Sogar die technischen Experten der Allianz mussten zugeben, dass die Syndik-Einrichtungen im Kaliban-System gründlich eingemottet worden waren. Die Anlagen hatte man heruntergefahren, die Energieversorgung getrennt oder mitgenommen, und alles Übrige war eingepackt oder weggelegt worden. Der Atmosphäre in den Anlagen hatte man so viel Feuchtigkeit wie möglich entzogen, sie dann abgepumpt und die Anlagen wieder versiegelt. Alles war tiefge-kühlt worden, damit aber auch vor den Auswirkungen von Tempe-raturschwankungen, ätzenden Gasen und anderen Bedrohungen geschützt.
Die Bilder aus den Einrichtungen zeigten auf den ersten Blick dunkle Räume, die so wirkten, als seien die Arbeiter nach einem langen Tag eben erst nach Hause gegangen. Als Geary auffiel, dass alles unnatürlich scharf dargestellt war und dass die Lichtkegel nicht streuten, wie es in einer Atmosphäre der Fall gewesen wäre, wurde ihm schon anhand der Bilder klar, dass dort Luftleere herrschte.
»Sehen Sie sich das nur an«, kommentierte Desjani die Übertragung. Sie saßen im Konferenzraum, doch diesmal war der Tisch so klein, wie er auch tatsächlich war. Stattdessen wurde über dem ab-gewandten Ende des Tischs ein großes Fenster in den Raum projiziert, das die Bilder zeigte, die von den Scouts übertragen wurden, während sie sich durch die Syndik-Anlagen bewegten. Der spezielle Scout, dessen Weg sie derzeit verfolgten, bewegte sich allem Anschein nach durch den Sitz der Syndik-Regierung im Kaliban-System. Reihenweise waren dort identische Schreibtische zu sehen, auf jedem von ihnen nahmen die darauf angeordneten Objekte exakt die gleichen Positionen ein. »Die müssen Mitarbeiter gehabt haben, deren einzige Aufgabe es war, die Schreibtische dieser Leute daraufhin zu überprüfen, ob sich wirklich alles dort befand, wo es sein sollte, wenn sie ihren Platz verließen.«
»Ich habe Leute gekannt, denen so was Spaß gemacht hat«, merkte Geary an.
»Ich auch.« Plötzlich musste Desjani grinsen. »Und hier kommen wir zu den Schreibtischen derjenigen, die als Allerletzte gegangen sind.«
Unwillkürlich begann Geary zu grinsen. In der letzten Reihe herrschte auf mehreren Schreibtischen Unordnung. Vor langer Zeit ausgetrocknete Trinkbecher standen zwischen verstreut liegenden Papieren und Dokumenten, und ein paar Objekte waren womöglich Reste von irgendeinem Imbiss, die vor langer Zeit vertrocknet und dann tiefgefroren worden waren. »Sieht so aus, als wären die In-spektoren nicht als Letzte gegangen, nicht wahr? Ah, das könnte interessant sein.« Der Allianz-Scout betrat das Büro des obersten Be-amten der Syndik-Regierung im System. Dort standen noch immer ein teurer Schreibtischstuhl und einige wertvolle Möbel zusammen mit einer Konsole. »Ich frage mich, wie das wohl sein muss, wenn man einen Ort für immer verlässt. Einen Ort, an dem man wer weiß wie lange gearbeitet hat und von dem man weiß, dass man niemals dorthin zurückkehren wird. Und von dem man weiß, dass niemand sonst den Platz dort einnehmen wird, weil dieser Platz einfach nicht mehr da ist.«
»Das müsste wohl in etwa so sein, als würde man zu einer Crew gehören, die ein Schiff außer Dienst stellt«, überlegte sie.
»Ja. Haben Sie das schon mal mitgemacht?«
Einen Moment lang zögerte Desjani. »Seit ich bei der Flotte bin, be-saßen wir nicht den Luxus, allzu viele Schiffe außer Dienst zu stellen, Sir.«
Geary fühlte, wie seine Wangen vor Verlegenheit zu glühen begannen, als ihm bewusst wurde, was für eine gedankenlose Frage er soeben gestellt hatte. »Entschuldigen Sie. Das hätte ich eigentlich besser wissen müssen.« Wenn die Flotte Schiffe im Akkord baute, um die Verluste wettzumachen, konnte man mit Sicherheit davon ausgehen, dass kein Schiff in den Genuss kam, zum Ende seiner optimalen Dienstzeit sanft in den Ruhestand geleitet zu werden.
Aber Desjani schien seine Bemerkung längst vergessen zu haben.
Mit einem Nicken deutete sie wieder auf das Bild. »Sie können erkennen, wo sich lange Zeit persönliche Gegenstände befunden hatten. Wer immer dieses Amt innehatte, er verbrachte viele Jahre in dem Amtszimmer dort.«
Geary kniff die Augen ein wenig zusammen und konnte die verräterischen dunkleren Quadrate und Rechtecke an den Wänden ausmachen. »Sieht so aus. Ich frage mich, wohin derjenige wohl gegangen ist, als er Kaliban verließ.«
»Das macht keinen Unterschied. In jedem Fall hat er die Kriegsan-strengungen der Syndikatwelten unterstützt.«
Eigentlich wollte Geary nicht darauf antworten, aber er wusste, es entsprach der Wahrheit. »Ja. Was ist das da?«
Desjani stutzte, da sie auf das gleiche Objekt wie er aufmerksam geworden war. Ein flaches, weißes Rechteck auf der Tischplatte. Der Scout, dessen Erkundungsgang sie mitverfolgten, begab sich auf die andere Seite des Schreibtischs, von wo aus er das Objekt besser betrachten konnte. »Das ist eine Notiz«, meldete er. »Ausgeblichen, dennoch lesbar.« Er beugte sich vor, um sie vorzulesen. »Universal-Standardschrift. ›Wer immer das lesen mag: Die linke… Schublade… klemmt. Der Timer der… Kaffeemaschine… funktioniert nicht.
In der rechten… Schublade befinden sich… Süßstoff und Kaffee-pulver… Kümmern Sie sich… um alles.‹« Der Scout richtete sich auf. »Die Unterschrift kann ich nicht entziffern.«
Desjanis ernste Miene wich einem Lächeln, das nur langsam wieder verschwand. »Captain Geary, zum ersten Mal seit ich denken kann, wünsche ich mir, ich hätte einen Syndik kennengelernt. Derjenige, der diese Notiz geschrieben hat, kommt mir wie jemand vor, den ich sympathisch finden könnte.« Einen Moment lang verstummte sie. »Ich habe nie gedacht, ein Syndik könnte jemand sein, den ich kennenlernen möchte.«
Geary nickte verstehend. »Eines Tages, so unsere Vorfahren wollen, wird dieser Krieg ein Ende nehmen, und dann werden wir die Gelegenheit haben, die Syndiks wieder als ganz normale Leute kennenzulernen. Nach allem zu urteilen, was ich über diesen Krieg weiß, kann ich mir nicht vorstellen, dass Sie das allzu sehr interessieren wird. Aber es ist notwendig. Wir können unsere Beziehungen zu den Syndiks nicht für alle Zeit vom Hass beherrschen lassen.«
Erst nachdem sie länger über seine Worte nachgedacht hatte, erwiderte Desjani: »Sonst sind wir kein bisschen besser als sie. Das Gleiche sagten Sie auch schon über unseren Umgang mit Gefangenen.«
»In gewisser Weise ja.« Er tippte auf die Kommunikationstaste, um mit dem Scout zu reden. »Können Sie etwas dazu sagen, vor wie langer Zeit das alles aufgegeben wurde?«
Der Scout zeigte auf das Dokument. »Das Datum auf dem Blatt entspricht dem Syndik-Kalender. Einen Augenblick, Sir, ich rechne es eben um.« Sekunden später redete der Mann weiter: »Vor zweiundvierzig Jahren, Sir, wenn wir davon ausgehen, dass dieses Datum richtig ist. Der zurückgelassene Kaffee dürfte nicht mehr allzu frisch schmecken, aber vermutlich immer noch besser als das, was wir auf unseren Schiffen angeboten bekommen.«
»Gutes Argument. Danke.« Geary ließ die Taste los und sah zu Desjani. »Zweiundvierzig Jahre. Der Verfasser dieser Notiz könnte inzwischen tot sein.«
»Es ist ja nicht so, als hätte es eine realistische Chance gegeben, dieser Person zu begegnen«, tat Desjani das Thema ab. Ihre Haltung deutete nun darauf hin, dass sie die verpasste Gelegenheit nicht sehr lange beklagen würde.
