskanal. Dmitri und Arwid folgten ihm.

Als man ihnen den Arbeitsauftrag erteilt hatte, war Arwid sicher gewesen, daß die Leitungen für die Fithp zu eng waren. Notfalls konnte man ein junges Fi’ hineinschicken, um Reparaturen durchzuführen, aber für einen solchen Fall waren nicht einmal Griffe vorgesehen, an denen es sich hätte halten können. Aber würde man andererseits Gefangene frei an Stellen herumziehen lassen, wo man sie nicht überwachen konnte? Bestimmt gab es Kameras.

Er hatte angenommen, sie seien schwer zu finden, aber das war nicht der Fall. Nikolai sah bald einen mit Borsten umgebenen Kranz, der genau den richtigen Durchmesser für den Luftkanal hatte. Er bewegte sich nicht und saß in einer Aussparung. An einander gegenüberliegenden Stellen enthielt er gläserne Augen, und um die Oberfläche der Apparatur wickelte sich ein metallenes Tentakel.

Ein fernüberwachter Reinigungsroboter. In den nächsten Tagen hielten sie nach weiteren Ausschau. Gelegentlich sahen sie einen am anderen Ende eines langen Kanals. Es war beruhigend zu wissen, auf welche Weise sie beobachtet wurden.

»Beweist eure Ausdauer«, hatte Takpassih sie aufgefordert. Ein Dawson wäre natürlich nicht intelligent genug, mit seinen Fähigkeiten hinter dem Berg zu halten, wenn sie ihn aus der Zelle ließen. Vier Tage lang hatten Dmitri, Arwid und Nikolai aufgehört, wenn sie müde waren. Auf keinen Fall arbeiteten sie bis zur Erschöpfung.

Jetzt war es an der Zeit, etwas zu unternehmen.

Weit hinter ihnen rollte eines der ringförmigen KanalReinigungsgeräte auf Kugellagern an der äußeren Peripherie entlang. Arwid und Dmitri stellten sich dicht nebeneinander. Darin hatten sie inzwischen Übung. Vor ihnen war Nikolai. Ob ihn die Kameras sahen oder nicht, jedenfalls würde ihn niemand beobachten. In diesem Durcheinander von Gliedmaßen mochten drei Menschen durchaus wie zwei erscheinen. Sollte weiter vorn ein weiterer Luftkanalreiniger auftauchen, würde Dmitri ganz beiläufig sagen: »Ein anderes Mal.«

Das aber erwies sich nicht als nötig.

Nikolai sah vor sich einen Seitenkanal und bewegte sich rascher. Arwid und Dmitri beschleunigten ihre Bewegungen gleichfalls. Durch die Krümmung des Ganges war das KanalReinigungsgerät hinter ihnen verschwunden, als Nikolai in Richtung auf die Achse wegtauchte.

Arwid machte sich daran, einen Staubsammler zu reinigen. Der Roboter hatte ihn im Blick, als er sich mit Dmitri wieder anschloß.

24. Zusammenkünfte

Von nichts zu nichts eilt, wer auf der Reise allein,

Ohne Freunde oder Bekannte muß sein.

ELLA WHEELER WILCOX


Zeit: Fünf Wochen nach der Stunde Null

Grifflingsschiff Sechs hatte am Heck der Bote festgemacht. Während es Treibstoff übernahm, betrat Tshintithpitmängs auf eine Stärke von einundvierzig Fithp geschrumpfte Achtschaft hoch zwei das Mutterschiff durch die Luftschleuse und den Verbindungstunnel.

Die Gefangenen hatten unterwegs gelitten. Schon Stunden nach dem Start hatten Krieger bei der Überprüfung des Transportpferchs in der Luft den Geruch halbverdauter Nahrung wahrgenommen. Die WinterheimEingeborenen mußten das Gasgemisch eingeatmet haben, bis der Luftstrom der Umwälzanlage es absaugte. In der Schwerelosigkeit ging es ihnen wie Fischen auf dem Trockenen. Sie benahmen sich, als lägen sie im Sterben, und Tshintithpitmängs Krieger mußten sie wie Gegenstände tragen. Außerdem hatten sie an Bord: Lebensmittelvorräte, Landkarten, Bücher voller Bilder, Ton- und Bildkassetten sowie Projektionsgeräte.

Tshintithpitmäng selbst bewegte sich schleppenden Schritts. Ein Lauf war geschient und hinderte ihn bei jeder Bewegung. Unmittelbar vor dem Start war nicht allzuweit vom Schiff eine thermonukleare Waffe detoniert. Dabei waren Tshintithpitmäng und sechs Gefangene gegen eine Wand geschleudert worden. Die Gefangenen hatten mit ihrer geringen Masse nur Prellungen erlitten, aber Tshintithpitmängs rechter Hinterlauf war gebrochen gewesen.

Nachdem sie im Verbindungstunnel einen Makasrapk zurückgelegt hatten, kamen ihnen zwei Achtschaften Krieger entgegen – aufreizend sauber und ausgeruht. Tshintithpitmäng war froh, ihnen die Gefangenen übergeben zu können. Wenn jetzt einer von ihnen starb, war jemand anders für sieverantwortlich.

Er wollte auf kürzestem Weg zu seiner Gefährtin Shreshlimäng. Sicher wartete sie schon.

Erdlinge in einem der Gänge ließen ihn zurückfahren. Er griff schon nach seiner Waffe, als ihm einfiel, daß auch sie Gefangene sein mußten. Sie schienen etwas zu wünschen… Er warf ihnen einen drohenden Blick zu und ging weiter. An der nächsten Ecke sah er sich Fathistihtalk gegenüber.

Hatte der Berater des Herrn der Herde etwas gemerkt? »Möge sich Eure Zeit lang dehnen, Berater«, sagte er und wollte weitergehen.

»Bleib«, sagte Fathistihtalk. »Ich brauche dich.«

Tshintithpitmäng unterdrückte ein unzufriedenes Schnauben, der Berater spürte es dennoch. »Es ist von großer Bedeutung, und ein anderer kann dich nicht ersetzen«, beharrte er. »Du gehörst zu den Fithp des Jahres Null und bist ein Abtrünniger wie deine Gefährtin. Sie wird vermuten, daß dich deine Pflichten im Schiff festgehalten haben, bis du es ihr erklären kannst. Komm mit!«


* * *

Ermattet stiegen Dmitri und Arwid aus dem Abluftkanal.

Zwei weibliche Fithp sahen sie kurz und abschätzig an, dann gingen sie weiter. Ein vorübergehender FithpKrieger trompetete ihnen wütend zu; sie drückten sich ängstlich an die Wand. Dmitri runzelte die Stirn. »Warum hat er das getan? Ich dachte, sie hätten ihre Anweisungen…«

»Möglicherweise hatte der andere«, sagte Arwid.

»Nein. Er war verletzt. Ein Schiff muß von der Erde gekommen sein – die vielen Detonationen heute morgen…«

Der nächste FithpKrieger machte einen freundlichen Eindruck. Vielleicht freute er sich, einmal etwas anderes zu sehen. Er unterhielt sich mit ihnen, und die Sowjets standen ihm Rede und Antwort. Er ging ebenso langsam wie die müden Luftkanalreiniger, die sich weniger rasch bewegten, als sie gekonnt hätten. Zeige deine Stärke nicht!


* * *

Der Herr der Herde sah von seiner Bildwand auf und schnaubte wütend. Mit seinen Grifflingen betätigte er einen Knopf von Tennisballgröße. »Vermittlung, ich möchte mit Fathistihtalk sprechen. Stellt fest, warum er nicht auf seinem Posten ist.«

»Soll er Euch anrufen?«

»Nein, schickt ihn her. Ist Grifflingsschiff Sechs gekommen?«

»Als Ihr geschlafen habt, Herr der Herde.«

»Außerdem möchte ich UmerzieherEins haben.«

»Der Berater meldet sich nicht, Herr der Herde.«

»Was? Auch gut. Dann nur Rästapispmins.« Auf dem Bildschirm sah letzterer aus, als sei die Jugend in ihn zurückgekehrt. Macht konnte sich auf ein alterndes Fi’ so auswirken. Er hatte Macht besessen, als er die Schläfer auf ihre neue Rolle vorbereitet hatte. Jetzt hatte ihm die Aufgabe, die Schützlinge von Winterheim umzuerziehen, seine alte Vorrangstellung wiedereingeräumt.

»Wir werden die neuen Gefangenen die Nahrung austeilen lassen«, sagte er, »und sie können dann in Tashajämps Gegenwart mit den Sowjets sprechen. Als erstes möchte ich sie jedoch bei Dawson unterbringen. Er ist jetzt seit mehreren Tagen allein. Wir hatten gehofft, daß er sich ohne seine Gefährten auf mich fixieren würde.«

»Und, hat es genützt?«

»Das läßt sich noch nicht sagen, doch ich glaube nicht. Er spricht mit mir, aber nicht wie jemand, der sich unterworfen hat. Er ist voll Wut, wenn nicht gar Aufsässigkeit. Herr der Herde, ich frage mich, ob die Bewohner von Winterheim ein Zeichen der Unterwerfung kennen, das wir bisher nicht entdeckt haben.«

»Er hat sich nach unseren Regeln unterworfen. Jetzt muß ihm klargemacht werden, was das zu bedeuten hat.«

»Wie Ihr befehlt.«

»Du mögest ertrinken, deine Aufgabe ist nicht mein Thaktan! Ich habe lediglich Ratschläge erteilt. Du wirst tun, was du kannst, auf jede dir richtig erscheinende Art und Weise, und die vollständige Verantwortung für einen Fehlschlag übernehmen.«

»Leitet mich, Herr der Herde. Gefährten aus Dawsons Herde können ihn vielleicht wieder zu Verstand bringen.«

»Das Weibchen mit dem roten Kopfbewuchs wurde als möglicherweise anpassungsfähige Einzelgängerin eingestuft. Wird ihre Anwesenheit in Dawsons Absonderungspferch seinen Sinn für die Wirklichkeit schärfen?«

»Alice hat sich unterworfen. Sie gehorcht Befehlen. Achtschaft hoch drei Führer Siplisteph sagt, daß sie vernünftiger wirkt als die meisten anderen.«

»Halte mich auf dem laufenden. Sind die Luftkanäle sauber?«

Rästapispmins merkte verärgert, daß der Herr der Herde in sarkastischem Ton mit ihm sprach. »Die Gefangenen haben an die sechs Vierundsechzigstel der Gesamtanlage gereinigt. Sie arbeiten gut, Herr der Herde. Euch ist wohl klar, daß bei einem Kampf die Kanalreiniger getötet oder die Abluftkanäle aufgerissen werden könnten. Auch gewinnen die Erdlinge unnötigerweise Erfahrung auf Gebieten, die ihnen nützen könnten.«

»Ich will doch meinen, daß sie wirklich in die Ziehende Herde eingegliedert sind.«

UmerzieherEins zögerte und sagte dann: »Sie halten sich nicht sklavisch an ihre Anweisungen. Einer hat Bereiche erkundet, die ihm nicht zugewiesen worden waren. Das kann auf die einer kletternden Gattung eigene Neugier zurückzuführen sein, es mag aber auch zutreffen, daß sie Wissen zu erlangen hoffen, das ihnen ermöglicht, uns von größerem Nutzen zu sein.«

»Jedenfalls gehorchen sie nicht. Fahr mit deiner Aufgabe fort!« Der Herr der Herde unterbrach die Verbindung. »Ich möchte mit Tshaupintalk sprechen.« Wie er sie kannte, würde sie unter nahezu allen Umständen wissen; wo sich ihr Gefährte aufhielt.

Die Vermittlung spürte Tshaupintalk auf der Krankenstation auf, wo sie gerade entbunden hatte. Selbst ein Herr der Herde mußte gelegentlich warten.


* * *

Die Zellentür war nur angelehnt und öffnete sich auf Wes Dawsons Druck. Er schob sie mit dem Fuß zu und hörte das Schloß einrasten. Gedanken und Erinnerungen wirbelten in seinem Kopf durcheinander. Er drängte sie beiseite und konzentrierte sich auf den Schmerz in seinem Bein, bemühte sich, nicht den Eindruck zu machen, er sei verletzt. Zwar sind die Fithp nicht telepathisch veranlagt, dachte er, aber wozu unnötige Risiken eingehen?

Die Zelle war riesig und leer. Seit fünf Tagen schon hauste er allein darin. Es gefiel ihm, daß er Platz hatte, und mit den Sowjetrussen war er ohnehin nicht gern zusammen gewesen. Gleichwohl – es ist bestimmt eine Strafe. Doch wofür? Alleingelassen zu werden muß für ein Herdentier gräßlich sein.

Die wollen meinen Willen brechen. Aber das wird ihnen nicht gelingen. Laß dir was einfallen. Aber was? Nichts zu lesen da…

Unterschwellig nahm Dawson das Geräusch von Thaktan Flishithys Haupttriebwerk wahr. Das Summen bereitete ihm quälende Schmerzen.

Das Schiff muß gegen eine enorme Masse drücken, da die Beschleunigung so gering ist. Bestimmt hatten die Fithp eine unglaubliche Menge von DeuteriumTritium Gemisch. Entsetzlicher Gedanke. Thaktan Flishithy ist ein großes Schiff, und es ist kampfbereit.

Es muß ein DT Gemisch sein, jede andere Annahme wäre noch schlimmer. Ein KernverschmelzungsAntrieb, der mit einfachem Wasserstoff arbeitete, müßte weit komplizierter sein, auf halbem Weg zwischen Science Fiction und reiner Phantasie. Wes Dawson entschloß sich zu eineroptimistischeren Sichtweise.

Immer wieder dachte er über die möglichen Resultate eines Krieges zwischen Fithp und Menschen nach.

Die Tür öffnete sich.

Jammernd kam jemand hereingetorkelt. Es war eine Frau mit leuchtend rotem Haar und blassem Gesicht, das hübsch gewesen wäre, hätte sie nicht so elend ausgesehen. Sie war spindeldürr und machte einen zerbrechlichen Eindruck. Die Schwerelosigkeit schien ihr heftig zu schaffen zu machen.

Wes packte sie am Arm. Ohne ihn anzusehen, jammerte sie weiter.

Weitere Menschen drängten in den Raum. Ein blondes Mädchen, höchstens zehn Jahre alt, löste anmutig Wes’ Hand vom Arm der schlanken Frau. »Es ist alles in Ordnung, Alice«, sagte sie.

»Mir ist so elend, o Gott, ich faaaaalle…«

Neue Gefangene. Keine Astronauten. Großer Gott, sie haben die Erde mit Krieg überzogen! Die Rothaarige mit dem schmalen Gesicht kreischte erneut auf, und das blonde Mädchen sagte etwas Besänftigendes. Wes schob Frau und Mädchen in Richtung Wand, stieß sich von seiner Seite ab und war wieder bei ihnen, bevor sie zurückprallen konnten. Er drückte die Hände der Frau in das Polstermaterial, bis sie begriff und sich festhielt. Das Mädchen blieb bei ihr.

Jetzt konnte er sich die vier anderen genauer ansehen: ein Junge von vielleicht neun Jahren, mit schwarzem Haar und von der Sonne gebräuntem Gesicht. Das Paar war etwa Mitte Fünfzig, beide wirkten wie Leute vom Lande, und nach der Art zu schließen, wie sie einander umschlungen hielten, wohl Mann und Frau.

Die letzte war vermutlich die Mutter des blonden Mädchens, denn ihr Haar hatte denselben Ton, und in ihrem Gesicht sah Wes die gleiche feingeschnittene Nase. Sie trieb wie ein Akrobat auf Armeslänge an ihm vorbei.

Die blonde Frau sah ihn unverwandt an. »Wes Dawson? Senator?«

Müßte er sie etwa kennen? Er konnte sich nicht erinnern und lächelte ihr zu. »Kongreßabgeordneter. Wie haben Sie gewählt?«

»Jeri Wilson. Wir haben uns vor fünfzehn Jahren im JPL kennengelernt, als Voyager am Saturn vorbeiflog… Äh, republikanisch.«

Das ist lange her. Da kann sie höchstens zwanzig gewesen sein. Seitdem hatte er eine Menge Menschen kennengelernt. »Stimmt. Neuerdings wirkt der Vorbeiflug am Saturn fast prähistorisch. Wie sind Sie hergekommen?«

»Man hat uns gefangengenommen.«

»Und wo?«

»Wissen Sie das nicht?« fragte Jeri. »Ach, wohl nicht. In Kansas. Die Außerirdischen sind dort gelandet.«

»Wo genau?«

»Nicht weit vom Haus Ihrer Frau entfernt«, sagte Jeri. »Etwa fünfundsechzig Kilometer…«

»Woher, zum Teufel, wissen Sie, wo sich meine Frau aufhält?« wollte Dawson wissen.

»Wir waren auf dem Weg zu ihr«, sagte Jeri. »Glauben Sie an Zufälle? Ich eigentlich nicht, aber… nun, es ist doch wirklich zu merkwürdig. Aber eigentlich auch wieder nicht.«

Verwirrt schüttelte Wes den Kopf. Außerirdische in Kansas. »Und was wollten Sie bei Carlotta?«

»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Jeri. »Ich bin auf dem Weg aus Los Angeles ohne Benzin liegengeblieben und hatte Angst, jemanden anzuhalten. Dann kam Harry Reddington vorbei…«

»Der Rote Harry? Kennen Sie ihn?«

»Ja. Er wollte uns helfen, und als das… als das nichts nützte, hat er versucht, Ihrer Frau zu Hilfe zu kommen und uns mitgenommen, aber dann sind die Außerirdischen gelandet…«

»Nun schön«, sagte Wes. »Die Einzelheiten können Sie mir später erzählen. Geht es Carlotta gut?«

»Ich weiß nicht. Den Rüßlern muß in Kansas irgend etwas Übles zugestoßen sein. Denn zuerst waren sie ganz friedlich, aber mit einemmal sind unsere Wächter tückisch geworden.«

»Rüßler?«

»So nennt jeder in den Staaten die Zwergelefanten.«

»Guter Name.«

Er wandte sich den anderen zu. »Ich hatte nicht die Absicht, Sie zu übergehen. Sie haben bestimmt eine ganze Menge Fragen?«

»‘n paar«, sagte der Mann.

»Der Herr wird uns sagen, was wir wissen müssen«, fügte die Frau hinzu. Sie legte schützend einen Arm um den Jungen.

»John und Carrie Woodward«, stellte Jeri Wilson vor. »Aus Kansas, aber sie haben auch nicht mehr vom Krieg gesehen als ich. Außerdem Gary Capehart. Seine Eltern haben die Rüßler zurückgelassen. Wir wissen nicht, warum. Da drüben ist meine Tochter Melissa, und ihre Freundin heißt Alice. Was hat man mit uns vor?«

»Wenn ich das wüßte. Was fehlt Alice denn?«

Die Rothaarige hielt das Gesicht fest gegen die Wandverkleidung gepreßt; ihr ganzer Körper war verkrampft. Jeri sagte: »Sie wollte uns ihren Nachnamen nicht nennen und hat nur gesagt, eine Bombe sei auf Menningers Sanatorium gefallen, und alle seien weggelaufen. Kennen Sie das Institut? Sie war dort wohl Patientin.«

Carrie Woodward schniefte vernehmlich.

Eine erstickte Stimme sagte: »In der offenen Abteilung.«

»Wie bitte?« fragte Wes.

Alice wandte ihr schmales Gesicht zur Seite. »Ich war nicht in der geschlossenen Abteilung. Bei uns waren die Türen offen. Sie wissen, was das heißt? Ich bin nicht wirklich krank, verstehen Sie?«

Wes sagte: »Erfreut, Sie alle kennenzulernen. Es ist mir hier ziemlich einsam geworden.« Er unternahm keinen Versuch, ihnen die Hand zu schütteln, sie alle hatten genug damit zu tun, sich an der zweifelhaften Sicherheit der Wandbespannung festzuhalten. »Sind noch mehr Menschen hier?«

»Wir nahmen es eigentlich an«, sagte Jeri, »aber gesehen haben wir keine. Haben Sie – haben Sie es als einziger von Kosmograd geschafft?«

»Nein, es sind noch einige Russen an Bord. Die Fithp – so nennen sich die Außerirdischen, und Sie werden ihre Sprache lernen müssen – lassen uns manchmal zusammen, dann trennen sie uns wieder. Zwei von ihnen geben uns Unterricht.«

»Unterricht in was?« erkundigte sich Carrie Woodward argwöhnisch.

»In Sprache und Gebräuchen. Sie erwarten Unterwerfung. In aller Form. Früher oder später wird Takpassih oder Rästapispmins – einer unserer FithpLehrer – herkommen und verlangen, daß Sie sich auf den Rücken legen. Wenn er Ihnen dann einen Fuß auf die Brust setzt – keinesfalls wehren, er zertrampelt Sie nicht.«

»Das haben wir schon hinter uns«, sagte Melissa.

Jeri lachte. »Wir hatten eine Mordsangst.«

»Anschließend erwarten sie, daß man mit ihnen zusammenarbeitet. Passive Haltung genügt ihnen nicht.«

»Heißt das, sie halten uns jetzt für ihresgleichen?« fragte Melissa.

»In etwa«, stimmte Dawson zu. Er wies beiläufig auf die große Kamera in einer Ecke des Raumes. »Eine Privatsphäre kennen sie nicht«, fügte er hinzu. »Sie beobachten uns, wenn ihnen danach zumute ist.«

Jeri Wilson runzelte die Stirn.

John Woodward zuckte vor der Kamera zurück und sagte: »Es ist nicht recht.« Seine Frau nickte zustimmend.

»Möglich, aber so ist es nun mal«, sagte Dawson.

Sieht gar nicht gut aus, der Mann. Ganz wie Giorge…

»Nun schön«, sagte Jeri. »Wir lernen also, uns wie die Rüßler zu benehmen.«

»Und wie sie zu sprechen. Hat jemand Hunger?«

Melissa schüttelte den Kopf. »O Gott, nein«, sagte Jeri.

Alice griff unter ihre Bluse und zog eine Familienpackung Vitamintabletten hervor. Das engbedruckte Etikett zählte in winzigen Buchstaben die Ingredienzien auf Pollen, Schwarzwurzel, Löwenzahn, Fenchel, Weißdorn, Ingwer, Knoblauch… Fo Ti Dong Quai… sibirischer Ginseng, Hagebutten…

»Haben Sie ein Reformhaus ausgeraubt?«

»So ähnlich«, sagte Alice. »Sie haben mich durch einen Lebensmittelladen und ein Reformhaus geführt, und ich mußte auf alles deuten, was wir meiner Meinung nach brauchten.«

Wes nahm eine Tablette mit grünlichen Einschlüssen und schluckte sie ohne Wasser. »Es sind verschiedene Lebensmittel von der sowjetischen Raumstation an Bord, und die Fithp bauen einiges an, was man essen kann, wenn man die Augen zumacht, aber Vitamine haben mir, ehrlich gesagt, gefehlt.«

»Wie war es denn bei Ihnen?« fragte Jeri Wilson. »Sie befanden sich auf der Raumstation…«

Er berichtete in aller Ausführlichkeit. Es sah nicht aus, als würden sie in nächster Zeit gestört werden.


* * *

Die Bilder auf der Videowand verblaßten. Rästapispmins sah weiterhin darauf, als könne er damit dem Gesehenen einen Sinn geben. Schließlich wandte er sich um. »Was das wohl bedeutet?« fragte er.

Takpassihs Grifflinge spreizten sich in der Luft.

»Das wird dem Herrn der Herde nicht gefallen«, zischelte Rästapispmins. Er sah auf die Kamera in einer Ecke des Raumes. »Vielleicht hat er schon mitgesehen.«

»Sein Ärger wird nichts sein im Vergleich mit dem von Fistartih thaktan, wenn er diese Aufnahmen sieht«, sagte Takpassih. Erneut spreizte er die Grifflinge. »Wir wissen, daß sie merkwürdige Werbungs- und Paarungsbräuche haben. Offenkundig sind die Weibchen unaufhörlich brünstig, und es scheint ihnen völlig gleichgültig zu sein, welches Männchen ihre Bedürfnisse befriedigt.«

»Und auf welche Weise beherrschen die Weibchen dann die Männchen?« wollte Rästapispmins wissen. »Es ist doch unmöglich…«

»Vieles ist möglich«, seufzte Takpassih. »Verzeih mir, Enkel, aber deine Erfahrung beschränkt sich auf die Existenz an Bord eines Schiffes, nie hast du eine Welt voll bunten Lebens gekannt.«

»Sie verzehren ihresgleichen und singen dabei! Ich habe kein Verlangen, in einer solchen Welt zu leben.«

»Immer vorausgesetzt, wir haben das Gesehene richtig gedeutet «, sagte Takpassih. »Wir müssen die Gefangenen fragen.«

»Spricht Dawson schon gut genug?«

»Nein. Ich kenne ihre Sprache auch nicht besonders gut, wohl aber Tashajämp. Sie hat sie eifrig studiert.« Takpassih atmete tief durch.