»Captain Geary?« Neben dem Fenster mit dem vom Scout übertra-genen Bild tauchte ein kleineres Fenster auf, das Colonel Carabali und einen Major der Marines zeigte. Beide Marines trugen ihre komplette Ausrüstung und schienen sich in irgendeiner Syndik-Einrichtung zu befinden. Geary warf einen Blick auf das Systemdisplay gleich daneben und zoomte einen Ausschnitt heran, um Carabalis Position festzustellen. Sie hielten sich im gleichen Gebäude auf wie der Scout, mit dem sich Geary gerade eben unterhalten hatte. »Hier ist etwas Sonderbares.«
Geary fühlte, wie sich sein Magen leicht verkrampfte. »Im Sinne von gefährlich?«
»Nein, Sir, das glauben wir nicht. Nur… eigenartig.« Carabali deutete auf ihren Begleiter. »Das ist Major Rosado, mein bester Experte für Syndik-Computersysteme.« Rosado salutierte kurz. »Er sagt, dass nicht nur alle Dateien gelöscht und sämtliche Back-up-Medien weggebracht wurden, sondern es wurde auch das Betriebssystem komplett entfernt.«
»Und das ist sonderbar?«, fragte Geary nach kurzem Überlegen.
»Ja, Sir«, bestätigte der Major. »Es ergibt keinen Sinn. Warum sollte sich jemand die Mühe machen, das Betriebssystem zu entfernen?
Wir verfügen über Kopien des Syndik-Codes, an die wir auf verschiedenen Wegen gelangt sind. Wir können also die Computer wieder in Gang setzen. Und ein fehlendes Betriebssystem machte alles nur unnötig mühsamer, wenn die Syndiks hierher zurückkämen.«
»Wissen die Syndiks, dass wir Kopien haben?«
»Die wissen, wir haben Kopien von weitaus neueren Versionen als den Systemen, mit denen diese Antiquitäten liefen, Sir.«
Diese »Antiquitäten« sind sehr wahrscheinlich ein ganzes Stück jünger als ich. »Fällt Ihnen ein Grund ein, warum die die Betriebssysteme gelöscht haben?«
Major Rosado fühlte sich sichtlich unbehaglich. »Ich kann mir nur einen Grund vorstellen, Sir.«
»Und zwar?«, bohrte er nach.
»Sir«, begann er widerstrebend. »Sie würden das Betriebssystem entfernen, wenn sie Angst hätten, jemand anders als wir könnte nach dem Rückzug der Syndiks auf diese Computer zugreifen. Jemand, von dem sie glauben, dass er keine Kopien ihres Codes besitzt.«
»Jemand außer uns?« Geary sah von Desjani zu Carabali. »Wer denn?«
»Eine… eine dritte Seite.«
»Es gibt keine dritte Seite«, antwortete Desjani. »Es gibt nur uns und die mit uns verbündeten Planeten auf der einen und die Syndiks auf der anderen Seite. Sonst ist da niemand.«
»Es soll sonst niemand da sein«, berichtigte Carabali sie. »Aber wie es aussieht, war genau das die Sorge der Syndiks. Jemand, der keinen Zugriff auf Software hat, von der man annehmen darf, dass jeder Mensch darauf Zugriff hat.«
»Reden Sie etwa von einer nichtmenschlichen Intelligenz?«, warf Desjani ein. »Eine solche Intelligenz haben wir nie entdecken können.«
»Das ist richtig«, meinte Carabali mit einem Achselzucken. »Aber wir wissen nicht, was sich jenseits des Syndik-Gebiets befindet. Den Zugang dorthin hatten sie uns schon vor Ausbruch des Krieges aus angeblichen Sicherheitsgründen verweigert.«
Geary drehte sich herum, damit er sich das Sternendisplay ansehen konnte. Sterne wie Kaliban waren weit vom Gebiet der Allianz entfernt, aber vom äußeren Rand des Syndik-Territoriums gerechnet, war dieses System nicht so weit von den bekannten Grenzen des Syndikatwelten entfernt. »Wenn diese Spekulation zutrifft, dann müssen sie von dieser dritten Seite bereits vor zweiundvierzig Jahren gewusst haben, als sie hier alles dichtmachten. Könnten die ein solches Geheimnis so lange geheimhalten?«
Wieder reagierte Carabali mit einem Schulterzucken. »Das würde von vielen Faktoren abhängen, Sir. Weder ich noch der Major sagen, dass solche Wesen existieren. Wir wollen damit nur sagen, dass es die einzige Erklärung ist, die wir für das Verhalten der Syndiks beim Verlassen dieses Systems finden können.«
»Wenn solche Wesen irgendwo da draußen existieren«, gab Desjani zurück, »wären wir ihnen dann nicht bereits längst begegnet?«
»Vielleicht kommt es ja noch dazu«, warf Geary ein. »Gibt es irgendwelche Flottenvorschriften für den Fall, dass es zu einem Kontakt mit Nichtmenschlichen kommt?«
Desjani schaute ihn ratlos an. »Ich weiß nicht. Es gab nie eine Notwendigkeit, darum ist mir nicht bekannt, ob sich jemand schon mal damit befasst hat. Vielleicht existiert wirklich etwas, aber das muss dann uralt sein. Aus der Zeit vor dem Krieg.« Geary ging davon aus, dass er seine Reaktion auf ihre letzte Bemerkung gut überspielt hatte, denn Desjani redete ungerührt weiter: »Aber wie sollte eine nichtmenschliche Intelligenz bis nach Kaliban gelangen, wenn die Syndiks das nicht wollen? Kaliban liegt schließlich nicht im Grenzgebiet des Syndik-Territoriums.«
Colonel Carabali machte ein entschuldigende Miene, sagte dann jedoch: »Wenn nichtmenschliche Intelligenzen hergekommen sind, dann könnten sie auf eine andere Art mit Überlichtgeschwindigkeit reisen als wir. Gegenwärtig verfügen wir Menschen über zwei Methoden, aber es kann durchaus weitere Methoden geben, und eine davon könnte Kaliban für sie vom Syndik-Grenzgebiet aus erreich-bar machen. Ich sage damit nicht, dass das auch der Grund für das Vorgehen der Syndiks ist. Ich sage damit nicht, dass nichtmenschliche Intelligenzen existieren oder dass die Syndiks solchen Intelligenzen begegnet sind. Es ist lediglich die einzige Erklärung, die dem einen Sinn gibt, was die Syndiks hier gemacht haben.«
Geary nickte. »Schon verstanden, Colonel. Ich danke Ihnen, dass Sie Ihre Überlegung mit uns geteilt haben, auch wenn Sie selbst sagen, dass damit keine Gewissheit verbunden ist. Aber Sie sagen, wir können jedes der Syndik-Systeme wieder ans Laufen bringen, obwohl sie alles gelöscht haben?«
Major Rosado lächelte selbstbewusst. »Jawohl, Sir. Wenn Sie wollen, können wir die Computer wieder in Gang bekommen.«
»Haben Sie mit den Scouts der Hilfsschiffe gesprochen?«
»Jawohl, Sir. Ein Team von der Jinn ist hier, um festzustellen, ob es hier etwas gibt, was wir gebrauchen können.«
»Gut. Danke für die Informationen.« Das zweite Fenster verschwand, zurück blieb nur das Bild, das den Scout zeigte, wie er sich gründlich im Büro umsah.
Desjani schüttelte den Kopf. »Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals Marines erlebe, die in Sorge sind, aus dem Dunkel könnten zwei-köpfige Aliens auftauchen.«
Geary lächelte, dann aber wurde er ernst. »Die beiden können keine andere Erklärung für das finden, was die Syndiks gemacht haben. Können Sie sich einen Grund dafür vorstellen?«
»Perverses Vergnügen? Irgendein dummer Bürokrat? Die Leute machen nicht immer alles aus einem Grund, der für andere einen Sinn ergibt.«
»Stimmt. Das erleben wir in der Flotte fast jeden Tag.«
Mit einem Grinsen entgegnete sie: »Ich würde mir darüber nicht allzu viele Gedanken machen, Sir.«
»Nein, das wohl nicht. Allerdings war das eine Menge Arbeit, für die es keinen guten Grund gab.« Geary sah auf die Uhr. »Im Augenblick gibt es Wichtigeres, worüber wir uns Gedanken machen müssen.«
Zum mindestens zehnten Mal in der letzten halben Stunde musste Geary sich einen wütenden Kommentar verkneifen. Die Schiffe, die an einer Seite der Flotte eine blockartige Formation einnehmen sollten, waren in einen Streit darüber geraten, welcher ihrer Commander der ranghöhere war. Die Folge davon war, dass die Schiffe nicht die ihnen zugewiesenen Positionen innerhalb der Formation einnahmen, sondern zum Teil versuchten, sich einen Platz zu erstreiten, der bereits von einem anderen Schiff belegt wurde. Geary zählte langsam bis fünf, dann rief er die Schiffe: »An alle Schiffe in der Formation Bravo: Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass jeder von Ihnen im gleichen Maß Gelegenheit bekommt, sich dem Gegner zu widmen. Und jetzt begeben Sie sich auf die Ihnen zugewiesenen Positionen.«
Er überlegte, ob er etwas gegen die Kopfschmerzen einnehmen sollte, die sich hinter seinen Augen zu regen begannen, während er mit ansah, wie die umherirrenden Schiffe etwas verlegen ihren Kurs änderten. Einzige Ausnahme war die Audacious, die sich weiter der Resolution näherte, um das Schiff zur Seite zu drängen, damit sie selbst einen Platz einnehmen konnte, der nach einer Führungsposition aussah. Na schön. Dann wollen wir doch mal sehen, ob ein wenig Humor die Situation entschärfen kann, ohne dass ich noch einen Offizier versetzen muss. »Audacious, wenn Sie die Absicht haben, sich mit der Resolution zu paaren, dann sollten Sie ihr erst mal ein paar Drinks spendieren.«
Irgendwo neben Geary verschluckte sich Captain Desjani an ihrem Kaffee. Von der Audacious kam keine Antwort, aber das Kriegsschiff drehte endlich bei und nahm seine zugeteilte Position ein. Einen Augenblick später meldete sich das andere Schiff: »Die Resolution möchte Meldung machen, dass ihre Unschuld unberührt geblieben ist.«
Diesmal musste Desjani lachen, und Geary erging es nicht anders.
Gut. Solche Kleinigkeiten zeigen, dass die Moral der Truppe stimmt. Jedenfalls für den Augenblick. Kopfschüttelnd beobachtete er, wie auch die übrigen Schiffe mit erheblicher Verzögerung die Formation Bravo bildeten. Ein Glück, dass ich das per Simulation erledigen kann. Ich wünschte, ich könnte ein reales Manöver durchführen, aber ich kann es mir nicht leisten, die dafür nötigen Treibstoffreserven anzutasten.
Geary wartete, bis auch das letzte Schiff schleppend seine Position eingenommen hatte, dann tippte er wieder auf seine Kommunikationskontrollen. »An alle Einheiten. Ich werde jetzt Ihre simulierten Schiffsbewegungen vorübergehend auf Automatik umschalten. Ich möchte Ihnen zeigen, was geschieht, wenn wir diese beiden Formationen auf eine koordinierte Weise ins Gefecht schicken.« Mit diesen Worten aktivierte er die Sequenz, die er beim Flug durch den Sprungraum programmiert hatte.
In dieser simulierten Version des Kaliban-Systems tauchte plötzlich nahe den Allianz-Formationen eine große Syndik-Streitmacht auf. Geary ließ die Simulation weiterlaufen, die die Formationen zeigte, wie sie sich in einen Winkel drehten, der es erlaubte, den heraneilenden Feind von beiden Seiten unter maximalen Beschuss zu nehmen.
Es war ein absichtlich kurzes Szenario, sodass die Überreste der simulierten Syndiks nach zwanzig Minuten die Flucht antraten. Anschließend ließ Geary einige Minuten verstreichen, damit das Gesehene nachwirken konnte, dann meldete er sich wieder bei den Schiffen: »Auf ein paar Dinge möchte ich gesondert hinweisen. Erstens: Sie werden gesehen haben, dass diese geteilte Formation bei richtiger Anwendung den maximalen Einsatz unserer Schiffe und ihrer Feuerkraft erlaubt. Jedes Schiff in der Formation Bravo konnte dem Gegner schwere Schäden zufügen, weil dessen Flanken angegriffen wurden. Zweitens: Dieses Szenario hat nur funktionieren können, weil jedes Schiff genau das tat, was es tun sollte.«
Er betrachtete die Darstellung dieses unmöglichen einfachen Siegs in der Simulation. Das war zu schmerzlos und zu komplikationslos abgelaufen, doch es war nötig gewesen, um seine Botschaft für jeden verständlich rüberzubringen. »Wenn wir als disziplinierte Streitmacht auftreten, dann können wir den Syndiks einen so kräftigen Tritt in den Hintern verpassen, dass die nicht wissen, wo vorne und hinten ist. Mit der Zeit werden die Simulationen und Formationen, die wir in den nächsten Wochen üben werden, immer komplexer, aber ich wollte jedem von Ihnen den Grund zeigen, warum wir diese Übungen machen. Ich verspreche Ihnen, diese Flotte kann in neun von zehn Fällen jeden vergleichbaren Gegner bezwingen, wenn wir mit der gleichen Tapferkeit wie bisher vorgehen, sie aber auf eine disziplinierte Weise anwenden.«
Desjani gab ihm von der anderen Seite des Simulationsraums das »Daumen hoch«-Zeichen. Geary nickte ihr zu und wünschte, jeder Captain würde so vorbehaltlos hinter ihm stehen. »Das wäre alles.
Die nächste Simulation findet in zwei Stunden statt.« Er streckte sich und stand auf. »Ich glaube, ich kann mit ziemlicher Sicherheit vorhersagen, dass dieses Training in zwei Tagen jedem zum Hals heraushängen wird.«
»Glauben Sie tatsächlich, wir können ein solches Manöver hinbekommen, wenn die Daten mit größerer Verspätung eingehen und wir es mit einem Feind zu tun haben, der auf unsere Handlungen reagiert?«, fragte sie.
Geary nickte bekräftigend. »Ja. Dann ist Ihnen also aufgefallen, wie sich der Feind in meiner Simulation verhalten hat, wie?«
»Ja, Sir. So sehr ich die Syndiks auch hasse, glaube ich nicht, dass sie sich so dumm verhalten werden wie in dieser Simulation.«
Daraufhin musste Geary grinsen. »Vielleicht haben wir ja Glück.