Rästapispmins tat es ihm nach. Pheromone füllten seine Lunge. Ein süßlicher Geruch.

»Enkel, du bist mein einziger Verwandter«, sagte Takpassih. »Haupt meiner Familie, ich möchte mit dir sprechen.«

Langsam schob Rästapispmins sich zurück, dann hockte er sich hin. Er wartete, bis Takpassih eine entsprechende Stellung eingenommen hatte. »Sprich!«

»Ich möchte, daß du mit mir Winterblumen trägst.«

»Ah. Ich habe gesehen, wie du durch neue Aufgaben Kraft gewinnst. Ich freue mich, Takpassih – aber hast du nicht zu lange gewartet? Die Herde der Schläfer hat jetzt ihre Zeit, und du dürftest kaum imstande sein, eine vernünftige Entscheidung zu treffen.«

»Ich kenne keine unverpaarte Schläferin, die mich zum Gefährten haben möchte. Ich spreche von Tashajämp.«

»Ah. Annehmbare Herkunft und geschickt bei der Arbeit. Ja.«

»Sie ist nicht hübsch«, sagte Takpassih. »Manche würden sie sogar mißgestaltet nennen. Dennoch finde ich sie anziehend, und wie du gesagt hast, sie ist bei ihrer Arbeit sehr geschickt.«

»Raumgeborene verpaaren sich nur selten mit Schläfern. Weißt du, ob du ihr genehm bist?«

»Woher sollte ich? Ich habe außer dir niemanden, der für mich spricht.«

»Jämps Großvater«, sagte Rästapispmins nachdenklich, »ist Persantipjämp. Er war einst ein Krieger.« Zwar war damals kein Krieg, aber wenn es einen gegeben hätte, wäre er bestimmt auch gegen die Schläfer geführt worden. »Und mit ihm soll ich also sprechen? Er gilt als leicht – erregbar.«

»Ich bitte dich darum. Leite mich.«

»Tashajämp«, schnaubte Rästapispmins erheitert. »Ich habe nur wenig Erfahrung damit. Ich müßte dich fragen, was ich sagen soll. Unsere Rollen sind in jeder Hinsicht vertauscht. Mal sehen, ob ich die Wörter noch weiß, die ich sagen muß.«

»Ich weiß sie«, gab Takpassih zu. »Aber die Bräuche müssen eingehalten werden.« Er hörte zu, wie sich Rästapispmins durch den überlieferten Vortrag quälte: daß sich Fithp auf Lebenszeit verpaaren, einen Bund für alle Zeiten schließen, der nicht unter dem Einfluß einer Leidenschaft zustande kommen soll.

»Bist du sicher, daß es keine kurzlebige Leidenschaft ist? Immerhin ist es die Zeit deiner Herde…«

»Keineswegs«, sagte Takpassih. »Erinnere dich, ich bin – ein wenig – älter als du. Ich war mit deiner Großmutter verpaart. Ich kenne die Leidenschaft, und ich weiß auch, was Vernunft ist.«

»Nun, es wäre eine günstige Verbindung. Der JämpVerband hat seine Grifflinge in vielen Dingen, und auch du bist anerkannt auf deinem Gebiet.«Und ein SchläferMännchen bist du, das sich mit einer Raumgeborenen paaren will. Es braucht sich kein raumgeborenes Männchen zu unterwerfen – »Ich werde mit Persantipjämp sprechen, und wenn er einverstanden ist, gehe ich mit dir, die Winterblumen überreichen.« Rästapispmins erhob sich. »Meinen herzlichen Glückwunsch!«

25. Der Garten

Stets ist die Ansicht des Stärksten die beste.

JEAN DE LA FONTAINE


Zeit: Fünf Wochen nach der Stunde Null

Sie waren vorwärts getrieben, dann etwa achthundert Meter weit nach innen, einen sich spiralförmig windenden Gang entlang, nicht ganz schwerelos, aber doch mit so wenig Schwerkraft, daß es den Neulingen nicht leichtfiel, sich zu bewegen. Wes versuchte zu helfen, wo er konnte.

Zwei außerirdische Krieger trugen große Kisten. Tashajämp ging ihnen voraus.

Ein riesiges Portal öffnete sich vor ihnen: ein Lastentor, weit größer, als es für das Hindurchgehen eines Fi’ nötig gewesen wäre. Sie traten ein.

Der gewaltige Raum mußte längs zur Schiffsachse liegen, vor dem Raum des Podo Thaktan. Gelbweißes Licht fiel in einem langen Streifen durch seine Mitte, zu grell, als daß man hätte hinsehen können. Der übrige Raum war grün beleuchtet, mit Flecken von Karmesinrot und Gelb dazwischen. Unbekannte Pflanzen wuchsen in käfigartigen Behältern und wurzelten in an den Wänden befestigten dicken, feuchten Polstern. Grüne Banner flatterten matt im Zug der Klimaanlage. Ein Feld gelber Blumen wandte ihnen die Köpfe zu, als wollten sie die Störenfriede näher ins Auge fassen.

Hier war eine annähernd rechteckige Fläche loser Erde, von zahlreichen Löchern mit einem Durchmesser zwischen fünfzehn und zwanzig Zentimetern förmlich durchsiebt. Aus einem von ihnen erhob sich ein Kopf und verschwand, bevor Wes reagieren konnte. Er war stromlinienförmig, ähnlich dem eines Frettchens, mit roten Perlen an Stelle der Augen.

Es war wirklich wie in einer anderen Welt.

Verstohlen warf Wes einen Blick auf die anderen. Jeri Wilson blieb gelassen, Carrie Woodward schien jeden Augenblick damit zu rechnen, daß sie umgebracht würde, ohne deshalb besonders ängstlich zu wirken. Bevor sie aus der Zelle geführt wurden, hatte sie mit den anderen gebetet und mißbilligend auf Wes Dawson geblickt, der sich nicht beteiligt hatte.

Melissa und Gary sahen sich offenen Mundes um; sie hatten keine Angst, sondern waren geradezu entzückt. Pflanzen, Vögel, Tiere und undeutlich erkennbare Gegenstände, nachdem sie so lange in Zellen und Gängen eingeschlossen gewesen waren. Melissa wies auf etwas über ihnen. Es war fort, bevor Wes es sehen konnte, aber alle blieben stehen, um hinaufzuschauen.

Ungeduldig wandte Takpassih sich um. »Kommt!« Sie folgten ihm eilends, da sie nicht wollten, daß die FithpKrieger mit ihren Gewehrkolben nachhalfen, auch wenn das nicht brutal, sondern gleichsam verspielt zu geschehen pflegte, als trieben sie eine Kinderschar vor sich her.

Ein an die zehn Meter hoher Baum wuchs entlang der Schiffsachse. Ein großes grünes Blatt verlief spiralförmig um ihn herum. Drahtverspannungen sicherten den Stamm gegen seitlich einwirkende Beschleunigungskräfte.

Etwas streifte Wes’ Kopf. Er duckte sich, während der Krieger hinter ihm das Ding gleichmütig mit dem Rüssel beiseite scheuchte. Es flatterte davon und stieß einen musikalisch klingenden Fluch aus. Ein Vogel. Überall waren Vögel: Sie hatten lange Hälse und weit hinten ansetzende bunte Flügel von großer Spannweite, die an den Enden scharf nach hinten abknickten. Zu beiden Seiten des langen Halses saßen kleine gelbe Flecke. Verwundert sah sich Wes um. »Ist das eine Nahrungsquelle?« fragte er

»Unsere und eure.« Takpassih wies mit dem Rüssel auf ein Stück nackten Boden. Es mußte vor kurzem abgeräumt worden sein, denn darüber trieben Staub und Pflanzenreste. Der Lehrer sagte: »Jetzt habt ihr Pflanzen aus eurer eigenen Welt, die ihr hier anbauen könnt. Diesen Platz haben die Fithp für euch freigemacht.«

John Woodward trat an die Kisten. Zögernd nahm er eine Handvoll Erde und zerrieb sie zwischen den Fingern. »Guter Kansasboden«, sagte er. »Vielleicht leben wir lange genug, um hier noch was wachsen zu sehen.«

»Ihr werdet leben«, sagte Takpassih. Dabei warf er einen Blick auf den Bauern. »Leidest du darunter, deiner Heimat fern zu sein? Eines Tages wirst du mit uns landen.«

Woodward sagte nichts. Seine Augen glänzten.

»Fürs erste jedenfalls werdet ihr eure eigene Nahrung anbauen «, sagte Tashajämp. »In den Schalen auf den verschiedenen Stufen und hier.« Sie wies auf die mit Erde gefüllten Käfige. »Klettern ist etwas, was ihr wohl besser könnt als die Fithp.«

Sie hat schnell Englisch gelernt, dachte Wes. Aber ihre Haltung ist irgendwie eigentümlich. Warum nur? Wenn ich doch ihre Körpersprache verstehen könnte.

»Wir haben Saatgut«, sagte sie. »Ihr werdet das hier in Boden aus eurer Welt pflanzen.«

»Und wenn es nicht wächst?« wollte John Woodward wissen.

»Es wird wachsen. Notfalls mischen wir den Boden mit einem von einer anderen Welt. Es wird wachsen.«

»Und ist das wichtig?« wollte Wes wissen.

»Möglicherweise schon«, sagte sie. Sie warf einen Blick auf Takpassih. »Fangt jetzt an!«

»Ihr werdet Dinge anbauen, mit denen ihr euch ernährt.« Takpassih nahm ein Samentütchen aus einer der Schachteln. In seinen wie Taue aussehenden Greifgliedern wirkte es winzig. Er warf einen Blick darauf, riß es auf, und ein Teil der Saatkörner fiel heraus. Ein Krieger war darauf vorbereitet: Er haschte mit einem engmaschigen Netz nach der Wolke. Takpassih achtete nicht weiter auf den Zwischenfall. »In der Schwerelosigkeit ist Ackerbau schwierig. Die Samenkörner müssen fest in die Erde gedrückt werden, so, mit einem kleinen Werkzeug… nein, ihr braucht es nicht, eure Grifflinge sind klein genug. Wasser kommt von unten, aus der Wand. An der vorderen Wand findet ihr Werkzeug. Stöcke, die Pflanzen gegen den Schub halten, Werkzeug, um die Erde umzuwenden.«

John und Carrie Woodward betrachteten prüfend das Stück Beet und nahmen verschiedene Samentüten aus den Schachteln.

»Hier müßten Pflanzen größer werden als bei uns«, stellte John fest.

Verstohlen begannen Kinder sich mit erstaunt aufgerissenen Augen umzutun. Etwas wie ein Vogel schwirrte vorbei.

»Dorthin nicht!« rief Tashajämp. Sie bedeutete den Kindern, zur Gruppe zurückzukehren. »Ihr wartet hier! Stört nicht!«

Von hinten, aus dem Hain spiralig gewundener Bäume, ertönte das Murmeln von FithpStimmen wie eine Windharfe.


* * *

Der Herr der Herde hatte eine der hohen Säulenpflanzen erklommen. Wegen der geringen Schwerkraft konnte er beinahe wie die Erdlinge klettern. Als er sich umsah, mußte er über die sonderbare Perspektive schmunzeln.

In der vorderen Ecke des Gartens arbeiteten die gefangenen Erdlinge. Der Herr der Herde bewunderte ihre Flinkheit – immerhin waren sie frisch eingewiesene Erdfüßler. Sie kamen ihm durchaus zahm vor, wie sie da fremdartige Samen in fremden Boden senkten. Doch er konnte nicht länger über die beunruhigenden Berichte der Umerzieher hinweggehen. Es war mehr als genug, um ihm Kopfschmerzen zu bereiten.

Hier aber lenkten Gerüche ihn ab und linderten seine Sorgen: blühende Pflanzen und dumpfer Beisetzungsduft. Am Lebensende erwartete die Mitglieder der Ziehenden Fithp die Beisetzungsgrube und anschließend der Garten. Zwölf auf Winterheim verwundete FithpKrieger waren in der Beisetzungsgrube gelandet, nachdem Grifflingsschiff Sechs sie zur Bote zurückgebracht hatte.

Dieser Garten blühte unablässig. Dafür, daß in ihm die Jahreszeiten ineinander übergingen, sorgten genau abgestufte Intensitäten von Licht, Wärme und Feuchtigkeit. Die fremdartigen Gewächse von Winterheim mochten klimatische Veränderungen nötig machen. Er hoffte, ohne einen solchen Wandel auszukommen. Falls es den Erdlingen tatsächlich gelang, hier etwas wachsen zu lassen, würde Winterheim den Pflanzen und Tieren des Gartens eine Chance zum Überleben bieten.

Da der Schlammraum, wo er sich am liebsten aufgehalten hätte, nicht zur Verfügung stand, hatte der Herr der Herde Zuflucht im Garten gesucht. Hier traten ihm neun Fithp des Jahres Null gegenüber. Im Aufruhr der Düfte hatte er nichts von ihrer Anwesenheit bemerkt, und unvermutet hoben sich ihm nun über die Ränder der Blattspirale unten am Stamm der Säulenpflanze Gesichter entgegen.

Ein vernichtender Blick ließ sie wissen, daß sie ihn störten.

Die in einer zuvor nie dagewesenen und auch nie wiederholten Fortpflanzungsorgie Gezeugten und in kurzen AchtTage Abständen zur Welt gekommenen Fithp des Jahres Null sahen einander sehr ähnlich; sie waren von schlankem Wuchs, hatten eine glatte Haut und lange Gliedmaßen. Doch wenngleich Gruppen von Gleichaltrigen nicht unbedingt identisch dachten und empfanden, so bildeten diese hier doch den inneren Kern der ziemlich großen Herde von Abtrünnigen.

Einer sah anders aus als die übrigen. Er wirkte älter, seine Haut war dunkel und rauh, ein Bein war geschient, unbeweglich. Seine Blicke kündeten davon, daß er sich an Entsetzliches erinnerte.

Mit Zustimmung des Beraters hatte sich der Herr der Herde entschlossen, die Fithp des Jahres Null zu teilen und die Hälfte von ihnen nach Winterheim zu schicken. Sie waren entweder gefallen oder umkreisten Winterheim seit dem Gegenangriff der Erdlinge auf verschiedenen Umlaufbahnen. Der Verwundete dort mußte gerade aus dem Krieg zurückgekehrt sein.

Die Krallen des Herrn der Herde gruben sich tief in die Rinde, als er sich dem JungFithp unter ihm gegenübersah. Einen Augenblick lang überlegte er, ob er die Krieger rufen sollte; dann überkam ihn ein Gefühl der Belustigung. Abtrünnige mochten sie sein, aber keine Aufrührer. Sicherlich wollten sie nur dem Herrn der Herde ihre Aufwartung machen.

Außerdem war ein soeben zurückgekehrter Kriegsheld in ihrer Mitte. Nein, das waren keine gemeingefährlichen Einzelgänger. Gewiß wollten sie nur ihren Einfluß vergrößern…

»Ihr habt mich gefunden«, sagte er freundlich. »Also sprecht!«

Sie schwiegen noch immer. Zwei der kleineren Erdlinge kamen herübergeschlendert, wurden aber von Tashajämp abgefangen. Inzwischen arbeiteten die Gefangenen von Winterheim langsamer. Zweifellos sahen sie zu, waren aber wohl außer Hörweite. Was hier geschah, mochte alle Herden auf Winterheim angehen. Dennoch war es eine Zudringlichkeit, und wäre Tashajämps Aufmerksamkeit nicht anderswo nötiger gewesen, hätte der Herr der Herde sie sicherlich angewiesen, die jungen Fithp fortzubringen.

Schließlich sprach einer. »Der Berater Fathistihtalk hat uns eine Besprechung angekündigt, ist aber nicht gekommen. Er soll seit zwei Tagen nicht auf der Kommandobrücke gesehen worden sein.«

»Er hat seine Pflichten vernachlässigt«, sagte Pastempihkeph freundlich. »Er meidet die Brücke wie auch seine Gefährtin und antwortet nicht auf Anrufe. Ich habe es meinen höheren Offizieren mitgeteilt, aber sonst niemandem. Ist es euer Wille, daß ich seine Festnahme veranlasse?«

Unentschlossen sahen sie einander an. Dann sagte einer mit fester Stimme: »Nein, Herr der Herde.« Dies kräftige JungFi ’, das ein wenig höher geklettert war als die anderen, hieß Rashinggith und war der Sohn des Herrn der Verteidigung.

»Ihr wißt also auch nicht, wo er sich aufhält?«

»Wir hatten gehofft, ihn durch Euch zu finden, Herr der Herde.«

»Ha. Nicht einmal seine Gefährtin hat ihn gesehen, dabei hat sie ihm ein Neugeborenes zu zeigen.« Der Herr der Herde wurde ernst. »Es gibt Entschlüsse zu fassen, und wir haben keinen Berater. Was soll ich tun?«

Erneut sahen sie einander an. »Der Teqthaktan…«

»Richtig.« Pastempihkeph atmete erleichtert auf. Noch achteten sie Gesetz und Religion, noch waren sie keine Einzelgänger. »Ich darf keine Entscheidungen treffen und auch in keine Beratung eintreten, ohne die Ansichten der Schläfer gehört zu haben. So heißt es im Teqthaktan, dem Pakt, den wir mit ihnen geschlossen haben, und Fistartihthaktan besteht darauf, daß er genauestens eingehalten wird. Doch nun bin ich ohne Berater, und es gilt, Entscheidungen zu treffen. Sprecht! Was soll ich tun?«

»Wählt Euch einen anderen Berater«, sagte der Verwundete.

»Wohl wahr.« Das verstand sich fast von selbst. Die Ziehenden Fithp konnten ihren vorbestimmten Weg fortsetzen, aber Entscheidungen durften ohne Zustimmung des Beraters nicht getroffen werden.

Möglicherweise war Fathistihtalk etwas zugestoßen, er mochte aber auch durch Pflichtvergessenheit die Handlungsfähigkeit der Herde in einem kritischen Augenblick gelähmt haben. Vielleicht war er auch entführt worden… Sollte sich eine Gruppe innerhalb der Ziehenden Herde zu einer solchen Tat haben hinreißen lassen, würde sie ihres Ansehens verlustig gehen, doch auch der Berater würde seinen Posten verlieren. So sorglos durfte niemand sein, einfach zu verschwinden. Der Grimm des Herrn der Herde war unermeßlich. Pastempihkeph hatte bereits einen Nachfolger bestimmt; dennoch mußte Fathistihtalk gefunden werden. »Du, der Verwundete!«

»Achtschafthoch zwei Führer Tshintithpitmäng, Herr der Herde.«

Den Namen hatte er schon gehört, aber wo? Das konnte warten. »Bestimmt kommst du frisch vom Grifflingsschiff. Weißt du etwas von der Sache? Oder bist du nur hier, um die Zahl zu vergrößern?«

»Ich weiß nichts über den Berater. Doch ich weiß…«

»Später. Du, Rashinggith. Würdest du hingehen, wenn du wüßtest, wo sich der Berater aufhält?«

Die Grifflinge des Angesprochenen verknoteten sich und zuckten. »Gewiß, Herr der Herde.«

»Aber sagen würdest du es mir nicht? Gibt es einen Ort, den nur Abtrünnige kennen, wo er mit anderen Abtrünnigen zusammentreffen oder ganz allein sein kann?«

»Nein, Herr der Herde. Wir fürchten um ihn.«

Es mußte einen solchen Ort geben. Bestimmt hatten ihn die Abtrünnigen inzwischen aus eigenem Antrieb aufgesucht und durchstöbert. »Auch ich fürchte um Fathistihtalk «, gestand der Herr der Herde ein, »ich habe mich sogar mit dem Gebrauch der Luftschleusen vertraut gemacht und mir eine Liste der Fithp geben lassen, die mit ihrer Bewachung beauftragt sind.«

»Zufällig weiß ich, daß sich unter ihnen keine Abtrünnigen befinden«, sagte Rashinggith.

Eine interessante Aussage. »Ich denke nicht nur an Abtrünnige. Ist einem von euch schon einmal der Gedanke gekommen, daß Fathistihtalks Verhalten gefährlich ist? Bedenkt die Lage der Schläfer. In unserer Rangordnung genießt der Berater als einziger Schläfer auf Grund seiner Position hohes Ansehen. Die Schläfer könnten keinesfalls seine Absetzung verlangen, dennoch hat er sich dem Krieg um Winterheim immer wieder widersetzt. Wie viele Schläfer sind Abtrünnige? Ich kenne nur einen: Fathistihtalk.«

An den Blicken, die sie einander zuwarfen, merkte er sofort, daß auch andere Schläfer Abtrünnige waren. Aber auch das konnte warten. »Es gibt Schläfer, die Luftschleusen bewachen. Der Schub ist stärker als die Anziehungskraft des Fußes. Ein Leichnam würde zurückbleiben, sich aber nicht auflösen. Die Antriebsflamme ist heiß, aber nicht dicht. Unsere Teleskope haben nach Spuren eines Leichnams hinter dem Schiff gesucht.« Pause. »Es gibt keinen. Sollen wir unter diesen Umständen von Mord ausgehen? Vielleicht waren die Abtrünnigen auf einen Märtyrer erpicht, oder wollten konservative Schläfer weiteren Schwierigkeiten vorbeugen? Hat Fathistihtalk womöglich etwas erfahren, von dem einzelne Fithp nicht wollten, daß es ans Tageslicht kam? Lebt er gar und verbirgt etwas für seine eigenen Zwecke? Rashinggith, was wollte dir Fathistihtalk sagen?« Der Herr der Herde sah sich um. »Weiß es jemand von euch? Hat er Andeutungen gemacht? Stellte er interessante Fragen, als er euch zuletzt gesehen hat?«

»Wir wissen ja gar nicht, ob er tot ist«, sagte Rashinggith voll Unbehagen.

»Genug«, sagte der Herr der Herde. »Wir werden ihn finden. Ich hoffe, ihn fragen zu können, wo er war.« Das stimmte nicht ganz. Sofern Fathistihtalk nicht mehr lebte, würde das nur unerhebliche Schwierigkeiten verursachen. Doch weiter zu neuen Themen. Der Herr der Herde hatte sich einen Namen gemerkt.

»Tshintithpitmäng, du hattest etwas zu sagen?«

Aufgeregt, aber beharrlich in der Sache, begann der verwundete Krieger zu sprechen. »Die Beutewesen, die Erdlinge, wissen nicht, wie man sich unterwirft.«

»Man kann es sie lehren.«

»Da war ein – ein Gedrungener, stärker als die meisten anderen. Ich habe ihm seine Spielzeugwaffe aus der Hand geschlagen, ihn zu Boden geworfen und ihm meinen Fuß auf die Brust gesetzt. Er hat mit seinen knochigen Grifflingen nach mir gekrallt, bis ich kräftig zugedrückt habe. Ich glaube, ich habe ihn zerquetscht. Von allen Gefangenen, die wir mitgebracht haben, war lediglich die rotköpfige Absonderliche bereit, uns bei der Zusammenstellung von Erdlingsnahrung zu helfen! Nicht einmal nach der Unterwerfung sind sie willig. Sollen wir etwa vier Milliarden von ihnen gleichzeitig beibringen, wie man sich unterwirft? Das Ziel, die Welt zu erobern, muß aufgegeben werden. Wenn wir sie alle umbringen, wird der Gestank Winterheim zu einer riesigen Beisetzungsgrube machen!«

Der Herr der Herde wußte, daß Tshintithpitmäng zu den Siplisteph unterstellten sechs Offizieren gehörte. Siplisteph war ein Schläfer; seine Gefährtin hatte den Kälteschlaf nicht überstanden, und er hatte sich nicht wieder verpaart. Nach Winterheim war er als Achtschafthoch drei Führer des Erkundungstrupps gelangt. Es war eine wichtige Position, und als einige seiner Vorgesetzten fielen, war er befördert worden. Ihn hatte der Herr der Herde insgeheim als Berater ausersehen, vorausgesetzt, die zur Schläferherde gehörenden Weibchen waren einverstanden – und Fistartihthaktan als Bewahrer des Teqthaktan.

Tshintithpitmäng könnte in dem Fall Siplistephs Posten übernehmen.

»Warum seid ihr hergekommen?« fragte der Herr der Herde.

Die Reaktion überraschte ihn. Nacheinander stimmten sie ein hohes Jaulen an.

Der Laut, den verlassene Junge von sich gaben. Fürchterlich. Wieso spüre ich den Drang, meine Stimme mit ihnen ertönen zu lassen?

»Wir wissen nicht mehr, wer wir sind, Herr der Herde«, platzte Tshintithpitmäng heraus. »Warum sind wir, wo wir sind?«

»Wir führen die Thaktanthp mit uns.«

»Die Geschöpfe suchen nicht nach den Thaktanthp. Sie haben ihr eigenes Wissen«, beharrte Tshintithpitmäng.

»Wenn sie die Thaktanthp nicht kennen, woher wissen sie dann, daß sie nicht nach ihnen suchen?« Ob er Beförderung verdient? Irgendeiner von denen? Soll ich ihn auffordern zu bleiben? Nein, jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, die Sache zu entscheiden – er ist gerade erst aus dem Krieg zurückgekehrt, verwundet und unvermittelt mit den Düften der blühenden Winterblumen und der paarungsbereiten Schläferweiber konfrontiert. »Tshintithpitmäng, du brauchst Zeit und Ruhe, um dich von deinen Erlebnissen zu erholen. Geht jetzt, alle!«

Langsam erhoben sie sich, dann verschwanden sie einer nach dem anderen.

Der Herr der Herde blieb im Garten und versuchte erneut, die Ruhe darin zu genießen.

Vielleicht kam Tshintithpitmäng doch nicht für ein hohes Amt in Frage. Noch ein Abtrünniger! Aber er hatte auf Winterheim gut gekämpft, und er wurde erstklassig beurteilt. Laß ihm ein paar Tage Zeit und unterhalte dich indessen mit seiner Gefährtin. Sieh, ob sie ihn zur Vernunft bringen kann. Er erinnerte sich nicht besonders gut an Shreshlimäng… aber sie stammte aus einer guten Familie. Die Gefährtin eines Schiffskommandanten mußte von guter Herkunft sein und fähig dazu.

Wo nur Fathistihtalk sein mochte? Ermordet oder entführt. Mit seinem Verdacht gegen die Fithp des Jahres Null hatte er wohl unrecht gehabt. Sie waren erregt und beunruhigt und hatten, recht bedacht, auch allen Grund dazu; aber eine solche Tat hätten sie vor ihm nicht geheimhalten können. Wer also steckte hinter dem Verschwinden seines Beraters? Wie viele waren es? Was für Ansichten vertraten sie? Vielleicht stand eine Gruppe dahinter, die so groß war, daß sie den Urteilsspruch der Ziehenden Herde nicht zu fürchten brauchte. Doch die Geheimhaltung, mit der das Ganze geschehen war, sprach dagegen.

Innerhalb der Ziehenden Herde gab es durchaus unterschiedliche Parteiungen. So mußte es in der Heimatwelt gewesen sein, wenn auch in noch größerer und verwirrenderer Vielzahl. Selbst hier gab es Schläfer und Raumgeborene, Abtrünnige und Fistartihthaktans, der überlieferten Tradition verhaftete Geschichtskundler, gab es die Gruppe der Umerzieher, die sich mit ihren Bemühungen verrückt machte, selbst wie andersartige Wesen zu denken: Der Herr der Herde mußte sie alle im Gleichgewicht halten wie eine Pyramide aus glatten Kieseln bei wechselnden Schubgeschwindigkeiten.


* * *

»Er ist schon lange weg«, flüsterte Dmitri. »Wir können nicht länger warten.«

»Doch«, sagte Arwid Rogatschow mit Nachdruck.

»Aber…«

»Wir warten!«

Dmitri fügte sich.

Er gehorcht mir, weil er keine Wahl hat, aber er hält sich für überlegen. Vielleicht ist er das auch. Er ist der bessere Stratege.

Hinter ihnen raschelte etwas, und Nikolais beinloser Rumpf tauchte aus einem Seitenschacht auf. Er fiel zwischen ihnen in den Gang und konnte sich noch gerade rechtzeitig mit den Armen abfangen. Wieder einmal mußte Arwid die Beweglichkeit des Beinlosen bei verminderter Schwerkraft bewundern.

»Wo hast du gesteckt?« fragte Dmitri.

Ohne von ihm Notiz zu nehmen, wandte Nikolai sich Arwid zu. »Genosse Kommandant, ich hatte Erfolg«, sagte er.

»Kommt!« Arwid verließ den anderen voraus den Luftschacht. Sie ließen sich Zeit mit der Anbringung der Lüftungsgitter Abdeckungen. Arwid arbeitete schweigend. Obwohl er nicht besonders müde war, gab er sich einem Gefühl der Erschöpfung hin, und es gelang ihm. Aufpassen! Laßt sie unsere wahre Stärke nicht erkennen. Das sagt Dmitri. Ich fange schon an zu denken wie der KGB. Ob das gut ist?

»Ich habe Frauen gesehen«, sagte Nikolai leise.

»Ah«, entfuhr es Dmitri.

Arwid gab es einen Stich. Frauen! Ich bin schon so lange hier oben. »Wo?«

»In der Mitte des Schiffs ist eine Art Gartenbezirk, Genosse Kommandant. Sie waren da zusammen mit dem Amerikaner.«

Womit hat Dawson das verdient?

»Die zurückgekehrten Krieger«, sagte Dmitri, »haben sie wohl mitgebracht. Neue Gefangene von der Erde. Sind es Russinnen?«

»Nein, Genosse Oberst. Der Kleidung nach Amerikanerinnen. Es sind drei Frauen, außerdem zwei Kinder und ein Mann. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagten.«

Nikolai hob das schwere Gitter. Der Krüppel, dachte Arwid, hat mehr Kraft in den Armen als ich in den Beinen.

»Erzähl!« forderte ihn Dmitri auf.

»Wie angeordnet, habe ich weiter erkundet als früher. Zuerst bin ich jeder Biegung gefolgt, an die ich gekommen bin. Vor allen Öffnungen sind Gitter. Die Kanäle verlaufen radial. Manche sind sogar für mich zu eng, aber…« – Nikolai streckte die Arme über den Kopf, atmete vollständig aus und grinste breit – »ich kann mich schmal machen. Das Antriebsende ist zu weit entfernt. Dort dürften wir wohl die Steuerzentrale finden, aber ich habe nicht versucht hinzugelangen. Ich habe einen großen Raum voll schlafender Fithp gesehen, Weibchen, die sich mit allen vieren an die Wandbespannung klammerten wie riesige Flöhe. Dann habe ich eine Art Schlachthaus oder Küche gesehen, wo Fithp Tierteile und Pflanzen zerschnitten und – und irgendwie angerichtet haben. Es gab keinen Herd oder dergleichen. Schließlich habe ich mich durch radiale Kanäle nach innen gewandt. Ich habe den Raum mit dem Podo Thaktan gefunden. Der Priester saß ganz allein vor einem Fernsehschirm. Er hat etwas vor sich hingebrummelt, so leise, daß ich es nicht hören konnte. Dann bin ich in den Gartenbezirk gekommen. Er liegt in der Mitte des Schiffs und ist beleuchtet. Da habe ich Dawson und die Neuankömmlinge gesehen. Sie haben etwas angepflanzt. Ich hab es nicht für nötig gehalten, Dawson länger zu beobachten, und da die Zeit drängte, bin ich nach hinten gegangen und fand etwas, das eine Brücke sein könnte. Von der Stelle an laufen keine weiteren Kanäle nach hinten. Vielleicht ist es ein Maschinenraum für das Haupttriebwerk, aber es ist auf jeden Fall auch eine NotKommandozentrale.«

»Aha«, sagte Dmitri. »In der Schiffsachse läge sie durchaus sicher, wie der Podo Thaktan. Weiter?«

»Alle Wände des Raumes sind mit quadratischen dicken Fernsehschirmen bedeckt, etwa so groß wie der Podo Thaktan. Auf ihnen habe ich unsere leere Zelle gesehen, Dawson und eine von den Frauen, eine rothaarige, wie sie gemeinsam im Garten gearbeitet haben, aber keine Notiz voneinander nahmen. Auch dich, Genosse Rogatschow, habe ich gesehen, hihi hi. Du hast sehr fleißig ausgesehen.«

»Weiter«, gebot Arwid.

»Da war noch viel mehr auf den Bildschirmen. Auf einem konnte man drei Fithp vor einer Bildwand erkennen. Sie haben sich einen Film angesehen, in dem es ein Mann und eine Frau miteinander trieben – Genossen, der Bursche hatte ein Mordsding, und sie hat es von vorn bis hinten geschluckt!«

»Was erzählst du da?« unterbrach ihn Dmitri scharf.

»Was ich gesehen habe«, sagte Nikolai. »Es gab noch ein paar ähnliche Szenen.«

»Wie haben die Fithp darauf reagiert?« fragte Dmitri.

»Genosse Oberst, sie müssen es interessant gefunden haben, denn sie haben das Band zurückgespult und noch einmal angeschaut. Dann haben sie sich unterhalten und etwas in die Nachrichtenleitung gesprochen.«

»Aha«, sagte Dmitri zu sich selbst.

»Was?« wollte Arwid wissen.

»Ich weiß nicht warum, aber ich finde das beunruhigend«, sagte Dmitri. »Hast du mitbekommen, mit wem sie gesprochen haben?«

»Nein. Bald war der Bildschirm dann schwarz. Ich habe weiter gewartet, aber es kam nichts mehr. Gerade als ich weg wollte, habe ich zwei Ansichten des HauptSteuerraums gesehen. Er hat ein Fenster, also muß er vorn liegen. Ich dachte mir, daß es noch mehr Bildschirme geben müßte, also bin ich durch die Kanäle um den Raum herum gezogen, um aus einem anderen Blickwinkel mehr zu sehen.« Nikolai senkte seine Stimme zu einem Flüstern. Dmitri und Arwid drängten sich näher an ihn. Sie taten, als hätten sie Schwierigkeiten mit der Gitterbefestigung.

»Ich habe nach draußen gesehen. Vier Bildschirme nebeneinander. Drei sind auf die Sterne gerichtet, und auf dem vierten sieht man einen schwarzen Fels. Offensichtlich werden die Kameras beständig geschwenkt. Immer am Ende eines Schwenks sieht man am Rumpf von Thaktan Flishithy entlang. Sein vorderes Ende ist mit einem Meteoriten verkoppelt.

Erinnert ihr euch an die Filme, die sie uns gezeigt haben, und wie das Raumschiff den anderen Stern verlassen hat? Da hat seine Nase gegen eine Art Kugel gedrückt und sie vor sich hergeschoben. Jetzt ist es ein schwarzer Fels, mit einem ganz verrückten Umriß.«

Arwid sagte: »Sie haben also einen Stützpunkt auf einem Asteroiden.«

»Aber sie schieben ihn vor sich her«, sagte Dmitri. »Spürt ihr das nicht?«

Zwar nahmen sie das Summen des Antriebs nicht mehr bewußt wahr, aber es war noch da. »Doch, stimmt! Wohin bringen sie ihn? Ich glaube nicht, daß uns die Antwort gefallen wird. Also, Nikolai, du hast am Rumpf entlanggesehen. War er glatt, oder konntest du Einzelheiten erkennen?«

»Ich hatte Glück. Eine der Sternkameras schwenkte seitwärts auf eine ovale Öffnung zu. Sie ging auf, während ich zusah, und eine große metallene Schlange hat sich abgewickelt. Dann machte die Kamera wieder einen Schwenk, und man bekam eine Draufsicht vom Kopf der Schlange aus und sah eine weitere Metallschlange sich in ihre Luke zurückziehen. Dann schwenkte die Kamera nach hinten am Rumpf entlang. Ich habe eine ganze Menge erkennen können, bis sie sich wieder den Sternen zugewandt hat. Hinter dem Schiff liegt weißvioletter Dunst. Um den Rand herum sind ziemlich große Schiffe angeordnet, aber eine ganze Reihe von Halterungen waren leer.«

»Leer, das ist gut«, sagte Dmitri. »Vielleicht sind das Schiffe, die wir zerstört haben.«

»Vielleicht aber auch welche, die dageblieben sind, um die Erde anzugreifen«, sagte Arwid. »Du hast gute Arbeit geleistet, Nikolai.«

Frauen! Wie lange schon…

26. Auseinandersetzung

14. Denn wir wissen, daß das Gesetz geistlich ist; ich bin aber *fleischlich, unter die Sünde verkauft. * V. 18; Joh. 3, 6.

15. Denn ich weiß nicht, was ich tue. Denn ich tue nicht, was ich will, sondern was ich hasse, das tue ich.

16. So ich aber das tue, was ich nicht will; so gebe ich zu, daß das *Gesetz gut sei. *V. 12.

19. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.

BRIEF DES APOSTELS PAULUS AN DIE RÖMER, 7, 14–16, 19


Zeit: Sechs Wochen nach der Stunde Null

An der Tür hielt der Herr der Herde inne. Gewiß würden ihn weitere Schwierigkeiten erwarten. Zumindest brauche ich mich nicht länger über die merkwürdigen Ansichten Fathistihtalks zu ärgern. Einer der Wächter öffnete die Tür.

Bestimmt ist er tot. Aber wo? Irgendwo liegt ein Kadaver, ein Schlüssel zu schrecklichen Geheimnissen. »Tipartethfaft!«

»Leitet mich, Herr der Herde.«

»Laß die Begräbnisgrube durchsuchen. Ich bin gewiß, daß der Berater tot ist und möchte wissen, wie er ums Leben gekommen ist.«

»Sogleich.«

Ob tot oder nicht, ich habe keine andere Wahl. Pastempihkeph trampelte einander widerstrebende Gefühle tief in die schlammige Unterschicht seines Bewußtseins. Die Ziehende Herde muß weiter, und ohne Berater sind keine Entscheidungen möglich. Ein anderer muß an seine Stelle treten. Diesen anderen habe ich gefunden. Warum also bin ich so verstört?

Siplisteph ist eine gute Wahl. Er war auf Winterheim, hat Raumgeborene befehligt, und sie haben seine Führerschaft anerkannt. Die weiblichen Schläfer sind mit ihm einverstanden, obwohl er nicht verpaart ist. Jetzt muß er eine Gefährtin wählen. Pastempihkeph überlegte, wer dafür in Frage käme. Es gibt so wenige. Werden die Schläfer eine raumgeborene Gefährtin für den Berater akzeptieren? Das wäre ein wichtiger Schritt auf dem Wege zur Einigung der Ziehenden Herde.

Die Tür öffnete sich. Mit festem Schritt trat Pastempihkeph in den halbrunden Vorführraum. Er hätte sich nicht um Fassung zu bemühen brauchen. Siplisteph, Rästapispmins und Fistartihthaktan standen Schulter an Schulter vor der Projektionswand. Keiner sah auf.

Der Wachoffizier Tipartethfaft hob seinen Snnfp, wollte mit lautem Trompeten auf den Herrn der Herde aufmerksam machen, aber der legte ihm die Grifflinge quer über die Stirn. »Es ist nicht erforderlich. Wir wollen sehen, was sie so fesselt.«

Die Ausrüstung stammte von Winterheim, die einzige Zutat der Fithp war ein behelfsmäßig zusammengebastelter Transformator zur Anpassung der Aufzeichnungsgeräte der Winterheim Eingeborenen an die an Bord der Bote verwendete Netzspannung.

Der Herr der Herde stellte sich hinter die anderen. Vorderwand und Seitenwände bildeten eine ebene weiße Krümmung, eine Projektionsfläche, die auch bei Schub und Rotation verwendbar war. Berater, Umerzieher und Priester stritten erregt miteinander. Ihre durch die Luft zuckenden Grifflinge warfen Schatten auf die Projektionswand, wo zwei Erdlinge mit den Armen wedelten und in einer Weise trompeteten und brüllten, wie es kein Fi’ je vermocht hätte. In den Ohren der Fithp klang es wie ein Lied von Wut und Verzweiflung. Beide trugen dicke Kleidung, waren wohl gegen die Kälte gepolstert. Das Männchen schwenkte etwas Kleines, Scharfes durch die Luft. Es glänzte.

»Endlich sind meine Grifflinge wieder heil«, übersetzte Rästapisp mins.

»Das heißt?« erkundigte sich der Herr der Herde.

Rasch wandten sich die drei Fithp um. »Entschuldigung«, sagte der Umerzieher. »Ich habe Euch nicht hereinkommen hören.«

»Macht nichts. Also, was bedeutet das, was der Erdling da gesagt hat?«

»Nichts. Seine Grifflinge waren nicht beschädigt.« Rästapispmins wandte sich erneut der Bildwand zu.

Der Herr der Herde wartete. Die Erdlinge auf dem Bildschirm drängten sich aneinander und verhandelten, alles in der die Trommelfelle in Mitleidenschaft ziehenden, dröhnenden Lautstärke. »Habt ihr sie je so sprechen hören?« wollte der Herr der Herde wissen.

»Einmal hat Nikolai, der Beinlose, über längere Zeit so gesprochen, aber wesentlich leiser. Sie nennen es ›singen‹.«

»Was bauen sie da?«

UmerzieherEins Rästapispmins klappte seine Grifflinge über den Schädel.

»Die anderen Aufzeichnungen«, verlangte er. »Siplisteph, du hast doch noch mehr mitgebracht.«

Der Angesprochene wechselte eilig das Band.

Die vier Erdlinge sahen ohne ihre Kleidung weich und verletzlich aus. Die zwei fellbedeckten Stellen an ihnen hoben ihre Nacktheit hervor. Eine fremdartige Musik zerrte unwirklich an den Nerven der Fithp. »Sie paaren sich«, sagte UmerzieherEins. »Merkwürdig, ich hatte angenommen, sie trachten danach, allein zu sein, wenn sie das tun. Herr der Herde, das ist überhaupt nicht der Genitalbereich des Weibchens!«

»Aber der des Männchens.«

»Ja, schon. Ich habe es noch nie in diesem Zustand gesehen… aber natürlich bedecken sie sich normalerweise. Meint Ihr, daß sie ihn versehentlich verletzen könnte?«

Der Priester ließ sich vernehmen. »Warum sie das wohl aufgenommen haben? Berater, woher stammt das?«

»Dreiundachtzig Bänder aus einem Gebäude, wo sie öffentlich gezeigt wurden, die anderen aus einer Wohnung. Wir haben sie gekennzeichnet. Dies hier ist aus der Wohnung.«

Jetzt hatte sich die Szene geändert. Man sah dasselbe Weibchen und ein anderes Männchen, beide bedeckt. Aber nicht lange. Rästapispmins sagte: »Ich verstehe nicht, wie daraus Junge entstehen können. Dennoch scheinen sie zu glauben, daß sie sich paaren… Ah, das sieht schon eher danach aus. Könnte es sich um ein Unterweisungsband handeln? Vielleicht brauchen die Erdlinge eine Anleitung zur Paarung?«

»Eine lächerliche Vorstellung«, wies ihn der Priester zurecht. »Welches Tier wüßte nicht, wie es sich paaren muß?«

»Es dient ihnen zur Unterhaltung«, sagte Siplisteph, »hat mir einer gesagt, der sich unterworfen hat.«

»Seid Ihr sicher?« fragte UmerzieherEins.

»Nein. Ich kenne ihre Sprache zuwenig.«

Fistartihthaktan sah weiterhin unverwandt auf die Szene. »Ich… ich kann mir keinen vernünftigen Grund für eine solche Unterhaltung denken.«

Der Herr der Herde trat vor, neben Siplisteph. Es war verwirrend, daß sein Berater hier zwei Aufgaben zugleich erfüllen mußte. »Ihr wart auf Winterheim und habt Tausende von Erdlingen gesehen, mehr als jeder von uns. Habt Ihr Euch eine Meinung gebildet?«

»Nein. Auf keinem dieser Bänder handeln sie so, wie ich sie erlebt habe. Ich frage mich, ob sie etwas spielen, das nichts mit ihrem gewöhnlichen Verhalten zu tun hat. Nicht wie Vorlinge, sondern wie… Sie haben merkwürdige Wörter dafür: Gott und Archetypus.«

»Sie können aber kaum so tun, als seien sie paarungsbereit. Das erste noch einmal«, forderte der Herr der Herde. Sogleich fragte er: »Sind wir Zeugen einer Tötung geworden? Zeigt doch die Stelle noch einmal.«

Siplisteph gehorchte. Ein Arm fuhr hinab, der Mann auf dem seltsamen Sessel schien sich in Qualen zu winden, der Sessel kippte, und der Mann stürzte rückwärts auf den Fußboden. »So gelassen sterben sie nie«, sagte der neue Berater. »Sie schlagen um sich, bis sie nicht mehr können.«

»Der Hals ist sehr verwundbar«, wandte Rästapispmins ein. »Ein Hauptnerv könnte durchtrennt worden sein – aber dann wäre der Dicke ein gemeingefährlicher Einzelgänger. Warum gesellt sich ihm das Weibchen zu? Kann ein EinzelgängerPaar eine eigene Herde bilden?«

»Ihr seid so schweigsam, Fistartihthaktan. Was haltet Ihr von der Sache?«

Der Priester spreizte seine Grifflinge weit. »Herr der Herde, ich lerne. Später werde ich sprechen.«

»Was Ihr seht, scheint Euch nicht recht zu sein.«

Es kam keine Antwort.

»Rätsel über Rätsel«, sagte Pastempihkeph. »Sie ergeben sich und haben sich doch nicht ergeben. Auf ihren Bändern sieht man Einzelgänger, die gemeinsame Sache machen. Sie leben weder in Herden noch allein. Was sind sie?«

Sie wurden durch zahlreiche Gänge zur Mitte des Schiffes geführt.

Dort betraten sie einen großen, nahezu rechteckigen Raum mit riesigen Stufen an drei Seiten. In der Nähe der vierten Wand waren Geräte aufgebaut. Vier Fithp sahen schweigend zu ihnen herüber.

Tashajämp trat nach den WinterheimEingeborenen ein. Die acht FithpSoldaten blieben im Gang vor der Tür stehen. Dawson schob sich neben Jeri und sagte: »Das ist so ‘ne Art Kino. Wir waren schon mal hier.«

»Es gibt keine Bestuhlung«, sagte Jeri und lachte bei der Vorstellung, ein Fi’ mit einem Klappstuhl zusammenbrechen zu sehen. »Natürlich nicht. Aha. Das Videogerät haben sie bestimmt aus Kansas.«

»Der eine in dem komischen Geschirr da ist ihr Priester, Archivar oder beides. Der andere da oben auf der Treppe ist der große Meister. Sie nennen ihn den Herrn der Herde.« Dawson ahmte die Laute in der FithpSprache nach. »Die beiden anderen sind unsere Lehrer. Sie sollen uns beibringen, wie die Rüßler zu leben und zu sprechen. Immer wenn ich glaube, sie zu verstehen, passiert etwas ganz anderes, und…«

Erneut öffnete sich die Tür, drei Männer in Arbeitskleidung

»Ihr seht jetzt zu«, sagte Tashajämp. Sie knurrte etwas auf fithpisch.

Der Bildschirm flackerte auf. Jeri las den Titel: DEEP THROAT. »Was soll das?« fragte sie.

Carrie Woodward sah verblüfft drein. »John, haben wir denn über den Film nicht schon einmal etwas gehört?«

Der Russe, den Dawson Dmitri genannt hatte, runzelte die Stirn. Die anderen schienen sich zu amüsieren.

Das Bild raste im schnellen Vorlauf auf die ›Stellen‹ zu. Dann wurde es langsamer und führte in bunten Farben und allen nur denkbaren Details vor, was es zu zeigen gab.

Carrie Woodward sah nur so lange hin, bis sie merkte, worum es ging. »Gary! Melissa! Das seht ihr euch nicht an. Kommt her!«

Gary Capehart folgte sogleich, Melissa sah zweifelnd drein.

»Auch du, junge Dame, sofort!« beharrte Carrie. Melissa warf ihrer Mutter einen fragenden Blick zu.

»Tu, was sie sagt, Melissa!«

»Aber Mama…«

»Sofort!«

Carrie zog die Kinder an ihren üppigen Busen. »Wie könnt ihr nur?« rief sie den Fithp zu. »Wißt ihr Geschöpfe denn gar nicht, was Anstand ist? Habt ihr kein Schamgefühl?«

Der Herr der Herde trompetete etwas, und Tashajämp antwortete.

Was sie uns damit eingebrockt haben mag?

»Was willst du?« erkundigte sich Tashajämp. »Was meinst du mit deinen Worten?«

»Ihr wißt genau, daß es schlecht ist, solche Bilder zu zeigen.«

»Mrs. Woodward«, sagte Dawson, »sie glauben nicht, daß wir…«

»Natürlich haben Sie schon Schlimmeres gesehen«, sagte Carrie. Sie hielt den Blick von den Bildwänden wie vom Herrn der Herde abgewandt und sah daher den Russen ins Gesicht. »Ich frage euch, ist das anständig in Gegenwart von Kindern?« empörte sie sich.

»Keineswegs«, stimmte Arwid zu. Dmitri sagte etwas auf russisch. Es klang abfällig.

»Schlecht – Schlimmeres«, sagte Tashajämp. »Was bedeutet das? Warum ist das hier ›schlecht‹?«

»Ich glaube, sie wissen es wirklich nicht, Mutter«, sagte John Woodward erstaunt. »Es ist unfaßbar.«

»Gerade das wollte ich Ihnen klarmachen«, sagte Dawson.