Aber ernsthaft, ich gehe nicht davon aus, dass sie in Wirklichkeit so agieren würden. Allerdings glaube ich, ich kann unsere Flotte so befehligen, dass sie handelt. Die Fähigkeit habe ich von einigen Vorgesetzten gelernt, die Meister ihres Fachs waren.« Er dachte daran, wie lange diese Männer und Frauen bereits tot waren, und wurde wieder ernst.
Am nächsten Abend musste Geary einsehen, dass er sich um einen ganzen Tag verkalkuliert hatte. Die meisten Commander, die mit ihren routinemäßigen Aufgaben bereits ausgelastet waren, hatten längst genug davon, Stunden damit zuzubringen, immer und immer wieder Manöver-und Gefechtssimulationen durchzuspielen, die zudem mit jedem Mal komplexer und schwieriger wurden. »Hören Sie mir zu«, ermahnte Geary seine Leute nach der letzten Übung an diesem Tag. »Wir wissen nicht, wie viel Zeit uns bleibt, bis die Syndiks hier aufkreuzen. Wir müssen auf sie vorbereitet sein, und das heißt, wir müssen innerhalb kürzester Zeit so viel Arbeit wie möglich erledigen. Wir sehen uns morgen wieder.«
Er sank in seinen Sessel und fühlte sich geschafft von den ständigen Anstrengungen, nicht nur alle Schiffe auf den richtigen Weg zu dirigieren, sondern auch ihren Befehlshabern gut zuzureden. »Wir haben einen aktuellen Statusbericht von der Witch erhalten«, ließ Desjani ihn wissen. »Die Förderanlage auf Ishiki’s Rock soll morgen in Betrieb genommen werden, und man geht davon aus, dass man morgen Nachmittag das erste geförderte Erz an die Hilfsschiffe schicken kann.«
»Großartig.« Geary warf einen Blick auf die Mitteilung. »Ishiki’s Rock? Ach, der da. Dieser Asteroid. So haben ihn die Syndiks genannt?«
»Nein. Es gab keinen Grund herauszufinden, welche Bezeichnun-gen die Syndiks benutzt haben. Ishiki ist der Name des Unteroffiziers, der die Förderanlage entdeckt und das Vorkommen bewertet hat.«
»Dann ist es ein passender Name«, meinte Geary und rief die Witch. »Captain Tyrosian? Wenn die Zeit es zulässt, würde ich Sie bitten, dass Ihre Werkstatt eine kleine Plakette herstellt, die den Asteroiden mitsamt seiner Förderanlage als Ishiki’s Rock ausweist. Wir werden die irgendwo da unten anbringen.«
Tyrosian sah ihn einen Moment lang verdutzt an, dann lächelte sie. »Das wird Chief Ishiki sicher freuen, Sir. Wünschen Sie eine Ze-remonie, wenn wir die Plakette anbringen?«
»Wenn Sie etwas improvisieren möchten, dürfen Sie das gern machen. Jeder in dieser Flotte arbeitet sich krumm, da können wir jeden Vorwand für ein wenig Ablenkung gut gebrauchen.«
»Ja, Sir. In diesem Asteroid steckt gutes Metall. Wie viel Zeit bleibt uns, um es zu fördern?«
Geary überlegte kurz. »Das kann ich im Augenblick noch nicht sagen. Gehen Sie grundsätzlich davon aus, schnell arbeiten zu müssen, aber nach Möglichkeit möchte ich, dass die Vorratslager bis oben hin gefüllt sind, wenn wir uns wieder auf den Weg machen.«
»Das ist eine Menge, Captain Geary«, gab sie zurück. »Bei dem Tempo, mit dem wir die Rohstoffe abbauen und an Bord bringen, würde das Wochen dauern.«
»Ob wir Wochen hier zubringen werden, kann ich nicht garantie-ren, trotzdem nehmen wir jeden Tag mit, der uns das ermöglicht.«
»Ich muss Sie darauf hinweisen, dass die zusätzliche Masse sich nachteilig auf die Manövrierfähigkeit meiner Schiffe auswirken wird. Das gilt vor allem für die Titan, die das größte Schiff ist. Aber auch die Witch, die Jinn und die Goblin werden beladen deutlich träger sein.«
Geary verspürte wieder diesen zunehmend vertrauten Schmerz hinter den Augen. »Wie sehr wird die Beschleunigungsfähigkeit der Titan beeinträchtigt, wenn sie randvoll mit Rohstoffen ist?«
Tyrosian sah zur Seite und arbeitete offenbar an irgendwelchen Kontrollen. »Das sind die Werte für eine maximal beladene Titan, Captain Geary.«
Als er die von Captain Tyrosian gesendeten Daten betrachtete, musste er lautstark ausatmen. »Dann wäre sie ja ein fliegendes Schwein.«
»Üblicherweise benutzen wir den Begriff fliegender Elefant. Ein fliegendes Schwein wäre wesentlich leichter zu manövrieren als die beladene Titan.«
»Danke für die Vorwarnung.«
Tyrosian sah ihn fragend an. »Wollen Sie immer noch, dass die Titan randvoll beladen wird, Sir?«
Geary rieb über die Stelle zwischen den Augenbrauen, um das Pulsieren zurückzudrängen. »Ja. Wenn wir nicht das herstellen können, was wir auf lange Sicht brauchen, dann ist egal, wie schnell wir uns auf kurze Sicht von der Stelle bewegen können. Wenn ich mich schon entscheiden muss, dann möchte ich auf lange Sicht vorbereitet sein.«
»Jawohl, Sir. Sie sagen es, wir bauen es.«
Das alte Motto der Flotteningenieure, an dem sich seit Gearys Zeiten nichts geändert hatte, entlockte ihm ein Lächeln. »Danke, Captain Tyrosian. Ich weiß, auf Sie und Ihre Schiffe kann ich immer zählen.« Seine Worte brachten wiederum Tyrosian zum Lächeln.
Geary kehrte zu seiner Kabine zurück und war dank der erfreuli-chen Unterhaltung mit Tyrosian guter Laune. Dennoch freute er sich auf ein wenig Ruhe und die Möglichkeit, wenigstens für ein paar Stunden so zu tun, als sei er nicht für das Kommando über diese Flotte zuständig. Doch vor der Luke zu seiner Kabine wartete bereits jemand auf ihn. »Madam Co-Präsidentin.« Er hoffte, seine Müdigkeit und seine momentane Abneigung gegen jegliche Unterhaltung würden nicht zu offensichtlich sein. »Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuchs?«
Sie nickte ihm zu, um den Gruß zu erwidern. »Ich möchte mit Ihnen unter vier Augen reden, Captain Geary.«
»Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber könnten wir das auf einen späteren Zeitpunkt verschieben? Ich hatte in der letzten Zeit eine Menge um die Ohren.«
»Das ist mir nicht entgangen.« Rione warf ihm einen verwunder-ten Blick zu. »Sie waren so beschäftigt, dass mich meine vergebli-chen Versuche, mit Ihnen zu reden, ziemlich frustriert haben. Ich würde mich wirklich gerne jetzt mit Ihnen unterhalten.«
Es gelang ihm, nicht zu laut zu seufzen. »Okay. Treten Sie bitte ein.« Er ließ sie vorgehen, deutete auf einen freien Platz und sank dann unzeremoniös in seinen Sessel.