»Sie halten sich da raus!« knurrte John Woodward. »Ihresgleichen hat das noch nie gewußt.«

Alle Fithp sprachen jetzt erregt durcheinander. Als der Herr der Herde trompetete, trat schlagartig Stille ein.

»Ich sage Ihnen doch, daß sie die Dinge nicht so sehen wie wir«, sagte Dawson. Seine Stimme hallte laut durch das Schweigen. »John, schließlich haben sie die Filme nicht gemacht, sondern in Kansas gefunden. Vergessen Sie das nicht!«

Einer der Lehrer trompetete.

»Rästapispmins befiehlt, daß einer nach dem anderen seine Meinung kundtut«, sagte Tashajämp.

»Es gibt eine ganze Anzahl von Bedeutungen für gut und schlecht«, begann Dawson, doch die Lehrerin unterbrach ihn.

»Nicht du sollst anfangen«, sagte sie. Sie wies auf die Russen. »Was ist hieran schlecht?«

»Es ist Schmutz, perverses Zeug. Typischer kapitalistischer Unrat, der das Bewußtsein einlullt«, sagte Dmitri. »Wen überrascht das denn noch? Das kapitalistische System schmeichelt jedem, der Geld hat, und es bringt unvermeidlich Dekadenz hervor.«

»Es geht um den Grundsatz der Meinungsfreiheit!« rief Dawson. »Mir gefällt es nicht, aber das muß es auch nicht. Wenn wir den Leuten das Maul verbieten wollten, wo kämen wir da…«

»Nicht wir«, fiel ihm Carrie Woodward ins Wort. »Wir würden Kerle einsperren, die so was unters Volk bringen, wenn es nicht nach der Bundesregierung ginge. Unsere Stadt war ordentlich und sauber, bis ihr mit euren Richtern und Gesetzen gekommen seid.«

Die beiden Lehrer sprachen gleichzeitig, bis der Herr der Herde wiederum Ruhe gebot. Tashajämp redete unaufhörlich, offensichtlich übersetzte sie, was gesagt worden war, denn sie benutzte mehrere Erdlingsworte.

»Ihr haltet das für schlecht«, sagte Tashajämp. »Jeder, der es für schlecht hält, zeigt seine Grifflinge.«

Die Woodwards streckten die Hände so hoch sie konnten, die Russen taten desgleichen. Auch Jeri hob die Hand. Was glaube ich wirklich? Natürlich möchte ich nicht, daß Melissa das Zeug ansieht. Sie könnte sonst falsche Vorstellungen von den Beziehungen zwischen Mann und Frau bekommen. Frauen sind kein Spielzeug! Meinungsfreiheit schön und gut, aber mir wäre wohler, wenn es nach wie vor Gesetze gegen Schmutz und Schund gäbe. Alles andere ist doch nur Wasser auf die Mühlen der Perversen…

Dawson zögerte, hob dann aber schließlich auch die Hand.

»Du stimmst also zu, daß es schlecht ist?« fragte Tashajämp.

»Für Kinder ja«, sagte Dawson. »Nur glaube ich nicht, daß wir das Recht haben, es zu unterbinden.«

»Warum schlecht für Kinder?«

»Dieser Schmutz ist für niemanden gut«, protestierte Carrie Woodward.

»Ihr tut das – so etwas nicht?« fragte Tashajämp.

Jeri unterdrückte ein Lachen. Carrie Woodwards Gesicht wurde puterrot. »Großer Gott, nein, natürlich nicht, niemand tut das… ah… wirklich.«

»Stimmt das? Tut niemand so etwas?«

»Manche wohl schon«, gab John Woodward zu. »Aber anständige Menschen nicht. Und bestimmt zeigen sie es nicht im Film!«

»Das Wort ›anständig‹. Was bedeutet es?« wollte Tashajämp wissen.

»Rechtschaffen«, sagte Carrie Woodward. »Es bezeichnet Menschen, die so denken, wie sie handeln, wie es richtig ist – nicht wie manche, die ich kenne.«

Tashajämp übersetzte. Erneut unterhielten sich die Fithp erregt miteinander.

»Wir müssen vorsichtig sein«, sagte Wes Dawson. »Gott weiß, was für Vorstellungen die bekommen.«

»Keine, die sie nicht haben sollten, Herr Abgeordneter«, sagte Carrie Woodward mit fester Stimme.

»Sie denken aber nicht wie wir. Wir müssen auf jeden Fall alle dasselbe sagen«, beharrte Dawson.

»Sagt möglichst wenig«, mischte Dmitri sich auf russisch ein. Jeri stellte überrascht fest, daß sie es noch verstand. Es ist schon so lange her…

Auch Dawson schien verstanden zu haben. »Richtig. Es ist das beste, wenn sie nicht allzuviel erfahren.«

»Erklärt das«, verlangte Tashajämp. »Wie viele Erdlinge tun Schlechtes?«

»Alle«, platzte Jeri heraus.

»Kapitalisten«, sagte Dmitri.

»Kommunisten«, gab John Woodward zurück.

»Alle Erdlinge tun Schlechtes?« fragte Tashajämp. »Alle tun, was sie nicht tun dürften? Sagt mir.«

Alle redeten jetzt durcheinander.


* * *

Jeri saß mit Melissa an der Wand. Sie beteiligte sich nicht an Wes Dawsons Unterhaltung mit den Russen, hörte aber jedes Wort mit.

»Vielleicht haben wir ihnen zuviel gesagt«, meinte Dmitri.

Dawson gab zu bedenken: »Sicher ist es besser, wenn sie uns verstehen…«

»Für das, was Sie ›verstehen‹ nennen, würde man Sie beim Militär wegen Geheimnisverrat an die Wand stellen«, sagte Arwid Rogatschow.

»Was kann es schaden? Sie haben ihnen doch selbst bei den Landkarten geholfen, Arwid!«

»Die zeigen mir Karten und Globen, ich nicke und nenne Ortsnamen. Damit haben Sie doch gar nichts zu tun.«

»Es hat durchaus mit uns zu tun, wenn Sie sich auf die Seite der Fithp stellen. Sie haben doch selbst gesehen, was die angerichtet haben. Tod und Zerstörung!«

»Ich weiß, was Krieg heißt.«

»Ist Ihnen klar, was sie hätten anrichten können? Sie haben einen Mordsasteroiden hierhergeschleppt, an den wir immer noch angekoppelt sind. Stellen Sie sich nur mal vor, sie hätten einen ebenso großen mitgebracht, aber aus Metall. Der wäre Hunderte von Milliarden Dollar wert. Wir würden mit ihnen verhandeln, Metalle gegen Land tauschen, gegen Zugeständnisse, Informationen – was sie wollen. Sie könnten sich damit ein ganzes Land zusammenkaufen. Wenn wir nicht mitmachten, stünde ihnen der Mordsasteroid noch immer als Druckmittel zur Verfügung.«

Dmitri Gruschin nickte und grinste ironisch. »Nur schade, daß sie nichts von Geld verstehen. Es sind keine Kapitalisten. Das ärgert Sie doch in Wirklichkeit, Dawson.«

John und Carrie Woodward hielten sich mit Gary in Jeris Nähe, soweit wie möglich von den Russen entfernt. Aber es war nicht weit genug, sie konnten immer noch mithören.

So schwer es ihnen fällt, wir müssen unbedingt mit den Russen auskommen, dachte Jeri und sagte: »Carrie, ist euch aufgefallen, daß ihr und die Russen sehr Ähnliches gesagt habt?«

»Ja«, gab John Woodward zu, »das stimmt. Sie sind eben für Anstand und Sitte, nicht wie Dawson. Er hat keine moralischen Grundsätze.«

»Das wohl doch.«

»Es gibt Dinge, die man tun kann, und solche, die man nicht tun kann«, sagte Carrie Woodward. »Läuft nicht geistige Gesundheit darauf hinaus, daß man weiß, was recht und was unrecht ist?«

»Nein.« Alice saß ihnen an der anderen Wand gegenüber, so weit entfernt, daß die anderen sie fast vergessen hatten. »Sonst wäre ich nicht in Menningers Sanatorium gewesen.«

»Weshalb warst du dann da?«

»Das geht euch gar nichts an. Ich hatte immerzu Angst.«

»Wovor?« wollte Carrie Woodward wissen.

Alice sah beiseite.

Dawson blickte zu ihnen herüber. Die Woodwards mieden seinen Blick. Carrie sprach weiter mit Jeri, als sei Dawson Luft.

»Sag jetzt bloß nicht, daß du nie besser sein wolltest, als du bist«, sagte sie. »Jeder möchte das. Das bedeutet Menschsein doch letzten Endes.«

»Vielleicht hast du recht«, sagte Jeri. »Wir tun nicht, was wir für richtig halten, wohl aber Dinge, für die wir uns schämen – steht so was nicht auch irgendwo in der Bibel? Eigentlich haben die Menschen aber immer nur tun wollen, was richtig war.«

»Nur weiß niemand so recht, was richtig und was falsch ist«, wandte Dawson ein.

»Natürlich weiß man das«, hielt Jeri ihm entgegen. »Die meisten wissen das sogar sehr genau, zumindest normalerweise. Das Problem liegt darin, daß niemand es tut. Darin unterscheiden wir Menschen uns von den Steinen. Die haben keine Wahl; sie sind den Naturgesetzen unterworfen und tun, was sie müssen. Wir hingegen haben einen freien Willen.«

»Vielleicht haben Sie recht«, sagte Arwid. »Wir würden es aber nicht Gesetze nennen, sondern…«

»Moralische Prinzipien«, ergänzte Dmitri mit fester Stimme, »die der wissenschaftliche Marxismus festgelegt hat.«

»Kommunisten kennen doch keine Moral!« protestierte Carrie Woodward.

»Das ist nicht wahr«, sagte Arwid. »Eure und unsere Ansichten weichen nicht sonderlich voneinander ab. Aber euer Anführer da, euer Kongreßmensch, sieht alles anders.«

Carrie sah ihren Mann an. Sie schwiegen.


* * *

Eine Stunde später wurden sie wieder in den Vorführraum beordert. Diesmal standen die Fithp streng hierarchisch gegliedert. Oberhalb der paarweise auf den Stufen Versammelten stand der Herr der Herde mit seiner Gefährtin. Tashajämp, die in seiner Nähe stand, gebot mit einem Trompeten Stillschweigen.

Der Herr der Herde sprach lange.

Schließlich übersetzte Tashajämp. »Ihr seid ein Geschlecht von Einzelgängern. Ihr sagt, ihr wollt nach euren Gesetzen leben, tut es aber nicht. Ihr sagt, ihr habt stets nach euren Regeln leben wollen, tut es aber nicht. Ab sofort werdet ihr das tun. Ihr werdet ein Teil der Ziehenden Herde und werdet leben wie die Fithp, aber nach euren eigenen Vorschriften. Wir sorgen dafür, daß ihr sie einhaltet. Ihr werdet uns eure Gesetze lehren und nach ihnen leben. Jetzt könnt ihr gehen!«

27. Der Sitzkrieg

»Wir wollen stets daran denken«, hatte Lord Tweedsmuir während des Krieges mit volltönender Stimme zu seiner Zuhörerschaft gesagt, »daß wir in diesem Kampf Gottes Ritter sind.« Die Briten, weit davon entfernt, sich als Gottes Ritter zu sehen, begannen gegenüber dem langweiligen Sitzkrieg eine solche Distanz an den Tag zu legen, daß sich die Regierung allmählich ernsthafte Sorgen machte.

LAURENCE THOMPSON, 1940


Zeit: Eine Woche bis zum Fußfall
Drei Wochen nach den FreischärlerKriegen

Hoch hingen Schäfchenwolken über dem San FernandoTal. Die Temperatur näherte sich vierzig Grad Celsius, ein heißer Wind im Tal versengte jegliche Vegetation, die nicht vor ihm geschützt war.

Sorgfältig schloß Ken Dutton die Tür zu seinem Gewächshaus. Drinnen begoß er aus einem Eimer die üppig wachsenden Pflanzen. Dann eilte er hinaus, um die Kurbel des behelfsmäßigen Ventilators zu drehen, damit frische, heiße, trockene Luft durch das Gewächshaus strich.

Anschließend kehrte er ins Haus zurück. Es hatte dicke Mauern und kühlte nachts rasch aus, so daß man es tagsüber darin aushalten konnte. Er nahm den Hörer ab – ein Wählton. Den Auflistungen seines TelefonnummernVerzeichnisses folgend führte er Gespräch auf Gespräch.

»Ich koche«, sagte er zu Cora Donaldson, »aber ich kann Hilfe brauchen. Könntest du gegen Mittag herkommen? Bring alles mit, was du an Eßbarem auftreiben kannst und sag mir am besten jetzt gleich, womit ich rechnen kann!«

»Reis.«

Er notierte. »Wieviel?«

»Eine Menge. Ich meine wirklich eine Menge.« Sie kicherte. »Das einzig Gute an diesem Krieg ist, daß ich abnehme, weil mir der Reis schon zu den Ohren herauswächst – ich sehe inzwischen gut aus. Mein neues Ich wird dir gefallen.«

»Prima. Bis dann!« Er wählte erneut.

»Im ganzen Lande gibt es kein Rindfleisch«, beklagte sich Sarge Harris. »Viehwaggons sind zu groß, die Rüßler jagen sie in die Luft, weil sie glauben, daß Panzer oder Waffen drin sind.«

»Ja. Sogar Hühnerfleisch kostet ein Vermögen. Was kannst du mitbringen?«

»Eier. Ich habe sie als Bezahlung für eine Tischlerarbeit bekommen.«

»Gut. Bring sie mit!« Ken beendete das Gespräch und wählte eine weitere Nummer.

Patsy Clevenger gehörte ebenfalls zu den Glücklichen. Als begeisterte Rucksackwanderin hatte sie zwar größere Mengen gefriergetrockneter Nahrungsmittel in luftdicht verschlossenen Beuteln gelagert. Da die eintönige Ernährung sie aber zum Wahnsinn trieb, war sie selig über Kens Angebot. Natürlich würde sie einen gefriergetrockneten Nachtisch mitnehmen, außerdem löslichen Kaffee und Trockenmilch. Sie würde auch Anthony Graves abholen, der siebzig Jahre alt war und nicht mehr selbst fahren konnte. Ken nahm den Hörer ans andere Ohr.

Die Copeleys wohnten am Nordende des San FernandoTals. Sie sagten zu, frischen Mais, Tomaten, Mandeln und Apfelsinen zu besorgen.

Er probierte es auch bei Marty Carnell. Man konnte nie wissen. Die von Kratern aufgerissenen Fernstraßen hatten vermutlich seine Rückkehr von irgendeiner Hundeausstellung verhindert.

Doch Marty meldete sich.

»Ich hab das schon mal gemacht, und es hat funktioniert«, sagte Ken zu ihm. »Zwar nagt kaum jemand wirklich am Hungertuch, so schlecht steht es noch nicht. Aber jeder hat ein paar Zentner von dem und jenem und von allem anderen nichts, und deswegen muß man sie alle mit ihren Vorräten zusammenbringen und ein Fest veranstalten.«

»Klingt gut.«

»Also schön, dann komm morgen gegen Mittag her!«

»Fürs Abendessen?«

»Steinzeitsuppe dauert, und ich brauch Sonnenlicht für den Spiegel. Bring Hunger mit! Hast du Fleisch?«

»Es reicht, um die Hunde zu füttern, bis mir das Geld ausgeht, aber es ist TrabTrab, Ken – Pferdefleisch. Ich lebe selbst auch davon.«

»Bring es ruhig mit! Fünf Pfund? Vier tun’s auch. Bis es auf den Tisch kommt, erkennst du es nicht wieder, Marty. Ich hab ein phantastisches Rezept chili con carne. Die schwere Menge Gemüse.«

Die Offutts würden mit dem Fahrrad kommen müssen. Chad Offutts’ Stimme klang, als sterbe er jetzt schon vor Hunger. Wie sollten sie auch ohne Verkehrsmittel an etwas zu essen kommen? Und ein paar Flaschen Schnaps in den Satteltaschen? Ken akzeptierte. Schnaps hatte fast jeder – gebraucht wurden Lebensmittel.

Ken legte auf.

Er überraschte sich dabei, wie er summte, während er riesige Töpfe in den Hinterhof hinausschleppte und sie um den Sonnenspiegel herum anordnete. Es schien fast unanständig, sich zu freuen, wo doch die Zivilisation um sie herum zum Teufel ging. Aber es war ein schönes Gefühl, endlich seine Steckenpferde sinnvoll nutzen zu können!

Die Copeleys hatten alles mitgebracht, was sie versprochen hatten, außerdem noch scharfe gelbe ChiliSchoten.

In der Tat sah Cora Donaldson nach dem Abnehmen gut aus. Sie plapperte munter drauflos, während sie ihm beim Tischdecken half.

Er hätte daran denken sollen, flüssige Seife für den Abwasch mitbringen zu lassen! Bestimmt hatte jemand auch davon zuviel.

Marty schnitt Pferdefleisch in Streifen. »Es könnte viel schlimmer sein«, sagte er, »stellt euch vor, wir müßten uns vor Meteoren ducken. Was die Rüßler wohl vorhaben?«

»Na was schon – die Erde erobern«, sagte Ken. »Gründlich sind sie, das muß der Neid ihnen lassen. Ich hab von keinem Staudamm gehört, der noch steht. Ihr?«

»Keine großen. Große Brücken auch nicht.«

»Aber Städte lassen sie zufrieden.« Es hätte wirklich schlimmer sein können. Dennoch war es eine schwere Zeit. Zwar bekam man zu essen, aber es war weder besonders viel noch besonders ausgewogen. Ohne die Apfelsinen der Copeleys und den Zitronenbaum in Graves’ Hinterhof hätten sie kein Obst gehabt.

Das vom Spiegel unter Kens größten Topf gelenkte Sonnenlicht brachte das Wasser allmählich zum Sieden. Ken goß einige Kellen davon in den ChiliTopf und rückte ihn dann in den Brennpunkt des Spiegels.

Wie gut, daß seine Frau die Kochbücher dagelassen hatte, so besaß er Rezepte. Wie man ausgewogene Mahlzeiten zusammenstellte, wußte er ohnehin, und manchmal funktionierte auch das Telefon. Wenn die Rüßler auch noch die Leitungen zusammenschossen, konnte man vielleicht eine Kommune gründen. Sein Nachbar war in die Berge geflohen und hatte die Hausschlüssel dagelassen, und, wichtiger noch, ein Schwimmbecken voll Wasser. Wenn man es gut abdeckte, um die Verdunstung zu verlangsamen, hielt der Vorrat sicher bis zu den Regenfällen vor, und die Goldfische würden die Schnaken in Schach halten.

Auf der anderen Seite der Straße gab es noch den Golfplatz. Auf den großen ebenen Flächen dort ließen sich Zelte errichten, wenn die Kommune wuchs.

Als die Außerirdischen Kosmograd zerstört hatten, war es ernst geworden, auch für Kenneth Dutton. Schon zwei Jahre zuvor hatte er sich mit Gewächshäusern beschäftigt, dann aber binnen zwei Tagen eins gebaut, aus Kunststoff, Glas, Holz und mit viel harter Arbeit. Er war richtig stolz – es wuchs etwas darin! Man konnte das Gemüse essen! Er hatte noch zwei weitere gebaut, bevor er mit den SteinzeitsuppenParties anfing.

Schon zwei Uhr durch, und die Offutts waren immer noch nicht da. Na ja, mit dem Fahrrad, dauerte es eben seine Zeit, außerdem waren sie vermutlich unterernährt. Auch Sarge Harris war noch nicht da. Nie wußte man, ob Leute zu spät kamen, weil Einschläge inzwischen auch Stadtstraßen aufgerissen hatten. Seit drei Wochen waren die Rüßler fort. Wann und womit sie wiederkommen würden, wußte niemand.

Patsy Clevenger traf mit Anthony Graves ein. Graves war klein, rundlich und für einen Mann an die Siebzig recht gesund. Früher hatte er Drehbücher fürs Fernsehen geschrieben. Er brachte einen wahren Schatz mit: Zitronen aus seinem Garten hinter dem Haus und einen Dosenschinken. Ken bot ihm einen Liegestuhl an, von dem aus er wie ein wohlwollender Onkel bei den Vorbereitungen zusehen konnte.

Ken zog den großen Topf zur Seite, so daß das Chili nur noch leise köchelte. »Noch eine Stunde«, verkündete er und gab Reis und Wasser in einen zweiten Topf, den er in den Brennpunkt des Sonnenspiegels schob. In einen weiteren Topf wanderte Gemüse, es kam als nächstes an die Reihe. Man konnte alles mögliche machen, man mußte sich nur zu helfen wissen. Wo nur Sarge Harris blieb?

Er traf erst gegen vier ein. »Ich bin spät weggekommen, und dann war noch eine riesige Schlange an der Tankstelle, außerdem hab ich auf drei Märkten Kartoffeln zu kriegen versucht, aber es gab keine.« Zumindest hatte er Eier mitgebracht. Ken bat Cora, Mayonnaise damit zu machen.

Die Sonne sank, bald würde sie nicht mehr genug Wärme zum Kochen spenden. Für Mayonnaise brauchte man keine, wohl aber für Kaffee. Also lieber gleich Wasser heiß machen – man wußte nie, ob es Gas gab.

Das Chili war gegessen, man saß beim GemüseCurry. Im großen und ganzen schienen alle Gäste recht munter zu sein. Cora würde wohl über Nacht bleiben, das wäre hübsch, vor allem, da Patsy nicht bleiben zu wollen schien.

Da es keinen Strom gab, blieb Ken Dutton mit seinen Gästen draußen sitzen. Der Himmel spiegelte die Helligkeit all der Orte zurück, wo es in Los Angeles und im San FernandoTal Strom gab. Gelegentlich tastete sich ein Gast durch die Dunkelheit zur flackernden Kerze vor, deren Schein den Weg zum Bad wies. Bei der nächsten SteinzeitsuppenParty würde es wahrscheinlich auch keine Kerzen mehr geben.

Einige der Gäste wuschen die Töpfe aus. Über den Abwasch war nicht lange geredet worden: Am besten sah man zu, daß man damit fertig war, bevor Ken den Kaffee auftrug. Jeder fürchtete, nicht wieder eingeladen zu werden, wenn er sich zu offensichtlich drückte.

Sarge goß Schmutzwasser in einen Gully auf der Terrasse. »Zumindest haben wir sie aus Kansas verjagt«, sagte er.

Graves, der auf seinem Liegestuhl halb eingeschlafen zu sein schien, sagte: »Tatsächlich? Sie sollen sich ziemlich lange mit dem Plündern von Bibliotheken aufgehalten und dabei… nun, Denkwürdigkeiten gesammelt haben, Dinge, die ihnen dies und jenes über uns verraten.«

»Klar. Würden Sie das anders machen?«

»Es war eine Erkundungsmission. In gewisser Hinsicht erinnert mich das Ganze an den Sitzkrieg.«

»An was?«

Der Alte lachte. »Ich kann euch nicht verübeln, daß ihr das nicht wißt. Das ging von 1939 bis Sommer 1940. Offiziell lagen die Deutschen und die Franzmänner miteinander im Krieg, aber sie haben sich einfach tatenlos über die MaginotLinie hinweg angeglotzt, von einem Schützengraben zum anderen. Das nannten die Zeitungen Sitzkrieg. Sie hätten wohl lieber was Spannendes zu berichten gehabt. Für uns übrige war es eine ruhige und zugleich nervenaufreibende Zeit.«

»Genau wie jetzt. Nichts passiert.«

»Eben. Dann haben sich die Nazis ermannt, Frankreich besetzt, und aus war es mit dem ›Sitzkrieg‹.«

Patsy nahm den Faden auf. »Meinst du damit, sie werden eines Tages alle unsere Städte auf einen Schlag bombardieren?«

»Vielleicht bekommen wir vorher Gelegenheit, uns zu ergeben. Leider haben sie auf keine unserer Sendungen reagiert. Wer weiß, vielleicht erwarten sie, daß wir uns zur Übergabe fertig machen?«

»Wenn wir an nichts anderes denken als an Übergabe, sind wir erledigt«, sagte Patsy erregt. »Wir sollten lieber versuchen, sie zu bekämpfen, auch wenn es uns ein paar Städte kostet.«

Ken nickte, obwohl ihm der Gedanke einen Schauer über den Rücken jagte. Was wäre dann mit Los Angeles? Hinter ihm sagte Marty: »Ken, könnte ich mal mit dir sprechen?«

Sie gingen ins Haus und tasteten nach Sitzgelegenheiten. Es war so dunkel, daß niemand den Gesichtsausdruck des anderen erkennen konnte. Einige von den anderen waren schon verschwunden – leise Geräusche deuteten darauf hin, daß das eine oder andere Pärchen sich auf ein Sofa oder in ein Schlafzimmer zurückgezogen hatte. – Das Leben ging weiter.