Abermals reagierte Rione erstaunt. »Sie entsprechen heute gar nicht dem Bild vom legendären Helden mit dem stählernen Willen.«
»Der legendäre Held mit stählernem Willen ist heute auch verdammt müde, Ma’am. Was kann ich für Sie tun?«
Mit so einer direkten Antwort hatte sie offenbar nicht gerechnet, doch letztlich setzte sie sich auf den angebotenen Platz. »Meine Frage ist ganz einfach: Wie sieht Ihr Plan aus, Captain?«
Er zuckte mit den Schultern. »So wie jedes Mal, wenn man mir diese Frage stellt, kann ich nur sagen, dass mein Plan darin besteht, diese Flotte nach Hause zu bringen.«
»Und warum legen wir dann einen Zwischenstopp im Kaliban-System ein?«
Diese Frau hat eine Begabung, lästige Fragen zu stellen. Er dachte einen Moment lang nach, ehe er antwortete. »Wir benötigen etwas Zeit. Wir sitzen hier nicht untätig herum. Wie Sie sicherlich mitbekommen haben, schaffen wir Rohstoffe auf die Schiffe, die damit etwas anfangen können. Und die Titan und ihre Schwesterschiffe produzieren neue Brennstoffzellen, daneben Ersatz für beschädigte oder zerstörte Ausrüstung sowie die Waffen, die wir verbraucht haben. Außerdem erledigen wir größere Außenreparaturen, die im Sprungraum nicht durchgeführt werden konnten. Und wir durchsuchen die zurückgelassenen Anlagen nach allem, was wir irgendwie gebrauchen können. Das Wichtigste von allem ist, dass wir trainieren können.«
»Trainieren.« Rione kniff die Augen zusammen. »Zu welchem Zweck.«
»Ich bin mir sicher, Madam Co-Präsidentin, Ihnen ist bekannt, dass wir Gefechtssituationen trainieren. Wenn wir das nächste Mal auf eine große Syndik-Streitmacht treffen, dann möchte ich, dass diese Flotte wie eine militärische Einheit agiert, aber nicht wie ein unvorbereiteter Haufen Krieger, der es zwar gut meint, der jedoch nicht weiß, wohin mit seinen Aggressionen.« Verdammt, er musste aufpassen, dass er Rione gegenüber nicht zu offen seine Meinung äußerte. Schließlich würde niemand etwas davon haben, wenn ein solcher Satz die Runde machen sollte.
»Captain Geary, als wir uns zum ersten Mal trafen, da sagte ich zu Ihnen, diese Flotte sei spröde. Sie waren zu der Zeit der gleichen Meinung. Wie können Sie jetzt davon reden, sich einer großen feindlichen Streitmacht stellen zu wollen?«
Riones Tonfall war mit jedem Satz noch etwas kühler und härter geworden.
Geary wünschte, er könnte einen Schutzschild um sich errichten, der ihn gegen die Wucht von Riones Worten abschirmte. »Damals war ich Ihrer Meinung«, bestätigte er. »Aber sprödes Metall kann neu geschmiedet werden, Madam Co-Präsidentin.«
»Zu welchem Zweck?«
Okay, wenn es um solche Dinge geht, vertraut sie mir wohl kein bisschen. Meinetwegen. Aber ob sie mir nun vertraut oder nicht, von mir wird sie nur die Wahrheit zu hören bekommen. »Um nach Hause zu gelangen. Das ist mein Ernst. Sehen Sie.« Geary beugte sich weit genug vor, um einen Befehl einzugeben, den er inzwischen auswendig kannte. Dann zeigte er auf die Sterne, die über dem Tisch zwischen ihnen dargestellt wurden. »Wir haben noch viele Sprünge vor uns, ehe wir zu Hause ankommen werden. Ich kann weiter Vermutun-gen darüber anstellen, was die Syndiks unternehmen werden, und vorausschauend genug planen, um ihnen nach Möglichkeit aus dem Weg zu gehen. Aber ich kann nicht darauf zählen, dass sie sich immer irren und uns niemals erwischen. Das heißt, ich kann nicht ausschließen, dass wir irgendwann einer Syndik-Streitmacht gegenüberstehen werden, die uns schmerzliche Verluste zufügen könnte.
Was wird dann geschehen? Wenn diese Flotte dann noch die gleiche ist, die ich aus dem Heimatsystem der Syndiks gebracht habe, wird sie Gefahr laufen, zerschlagen und vernichtet zu werden. Doch wenn ich diesen Matrosen vermitteln kann, nicht nur mutig, sondern auch intelligent zu kämpfen, dann werden wir in der Lage sein, dieser Syndik-Streitmacht etwas entgegenzusetzen.«
Lange Zeit musterte sie ihn schweigend. Was ihr durch den Kopf ging, konnte Geary nicht einmal erahnen. Schließlich sagte sie nicht mehr ganz so schroff: »Sie glauben, das können Sie schaffen?«
»Ich hoffe, ich kann es.« Er beugte sich vor und versuchte, ihr sein Gefühl zu vermitteln. »Das sind gute Matrosen. Gute Offiziere. Gute Captains. Letzteres jedenfalls zum größten Teil. Sicher wissen Sie, dass es da ein paar Ausnahmen gibt, aber das war schon immer so, und das wird auch immer so bleiben. Diese Leute brauchen nur jemanden, an den sie glauben können, dem sie zuhören und der ihnen zeigt, wie man siegen kann.«
»Weil sie Ihnen vertrauen.«
»Verdammt, ja! Was zum Teufel soll denn das? Ich habe bislang nichts getan, was ihr Vertrauen in mich gefährden könnte, und ich werde das auch nicht tun.«
»Ist das ein Eid, Captain Geary?« Ihre Stimme war sehr sanft und auch sehr klar geworden. »Schwören Sie das bei der Ehre Ihrer Vorfahren?«
Geary fragte sich, ob Rione von seinen gelegentlichen Besuchen in der Gedenkstätte für die Vorfahren wusste. Wahrscheinlich hatte sie darüber so viele Informationen zusammengetragen, wie sich finden ließen. »Natürlich tue ich das.«
»Und die Allianz selbst? Die gewählten Führer der Völker in der Allianz?«
Er sah sie ratlos an. »Was soll mit ihnen sein?«
Rione warf ihm einen wütenden Blick zu, und ihre aufgebrachte Miene bot eine untypische Zurschaustellung ihrer Gefühle. »Wenn ich nur wüsste, ob Sie wirklich so naiv sind oder ob Sie nur so tun!
Captain Geary, Sie sind eine lebende Legende. Was glauben Sie, welche Macht in Ihren Händen liegt, wenn Sie mit dieser Flotte zur Allianz zurückkehren? Black Jack Geary, das strahlende Ideal für jeden Allianz-Offizier, der Held der Vergangenheit, der Mann, den jeder junge Mensch in der Allianz anbeten und verehren soll, kehrt von den Toten zurück und präsentiert eine immense Flotte, die er im Alleingang vor der völligen Auslöschung bewahrt hat! Eine Flotte, die nach Ihren Worten besser geschult sein wird als jede andere Streitmacht der Allianz. Was wird dann aus der Allianz werden, Captain? Diese Allianz wird Ihnen aus der Hand fressen, und Sie können mit ihr machen, was Sie wollen. Sie wissen, dass es so ist!
Also was werden Sie machen?«
»Ich…« Geary schaute zur Seite, da ihre Worte und die damit verbundenen, intensiven Empfindungen ihm Unbehagen bereiteten.
»Ich habe… Ich weiß nicht. So weit habe ich noch gar nicht voraus-gedacht… Aber… nein. Nein! Solche Macht will ich nicht haben.