Marty fragte: »War es dir ernst damit, daß du abhauen willst?«

»Klar, aber das ist nicht so einfach. Ich gehöre nicht zur Wagenburg.«

»Nun, ich schon, jedenfalls wenn es nach Recht und Gesetz geht. Wenn es kein Recht und Gesetz mehr gibt, braucht man so etwas wie dieWagenburg, und ich bin mit meinen Zahlungen im Rückstand.«

»Vielleicht lassen sie mit sich reden.«

»Nein, ich habe an John Fox gedacht. Er ist in – das darf aber niemand wissen – in Shoshone, am Rande des Death Valley. Da zeltet er, bis alles vorbei ist. Er weiß, was er tut, Ken.«

»Ich habe gar nicht gewußt, daß du so auf Zelten stehst.«

»Ich doch nicht, aber Fox. Vielleicht freut er sich, wenn wir mit Lebensmitteln bei ihm aufkreuzen. Machst du mit?«

Ken sah ganz mechanisch durch das große Wohnzimmerfenster hinaus, bevor er antwortete. Niemand stritt, niemand schien besonders unglücklich zu sein; von dem Russischen Salat war noch etwas da, dafür war Bess Churchs ganzer CheddarKäse wie Schnee an der Sonne dahingeschwunden. Der Gastgeber wurde nicht gebraucht. Gut. »Ich hab keine Zeltausrüstung, und man kann bestimmt auch keine kriegen. Was ist, wenn John uns da nicht gern sieht? Wir können uns ja nicht telefonisch anmelden«, sagte er.

»Aber der Tip ist gut! Warum sollten die Rüßler einen Ort wie Shoshone bombardieren? John gehören die Höhlen dort ja nicht. Wir zelten einfach in seiner Nähe.«

»Nein.«

»Und wo dann?«

»Ich meine: Nein, ich komme nicht mit.« Ken hatte seine Entscheidung getroffen, bevor er selbst die Gründe dafür wußte.

»Vielleicht bin ich verrückt, aber ich bleibe hier.«

»Das bist du bestimmt. Danke für die Einladung.« Marty würde abhauen, das war Ken klar. Er hatte weder beim Abwasch noch beim Aufräumen mitgeholfen. Ganz offenkundig gedachte er nicht wiederzukommen.


* * *

Jenny erwachte von einem Stechen im linken Arm, auf dem Jack gelegen hatte. Als sie die Augen öffnete, sah sie seinen Blick auf sich gerichtet.

»Hallo Seemann, neu in der Stadt?«

Er grinste. »Ich seh dich gern an.«

Sie zog ihren Arm unter ihm vor und sah auf die Uhr. »Zeit, daß wir uns an die Arbeit machen.«

»Wir haben noch eine ganze Stunde.« Er schob sich näher an sie. »Nicht daß ich noch einmal…«

»Schon gut. Aber ich kann nicht schlafen.«

»Und?«

Sie setzte sich auf. »Wir könnten uns das Monster ansehen. Wir haben Kameras und Mikrofone im RüßlerZimmer.«

»Klingt verlockend – aber ist das auch rechtens?« wollte Jack wissen.

»Selbstverständlich. Die Autoren wissen, daß sie beobachtet werden, und Harpanet als Gefangener hat keine Rechte. Zufrieden?«

»Na schön.«

»Und ich garantiere dir, daß es auf meinem Fernseher nichts anderes zu sehen gibt.« Sie schaltete das Gerät ein.

Das Bild kam. Ein kahler Raum ohne Teppiche und Möbel enthielt nichts als eine Bildwand, einen Projektor und eine breite Tür. »Falsches Zimmer«, sagte sie und drehte an den Knöpfen. »Uns sind bereits drei Räume in dem Komplex zugewiesen worden, und weiß der Henker, was sie als nächstes zu brauchen glauben. Hier.«

Der Außerirdische wälzte sich behaglich in dampfendem Schlamm. Die Menschen um ihn herum saßen in Badekleidung auf Liegestühlen. Sherry, Joe und Nat, die sich dicht am Beckenrand hielten, waren schlammbespritzt. Wade Curtis saß in seiner SafariJacke mit einer Bierdose in der Hand in gewisser Entfernung auf einem Klappstuhl. Unmittelbar über ihm hing ein riesiger Erdglobus. In einer Ecke war eine fahrbare Bar zu erkennen.

»Siehst du? Sie haben unser Schwimmbecken beschlagnahmt! Der Außerirdische braucht ja einiges an Platz«, sagte Jenny. »Na, hast du Lust zu schwimmen?«

Jack beäugte den Schlamm voller Abscheu. »Nein, danke. Hört ihr alle Räume ab?«

»Um Himmels willen, nein! Die Hälfte der SFLeute war früher beim Militär, die würden das sofort merken, und die andere Hälfte vertritt liberale Grundsätze! Wir haben Mikrofone und Kameras im Schlammraum, im RüßlerRaum und im Allerheiligsten, das ist der Raum, wo sie ihre Notizen formulieren und sich einen ansaufen. Er liegt gleich neben dem RüßlerRaum. Der Schlamm ist ganz frisch. Scheint ihm zu behagen, was?«

»Kann man auch was hören?«

»Klar.« Jenny drehte an einem Einstellknopf.

Aus dem Lautsprecher dröhnte Wade Curtis’ unverkennbare Stimme. »Wir haben deine ›Fithp‹ aus Kansas verjagt und durchkämmen jetzt die Trümmer. Wir würden gern wissen, wo der nächste Angriff erfolgt.«

»Darüber hat man mir nichts mitgeteilt«, sagte Harpanet. Seine Aussprache war gut, aber manchmal verschliff er die Wörter: Nebenluft strömte aus Nase und Lippen, und das klang wie ein Hallraum, vielleicht wegen seiner riesigen Lungenkapazität.

»Er lernt schnell. Ich habe französische Diplomaten mit einem schlimmeren Akzent Englisch sprechen hören«, sagte Jack. Jenny mußte einen Schauder unterdrücken. Vor ihrem geistigen Auge sah sie noch immer das Blutbad in dem zerschmetterten Raumschiff, und es fiel ihr schwer, den ›Rüßler‹ anzusehen.

Gerade sagte Curtis: »Eure Offiziere weihen euch wohl nicht in ihre Pläne ein?«

»Nein. Ein Fi’ erfährt wenig, weil es in die Herde des Feindes aufgenommen werden könnte. So ist es mir ja auch gegangen. Das habe ich bereits gesagt.« Harpanets Stimme klang gekränkt.

»Eine für uns völlig neue Vorstellungsweise, und nicht besonders angenehm«, sagte Sherry Atkinson. »Wir müssen soviel wie möglich in Erfahrung bringen.« Sie ließ sich völlig unbefangen in den Schlamm gleiten und rieb mit beiden Händen den Außerirdischen hinter den Ohren. Sie war mehr als alle anderen mit Schlamm bedeckt.

»Haben deine Vorgesetzten Interesse an Gebieten außerhalb Kansas gezeigt?« fragte Curtis.

»Kansas?«

»Die Region, die ihr erobert habt, dieses Gebiet.« Wade wies auf das zuvor von den Außerirdischen besetzte Gebiet in Kansas. Es war auf dem großen Globus mit schwarzem Filzstift gekennzeichnet.

»In meiner Gegenwart wurde kein solches Interesse bekundet.«

»Wir befürchten den Abwurf eines großen Meteoriten, etwa in der Größe eines Asteroiden.«

Harpanet schwieg eine Weile. Reynolds machte sich an der Bar zu schaffen. Mit einemmal sagte Harpanet: »Thaktan Flishithy – wie sagt ihr?Überbringer der Botschaft? – war viele Sonnenumläufe um eure Erde mit einem KleinMond des beringten Planeten verpaart. So viele.« Er hob den Rüssel aus dem Schlamm und knickte dreimal vier Greifglieder ab. »Wir haben ihn geschoben. Den Grund hat man uns nicht genannt. Ich habe einmal gehört, wie ihn Offiziere Tshejtrif nannten.«

»Was bedeutet das?«

»Diesen Teil eines Fi’.« Der Außerirdische drehte sich auf die Seite, so daß Sherry sich veranlaßt sah, Zuflucht vor einer Schlammwoge zu suchen. Ein großer, bekrallter Fuß tauchte auf.

Die SFAutoren schienen alle miteinander zu erstarren, aber Jenny war nicht auf ihre Interpretation angewiesen. Schmerzhaft umschloß ihre Hand Jacks Arm. »Entsetzlich. Der Fuß, sie wollen uns damit zertrampeln!«

»Die Bücherfritzen quasseln viel zuviel.«

»Wieso? Der Rüßler sagt doch mehr als sie.«

Gerade kam wieder die verschliffene Stimme aus dem Fernseher: »Er war nicht so groß wie viele von den – Asteroiden – am beringten Planeten. Wohl achthoch zwölf MasseEinheiten…«

»Und eine MasseEinheit ist deine Masse? Also rund dreihundertfünfzig Kilo…« Curtis nahm einen Taschenrechner aus einer Tasche seiner Safarijacke. »Großer Gott! Fast fünfundzwanzig Milliarden Tonnen!«

»Bei… einer Fallgeschwindigkeit von fünfzehn bis dreißig Kilometer pro Sekunde könnte das – Harpanet, wo soll das abgeworfen werden?« schaltete sich Nat Reynolds ein.

»Niemals hat man gesagt, es würde gegen die Erde gerichtet. Falls doch, so müßte der Herr der Herde weitere Daten gesucht haben, vielleicht in Kansas.«

»Gott im Himmel, Jenny«, sagte Jack, »sie quatschen zuviel. Wir müssen zu ihnen, sofort!«

Nat Reynolds scheute vor dem mit zähem Schlamm gefüllten Schwimmbecken zurück… Andererseits war er schon völlig schlammbedeckt, und schließlich gab es Duschen. Also stellte er sein Glas ab, sprang hinein und watete vorwärts.

Harpanet wandte sich um und besprühte Sherry mit einem Strahl dunklen Schlamms. Sie riß erschrocken die Arme hoch und drehte dem Außerirdischen den Rücken zu. »He!« Um ihr zu Hilfe zu kommen, jagte Nat mit gewölbten Händen Wasserfontänen zu dem Rüsselträger hinüber.

Dieser räkelte sich wohlig, es gefiel ihm. Jetzt lachte Sherry. Drei weitere eilten ihr zu Hilfe und bewarfen den Rücken des Außerirdischen mit Schlamm. Curtis’ hochgewachsene Frau tat sich dabei besonders hervor. Harpanet deckte sie alle gleichmäßig aus den um das Nasenloch herum abgespreizten Grifflingen ein und versprühte dabei soviel Wasser wie ein kleines Löschfahrzeug.

Als Jack Clybourne und Jenny den Raum betraten, schlug ihnen schallendes Gelächter entgegen. In der Mitte des Beckens tobte eine Wasserschlacht. Sie blieben an der Tür stehen und warteten.

Niemand vom Krisenstab bemerkte sie. Das wilde Treiben nahm ein Ende, und zwei schlammbedeckte Autoren streichelten dem Außerirdischen den Rüssel. Reynolds fragte: »Kannst du ihn in irgendeine Richtung knicken?«

»Nein.«

Sherry machte sich daran, die als ›Grifflinge‹ bezeichneten Verzweigungen zu flechten.

»Tut das weh?«

»Nein. Ist unangenehm.« Der Rüssel hob sich, drehte sich und war entflochten.

»Ich würde gern wissen, wie beweglich dein Schwanz ist«, sagte Curtis, der gerade hinter dem Außerirdischen stand.

Der kurze, abgeflachte Schwanz schlug auf und ab, dann nach links und nach rechts.

Schließlich bemerkte Nat Reynolds die Besucher. Er ging zur Tür, ohne die anderen zu stören. »Major Jenny, er erzählt uns gerade ‘ne ganze Menge.«

»Und ich frag mich, wieviel ihr ihm erzählt«, sagte Jack.

Nat warf ihm einen Blick zu, grinste und sagte: »Alles. Harpanet gehört zum Krisenstab.«

»Sie brauchen gar nicht so ‘ne Lippe zu riskieren. Er tut nur so, als wäre er zu uns übergelaufen. Vermutlich hat er Sie eingewickelt.«

»Wir beobachten ihn noch, Clybourne, aber ein bißchen mehr steckt schon hinter unserer Arbeit. Er erwartet, daß wir uns verhalten, als stehe er auf unserer Seite. Er unternimmt nicht mal den Versuch, uns einzuwickeln. Sherry sagt, es ist normales Herdentierverhalten.«

»Trotzdem brauchen Sie ihm nicht haarklein zu erzählen, wovor wir Angst haben!«

»Warum nicht? Was soll er tun – sich als General verkleiden und rausmarschieren? Mit einem von uns die Kleider tauschen, auf Rettung warten? Wenn ihn seine Kumpels hier rausholen können, haben wir sowieso verspielt! Sie sollten sich lieber über was anderes Gedanken machen. Irgendwo am Himmel, an Bord ihres Mutterschiffs, halten sie Menschen gefangen. Einige stammen aus Kansas, und vielleicht sind auch welche aus der sowjetischen Raumstation dabei. Wahrscheinlich behandeln sie die alle, als seien sie zu ihnen übergelaufen. Wenn niemand von den Gefangenen zuviel geredet hat, können sie die Fithp ganz schön austricksen!«

Der Ausdruck in Jacks Augen änderte sich. Er sagte: »Mr. Reynolds, glauben Sie das wirklich? Oder sind das Tagträume?«

»Nun… teils, teils. Aber es könnte doch so sein, jedenfalls für eine Weile. Bevor die Außerirdischen ihnen auf die Schliche kommen, könnten unsere Leute ihnen tatsächlich schon Schaden zugefügt haben.«

»In dem Fall würden sie ja wohl alle umgebracht, oder nicht?«

Nat nickte sachlich. »Ich würde Wes Dawson gern wiedersehen. Auf jeden Fall kriegen wir dies und jenes raus.«

»Sicher.«

»Ich wette, der Asteroidenaufprall wird im Ozean erfolgen. Sie mögen es feucht. Wenn eine Milliarde Tonnen Seewasser verdampft, stört das die Rüßler überhaupt nicht. Ich glaube, es ist wieder Zeit, mit dem Präsidenten zu reden.«


* * *

Shoshone war inmitten einer fremdartigen Wildnis ein Fleckchen Zivilisation – mit Marktplatz, Tankstelle, einem primitiv wirkenden Motel und einem Restaurant. Die Bevölkerung mußte einmal um die zwei Dutzend betragen haben, jetzt sah man auf den ersten Blick niemanden.

Martin Carnell fuhr den unbefestigten Weg hinter dem Motel entlang. Er führte durch ein fast vollständig von Steppengras überwuchertes Feld. Die Vegetation sah vertrocknet aus. So mochte man sich Pflanzen vorstellen, die in der Hölle wuchsen.

Er fuhr langsam hindurch. Fox hatte ihm Shoshone einmal beschrieben. Wo waren die Höhlen?

Dann sah er Fox’ Kleinlaster.

Er parkte daneben und ging zu Fuß weiter. Hier konnte man den Eindruck gewinnen, die Zeit sei stehengeblieben.

In der Wüste ließ Martin die Hunde los. Sie stürmten davon, genossen die Freiheit, kamen wieder zurück und rannten erneut davon. Sunhawk fehlte ihm. Mit seinen fünfzehn Jahren war er zu alt geworden, und so hatte ihn Marty unmittelbar vor Kens SteinzeitsuppenParty eingeschläfert.

Jetzt wanderte er auf und ab durch die niedrigen Felsenhügel. Dann fand er die Höhlen.

Es waren fünf, mit Dynamit in das Gestein gesprengt. Sie waren annähernd rechteckig, enthielten Regale, und eine hatte sogar eine Tür. Alles, was eine Wohnung behaglich macht. Bergleute? Die würden auf Dynamit kommen. Was sie gesucht haben mochten. Bauxit vielleicht? Und waren da womöglich schon Höhlen gewesen, die nur nachbearbeitet werden mußten?

Marty überquerte schnaufend einen niedrigen Grat. Auf der anderen Seite lagen weitere Höhlen. Mit einemmal erspähte er John Fox zwischen den Felsen – in KhakiShorts und Goldgräberhut. Er sah zu ihm her.

Martys Anblick schien ihn keineswegs zu überraschen. »Hallo, Marty. Ich hör dich schon ‘ne Weile durch die Gegend stolpern. Zwischen den Felswänden trägt der Schall weit.«

»Hallo, John. Ich hab frische Lebensmittel mit und lade dich zum Abendessen ein.«

»Hast du jemanden mitgebracht?«

»Nur die Hunde. Das da ist Darth, er ist noch ein Welpe.«

Darth war zu Fox hingerannt, um ihn zu beschnuppern; jetzt kehrte er zu seinem Herrn zurück. »Und außerdem habe ich hier noch Lucretia, Chaka und Othello.« Die Hunde führten sich recht manierlich auf.

»Wie steht es in Los Angeles?«

»Nicht gut. Lebensmittel sind knapp, immer mal wieder gibt es keinen Strom… vor allem glauben die Leute, daß die Rüßler jeden Augenblick anfangen könnten, die Städte zu bombardieren.«

»Warum?«

»Einfach so. Jedenfalls bin ich abgehauen.«

»Was hast du vor?«

»Hierbleiben, wenn dich ein Nachbar nicht stört. Ich hab frische Artischocken mit, außerdem Avokados und Garnelen. Die sind auch frisch.«

Fox sah zweifelnd drein.

»Und eine Kiste Wein.«

Fox erhob sich. »Schön.«

28. Die Gefangenen

Und so gibt es im höchsten Amt die geringste Handlungsfreiheit.

SALLUST

Die Verschwörung des Catilina


Zeit: Eine Woche bis zum Fußfall

Die Arbeit war ermüdend. Jeri haßte sich. Das können Maschinen tun. Sie haben schließlich Maschinen dafür. Warum wir? Das Warum war unerheblich. Sie wußte nicht, was die Fithp unternähmen, sollte sie die Arbeit verweigern, wollte es aber auch nicht auf einen Versuch ankommen lassen.

Rästapispmins sandte sie zwar gruppenweise aus, aber niemand erhob Einwände, wenn sie sich trennten. Vermutlich würden die Fithp das Bedürfnis der Menschen nach Alleinsein nie verstehen, den Drang, einfach einmal für sich zu sein, aber sie begannen es hinzunehmen. Sie können uns beobachten. Also lieber arbeiten. Müde nahm Jeri das Reinigungsmaterial auf und machte sich ans Werk.

»Sie sind aber fleißig.«

Die Stimme hinter ihr ließ sie zusammenzucken. »Ach, hallo, Kommandant Rogatschow!«

»Arwid. Hier oben gibt es keine Rangstufen.« Er lachte zynisch. »Wir haben ein Maß an Gleichheit erreicht, über das Marx gestaunt hätte – wenn auch nicht gerade auf die Art, wie er sich das vorgestellt hat.«

»Ich dachte, Sie seien ein guter Kommunist.«

Er zuckte die Achseln. »Ich bin ein guter Russe. Sie arbeiten zu schwer. Machen Sie ruhig eine kurze Pause!«

»Aber die…«

Er senkte die Stimme. »Dmitri sagt immer, und in dem Punkt bin ich seiner Ansicht, daß wir ihnen unsere wahre Kraft nicht zeigen dürfen. Wer viel leistet, von dem wird man immer viel erwarten. Wer zu viel tut, schadet den anderen.«

»Klingt nach einer guten Ausrede – mir soll’s recht sein. Gott, bin ich müde.« Sie streckte sich und ließ sich unter dem Einfluß der geringen Schwerkraft langsam an eine der Kanalwände treiben. »Ausruhen ist doch was Schönes. Für ‘ne Zigarette könnte ich glatt jemand umbringen.«

Arwid schnaubte verächtlich. »Es gibt nichts umzubringen und auch nichts zu rauchen.«

An dieser Tatsache war zwar nichts Lustiges, aber da Jeri nach Lachen zumute war, lachte sie.

»Sie sind mit Ihrer Tochter hier. Wo ist Ihr Mann?«

»Ertrunken.«

»Das tut mir leid.«

»Ja. Wir hatten uns ein ganzes Jahr lang nicht gesehen, aber ich war auf dem Weg zu ihm, und die Rüßler haben einen Staudamm in die Luft gejagt, gleich in der ersten Nacht. Sein Haus stand unterhalb.«

Arwid sah beiseite.

Er ist nett, zumindest gibt er sich Mühe. »Und sind Sie verheiratet?«

»Ich weiß nicht. Jedenfalls war ich es. Auch ich hab meine Frau ein paar Monate nicht gesehen, weil ich im Weltraum war. Sie ist Russin, und der Stützpunkt lag in der Ukraine. John Woodward hat mir gesagt, er habe von Aufständen in der Sowjetunion gehört. Angeblich sehen die islamischen Republiken die Invasion als Strafe Allahs an. Auch die Ukrainer wollten nie zu Rußland gehören.«

»Macht Sie die Ungewißheit nicht wahnsinnig?«

»Natürlich. Wir Russen sind sehr sentimental. Aber was soll ich tun, trauern? Für sie bin ich tot, so oder so. Ich werde sie kaum je wiedersehen.«

Jeri riß vor Entsetzen den Mund auf. »Ich… so hab ich das noch gar nicht gesehen. Lebend kommt von uns wohl keiner zurück, was?«

Erneut zuckte Arwid die Achseln. »Höchstens als Mitglied ihrer Herde. Das setzt voraus, daß sie gewinnen. Rußland wird sich kaum ohne weiteres ergeben und die Vereinigten Staaten wohl auch nicht. Ihr Amerikaner seid starrsinnig.«

»Vielleicht. Wir sagen gern, daß wir die Freiheit lieben.«

»Wissen Sie viel über Rußland?« fragte Arwid.

»Nein. Ein bißchen aus dem Radio. Dann weiß ich noch von dem Angriff auf Rußland.«

»Und das war erst der erste Angriff«, sagte Arwid. »Beim nächstenmal wird es viel ernster.«

»Was werden sie tun?«

»Das Schiff ist ›mit einem FUSS verpaart‹. Nikolai hat es gesehen.« Er berichtete ihr von Nikolais Vermutungen.

»Sie glauben also, daß sie den Asteroiden auf die Erde werfen wollen?«

»Was sollte sie daran hindern?« fragte Arwid.

»Natürlich, von ihrem Standpunkt aus klingt das vernünftig.« Sie zitterte. »Entsetzlich. Und wir glaubten, es sei schlimm, als sie die Brücken und Staudämme angegriffen haben. Dabei kommt das Schrecklichste erst noch.«

»Ja. Es ist angenehm, Ihnen diese Dinge nicht lange erklären zu müssen.«

Sie machte eine verlegene Geste. »Sie dürfen uns Frauen nicht für dumm halten.«

Er zuckte die Achseln. »Na ja, es gibt solche und solche, wie bei Männern auch. Vielleicht sollten wir allmählich wieder mit der Arbeit anfangen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, könnten wir zusammenbleiben.«

»Von mir aus.«


* * *

Nebel lag über Bellingham, und es regnete. Aus dem Hafenbezirk tönten ferne Arbeitsgeräusche zur Wagenburg herauf: Hämmern, Nieten, das Dröhnen von Lkw- und Barkassenmotoren… etwas Schnarrendes…

»Das scheint ja ein gewaltiges Gewächshaus zu werden«, sagte Isadore und lachte.

George TateEvans betrachtete das Werk ihrer Hände und stimmte in das Lachen ein. »Sicher größer als unseres.« Sie gingen wieder ins Haus.

Kevin Shakes sah ihnen nach und machte sich dann wieder an die Arbeit. »Ich hatte gedacht, daß wir eigentlich ganz ordentlich was auf die Beine gestellt hätten«, sagte er.

»Haben wir auch«, gab Miranda zur Antwort.

Tatsächlich hatten sie viel geleistet. Wo einst große Fenster gewesen waren, sah man jetzt stählerne Schlagläden. Dort, wo über dem geheimen Schutzraum der Tennisplatz gelegen hatte, stand das Gerippe eines Gewächshauses. Kevin verkleidete es gerade sorgfältig mit Glas. Die beiden untersten Reihen hatte er fertig. Jetzt mußte er die rollende Leiter zu Hilfe nehmen. Miranda reichte ihm Werkzeug und Scheiben und schob die Leiter weiter.

George TateEvans und Isadore Leiber brachten ein halbes Dutzend große Scheiben heraus. Kevin hörte, wie George lachend fragte: »Spricht sie immer noch nicht mir dir?«

»Vicki ist merkwürdig still, Is. Ich dachte, sie würde einlenken, wenn wir erst mal die Läden am Haus hätten. Du weißt ja: ›In dem Haus kommt man sich vor wie eingesperrt. Ich hätte nie gedacht, daß ich mal in ‘nem Gefängnis leben muß.‹ Sie hat sich wohl doch daran gewöhnt. Als dann aber der Präsident sagte, jedermann solle Gewächshäuser bauen, und als zwei Tage später du und Jack sagtet, daß der wirrköpfige liberale Mistkerl ausnahmsweise mal recht haben könnte – Kevin, Miranda, wie läuft’s bei euch?«

»Bis jetzt ganz gut«, gab Kevin zur Antwort. »Dauert vielleicht noch zwei Tage. Ihr könnt ja schon mal mit den Pflanzen anfangen.«

»Sehen wir’s uns mal an, Is.«

Die Männer legten das Glas mit großer Vorsicht auf zwei Böcke. Isadore folgte George um die Ecke ins Gewächshaus. Sie gingen dort entlang, wo später die Gänge sein würden, versuchten nicht auf die weißen Kreidemarkierungen zu treten, die zeigten, wohin Pflanzen sollten. Ihre Stimmen drangen ungehindert zu den jungen Leuten hinaus.

»Als wir ernsthaft mit dem Gewächshaus angefangen haben, gab es in Bellingham kein Glas mehr und kaum noch Plastik. Woher sollten wir das ganze Glas denn nehmen, wenn nicht aus den Fenstern?« sagte George.

»Aber verstehen kannst du sie doch?«

»Hängt dir deine Clara etwa auch in den Ohren?«

»Das kann ich dir flüstern.«

»Zugegeben, hübsch sieht es nicht aus. Warum haben wir eigentlich alle Weibsleute gegen uns?«

»Es liegt nicht nur daran, daß es nicht hübsch aussieht. Man kommt sich wirklich eingesperrt vor, weil man nichts sieht. Wir können die Schlagläden ja erst wieder aufmachen, wenn wir das Gewächshaus abbauen. Falls überhaupt. Vielleicht können wir die Fenster zurücktun, wenn die Regierungsinitiative durchkommt.«

Von oben fragte Kevin: »Was?«

Überrascht sah Isadore auf. George nahm den Gesprächsfaden auf: »Is, du bist ja bescheuert. Sich bei Lebensmitteln auf die Regierungverlassen? Weiß der Himmel, was die mit dem Zeug anstellen, das sie anbauen – wir kriegen jedenfalls unter Garantie keinen Fatz davon ab.«

»Bestimmt nicht«, bestätigte Kevin. »Warum sollten sie sonst Gewächshäuser am Hafen bauen, wenn sie das Zeug nicht verladen wollen? Für uns bleibt garantiert nichts.«

»Woher willst du überhaupt wissen, daß es ein Gewächshaus wird?« erkundigte sich George.

»Na hör mal, das haben sie doch im Radio gesagt«, sagte Isadore. »Was sollte es sonst sein? Die wollen hier doch ‘ne richtige Kornkammer machen. Dafür bringen sie die Hafenanlagen in Ordnung und baggern die Becken aus, weil es nötig ist, Getreide zu verschiffen. Zum Brüllen – nach dem ganzen Theater, bis wir endlich ein ruhiges Fleckchen gefunden hatten.«

»Kann man wohl sagen«, meinte George.

Isadore nickte. »Die Preise gehen hundertprozentig rauf.«

»Bestimmt wimmelt es hier demnächst von Leuten. Touristen werden kommen, es wird Verkehrsstaus geben.«

»Kevin?« rief Miranda.

»Ja?«

»Laß uns eine Pause machen.«

Wenn die Stimme seiner Schwester so bestimmt klang, war es besser, klein beizugeben. Das wußte sogar der Vater. »Komme gleich.« Gehorsam rutschte er die Leiter hinab.

»Was ist?« wollte er wissen.

»Ich war gestern mit Leigh aus…«

»Klar, weiß ich. Du bist so spät wiedergekommen, daß Papa schon ganz unruhig war, und auch Mutti hat sich Sorgen gemacht. Sie hat gesagt, sicher wärst du bei ‘nem Polizisten in besten Händen, aber ganz ernst war es ihr damit nicht. Ist es was – was wir ihnen sagen müssen?«

»Vielleicht schon, aber nicht, was du denkst.« Sie kicherte. »Leigh hat ‘nen Astronauten gesehen.«

»‘nen Astronauten?«

»Gillespie. Der die letzte Raumfähre zur russischen Raumstation gebracht hat, mit der der arme Kongreßabgeordnete geflogen ist. Er ist für das große Regierungsprojekt hier zuständig – und sie bauen allerlei Schutzanlagen, Zäune und so weiter.«

»Für ein Gewächshaus?«

»Hab ich auch gefragt. Leigh hat gesagt, man hätte ihnen erklärt, das sei zum Schutz der Lebensmittel nötig.«

»Klingt vernünftig. Überleg doch nur, was Papa alles angestellt hat, um unsere zu schützen!«

»Schon möglich, aber ein Astronaut? Warum, Kevin?«

»Ich weiß nicht, Miranda.«

»Ich auch nicht, und ich finde, wir sollten es Papa sagen.«

Bill Shakes erledigte mit Hilfe seines Heimcomputers die Buchführung. Kevin und Miranda warteten eine Pause ab, dann sagte Kevin: »Wir haben hier in Bellingham ‘nen Astronauten.«

»So?« sagte Shakes und blickte auf

»General Edmund Gillespie. Er hat Dawson nach Kosmograd begleitet und ist jetzt hier. Miranda hat es gestern gehört.« Er achtete sorgfältig darauf, nicht gestern abend zu sagen.

Miranda nahm den Faden auf. »Leigh mußte ihn gestern und auch schon vorgestern überall in Bellingham rumführen. Ich hab ihn gefragt, wo er war, und er hat mir alles erzählt.«

»Was will er? Ich meine, Gillespie.«

»Weiß nicht. Leigh hat gesagt, daß er sich alles angesehen hat, den Hafen, die Eisenbahnanlagen, er hat die ganze Stadt abgeklappert. Und das alles für ein Gewächshaus der Regierung?«

Shakes knurrte wütend: »Mit ‘nem richtigen Astronauten hier in Bellingham wird das aber ganz schön auffällig. Am wichtigsten zum Überleben ist, daß man sich unauffällig verhält.«

»Laß dir darüber keine grauen Haare wachsen«, sagte Miranda. »Wir kommen sowieso nicht weg. Es gibt kein Benzin mehr, und Leigh hat gesagt, sie sperren die Fernstraße für alles außer für militärischen Verkehr.«

»Hmm.« Es war leicht zu erkennen, was Bill Shakes dachte. Bellingham lag zwischen den Bergen und der Meerenge von Juan de Fuca. Wer die Straße sperrte, hinderte die Menschen am Verlassen der Stadt. »Einen besseren Ort finden wir sowieso nicht«, sagte er schleppend. »Wir haben hier ‘ne Menge Geld reingesteckt und können es nicht mitnehmen.«

»Nun, wir dachten jedenfalls, daß du Bescheid wissen solltest «, sagte Kevin.

»Ja. Wieso bloß ein Astronaut? Vermutlich hat er sonst nichts Besseres zu tun, wo die Rüßler jetzt alles vom Himmel holen. Trotzdem… es paßt nicht so recht.« Shakes runzelte die Stirn. »Du magst diesen Polizisten, was?«

»Ja!«

»Gut. Triff dich ruhig öfter mit ihm!«

Kevin unterdrückte seinen Lachreiz.


* * *

Jack Clybourne stellte sich dem Präsidenten in den Weg. »Nein, Sir«, sagte er mit fester Stimme, »ich lasse Sie hier nicht hinein.«

»Mr. Clybourne«, sagte Admiral Carrell mit sanfter Stimme.

»Nein«, wiederholte Jack. »Entweder holen Sie vorher den Außerirdischen da raus, oder Sie geben mir etwas mit erheblich mehr Feuerkraft als diese alberne Pistole. Das ist mein letztes Wort.«

Admiral Carrell seufzte.

»Jack.« Jenny trat einen Schritt vor. Wie krieg ich ihn aus dieser Sache bloß raus? »Jack, bist du einverstanden, wenn ich Sergeant Bonner mit reinbringe und zwei Militärpolizisten mit Gewehren?«

»Das geht nicht«, protestierte Sherry Atkinson. »Wir können Harpanet nicht solches Mißtrauen demonstrieren!«

»Zum Teufel damit, Mr. President!« sagte Wade Curtis.

»Wie bitte, Mr. Curtis?« wandte sich der Präsident ihm zu. Seine Stimme klang, als unterdrücke er ein leises Lachen.

»Bestimmt ziehen deren oberste Führer auch mit bewaffneten Wächtern durch die Gegend. Harpanet dürfte kaum etwas Ungewöhnliches darin sehen, daß Soldaten den Präsidenten eskortieren.«

»Glauben Sie, daß ich sie brauche, Mr. Curtis?«

»Nein. Aber ich verstehe Jacks Sorgen. Sofern sich Harpanet entschließen sollte, den Präsidenten anzugreifen, dürfte es sehr schwer sein, sich ihm in den Weg zu stellen. Und für den Fall würde ich auch sagen, wenn schon, denn schon: kein Kinderspielzeug, sondern anständige Kaliber.«

»Und wo finden wir so etwas?« wollte Jenny wissen.

»Eine ist in meinem Zimmer, und Ransom hat auch eine«, sagte Curtis.

»Deshalb also, Mr. President.« Joe Ransom beendete seine Vorstellung. Die im Raum anwesenden Techniker, Autoren und Soldaten schwiegen, so daß man nichts hörte als die lauten Atemzüge des außerirdischen Gefangenen.

»Eindrucksvoll«, sagte Präsident Coffey. Verwirrt sah er sich um, bis sein Blick auf den des Außerirdischen stieß. Harpanet stand zehn Meter von ihm entfernt, so weit wie ihn Clybourne hatte fortbringen können, und zwischen ihm und dem Präsidenten befanden sich vier bewaffnete und kampferprobte Soldaten.

Immer noch zu nah, dachte Jenny.

»Wie redet man ihn an? Hat er einen Titel?« erkundigte sich der Präsident.

»Einfach Harpanet, Mr. President«, sagte Robert Anson. »Sollte er zu Hause einen Titel oder Rang gehabt haben, hat er den mit seiner Unterwerfung aufgegeben, und wir haben ihm noch keinen verliehen.«

»Harpanet«, sagte der Präsident leise.

»Leitet mich.«

»Hast du verstanden, was hier gesagt worden ist?«

»Ja.«

»Stimmt es? Will man einen großen Asteroiden auf die Erde abwerfen?«

Der Außerirdische spreizte seine Greifglieder.

»Er meint, daß er davon nichts wissen kann«, dolmetschte Sherry.

»Aber euer Raumschiff sollte – mit einem ›Fuß‹ verpaart werden?«

»Ja.«

Unruhig begann der Präsident im Raum auf und ab zu gehen. »Wir müssen so viele Menschen wie möglich warnen, auf der ganzen Welt. Gott im Himmel, hätten sie doch nur unser Nachrichtensystem nicht so zugerichtet! Was meinen Sie, Admiral?«

»Ich glaube, wir dürfen es nicht wagen.«

»Was nicht wagen? Die Welt zu warnen? Wir würden Millionen in den sicheren Untergang schicken! Gezeitenwellen, Stürme, Erdbeben, Vulkanausbrüche – die Vorstellung gleicht einem Katastrophenfilm, der eine ganze Woche dauert!«

»Und falls wir eine Warnung herausschicken, verurteilen wir mit Sicherheit Tausende oder Zehntausende zum Untergang«, sagte Admiral Carrell.

»Aber es ist doch besser, als die Hände in den Schoß zu legen.«

»Wenn Sie eine Warnung herausgehen lassen, Mr. President, werden alle Küstenbewohner fliehen. Und Bellingham ist auch eine Küstenstadt«, gab Robert Anson zu bedenken.

»Aber…«

»Wir haben keine Möglichkeit, dafür zu sorgen, daß die Leute zwar alle Städte verlassen, nur ausgerechnet Bellingham nicht«, sagte Anson.

»Stimmt«, bestätigte Admiral Carrell. »Wenn sie eine Warnung ergehen lassen, gefährden Sie damit unser Projekt, und zwar möglicherweise nachhaltig.«

»Und es ist unsere einzige verdammte Chance«, knurrte Curtis.

Der Präsident ließ sich schwer in einen Sessel sinken. Seine Finger trommelten auf die Tischplatte. Nach einigen Augenblicken sah er auf. »Thor, würden Sie Mrs. Coffey hinzubitten? Mit Ihnen allen spreche ich später noch einmal. Inzwischen danke ich Ihnen für Ihren Rat.«


* * *

Ihre Therapeutin, Mrs. Carmichael, hatte Alice einmal eine Geschichte erzählt. Später hatte Alice erfahren, daß jeder sie kannte. Vermutlich nahmen die Psychiater an, daß die Geschichte ihren Patienten guttat. Und vielleicht stimmte das sogar.

Ein Autofahrer hat auf einer abgelegenen Straße spätabends eine Reifenpanne. In der Nähe sieht ihm jemand durch einen Gitterzaun tatenlos zu. Der Autofahrer sieht im Licht seiner Scheinwerfer ein Schild und begreift, daß er sich in unmittelbarer Nähe einer Heilanstalt befindet. Er löst die Muttern am Rad mit dem platten Reifen und legt sie in die Radkappe. Der Unbekannte sieht zu. Der Autofahrer nimmt das Reserverad aus dem Kofferraum. Der Unbekannte sieht zu. Der Autofahrer wird nervös. Was tut ein Verrückter so spät draußen? Warum starrt er so unverwandt herüber? Der Autofahrer rollt das Rad nach vorn, tritt im Dunkeln auf den Rand der Radkappe, und alle Radmuttern landen im Gras neben der Straße. Der Autofahrer sucht nach ihnen und findet eine einzige.

Der Geisteskranke tut den Mund auf. »Schrauben Sie je eine Mutter von den drei anderen Rädern und tun sie sie an das vierte Rad. Dann haben Sie an jedem Rad vier, damit kommen Sie bis zur nächsten Tankstelle.«

Der Autofahrer sagt: »Das müßte gehen.« Dann fährt er fort: »Augenblick mal, das ist ja genial! Warum, zum Kuckuck, sind Sie eigentlich da drin?«

Der Patient antwortet: »Weil ich verrückt bin, aber nicht blöd.«

Die Luftkanäle maßen etwa einen Meter im Durchmesser. In ihnen gab es keine Handgriffe. Zuerst war Alice haltlos durch sie getrieben; sie hatte Angst vor dem Fallen und meinte, ihr müsse schlecht werden. Jetzt ging es ihr besser. Jeri und Melissa genossen die geringe Schwerkraft sogar und hatten Alice gezeigt, wie sie sich bewegen mußte.

Alice war früher zierlich gewesen und hatte mit ihrem blassen Gesicht und dem feuerroten Haar durchaus gut ausgesehen. Jetzt war sie dürr. Sie versuchte zu essen, hatte aber keinen Appetit, und diese Scheusale versuchten ihr Fleisch und unbekannte Pflanzen aufzudrängen. Die anderen aßen das merkwürdige Zeug der Außerirdischen, aber auch die Vitamintabletten, das Eiweißpulver und die Bierhefe, die sie mitgebracht hatte. Es ging ihnen glänzend dabei.

Unter diesen Bedingungen war das Leben nicht lebenswert. Alice hatte sich schon einmal die Pulsadern aufgeschnitten, vor langer Zeit und aus Gründen, die ihr heute albern vorkamen. Sicherlich würde sie früher oder später einen scharfen Gegenstand finden. Dennoch war sie fast sicher, daß sie ihn nicht benutzen würde.

Wer würde sich denn um sie grämen?

Die kleine Melissa behandelte sie mit einer Mischung aus Angst und Verachtung. Jeri war ganz nett zu ihr, verbrachte aber viel Zeit mit den Russen. Ich glaube, sie ist in den Breitschultrigen verknallt. Er tut dies und das für sie. Bringt ihr Sachen. Hat dafür gesorgt, daß der Toilettenteich mit einer Decke abgeschirmt wurde. Das war nett von ihm. Nur für mich tut niemand was. Sie mögen mich nicht…

Bei Wes Dawson ging es noch weit über das Nichtmögen hinaus. Er kommandierte herum, dozierte, unterrichtete die Sprache der Scheusale und erwartete, daß die Frauen sie benutzten. Er war aalglatt und herablassend, ganz wie ihre erste Therapeutin, die ihr erklärt hatte, die Verwendung von Wattestäbchen sei eine Art Masturbationsersatz. Mit der zweiten, Mrs. Carmichael, war sie ganz gut klargekommen. Sie hatte Jeri Wilson ein wenig ähnlich gesehen, war aber vielleicht ein bißchen rundlicher und nicht so ängstlich gewesen, dachte Alice.

Die Scheusale waren schlimmer als Dawson. Wenn jemand nicht sofort parierte, waren sie verwirrt. Sie lösten das Problem dann immer, indem sie die Leute mit ihren Rüsseln oder den Kolben ihrer korkenzieherartig verdreht wirkenden Gewehre vor sich her schoben. Sie hörten auf nichts, was Alice sagte, und behandelten sie wie einen Gegenstand. Falls Alice McLennon sich die Pulsadern aufschnitt, würde das für die Scheusale lediglich eine Sorge weniger bedeuten.

Das Reinigen der Luftkanäle war eine Art Beschäftigungstherapie, so ähnlich wie in Menningers Sanatorium. Auf so etwas fiel Alice nicht herein. Ich bin hier, weil ich verrückt bin, nicht blöd. Die Scheusale waren zu groß für die Luftkanäle, sie paßten da nicht hinein. Wie sie das wohl gemacht haben, bevor wir kamen? Wahrscheinlich hatten sie irgendwelche Geräte, oder die Kanäle brauchten gar nicht gereinigt zu werden oder aber… Sie hatte einmal einen Blick auf etwas geworfen, das aussah wie ein großer Krapfen aus Stahl, genau von der Größe des Kanaldurchmessers. Es hatte sie mit einem blitzenden Auge von ferne beobachtet. Ein Roboter?

Genau wie in der Klinik erfüllte die Beschäftigungstherapie hier ihren Zweck.

Sie schoben sie in die Luftkanäle, wenn sie sich widersetzte. Diese gummiartigen, gespaltenen Rüssel waren unglaublich kräftig. Hilflos und angeekelt hatte sich Alice mit dem großen Lappen und dem Kunststoffbeutel, den man ihr nachgereicht hatte, in den Kanälen treiben lassen. Sie hatte eine Weile nichts getan und dann begonnen, die Kanäle zu reinigen.

Nun, Staub und Rost hatten sich angesammelt, und beides löste sich. Die Filter waren voller Schmutz und Staub. Während sie sich jetzt durch die Kanäle bewegte, begann sie eine Art Geschicklichkeit zu entwickeln. Natürlich gab es keine Haltegriffe, die Scheusale waren wohl nie auf den Gedanken gekommen, daß es Lebewesen gab, die sie hier drin brauchen könnten. Sie lernte, sich mit Sprüngen im Zickzack vorwärtszubewegen und dabei gleichzeitig mit dem Tuch über die Wände zu fahren. Es funktionierte.

Sie verbesserte ihre Technik, aber es war und blieb eine Beschäftigungstherapie, und sie konnte es nicht abwarten, in den Garten mit seinen großen, freien Flächen zu kommen.


* * *

An einigen der Pflanzen sprossen Schößlinge. Alice hatte Angst, sie zu berühren. Mrs. Woodward lachte leise in sich hinein. »Reis. Hätte ich mir doch denken können. Reis mag es feucht.«

»Und was tun wir jetzt?«

»Nichts. Der wächst von selbst.«

Alice nickte. Sie wandte sich um und warf wieder einen Blick auf das Gemüsebeet. War das schon ein grünes Büschel, wo sie Mais und Bohnen gepflanzt hatten? Zu spät merkte sie, daß sie sich zu weit von einem Haltegriff entfernt hatte.

Es war nicht weiter schlimm, sie war inzwischen an die Schwerelosigkeit gewöhnt. Sie ließ sich treiben und wartete, daß der geringe Schub vonThaktan Flishithy sie an eine Stelle brachte, wo es noch etwas zu tun gab.

Etwas wickelte sich um ihre Fessel. Sie zuckte zusammen, als habe sie einen elektrischen Schlag bekommen, und ihr Blick fiel auf Grifflinge, einen breiten, braunen Kopf, der vom Alter verschrumpelt wirkte, und tiefliegende Augen. »Rästapispmins?«

»Du hast gelernt, mich zu erkennen? Gut. Wie geht es dir, Alice?«

»Gut.«

»Deine Pflanzen gedeihen. Das gefällt mir. Ich denke, unsere Pflanzen werden auch auf eurer Welt wachsen.«

Ihr Gesicht blieb ausdruckslos. Dawson hatte gesagt, wenn die Pflanzen gut wüchsen, würde der Planet Erde den Scheusalen noch begehrenswerter erscheinen – und sie hatte ihm nicht geglaubt. Sollten sie die Pflanzen eingehen lassen? Das wäre kein Kunststück – aber dann würde sie essen müssen, was die Scheusale ihr gaben.

»Ich möchte etwas erklären«, sagte der Lehrer. »Vielleicht ist dir aufgefallen, daß sich manche Fithp merkwürdig verhalten. Für einen Teil von uns, die Gruppe der Schläfer, hat die Paarungszeit begonnen, und das wirkt sich auf ihr Verhalten aus. Sie werden zwar nicht gemeingefährlich wie Einzelgänger, aber man sollte sie nicht reizen.«

»Und du bist kein Schläfer, wohl aber Takpassih?«

»Die Paarungszeit richtet sich nach den Weibchen, in diesem Fall denen der Schläfer. Ich bin raumgeboren, wie auch Tashajämp. Den größten Teil des Jahres, noch viele Tage, könnt ihr mich als geschlechtslos betrachten.«

Sie sah ihn aufmerksam an, aber in seinem Gesicht war nichts zu erkennen. Doch war er Lehrer und Unterweiser. »Kannst du Gedanken lesen?«

»Gedanken lesen?« Er schnaubte. »Nein! Aber ich habe Augen im Kopf. Du sprichst nur mit Frauen. Du ziehst dich von Männern zurück, wenn du kannst. Du bist schmal in den Hüften, und deine Brüste sind flach. Manche Fithp sehen aus wie Weibchen, sind aber nie zur Paarung bereit…«

Alice sprang zurück, zum Gemüsebeet, zurück in die Gesellschaft ihrer Mitgefangenen. Noch nie war ihr so etwas ins Gesicht gesagt worden! Man hielt sie für merkwürdig, gewiß – aber geschlechtslos? Ein Zwitter? Daß sie Männer nicht mochte, lag einfach daran, daß die Männer… die Männer…

Sie befürchtete, Rästapispmins werde ihr folgen, aber er sprach inzwischen mit einem anderen Fi’: dem anderen Lehrer, Takpassih.

Um sie aus der Reserve zu locken, hatten ihr Männer manchmal auf den Kopf zugesagt, daß sie sie merkwürdig fanden. Geh mit mir ins Bett, da kannst du beweisen, was für eine du bist.

Die Vorstellung, von Rästapispmins vergewaltigt zu werden, war abwegig und widerwärtig zugleich… in erster Linie abwegig, befand sie. Noch niemand hatte ihr gesagt, daß er sie für geschlechtslos hielt.

Tashajämp brachte sie gemeinsam mit Mr. und Mrs. Woodward und Wes Dawson zu ihrer Zelle zurück. Sie blieben so lange dort, daß sie Gelegenheit hatten, etwas zu essen und die Toilette zu benutzen. Der Gedanke, daß es die anderen ebenso störte wie sie selbst, ließ Alice die Sache weniger unerträglich erscheinen.

Nach einer Ruhepause von einer Stunde brachten die Fithp sie alle wieder zu den Luftkanälen zurück. Niemand hatte gemerkt, daß Alice die ganze Zeit geschwiegen hatte. Vielleicht waren die anderen sogar froh darüber.

Sobald sie konnte, sonderte sich Alice von den anderen ab und ließ sich vom Luftzug forttragen, weiter als je zuvor. Ihr war nicht nach gesellschaftlichen Kontakten zumute. Nach einer Weile bremste sie ihren Flug und machte sich halbherzig an die Arbeit.

Der Luftzug war jetzt kalt geworden. Das paßte zu ihrer Stimmung; zuerst merkte sie es kaum. Aber die Wand, an der sie arbeitete, war an einer Seite sogar noch kälter. Hier war eine Krümmung, an der ein Seitenkanal einmündete, aber sie war durch eine Klappe versperrt. Nachdem sie sie passiert hatte, wurde die Wand wieder wärmer.

Alice kehrte um.

Sie befolgte nicht gern Befehle, und es gefiel ihr nicht, wenn man etwas vor ihr verborgen hielt. Die verdammten Psychotherapeuten hatten immerGeheimnisse vor ihr gehabt.

In einer Art Nut konnte die Klappe auf und nieder gleiten. Alice schob die Finger in einen Spalt, und die Klappe öffnete sich gegen Federdruck weit genug, um sie durchzulassen.