Ich will nicht den gewählten Führern der Allianz vorschreiben, was sie tun und lassen sollen. Ich will…« Heimkehren? Seine Heimat war tot und vergessen. Was würde ihm noch zu tun bleiben, wenn diese Mission abgeschlossen war? Auf welches Leben konnte er hoffen? »Ich will…«
»Was, Captain Geary? Was wollen Sie? Was wollen Sie mehr als alles andere?«
Geary fühlte sich geistig und körperlich durch die Anstrengungen der letzten Tage wie ausgebrannt, und in diesem Moment spülte eine eisige Welle über ihn hinweg. »Mehr als einmal, Madam Co-Präsidentin, wollte ich nichts lieber, als vor hundert Jahren auf meinem Schiff gestorben zu sein.« Kaum hatte er das ausgesprochen, bereute er bereits, dass er Worte und Gedanken nicht für sich behalten hatte, die außer ihm niemanden etwas angingen. Aber Müdigkeit und Stress hatten seine Abwehr geschwächt und ihn unaufmerksam werden lassen.
Sekundenlang schien er Rione aus der Fassung gebracht zu haben.
Eine Weile betrachtete sie Geary schweigend, dann fragte sie:
»Könnten Sie der Macht den Rücken kehren, Captain Geary? Wenn wir heimkehren, werden Sie dann der Macht den Rücken kehren, über das Schicksal der Allianz zu entscheiden?«
Er atmete tief durch und ließ sich mit seiner Antwort Zeit. »Um ehrlich zu sein, ich glaube, diese Macht besitze ich längst. Wenn ich diese Flotte mit dem Objekt zurückbringen kann, von dem Sie wissen, dass es sich an Bord der Dauntless befindet, dann stehen die Chancen gut, dass die Allianz die Syndiks zu Verhandlungen zwingen kann, um diesen Krieg ernsthaft zu beenden. Doch wenn mir das nicht gelingt und wir hier draußen untergehen, dann ergibt sich für die Syndiks ein sehr großer militärischer Vorteil. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie diesen Vorteil nicht nutzen werden.
Auf die eine oder andere Art entscheidet das, was ich hier zustande bringe, in einem erheblichen Maß über das Schicksal der Allianz.«
Geary sah Rione tief in die Augen. »Sie können mir glauben: Wenn ich könnte, würde ich dem Ganzen sofort den Rücken kehren. Aber das kann ich nicht, und ich glaube, das wissen Sie. Niemand sonst hat eine Chance, die Flotte nach Hause zu bringen. Ich habe mir ein-zureden versucht, dass ich nicht unersetzlich bin, dass es andere Offiziere gibt, die diese Flotte genauso gut heimbringen können. Allerdings weiß ich, das stimmt so nicht.«
Riones Miene war unnachgiebig. »Demokratien und Republiken können nicht mit unverzichtbaren Männern und Frauen existieren, Captain.«
»Das gilt nur so lange, bis ich diese Flotte nach Hause gebracht habe! Sobald wir zurück in der Allianz sind, Madam Co-Präsidentin, werde ich das Kommando an den ersten Admiral übergeben, der mir über den Weg läuft, und dann werde ich mir einen hübschen, ruhigen Planeten suchen, auf dem ich mich für den Rest meines Lebens verstecken kann.« Er stand auf und ging trotz seiner Müdigkeit im Raum auf und ab. »Mehr kann niemand von mir verlangen.
Mehr kann auch die Ehre meiner Vorfahren unmöglich von mir verlangen. Ich werde das Kommando abgeben, und dann ziehe ich mich zurück nach… nach…«
»Wohin ziehen Sie sich zurück, Captain Geary?« Mit einem Mal hörte sich auch Rione erschöpft an, obwohl er sich keinen Grund da-für vorstellen konnte. »Was glauben Sie, welche Welt Ihnen eine solche Zuflucht gewähren wird? Ihnen, dem Mann, dem der alte Ruhm des Black Jack Geary anhängt und der heute verehrt und angebetet wird, weil er die Allianz-Flotte und womöglich die gesamte Allianz gerettet hat.«
»Ich…« Geary suchte nach einem Planetennamen. Er wusste, seine eigene Heimatwelt würde niemals eine solche Zuflucht sein. Die hatte sich vermutlich längst bis zur Unkenntlichkeit verändert, zudem fürchtete er sich davor, jene Monumente zu sehen, die man zu Ehren von Black Jack Geary zweifellos errichtet hatte. Schließlich entschied er sich für den einen Planeten, über den er in den letzten Wochen am häufigsten etwas gehört hatte. »Kosatka.«
»Kosatka?« Diesmal musste Rione lachen, aber mehr aus Unglauben als aus Belustigung. »Ich sagte Ihnen schon einmal, Captain Geary, dass Ihr Schicksal nicht auf Kosatka liegt. Kosatka ist eine gute Welt, doch sie besitzt keine Macht. Kosatka könnte Sie jetzt nicht zu-rückhalten.«
»Ich bin nicht…«
»Kein Planet könnte Sie jetzt zurückhalten, ganz gleich, was Sie glauben, wohin Ihre Pflicht Sie führen muss.« Rione stand ebenfalls auf, den Blick immer noch auf Geary gerichtet. »Aber wenn es sich als notwendig erweisen sollte, Sie zurückzuhalten, wenn man ein-schreiten muss, um Ihre Macht im Zaum zu halten, dann werde ich mein Bestes geben.«
Er starrte sie an, da er nicht fassen konnte, was er da zu hören bekam. »Wollen Sie mir drohen?«
»Nein. Ich setze Sie nur davon in Kenntnis, wenn Sie versuchen sollten, die Hand auszustrecken und das an sich zu nehmen, was Ihnen gehören könnte, dann werde ich dort sein, um Sie daran zu hindern.« Sie wandte sich zum Gehen, drehte sich dann aber noch einmal zu ihm um. »Und falls Sie zweifeln sollten, Captain, ich bin entbehrlich. Selbst wenn ich nicht mehr bin, werden andere an meine Stelle rücken.«
» Ich habe überhaupt nichts gemacht. «
»In diesem Punkt irren Sie sich. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich will Sie nicht vorverurteilen. Was Sie getan haben, musste unbe-stritten getan werden, um diese Flotte zu retten. Wenn Sie sich an Ihren Schwur halten, die Macht abzulehnen, die in Ihren Händen liegen wird, dann werden Sie keinen treueren Verbündeten finden als mich. Aber Sie dürfen nicht so tun, als würde keinerlei Versuchung existieren, Captain Geary. Sie dürfen sich nicht vormachen, dass es niemanden geben wird, der Sie zu bestimmten Handlungen zu drängen versucht, die angeblich dem Wohle der Allianz dienen.
Handlungen, die Ihnen auf den ersten Blick gerechtfertigt und sinnvoll erscheinen, die aber alles vernichten werden, was Sie zu ehren behaupten.«
Er reagierte mit einem wütenden Blick. »Ich bin nicht der Typ, der so etwas machen würde.«
»Ist Black Jack Geary der Typ?«
»Was?« Wiederholt schüttelte er den Kopf, als wollte er ihn von etwas freibekommen, während er sich noch wunderte, dass sie tatsächlich diese Frage gestellt hatte. »Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nicht, wer dieser imaginäre Held ist. Ich kenne ihn nicht. Ich weiß nur, er ist nicht ich.«
Nun schüttelte Rione den Kopf als Reaktion auf seine letzten Bemerkungen. »Ich bedauere, Ihnen sagen zu müssen, dass Sie sich irren. Ganz gleich, wer Sie zu sein glauben, Sie müssen begreifen, dass Sie Black Jack Geary sind.«
»Vielleicht könnten Sie mir dann ja erklären, warum ich mich so anstrengen muss, diese befehlshabenden Offiziere da draußen bei Laune zu halten, wenn sie doch verdammt noch mal so sehr an Black Jack Geary glauben.«
Rione verzog den Mund. »Sie haben sich die Antwort längst selbst gegeben. Diese Leute glauben an Black Jack Geary, Captain. Ihrer Meinung nach muss diese Person in jeder Hinsicht etwas absolut Außergewöhnliches darstellen. Wenn sie zu der Überzeugung gelangen sollten, dass Sie nicht der Black Jack Geary sind, wie ihn sich die Menschen vorstellen, dann werden sie nicht länger an Sie glauben.«
»Wollen Sie damit sagen, ich kann machen, was ich will, es läuft trotzdem auf das Gleiche hinaus? Soll das heißen, ich muss in jeglicher Hinsicht außergewöhnlich sein, wenn ich diese Flotte retten will? Und ich muss zu diesem Black Jack Geary werden, wie ihn die Leute sich vorstellen, weil die Flotte sonst verloren sein wird? Aber wie soll ich in jeder Hinsicht außergewöhnlich sein?«
»Ich fürchte, in diesem Punkt kann ich Ihnen nicht helfen, Captain Geary.« Rione neigte den Kopf, dann verließ sie das Quartier.