Die Luft war entsetzlich kalt und unbeweglich. Nachdem Alice dem Kanal ein Stück weit gefolgt war, fand sie sich an einem Gitter.

Knapp zehn Meter vor ihr lag eine merkwürdige schwarze Fläche, die gewellt war wie schmutziges Eis. Als Alice ihr Gesicht an das Gitter drückte, sah sie die Krümmung, die wie die Innenwandung eines Zylinders wirkte.

Sie betrachtete die Sache eine Weile genauer. Eine Stelle an der Oberfläche war hervorgewölbt… wie ein unfertiges Relief… ein Fries, das Werk eines der Scheusale. Schmutziges Eis? Dawson hatte gesagt… ja, was noch? Die Scheusale mochten Schlamm. Sie fanden es seltsam, daß sich die Menschen in sauberem Wasser wuschen. Aber gefrorener Schlamm?

Das Gitter hatte unter ihren Händen nachgegeben.

Sie schob es beiseite und ließ sich hindurchtreiben.

Auf einer Seite lag gefrorener Schlamm, eine Decke mit bemalten Friesen auf der anderen. Die Kunstwerke wirkten unheimlich und fremdartig, manche waren aber auch schön. Scheusale – Fithp also – zur Hälfte unter unheimlichen Bäumen verborgen; die Gattung erkannte sie wieder – solche wuchsen auch im Gartenbezirk. Hier war eine naturgetreue Nachbildung eines der Scheusale gegenüber einem mit unverständlichen Schriftzeichen bedeckten Block, und in die Schlammbank auf der anderen Seite war eine ähnliche Gestalt hineingehauen…

Sie würde sich hier den Tod holen. Alice tauchte erneut in den Luftkanal und brachte das Gitter wieder hinter sich an.

Geheimnistuerei war ihr zuwider. Sie wollte mehr erfahren. Nach einer Weile fand sie eine Möglichkeit, den Luftkanal zu verlassen.


* * *

»Ich glaube, Alice möchte dir was sagen«, erklärte Melissa.

Jeri drehte sich träge herum. »Wie kommst du darauf?«

»Sie sieht dich pausenlos an, aber sie möchte mit dir allein sein. Das merke ich, Mama, Alice ist…«

»Ja.« Woher sie das wohl weiß? Rät sie das? Oder wie? Jeri ließ sich träge zum Griff an der Wand neben Alice treiben. »Wie war’s?«

Worte entströmten ihr rasch. »Jeri, ich hab eine ganz seltsame Stelle gefunden. So kalt, daß man sich alles abfriert. Abgesperrt. Überall schwarzes Eis oder so was Ähnliches. Weit weg.«

»Ein Lagerraum? Wird da was aufbewahrt?«

»Nein, es ist alles Eis, die eine Wand entlang, die Rumpfwand. Dawson hat gesagt, sie mögen Schlamm. Vielleicht ist es so ‘ne Art großes Heilbad. Aber warum sollten sie das alles einfrieren?«

»Wir wollen Arwid fragen.«

Alice machte ein ängstliches Gesicht.

»Er wird bestimmt nicht – er ist ein guter Mensch, Alice.«

»Nun, von mir aus.«

Rogatschow runzelte nachdenklich die Stirn. »Richtig gefroren?«

»Ich hab nicht hingefaßt. Aber bestimmt war es gefroren, denn es war furchtbar kalt.«

»Kaum Schub und keine Rotationsschwere, weil wir mit dem FUSS zusammengekoppelt sind. Unter diesen Bedingungen können sie nicht im Schlamm baden, aber von den Bildern, die sie uns gezeigt haben, wissen wir, daß sie das gern tun. Bestimmt haben sie einen Raum für den Schlamm, und sicher liegt er an einer Stelle, wo keine Schwerkraft herrscht. Aha, und deswegen haben sie ihn eingefroren.«

»Klingt vernünftig«, sagte Jeri.

»Ja«, stimmte Alice zu. »Also, dann erklären Sie mal weiter. Im Schlamm war eine Gestalt wie ein Fries – wie eines von diesen Scheusalen unter einer Decke.«

»Wie? Als wenn es auf der Seite läge?«

»Ja. Was war das wohl?«

Wes Dawson war so nahe, daß er mithören konnte. »Sind Sie dessen sicher?«

»Absolut.«

»Ein Fries, das ein Fi’ darstellt?«

»Ich habe nicht gesagt, es war ein Fries, sondern nur, wie ein Fries«, sagte Alice.

»Ach ja.« Dawson verlieh seiner Stimme einen beruhigenden Klang. »Arwid, was meinen Sie?«

»Ich weiß nicht.«

»Ich denke, wir sollten es Rästapispmins sagen.«

»Wir werden es uns überlegen«, sagte Arwid und wandte sich Dmitri zu. »Hast du gehört?«

»Ja.«

Sie sprachen rasch auf russisch miteinander.

Jeri nahm Arwid beim Arm. »Sie lernen rasch Sprachen«, sagte sie. »Sie behaupten zwar, daß sie kein Russisch können, aber bitte! Vorsicht!«

Arwid lächelte. »Wenn sie rasch genug gelernt haben, um den Dialekt zu sprechen, in dem wir uns jetzt unterhalten, kommen sie hinter alles.« Er wandte sich erneut den anderen zu. Sie sprachen weiter miteinander. Schließlich nickte Dmitri. Arwid sagte: »Ja, dann machen wir es so. Alice, Sie müssen es den Fithp sagen.«


* * *

Im Schlammraum war es behaglich warm, und der Schlamm taute, als Prethitihdämb ankam.

Rästapispmins hatte ihm gesagt, daß er die rothaarige Erdlingin als Einzelgängerin betrachtete. Vielleicht halluzinierte sie… Die Beruhigung, die Prethitihdämb bei dieser Mitteilung empfunden hatte, schwand, als er in den Raum trat. Dort an der Decke befand sich ein Fries von ThoBinther Thaktan, einem legendären Priester aus der Zeit, die zweimal achthoch zwei Sonnenumläufe zurücklag. Ihm gegenüber war eine vollkommen ähnliche Ausbuchtung.

Irgendein Fi’ mußte einen merkwürdigen Humor entwickelt und nach der Beschleunigungsphase hier den Schlamm zu einer frechen Parodie des altehrwürdigen Entdeckers des Podo Thaktan gestaltet haben. Aber Prethitihdämb begann zu zittern, und es beruhigte ihn, daß seine Achtschaft aus lauter Raumgeborenen bestand. »Schafft den Schlamm weg«, gebot er einem Fi’. »Seid vorsichtig. Aber beeilt euch, wir treten bald wieder in die Beschleunigungsphase ein.«

Es hätte zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt geschehen können. In wenigen Stunden würden sie den FUSS ausklinken. Schwierige und rasch aufeinanderfolgende Manöver würden erforderlich sein, um Thaktan Flishithy in die für den Start der Grifflingsschiffe richtige Lage zu bringen.

Die Eroberung von Winterheim stand bevor, und jetzt das!

Der Krieger kratzte mit dem Rücken seines Bajonetts aufgeweichten Schlamm weg, und Fathistihtalk begann Gestalt anzunehmen.


* * *

Der Herr der Herde wartete ungeduldig auf den Anruf. Dann erschien Prethitihdämb auf dem Bildschirm. Hinter ihm herrschte geschäftiges Treiben.

»Berichte.«

»Es ist in der Tat der Berater Fathistihtalk, Herr der Herde. Man hat ihn ertränkt. In seiner Haut fanden wir keine Risse.« Inzwischen war der Kadaver vom Eis befreit und deutlich auf dem Schirm sichtbar. Er wurde langsam gedreht, damit der Arzt der Achtschaft ihn gründlich untersuchen konnte. »In Fathistih talks Snffp verläuft eine tiefe Einkerbung oberhalb der Nüster. Vielleicht ist sie durch eine sehr festgezogene Schnur entstanden, aber das hätte ihn nicht getötet. Sein Mund ist voll mit zusammengebackenem Schlamm. Es sieht aus wie eine rituelle Hinrichtung. Er wurde ertränkt.«

»Danke.« Pastempihkeph unterbrach die Verbindung. Man muß die TalkSippe informieren. Den Weibern wird es nicht gefallen. Mord! Mord kam unter den Fithp äußerst selten vor und war nahezu stets der Beginn einer Rebellion.

»Die letzten Augenblicke nahen heran, Herr der Herde«, sagte der Herr des Angriffs. »Was sollen wir tun?«

Die Flucht ergreifen. Den FUSS abwerfen, um die ErdlingsFithp in ihrer Handlungsfreiheit möglichst zu behindern. Dafür sorgen, daß sie auf ihren Planeten gefesselt bleiben, während wir den Rest ihres Sonnensystems übernehmen, der ohnehin wertvoller als der Planet ist.

Diesen Rat hätte Fathistihtalk gegeben. Der Berater Siplisteph wird das nicht tun. Die Schläferweibchen werden einer solchen Handlungsweise nie zustimmen, und auch nicht Fistartihthaktan.

»Herr des Angriffs.«

»Leitet mich!«

»Entsprechend dem Schlachtplan vorgehen. Das Kommando über Thaktan Flishithy liegt jetzt bei Euch.«

29. Der Fußfall

Mir träumte, die Vergangenheit sei nie endgültig: Doch gleich, ob dies ein rechter oder falscher Traum war, bitte ich nunmehr den Tod, mir zu vergeben, und betrauere die Toten.

RICHARD PURDY WILBUR

Die Vergebung


Zeit: Der Fußfall

Die Beisetzungsgrube war eine Röhre voller Erde und Abfall. Sie enthielt die Gebeine der verehrten Toten und was sonst noch von ihnen übrigblieb. Das Gemenge zersetzte sich allmählich zu einem gutvermischten Düngerbrei. Instrumente prüften den Säure- und Bakteriengehalt sowie die Temperatur. Die Luft darin konnte man nicht atmen. Arbeiter in Druckanzügen sorgten dafür, daß ein vorn offener Trichter frei blieb. Mehrere Tonnen der Masse hatten sie in den Garten geschafft, um Platz für die Bestattungszeremonie zu schaffen.

Die Kälte hatte Fathistihtalk gut erhalten, obgleich seine Augen in unterschiedliche Richtungen blickten. Als er an Stricken zu den Schweigenden Fithp hinabgelassen wurde, knickten oberhalb der Nüster die Grifflinge in einem seltsamen Winkel ab, und ein Auge richtete sich auf Pastempihkeph. Meinen Atem hat ein Seil und dann der Schlamm unterbrochen. Warum? Was hätte ich sagen können, das ich nicht lebend gesagt hätte, ich, der ich nie zögerte zu sprechen? Wer verschloß meinen Mund mit Schlamm?

Der Herr der Herde schüttelte den Kopf. Ich werde dahinterkommen. Er hatte bereits für ein halbes Dutzend toter Fithp die Abschiedsformel gesprochen, Leistungen gewürdigt und in einzelnen Fällen postum das Anlegen von Geschirren der nächsthöheren Rangstufe befohlen, bevor der Kadaver für die Beisetzung jeglicher Bedeckung und allen Zierats entkleidet wurde.

Im Verlauf von drei Generationen des Flugs zwischen den Gestirnen hatte sich unter den Raumgeborenen ein kompliziertes Beisetzungsritual herausgebildet. Es war auf ein sich in künstlich erzeugter Schwerkraft abspielendes Leben ausgerichtet. Die Beisetzungsgrube lag parallel zur Längsachse des Schiffes. Feierlichkeiten wurden im Abschiedsbezirk abgehalten, einem Halbkreis am Rande der Grube, wo die Rotationsschwere nahezu Null war. Auch jetzt folgte die Zeremonie der Überlieferung. Obwohl das Haupttriebwerk mit vollem Schub lief und sein Summen überall hörbar war, spürte man die Beschleunigung kaum.

Pastempihkeph fühlte, gegen welch ungeheure Masse die Bote drückte. Gerade in diesen Augenblicken gab das Raumschiff den aus Nickel und Eisen bestehenden Überresten eines vereisten KleinMondes ihre endgültige Richtung. Die Bote mußte sich binnen fünfhundertzwölf Atemzügen vom FUSS lösen oder zusammen mit ihm auf Winterheim stürzen. Hätte die Feierlichkeit einem Geringeren gegolten, wäre sie wohl bis auf die Zeit nach Abschluß der Manöver verschoben worden, aber Fathistihtalk verdiente jede Ehrung. Selbst wenn das nicht der Fall sein sollte, möchte ich nicht den Eindruck erwecken, als wolle ich einem ehemaligen Herrn der Herde die ihm gebührende Achtung versagen!

Tshaupintalk sah durch eine Glasscheibe zu, wie Fathistihtalk in der sich bewegenden Erde seine Ruhe fand. Ihre Grifflinge lagen um das Junge und drückten es zum Säugen an sich. Es war ein acht Tage altes Männchen. Bei normalem Schub hätte es bereits gehen können, hier in der Schwerelosigkeit hielt es sich unsicher auf staksigen Beinchen. Es schien ihm Spaß zu machen.

»Wer hat meinen Gefährten umgebracht?« klagte Tshaupintalk.

»Ich weiß zu viele Antworten darauf«, sagte Pastempihkeph. »Er hat sich nie darum gekümmert, ob er jemanden kränkte.«

Sie trompetete wild auf. Erschreckt warf das Junge seine noch kurzen Grifflinge über den Kopf und versuchte, sich zwischen Tshaupintalks Beinen zu verkriechen. Auf Grund der Schwerkraftverhältnisse drückten seine Bewegungen sie vom Boden hoch. Für ein Neugeborenes war es stark.

Der Verlust ihrer Würde minderte keineswegs ihre Angriffslust. »Dies Verbrechen richtet sich gegen die gesamte Ziehende Fithp!« rief sie laut. »Wie können Schläfer und Raumgeborene eine Gemeinschaft bilden, wenn die Mörder nicht zur Rechenschaft gezogen werden?«

Der Herr der Herde schwieg eine Weile. Tshaupintalk merkte, daß die anderen, sowohl Fithp als auch die kleine Erdlingsschar, zu ihr hersahen. Dann sagte Pastempihkeph: »Wir werden das Rätsel lösen. Du weißt, daß ich Herausforderungen liebe – aber denkst du auch daran, daß ich einen Krieg zu führen habe?« Er sah in die Beisetzungsgrube hinab. »Fahr dahin, Fathistihtalk! Du hast viel zu viele Reisegefährten.«

Nach Abschluß der Feierlichkeiten trat er zu Takpassih. »Fathistihtalk hat stets interessante Fragen gestellt«, sagte er. »Jetzt muß ich das selbst tun.«

»Ihr werdet einen Berater haben«, sagte Takpassih.

»Bah. Siplisteph muß für die Aufgabe erst noch geschult werden. UmerzieherZwei, hat Fathistihtalk auch dir interessante Fragen gestellt?«

Takpassih schnob. »Mir kam es nicht so vor. Er wollte die Erdlinge einzeln befragen.«

»Warum?«

»Das hat er nicht gesagt. Sie gehörten nicht zu seinem Thaktan. Ich habe ihm gesagt, daß ich bereit sei, zu dolmetschen und Euch alles mitzuteilen, was sich ergab. Er aber lehnte ab. Er sagte, er erwarte einfach, daß ich meine Aufgabe erledige.«

»Sehr passend«, sagte Pastempihkeph. »Hat er dir Fragen vorgeschlagen, die du stellen solltest?«

»Nein.«

Schade. »Wirst du auf der Kommandobrücke sein, während der FUSS fällt?«

»Ich denke nicht. Wenn ich mir die ErdlingsFithp als Feinde oder Jagdbeute vorstellte, würde das mein Mitgefühl für sie mindern.«


* * *

Tashajämp verließ sie an der Zellentür. »Ihr bleibt hier! Seht zu, daß ihr euch an den Wänden festhaltet! Zuerst an der dort, dann an einer anderen, wenn das Zeichen ertönt. Die Kraftrichtung wird häufig wechseln. Vorher hört ihr jedesmal dies Signal.« Sie trompetete und sprach dann in rasselndem Posaunenton weiter. »Verstanden? Gut.«

Sie gingen ans Schott. Jeri grub ihre Nägel tief in die Wandbespannung.

»Es ist zwar kein Thema für feine Gesellschaft«, sagte Arwid, »aber da sie keine Zeit angegeben haben, wäre es sicher gut, die entsprechenden Lokalitäten zu nutzen, solange noch Gelegenheit dazu ist.«

»Stimmt«, sagte Dawson. »Die Damen zuerst.«

Da ihr niemand den Vortritt streitig machte, begann Jeri. Nun, nachdem Arwid und Nikolai mit einer Wolldecke eine Art Paravent um das flache Wasserbecken errichtet hatten, war es nicht mehr ganz so schlimm.

Jeri kehrte an die Wand zurück. »Melissa, ich möchte dich hier bei mir haben.«

»Wenn es Sie nicht stört, bleibe ich auch bei Ihnen«, sagte Arwid.

»Danke.«

»Was halten Sie von den Begräbnisfeierlichkeiten?« fragte er.

»Meine Anthropologiedozentin hat einmal gesagt, Begräbnisriten seien die bedeutsamsten Hinweise auf eine Stammeskultur «, sagte Jeri. »Aber ich glaube, das hing damit zusammen, daß sie es als Archäologin gewohnt war, kaum etwas anderes als Gräber als aussagekräftige Zeugnisse aus vergangenen Epochen vorzufinden.«

»Das hat ja bestialisch gestunken«, sagte Melissa.

Gary lachte zustimmend, und Jeri sagte: »Ja, aber an Bord eines Raumschiffs muß es nicht stinken. Die wollen das nicht anders. Der Eindruck, daß der liebe Dahingeschiedene postwendend zu Dünger wird, gehört wohl zum Begräbnis dazu. Sie wollen sich daran erinnern.«

»Sie haben mehr von seiner Ansprache verstanden als ich«, sagte Arwid.

»Ich habe auch etwas mitbekommen«, ließ sich Wes Dawson vernehmen. »Die lange Rede des Priesters. Er hat davon gesprochen, daß Fathistihtalk jetzt zur Schlafenden Herde zurückkehrt. Ich frage mich, ob er das im Wortsinn meinte.«

»Meinen Sie, die glauben an so etwas?« fragte Jeri.

»Keine Ahnung«, gab Dawson zurück. »Sie wissen, daß der Leib verschiedene Stadien eines Zyklus durchläuft. Vielleicht nehmen sie an, daß die Seele das auch tut.«

»Das denke ich nicht«, sagte Arwid. »Warum sollten sie sonst das Neugeborene so in den Vordergrund stellen?«

»›Die Vorlinge sind stets mit uns‹, hat er gesagt. Wie konnte diese andere Gattung eigentlich mit der Ziehenden Fithp zusammenkommen? Ihre Leiber folgen zwar den Stadien des Zyklus, und es gibt auch noch die Thaktans, aber…«

»Natürlich glauben sie nicht an bürgerliche Mythen von Göttern und Unsterblichkeit«, sagte Dmitri. »An diesen Fithp gibt es viel zu bewundern. Sie arbeiten zusammen, und wenn es erforderlich ist, lassen sie ihr Leben für die Herde.«

John Woodward schnaubte vernehmlich und wandte sich ab.

»Der Gestorbene aber nicht«, sagte Alice. »Die Witwe behauptete, er wäre ermordet worden, und der Leitbulle schien auch nicht besonders glücklich darüber zu sein.«

»Ein interessantes Geheimnis«, sagte Arwid. »Wer könnte ihn umgebracht haben?«

»Das werden wir wohl nie erfahren«, sagte Dawson.

»Warum sagen Sie das?« fragte Dmitri. »Der Anführer hat der Witwe versprochen, er werde den Mörder finden. Ihm stehen alle möglichen Mittel zur Verfügung. Warum sollte es ihm da nicht gelingen?«

»Warum sollte er uns das mitteilen? Und wenn er es täte – würde uns das etwas sagen?«

»Der Leitbulle ist kein Detektiv« sagte Jeri. »Er hat zuviel anderes zu tun. Außerdem habe ich ein bißchen Angst. All diese heftigen Raumschiffmanöver. Die haben doch bestimmt was vor, aber was nur?«

»Ich fürchte, das wissen wir alle nur zu gut«, sagte Rogatschow.

Jeri krallte sich fester an die Wandbespannung.


* * *

»Major! Major, aufwachen!«

Jenny schrak hoch. »Ja, Sergeant?«

»Eine Nachricht aus Australien, Ma’am. Sie haben es gesichtet!«

Ach du großer Gott. Sie bemühte sich, die Augen offen zu halten, und sah schlaftrunken auf den Wecker am Bett. Fünf Uhr.

»Es nähert sich schnell, noch etwa eine Stunde bis zum Aufprall «, sagte Sergeant Ferguson.

»Der Admiral…«

»Mailey hat ihn bereits geweckt. Entschuldigung, Ma’am, ich muß die anderen erst zusammentrommeln.«

Der Krisenstab umdrängte in zwei Gruppen die Kaffeekanne und den großen Erdglobus. Ransom und Curtis hatten bereits Kaffee getrunken und studierten jetzt auf dem Globus mögliche Einschlagstellen.

»Ins Wasser, ich wußte es doch«, sagte Ransom.

»Klar«, knurrte Curtis. »Und wieso ausgerechnet im Morgengrauen?«

»Warum ins Wasser?« wollte ein Marineoffizier wissen.

Ohne den Blick vom Globus zu heben, erklärte Ransom: »Ein so großer Meteorit richtet einfach mehr Schaden an, wenn er ins Meer stürzt. Er durchschlägt den Ozeanboden bis ins Erdmagma hinein. Das Wasser leitet die dabei freiwerdenden Energien weiter, und die Hitze des Magmas bringt den Ozean zum Sieden. Wir vermuten, daß etwa eine viertel Milliarde Tonnen Seewasser verdampfen und hochgeschleudert werden wird. Salzregen auf der ganzen Welt…«

Jenny schauderte es bei der Vorstellung. »Wie viele Menschen werden ums Leben kommen?«

»Eine ganze Menge«, sagte Curtis. »Sehen Sie mal!« Er wies vom Indischen Ozean nordwärts. »Durch diese Buchten werden die Tsunamis wie durch Trichter noch höher aufgetürmt, bevor sie sich brechen. Kalkutta und Bombay verschwinden unter Wasser wie auch der Rann von Kutch, ein Salzsumpfgebiet, das sich nur wenige Meter über den Meeresspiegel erhebt – alles weg. Ebenso der Persische Golf, Ostafrika…«

»Wir müssen die Bevölkerung dort warnen.«

»Das haben die Australier bestimmt schon getan«, sagte Ransom.

»Es spielt sowieso keine Rolle.« Admiral Carrells Stimme klang gleichmütig.

Jenny nahm gewohnheitsmäßig Haltung an. »Sir?«

»Wir haben keine verläßliche Nachrichtenverbindung mit Ostafrika. Ich denke, Mr. Ransom hat recht. Falls aber die Australier keine Warnung ausgesandt haben…«

»… werden die Leute es bald auch so merken«, sagte Curtis. »Was ist mit Schiffen oder UBooten? Haben wir nach wie vor keine Verbindung zur UBoot Flotte?«

»Doch«, sagte Carrell. »Unsere Langwellensender funktionieren noch. Ich habe bereits die entsprechenden Befehle erteilt.«

Reynolds kam mit Kaffee. Curtis wies auf eine Stelle auf dem Globus. Reynolds beugte sich darüber, um sie näher in Augenschein zu nehmen.

»Springfluten, Wirbelstürme! Ich wüßte zu gerne genau, wo er aufschlägt«, sagte Curtis. »Vielleicht könnten wir dann ungefähr feststellen, wie sehr das Wetter auf der nördlichen Halbkugel davon beeinträchtigt wird.«

»Mächtig«, sagte Ransom. »Die Stelle liegt sehr nah am Äquator.«

»Dann würde er das Wetter auf beiden Halbkugeln heillos durcheinanderbringen«, sagte Reynolds.

»Furcht und Schrecken«, murmelte Curtis, »Tsunamis, Wirbelstürme, unvorstellbare Regenfälle…« Mit befriedigtem Gesichtsausdruck erhob er sich. »Eins ist sicher, Bellingham bleibt verschont.«

»Wenigstens ein Trost«, sagte jemand.

»Das kann man laut sagen«, sagte Curtis. »Es ist sowieso unser letzter Notanker.«

»Strategisch klug gemacht«, sagte Joe Ransom. »Man sehe sich nur mal an, wo die Springfluten…«

»Hören Sie doch auf!« rief ein junger Marineoffizier.

Jenny beugte sich aufmerksam zu Curtis und Ransom hinüber, die erregt weiterdiskutierten.