Geary sah ihr nach und ließ sich in den nächstbesten Sessel fallen.
Zwei Gedanken stürmten dabei auf ihn ein: Was ist, wenn sie recht hat? Und womit zum Teufel habe ich das alles eigentlich verdient?
»Alle Einheiten in Formation Sigma rollen bei Zeit drei vier zwanzig Grad nach Backbord.« Geary wartete, dann vergrub er das Gesicht in den Händen, als er sah, wie die eine Hälfte sich an ihren Platz rollte, während die andere Hälfte sich bewegte, als ob die gesamte Formation sich um zwanzig Grad nach Backbord drehte. Hört doch zu, was ich euch sage! Hört doch bitte einfach nur zu! Es ist ja nicht so, als ob ihr keine Zeit hättet, um vor der Ausführung meiner Befehle darüber nachzudenken!
Nach außen hin gab sich Geary so ruhig, wie er nur konnte. »An alle Einheiten: Achten Sie darauf, die Befehle so auszuführen, wie sie gegeben werden.« Er sah auf die Uhr, rieb sich die Augen und fügte dann an: »An alle Einheiten: Das reicht für heute. Danke für Ihren harten Einsatz.« Ich hoffe nur, dass sie auch etwas daraus lernen.
Und zwar nicht nur, wie man eine Formation beibehält. Wenn sie darauf achten, wie ich die Manöver nenne, um den zeitverzögerten Eingang der Daten zu berücksichtigen, dann sollten sie davon auch das eine oder andere aufschnappen.
Auch Captain Desjani machte einen müden Eindruck, dennoch lächelte sie ihn aufmunternd an. »Ich habe noch nie erlebt, dass unsere Einheiten unter Gefechtsbedingungen so manövrieren können.«
»Das haben Sie tatsächlich noch nie erlebt«, betonte Geary, der sich Mühe gab, nicht so mürrisch zu klingen, wie ihm zumute war. »Das hier ist alles nur simuliert. Bei einem tatsächlichen Gefecht würde das alles unter extremem Stress ablaufen.«
»Trotzdem finde ich, dass bereits viele Verbesserungen festzustellen sind.«
Geary überlegte kurz, dann nickte er. »Ja, Sie haben recht. Es gibt Verbesserungen. Wenn man bedenkt, dass wir das erst seit Kurzem machen, haben alle Beteiligten sehr schnell große Fortschritte erkennen lassen.« Er warf einen Blick auf die endgültigen Positionen der Schiffe in der angehaltenen Simulation. »Zwei Wochen Manöverübungen haben eine Menge bewirkt, aber in dieser Flotte gibt es auch etliche Captains, die ihr Schiff gut im Griff haben.« Er nickte erneut, diesmal in Desjanis Richtung. »Anwesende eingeschlossen.«
»Danke, Sir.« Sein Lob schien Desjani zu freuen und gleichzeitig zu verunsichern.
»Das ist mein Ernst. Sie können wirklich gut mit Ihrem Schiff umgehen. Es gibt Leute, denen kann man ewig predigen, wie man ein Schiff handhabt, und trotzdem gehen sie damit um wie mit einem Sack Blei. Sie dagegen besitzen Talent. Sie haben ein Gefühl für das Schiff und arbeiten mit dessen Bewegungen.« Er stand von seinem Platz auf. »Ich werde erst mal eine Pause machen, bevor ich mich mit dem nächsten Simulationsszenario befasse. Was ist mit Ihnen?«
Desjani schüttelte den Kopf. »Als befehlshabender Offizier der Dauntless gibt es noch einige Dinge, um die ich mich kümmern muss. Den Gottlosen ist keine Ruhepause gegönnt, wie man so schön sagt.«
»Ich weiß nicht, inwieweit das etwas mit Gottlosigkeit zu tun hat, Tanya, aber ich weiß, dass einem Captain nie viel Erholung vergönnt ist. Danke für alles, was Sie in letzter Zeit für mich getan haben.«
»War mir ein Vergnügen, Sir.« Sie deutete einen formlosen Salut an, dann zog sie sich zurück.
Geary nahm wieder Platz, und nachdem er das Verlangen nach etwas Ruhe und Erholung erfolgreich niedergerungen hatte, rief er die aktuellen Statusberichte der Flotte auf. In den vormaligen Syndik-Minen auf drei Asteroiden war die Förderung angelaufen, und eine erfreulich große Menge an reinen Metallen war bereits zu den Hilfsschiffen transportiert worden, sodass deren Werkstätten auf Hoch-touren arbeiteten, um dringend benötigte Ersatzteile herzustellen und neue Waffen zu produzieren. Außerdem war man auf Lebensmittelvorräte gestoßen, die in den verlassenen Städten durch die Kälte konserviert worden waren. Zurückgelassen hatte man diese Bestände zweifellos nur deshalb, weil es unwirtschaftlich gewesen wäre, sie aus dem System zu transportieren, als die Syndiks Kaliban verließen. Mein Gefühl sagt mir, dass wir lange vor unserer Heimkehr von Syndik-Essen die Nase voll haben werden. Vor allem, weil sie ganz sicher zuerst das gegessen haben, was am besten schmeckte, während das liegen geblieben ist, was sowieso keiner haben wollte. Eine Notiz in einem der Berichte besagte, die Scouts seien auf ein Lager mit elektroni-schen Bauteilen gestoßen. Ein Teil davon ließ sich problemlos so umarbeiten, dass sie den Anforderungen der Allianz entsprachen.
Alles in allem hatte die Flotte ihre Zeit im Kaliban-System mehr als sinnvoll genutzt.
Plötzlich ertönte der Signalton einer internen Kommunikationsleitung. »Captain Geary, hier spricht Captain Desjani.«
»Roger. Was ist los?«
»Sie sind da.«
Geary eilte auf die Brücke der Dauntless, so schnell er konnte. Es war eigentlich unsinnig, sich so abzuhetzen, weil der nächste Sprungpunkt zwei Lichtstunden entfernt war. Er hatte sich noch nicht ganz hingesetzt, da lieferte ihm Desjani bereits einen ersten Bericht. »Die ersten Sichtungen deuten darauf hin, dass diese Streitmacht in etwa der entspricht, die uns durch das Corvus-System folgte.«
Mit einem Nicken nahm er ihre Meldung zur Kenntnis und verkniff sich einen Kommentar zu etwas, das ihm aufgefallen war. Alle Matrosen der Allianz an Bord der Dauntless hatten aufgehört davon zu reden, die Syndik-Streitmacht habe die Allianz-Flotte durch das Corvus-System »gejagt«. Stattdessen war nun immer die Rede davon, die Syndiks seien ihnen »gefolgt«. Noch ein paar Wochen mehr, und dann würde man sich wohl erzählen, die Allianz-Flotte habe irgendwie die Syndiks aus dem Corvus-System vertrieben. Solange es den Leuten half, ihren Stolz zu wahren, würde Geary niemanden berichtigen. »Es könnte sich sogar um die gleiche Streitmacht handeln. Falls das stimmt, haben sie Kaliban über einen Um-weg erreicht, und sie dürften wohl über uns ein wenig verärgert sein.«
Desjani grinste. »Ihren Befehlen entsprechend haben wir bereits alle Shuttles und sämtliches Personal zurück auf die Schiffe beor-dert.«
»Gut. Haben sie auch die Selbstzerstörung aller Anlagen in die Wege geleitet, die wir reaktivieren konnten?«
»Jawohl, Sir.« Desjanis Zustimmung zur Taktik der »verbrannten Erde« war nicht zu überhören. »Diese Ausrüstung wird niemand mehr benutzen können.«
»So soll es auch sein.« An sich war es ja eine Schande, doch er konnte keine industriellen Anlagen in einem Zustand zurücklassen, der es den Syndiks erlaubte, sie wieder für ihre Zwecke zu nutzen.