Ostwärts würde die Insel Madagaskar Moçambique und Südafrika ein wenig Schutz gewähren, doch würden die Wellen Tansania, Kenia sowie die Sozialistische Republik Somalia überspülen und auslöschen. Im Nordosten würde die arabische Halbinsel unter Wasser gesetzt werden. Das Arabische Meer würde die Welle aufnehmen, und ein Gebirge von Wasser würde sich in den Iran und nach Pakistan hinein ergießen. Keine OPEC mehr, dachte Jenny mit aufblitzender Schadenfreude. Allerdings auch kein Erdöl… Wassermassen würden Indien im Norden bis zu den Gebirgen des Himalaja zudecken. Die Bucht von Bengalen wäre ihr nächstes Ziel, danach würden sie über Burma bis nach China hineinschwappen. Die Inseln in der JavaSee würden überschwemmt werden, und schließlich würde die Welle nach Westaustralien gelangen…

»Großer Gott«, sagte der Marineoffizier, dem es plötzlich wie Schuppen von den Augen zu fallen schien. »Bestimmt werden sie zum Schluß zu landen zu versuchen, aber wo?«

»Deswegen ist es ja so eine…«

»… großartige Strategie, genau, Mr. Ransom«, sagte Admiral Carrell. »Wohin sollen wir unsere Flotten schicken? Nach Indien? SaudiArabien? Australien? Afrika?«

»Nach Südafrika«, erläuterte Curtis. »Sehen Sie mal! Der größte Teil des Landes, in dem es Industrie gibt und in dem sich die weiße Bevölkerung aufhält, liegt auf Meereshöhe. Den vernichten die Flutwellen völlig. Hinter der Küste die Drakensberge mit der Großen Randstufe, alles, was in diesem östlichen Abschnitt der Randaufwölbung des südafrikanischen Binnenhochlandes liegt, dürfte unbeschädigt bleiben. Also landen sie bei Johannesburg und Pretoria, und flugs haben sie einen rundum abgeschlossenen Stützpunkt mit Industrie und Infrastruktur.«

Admiral Carrell beugte sich vor, um den Globus näher ins Auge zu fassen. »Vielleicht…«

Ein Horn ertönte. »Da hören Sie es. Zehn Minuten bis zur geschätzten Aufschlagzeit.«

Es wurde still im Raum.


* * *

Der kaum wahrnehmbare Schub wurde noch geringer, als der Herr der Herde Pastempihkeph sich zur Kommandobrücke aufmachte.

Alles ging seinen Gang. Kuthfektilrasp wandte sich um und sagte: »Der FUSS ist auf das Ziel ausgerichtet. Der Herr der Verteidigung kann uns jederzeit von ihm lösen.«

»Tut das!« gebot Pastempihkeph. »Herr der Verteidigung, Ihr habt jetzt das Kommando.« Er setzte sich auf sein Polster und legte seine Krallen auf die in die Wand eingelassenen Fußhalterungen.

Durch das ganze Raumschiff hallte es: »Klar bei Fußhalterungen! Schub in acht Atemzügen.«

Der Herr der Herde schloß seine Krallen fest um die Stangen. Was kann schon fehlschlagen? Das Triebwerk wird nicht ausfallen; es läuft seit vielen AchtTages Zeiträumen zuverlässig. Die Beutewesen können dem FUSS jetzt unmöglich noch Einhalt gebieten. Könnten sie etwas gegen die Bote ausrichten, hätten sie früher gehandelt.

Die Bote nahm langsam und stetig Fahrt auf, drehte sich um ihre Achse und in sanftem Bogen von Winterheim weg.

Während die von Kratern zerklüftete Masse aus Nickel und Eisen davonschwebte, wurde eine herrlich blauweiße Sichel sichtbar. Schub setzte machtvoll ein, und der Herr der Herde spürte, wie es ihn ins Polster preßte.

Als der Schub größer war als die Schwerkraft der Heimatwelt, erreichte die Beschleunigung ihren Höhepunkt. Dann begannen die Triebwerke der Grifflingsschiffe anzuspringen, und erneut wurde der Schub größer. Die Sichel am Himmel lag nun riesengroß genau hinter ihnen. Die Boteentfernte sich mit wachsender Geschwindigkeit von Winterheim. Dennoch würde man die Einschlagstelle sehen können.

Der Herr der Herde verlangte einen Blick in die Unterkunft der gefangenen Erdlinge. Sie hatten den Absonderungspferch sicher erreicht und lagen jetzt bäuchlings auf der Polsterung. Es schien ihnen unbehaglich zumute zu sein.

Je mehr Grifflingsschiffe sich paarweise von ihren Halterungen um das Heck des Raumschiffs herum lösten, desto geringer wurde der Schub. Der Herr der Herde sah, wie ihre pulsierenden Triebwerksflammen in weitgeschwungenen Bögen dem Blick entschwanden. Sie mußten stark verzögern, um auf die Umlaufbahn um Winterheim herum zu gelangen. Die letzten vier gruppierten sich als Geleit in der Nähe des Mutterschiffs. Sollte doch eine tödliche Gefahr von Winterheim aufsteigen, konnten sie helfend eingreifen.

Aber nichts brach durch die dichte Wolkendecke. Inzwischen lag schon die halbe Scheibe im Hellen, und der FUSS war im Schatten der Nachtseite des Planeten unsichtbar geworden.

Dann plötzlich sah man am Rande des Schattens einen Stecknadelkopf rot aufleuchten. Er wurde orange, weiß, grellweiß, alles im Bruchteil eines Atemzuges. Der Herr der Herde Pastempihkeph verengte die Pupillen. Es genügte nicht. Er wandte sich ab. Das helle Licht reflektierte gleißend an den Wänden der Steuerzentrale, blieb eine Weile und schwand schließlich. Der Herr der Herde sah wieder hin.

Eine grellweiße Fackel wurde dunkler, breitete sich aus, wurde rot. Wolkenringe bildeten sich und vergingen in einer sich ausdehnenden Flammenhalbkugel. Wolken schossen durch die Stratosphäre und verbargen, was unter ihnen lag.

Fistartihthaktan sagte sachlich: »Wir haben auf ihrem Meeresboden bestimmt unseren Fußabdruck hinterlassen.«

»Herr des Angriffs, der FUSS liegt genau in der Mitte jenes Wassergebietes. Ist das die Stelle, wo Ihr ihn hinhaben wolltet?«

»Er ist genau im Ziel«, erklärte Kuthfektilrasp.

»Gut gemacht.«

Die Bote flog mit sechzig Makasrapkithp pro Atemzug an Winterheim vorbei; aber auf Grund der Erdrotation blieb der Fußabdruck aus dem Raumschiff sichtbar. Eine Feuerkugel stand über der Lufthülle des Planeten. Wie ein flammender Blutegel klebte sie an seiner Masse.

Eine breite Wolkendecke warf orangefarbenes Licht zurück. Die Feuerkugel selbst stand in einem Kranz von wolkenloser Luft. Ein ringförmiges Wellenmuster unter der Wolke dehnte sich mit schrecklicher Geschwindigkeit immer weiter aus.

»Die durch den Ozean verlaufende Druckwelle verzerrt die Wolkendecke«, sagte Kuthfektilrasp. »Wie Ausbuchtungen unter einem zusammengebrochenen Zelt. Unsere Spezialisten werden die Umrisse der Kontinente und des Meeresbodens daran erkennen können, wie sie die Ausbreitung der Welle verzögern.«

Es war geheimnisvoll und entsetzlich. Die nüchterne Feststellung ließ erahnen, daß unter den Wolken Millionen von Beutewesen in den Wassermassen den Tod finden würden.

»Damit haben wir uns mit den Vorlingen auf eine Stufe gestellt «, meldete sich Fistartihthaktan.

Den Herrn der Herde durchfuhr ein Ruck. »Ist es Euch damit ernst?«

»Ich weiß nicht. Welches Entsetzen liegt unter jenem gnädigen Laken aus Wassertröpfchen? Wie viele Beutewesen werden wir ertränken? Wieviel Land werden wir dem Zugriff und der Nutzung durch jegliche Lebewesen entziehen? Wie hat unsere eigene Welt ausgesehen, als die Vorlinge umkamen und unsere Fithp noch aus gehirnlosen wilden Tieren bestand?«

Die Wolkendecke trieb jetzt zurück, in die Feuerkugel hinein. Eine weitere Schicht Wolken bildete sich hoch über ihr in der Stratosphäre und begann sich auszudehnen. Wellen aus blauem Licht entstanden und breiteten sich aus. Abstrakte Bilder, schön, aber von furchterregender Größe…

Hoffentlich haben wir keine neue Kunstform erfunden. Ehrfurcht und Schrecken: Der Herr der Herde trampelte sie tief in die untersten Schichten seines Bewußtseins. »Wir sind gekommen, um Winterheim zu erobern. Wissen die Thaktanthp etwas, das uns dabei leitet?«

»Vielleicht. Wir setzen doch wohl voraus, daß die Vorlinge den natürlichen Zustand der Welt geändert haben? Ihrer, unserer Welt. Jetzt ist Winterheim unsere Welt. Seht, wie wir ihren natürlichen Zustand verändern. Was hat die Vorlinge ihr Eingreifen gekostet? Haben wir es besser gemacht?«

Haben wir es besser gemacht? Wir müssen noch einmal miteinander darüber sprechen. Aber dieser Weg wurde vor langer Zeit eingeschlagen, und wir haben ihm zu folgen. »Herr des Angriffs. Ihr könnt das Kommando über die Grifflingsschiffe übernehmen. Beginnt mit der Landung!«


* * *

Anton Villars, der Kommandant des USamerikanischen UBoots Ethan Allen, sah angestrengt durch das Periskop und bemühte sich, ruhig zu bleiben. Es fiel ihm nicht leicht.

Vor etwa einer Stunde war die Mitteilung gekommen. Zwar waren die Langwellensender zuverlässig, aber es dauerte eine Weile, bis die Punkte und Striche der Morsebuchstaben von Hand aufgenommen und anschließend durch die Entschlüsselungsmaschine geschickt worden waren.

Um einen Befehl zum Angriff auf die Sowjetunion konnte es sich nicht handeln. Villars war darauf eingestellt gewesen, seine PoseidonRaketen gegen einen unsichtbaren Feind im Weltraum zu richten. Statt dessen las er jetzt:

GROSSES OBJEKT WDH GROSSES OBJEKT WIRD 22’ 30“ S BREITE 64’ 2’’ OE LAENGE 14.55 H EINHEITSZEIT AUFSCHLAGEN STOP BEOBACHTEN OB SICHER STOP GESCHAETZTE AUFSCHLAGENERGIE 4000 MEGATONNEN WDH 4000 MEGATONNEN STOP JEGLICHER HINWEIS WERTVOLL STOP HALS- UND BEINBRUCH CARRELL

Sicher? Vor viertausend Megatonnen gibt’s keine Sicherheit, Am liebsten wäre Villars auf Tauchfahrt gegangen, um mit Höchstgeschwindigkeit die Flucht zu ergreifen.

An Steuerbord leuchteten die Farben des Lebens von der Insel Rodriguez. Schon längst war der Dschungel weithin dem Ackerland gewichen. In der Mitte stieg jäh ein schroffer Felsen an, ragte ein Gipfel von fünfhundert Metern Höhe auf. Wellen brachen sich an dem die Insel umschließenden Korallenriff. Es würde mehr Schutz vor dem Tsunami bieten als das offene Meer, aber es bildete zugleich auch eine Gefahr.

Fischerboote strebten durch das Riff der Insel zu. Sie waren dem Untergang geweiht. Er konnte nichts für sie tun.

Gerade hatte die Abenddämmerung eingesetzt. Wolken bedeckten den Himmel. Es würde schwer sein, etwas kommen zu sehen. Viertausend Megatonnen. Größer als jede Bombe, die wir je geplant, geschweige denn gebaut haben.

Angespannt wartete die Besatzung. John Antony, sein Vize, stand in seiner Nähe.

»Allmählich müßte es jetzt soweit sein«, sagte Antony.

»Falls die Schätzung stimmt.«

»Wenn die danebenliegt, sind auch die Koordinaten falsch.«

Weiß ich doch. Ich habe auf der Marineakademie dasselbe gelernt wie du.

Jemand lachte nervös. Wie immer hatte die Mitteilung als Latrinenparole bereits die Runde im Boot gemacht.

Kameras arbeiteten. Villars überlegte, wie viele es überstehen würden. Er sah durch das dunkelste der vorhandenen PeriskopFilter. Viertausend Megatonnen…

Mit einemmal leuchteten die Wolken so grell wie die Sonne. »Eintrag im Logbuch«, rief er. »Erster Lichtblitz um 18 Uhr 54 20 Sekunden.« Wo? Wo würde das Ding herunterkommen?

Im gleichen Augenblick entstand in den Wolken nordöstlich eine Öffnung, eine Helligkeit wie von Gottes eigenem Fotoblitz, und die Kameras waren hinüber. »Reservekameras aufstellen«, brüllte Villars seinen Männern zu, die bereits damit beschäftigt waren. Sein rechtes Auge nahm nichts wahr als ein Nachbild. Er preßte das linke ans Periskop.

Er sah gleißenden Lichtschein und kniff das Auge zusammen. Helligkeit stieg aus einem Loch im Meer blendend auf, das immer größer wurde, ein Loch mit glattgebogenen Rändern, Nebelschwaden strömten heraus, und ein kegelförmiges Flutlicht wies gerade nach oben. Der Strahl wurde breiter: die Öffnung erweiterte sich. Wolken entstanden und verschwanden um eine glatte, gekrümmte Wasserwand, die sich allmählich auf das UBoot zuschob.

Der Rand einer Sonne ließ sich über der Wand gerade noch ausmachen.

»Etwa vierzig Seemeilen ostnordöstlich von unserer gegenwärtigen Position. Das wär’s.« Villars richtete sich auf. »Kameras einholen. Periskop einfahren. Runter auf dreißig Meter.« Wie tief? Je tiefer wir gehen, desto sicherer sind wir vor Oberflächenerscheinungen, aber wenn die seismischen Wogen wirklich gewaltig sind, können sie so viel Wasser auf das Boot packen, daß es uns zermalmt. »Maschinen volle Kraft. Kurs hundertfünfunddreißig Grad.« Damit bleiben wir im tiefen Wasser und haben Rodriguez zwischen uns und dem Ding. Hoffentlich nützt es was.

Jetzt haben wir also gesehen, was noch niemand gesehen hat – jedenfalls keiner, der darüber berichten konnte. Nur noch das Boot in Sicherheit bringen.

Die Ethan Allen stand im Begriff, gegen den größten Tsunami in der Geschichte anzukämpfen. Villars sah auf die Uhr. Diese Springfluten erreichten Geschwindigkeiten von zwei- bis vierhundert Meilen pro Stunde. Sagen wir vier bei der hier. Sechs Minuten…

»Kurs fünfundachtzig Grad Steuerbord legen.«

»Fünfundachtzig Grad Steuerbord liegen an«, kam es vom Rudergänger zurück.

»Die Besatzung warnen«, sagte Villars.

»Hört euch das nur an, klingt ganz wie Wasserbomben.«

Es könnten auch welche sein…

Das Schiff drehte sich. Villars spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß. Irgendwo brach ein schrilles Kreischen blitzartig ab, und er hörte einen dumpfen Schlag.

Minuten später ertönte es: »Eine starke Strömung, Käpt’n. Wir werden nach Nordosten gezogen.«

»Gut auf Kurs halten.« Hol’s der Henker, wir haben es überlebt!


* * *

Nachrichten kamen um neun Uhr morgens, wenn es welche gab. Marty bemühte sich, sie nie zu verpassen. Fox war es nicht immer der Mühe wert.

Ganz gleich, wie früh Marty aufstand, immer war Fox schon auf und hatte einen Topf Kaffee fertig. Es war sinnlos, ihn zu sparsamem Umgang mit dem Kaffee zu mahnen.

»Wenn er alle ist, kommen wir ohne aus. Bis dahin haben wir welchen«, lautete seine stereotype Antwort auf Martys inständige Bitten. »Weißt du, was mit dir los ist?«

Marty sah von dem Radio auf, an dessen Einstellknopf er gerade herumdrehte. »Wie?«

»Du hängst immer noch an der Welt, die du hinter dir gelassen hast. Solange du dir Sorgen um die Zivilisation machst, ist das nur eine weitere Möglichkeit, wie dich die Wüste umbringen kann. Entspann dich! Wir können sowieso nichts unternehmen. Wir haben bereits alles aufgegeben, worüber die anderen so verbissen herrschen. Jetzt stehen wir auf eigenen Füßen.«

»Schon richtig.« Sorgfältig suchte Marty weiter. »Du meinst, daß du es geschafft hast, was?« Er hatte Draht als Wurfantenne über die Spitze eines hohen Pfostens gelegt, den jemand vor Jahren als Flaggenmast errichtet hatte. Es funktionierte ganz gut.

Vier Stunden nach Sonnenaufgang war Shoshone normalerweise der reinste Glutofen. An diesem Morgen hatten sich schon ziemlich früh sonderbare fasrige Wolken gebildet, die sehr hoch standen. Sie waren nicht dicht genug, um die Sonne zurückzuhalten, aber offensichtlich hatten sie eine gewisse abschirmende Wirkung. Trotzdem trieb ihnen die Hitze den Schweiß aus den Poren.

»Ich ruh mich nun ein Weilchen aus«, sagte Fox. »Wenn es sich mal wieder lohnen sollte, rette ich von mir aus auch die Welt.«

»Schön, niemand kümmert sich um einen Niemand von Schlangenjäger, wenn der Himmel voller glubschäugiger Ungeheuer ist, und Atombomben auf Kansas lassen dich ja kalt… Ich glaube, jetzt hab ich ‘nen Sender.«

»Kaltlassen ist wohl nicht das richtige Wort.« Fox hatte seine Luftmatratze auf einen ebenen Felsen gelegt. Die Hitze schien ihm nichts auszumachen. Mit dem Kaffeebecher neben sich auf einem flachen Stein machte er einen geradezu unanständig behaglichen Eindruck. »Fragt sich nur, wer einem noch zuhört.«

»Pst.«

»Meine Damen und Herren, der Präsident der Vereinigten Staaten.«

»He, John, wir haben den Präsidenten drin.«

»So?« Immerhin rückte Fox seine Matratze näher heran.

»Meine lieben Mitbürger, heute morgen haben die Eindringlinge aus dem Weltraum einen großen Asteroiden auf die Erde abgeworfen. Er ist auf der südlichen Halbkugel niedergegangen, und zwar im Indischen Ozean. Die Wirkung glich der einer gewaltigen Bombe, und es muß mit erheblichen Wetterveränderungen auf der ganzen Welt gerechnet werden.«

»So, so, ein Asteroid«, murmelte Fox. Er sah zum Himmel, und Marty folgte seinem Blick. Mehr Wolken waren aufgezogen. Sie wirbelten herum, änderten ihre Gestalt, wurden dicht und dunkel, trieben nach Osten wie Schaum auf einer sich brechenden Woge und schneller als bei einem Wirbelsturm.

»Damit wird das Projekt ›Gewächshaus‹ noch weit wichtiger als zuvor. Ich rufe Sie alle auf, Gemüse anzubauen, wo Sie können – im Hause oder draußen, im Garten oder in Blumentöpfen. Wer Gewächshäuser bauen kann, möge das tun. Behördenvertreter und Fachleute desLandwirtschaftsministeriums sind dabei behilflich. Amerika ist, was die Lebensmittelversorgung betrifft, auf sich selbst gestellt.«

Uns hier macht das nichts aus, dachte Marty. Aber das Grinsen wollte ihm nicht so recht gelingen.

»Das Wetter auf der ganzen Welt«, wiederholte Fox. »Gott im Himmel, sollten die ‘ne DinosaurierKeule runtergeschmissen haben? Vom Indischen Ozean bis hierher. Wie lange dauert das? Marty?«

»Keine Ahnung.«

»Wieviel Sprit haben wir noch?«

»Knapp zwanzig Liter.«

»Wir sollten besser den Kleinlaster auftanken. Wahrscheinlich brauche ich ihn.«

Gegen Mittag bedeckten die Wolken den Himmel vollständig. Die Sonne, die seit Martys Ankunft vor zwei Tagen wie ein tödlicher Feind heruntergebrannt hatte, war verschwunden. Marty musterte Fox mit einer gewissen Besorgnis, denn dieser beobachtete den Himmel, als fürchte er einen wahren Säureregen.

Der Regen kam um eins. Die ersten großen Tropfen klatschten auf das Fahrerhaus des Kleinlasters, und Marty hob das Gesicht, um sie zu lecken. Klares, reines Wasser… aber nein. Furcht beschlich Marty, als er Salz schmeckte und Sand auf der Zunge spürte. »Laß uns abhauen«, rief Fox ihm zu.

»Wohin?«

»Los, komm schon!«

Marty folgte ihm in die Kabine. Er hatte gerade noch Zeit, den Hunden zu pfeifen, damit sie auf die Ladefläche springen konnten. Er machte sich etwas Sorgen um Darth, der schließlich noch so jung war, daß er möglicherweise versuchen würde, während der Fahrt abzuspringen.

»Der Teufel soll die Hunde holen, sie können nicht mal bleiben und das Lager bewachen.«

»Natürlich können sie das, wenn du das möchtest«, sagte Marty. »Kommen wir denn wieder?«

»Wie? ja, natürlich.«

»Dann halt an, damit ich ihnen sagen kann, was sie tun sollen!«

»Wird gemacht.«

Fox hielt an. Marty schärfte den Hunden ein: »Aufpassen!« Den Welpen nahm er mit.

Chaka hob traurig den Blick, gehorchte aber.

Jetzt regnete es in Strömen. In dieser Gegend im Juli. In Soshone, über dem Tal des Todes? Schwemmsand vom Meeresboden, wenn der Meteor im Indischen Ozean eingeschlagen ist? Ich kann es nicht glauben. »Wohin fahren wir?«

»Ich kenn da ‘ne Stelle. Komm schon!« Fox fuhr die unbefestigte Straße zur Hauptstraße hinab.

Ein großer Tanklaster stand an der Raststätte. Bestimmt enthält er genug Benzin, um uns beide hundert Mal nach Bellingham zur Wagenburg zu bringen, durchfuhr es Marty. Wohin er wohl unterwegs ist?

Nach einer Weile bogen sie von der Asphaltstraße nach links auf einen Schotterweg ein.

Sie umrundeten einen Gipfel und fuhren auf ein breites Felsband.

Fox hielt an und stieg aus. Marty folgte ihm. Darth wich ihm nicht von der Seite und drückte sich an sein Bein.

Das Tal des Todes lag unter ihnen, unfruchtbar wie die Oberfläche des Mondes. Eher noch wie Merkur, dachte Marty, bei der entsetzlichen Hitze. Er konnte kaum etwas sehen. Der Regen behinderte die Sicht, und auch Nebel erhob sich jetzt. Das Wasser verdampfte, sobald es den Boden berührte.

Fox gestikulierte, wie Satan, als er Christus die Welt anbot. »Das hat die Leute damals in die Falle getrieben, die ersten, die hier gelebt haben. Sieh nur, wie sacht es nach unten geht. Es ist gerade so geneigt, daß ein einmal hinabgefahrenes Pferdefuhrwerk nicht mehr wieder zurück kann.«

»Ich war hier schon mal.«

»Und sicher hast du alles gesehen, auch die Dünen. Aber hast du mal auf das Leben hier geachtet?« Der Regen war laut, aber John Fox’ Stimme übertönte ihn. Es klang, als hielte er einen Vortrag vor einem riesigen Publikum. »Es ist hier wie auf einem anderen Planeten. Pflanzen und Tiere haben sich entwickelt, die nirgendwo sonst überleben könnten. Wenn die Bedingungen…«

Einen Augenblick lang verschluckte das Dröhnen von Wind und Regen sogar John Fox’ Stimme. Es kam Marty vor, als habe man ihm eine Badewanne voll Salzwasser über den Kopf gegossen. »John, was ist eigentlich los?« schrie er.

»Die verdammten Außerirdischen gestalten die Erde nach ihren eigenen Vorstellungen um! Sie haben über dem Indischen Ozean einen Asteroiden abgeworfen! Und ich habe gegen Atomkraftwerke gekämpft. Ich hätte nach ihnen schreien sollen, damit wir Energie für den Antrieb von Laserraketen hätten! Ich Trottel habe mich gegen das Raumprogramm eingesetzt. Sie haben alles auf der Erde zerstört, wo der Mensch leben kann! Der Henker soll euch holen«, rief er zum Himmel empor. »Überzieht die Erde mit Feuer, stapelt Leichen in Pyramiden auf! Wir können sonstwo leben! Wir verstecken uns in den Wüsten, auf Berggipfeln und auf den Polkappen. Eines Tages kommen wir raus und bringen euch alle um!«

Das Tal des Todes brodelte vor Dampf. Man sah nichts. Dennoch starrte John Fox in die Suppe hinein, wo er Alptraumgestalten sah. »Ehemaliger Meeresboden«, sagte er mit fast normaler Stimme. »Ein Salzmeer. Alle werden umkommen.«

Der Regen fiel.

Загрузка...