Geary studierte gründlich die aktuelle Situation. »Wenn sie den Sprungraum durch diesen Punkt dort verlassen, dann müssen sie von Saxon oder Pullien kommen, und beide Sterne hätten sie von Yuon aus erreichen können, richtig?«
Desjani sah auf ihr Display. »Pullien würde einen zusätzlichen Sprung bedeuten, aber grundsätzlich stimmt das. So oder so kommen sie durch den Sprungpunkt ins System, der uns am nächsten liegt.«
So pervers, wie das Universum meiner Erfahrung nach ist, musste das ja so kommen. Die Syndiks sind uns durch den Sprungpunkt gefolgt, der der Allianz-Flotte am nächsten liegt und nur zwei Lichtstunden entfernt ist.
Wir haben sie gerade erst entdeckt, aber das bedeutet, dass sie bereits vor zwei Stunden im System eingetroffen sind. Die Allianz-Flotte konnte die plötzlich auftauchenden Syndik-Schiffe erst sehen, nachdem das Licht den Weg bis zu ihr zurückgelegt hatte, während die Syndiks die Flotte sofort in der Position entdeckten, in der sie sich vor zwei Stunden befunden hatte. Nach der Blauverschiebung des Lichts von den Syndik-Schiffen zu urteilen, kamen die mit 0,1 Licht aus dem Sprung.
Wenn sie diese Geschwindigkeit beibehalten haben, dann sind sie bereits 0,2 Lichtstunden näher als in dem Moment, da wir sie eintreffen sahen.
Trotzdem sind sie damit immer noch achtzehn Stunden von unserer Position entfernt, wenn sie im gleichen Tempo weiterfliegen.
Würden wir sofort beschleunigen, könnten wir problemlos das System verlassen und einem Konflikt aus dem Weg gehen. Das wäre ein Leichtes.
Und es würde den Gerüchten viel neue Nahrung geben, dass ich nicht geeignet bin, diese Flotte zu befehligen. Die letzten Wochen habe ich überlegt, was ich tun soll, wenn die Syndiks eintreffen. Ich konnte mich einfach nicht entscheiden, weil ich nicht wusste, wie groß diese Syndik-Streitmacht sein würde. Jetzt weiß ich es. Sie fällt bedeutend kleiner aus als unsere Flotte, aber sie ist dennoch schlagkräftig und könnte eine Menge Schaden anrichten.
Als Geary zu Captain Desjani sah, nahm er wahr, wie die sich in Erwartung eines Gefechts anspannte, obwohl bis dahin in jedem Fall noch etliche Stunden vergehen würden, selbst wenn er den Befehl erteilte, den Syndiks entgegenzufliegen. Er wusste um die Enttäuschung der meisten anderen Captains, sollten sie Kaliban kampflos verlassen müssen. Sogar mehr als nur enttäuscht. Wieder sah er sich die jüngste Schätzung zur Größe der gegnerischen Flotte an. Ich bin mir nicht sicher, ob unsere Flotte schon bereit ist, es mit einer solchen Streitmacht aufzunehmen. Zahlenmäßig besitzen wir die Überlegenheit, aber wenn irgendetwas so schiefläuft wie im Corvus-System, dann könnten wir massive Verluste erleiden. Kann ich darauf vertrauen, dass meine Schiffe in Formation bleiben und meine Befehle befolgen?
Ich weiß, was die Vernunft vorschreibt, aber diese Leute müssen daran glauben können, dass ich derjenige bin, der sie zum Sieg führen kann. Wie lange werden sie noch auf mich hören, wenn sie glauben, ich hätte Angst vor einem Gefecht? Oder sind meine Bedenken stärker, als sie es eigentlich sein sollten? Will ich diese Schiffe nicht aufs Spiel setzen, weil ich mich vor den Fehlern fürchte, die diese Menschen machen könnten, oder sind es meine eigenen möglichen Fehler, vor denen ich Angst habe?
Flucht oder Kampf? Was wäre richtig? Was wäre das Beste?
Vorfahren, gebt mir ein Zeichen.
»Captain Desjani«, rief der Kommunikationsoffizier der Dauntless, »die Witch meldet einen toten Vogel auf Ishiki’s Rock.«
Geary brauchte einen Moment, um den modernen Slang zu verstehen. Als »Vogel«, bezeichneten die Matrosen ein Shuttle, und »tot«, bedeutete… »Wir haben ein Shuttle, das nicht starten kann?«
»Ja, Sir. Auf Ishiki’s Rock. Einer der großen Frachttransporter.«
»Sagen Sie ihnen, sie sollen die Fracht zurücklassen und nur die Leute rausholen.«
»Das haben sie bereits versucht, Sir. Aber es hat mit dem Gewicht nichts zu tun. Antrieb und Steuerungssystem sind beim Startver-such ausgefallen. Momentan suchen sie nach der Ursache.«
»Wie viele Leute sitzen auf Ishiki’s Rock fest?«
»Einunddreißig, Sir. Shuttlebesatzung mitgerechnet.«
Wieder sah Geary Desjani an. »Sie kennen sich mit diesen Shuttles besser aus als ich. Wie stehen die Chancen, dass sie das schnell reparieren können?«
Sie schüttelte den Kopf. »Darauf würde ich keine Wette abschließen«, erwiderte sie. »Der Ausfall von zwei wichtigen Systemen bedeutet, dass etliche Knotenpunkte versagt haben.« Sie gab dem Maschinen-Wachhabenden ein Zeichen. »Ihre Einschätzung?«
Der Mann verzog das Gesicht. »Der Vogel wird sich nicht von der Stelle rühren, solange keine komplette Wartungscrew den Schaden begutachtet hat. Wie viel Zeit nötig ist, um ihn wieder starten zu lassen, hängt davon ab, wie viele Untersysteme durchgeschmort sind.
Aber ich würde von mindestens vier Stunden ausgehen, gerechnet ab dem Zeitpunkt, da die Crew eingetroffen ist. Und vorausgesetzt, sie haben alle notwendigen Ersatzteile dabei.«
»So etwas hatte ich bereits befürchtet.« Geary betrachtete sein Display und überlegte, wie sie vorgehen sollten. Ishiki’s Rock lag zu den Syndiks dreißig Lichtminuten näher als zum Pulk der Allianz-Flotte. Die Titan war vor eineinhalb Tagen fertig beladen worden und zur Flotte zurückgekehrt, doch die Witch hielt sich immer noch in der Nähe von Ishiki’s Rock auf.
Fünf Stunden Transitzeit bei 0,1 Licht, und auch wenn die Witch weniger Masse hatte als die Titan, war ihr Antrieb schwächer, sodass sie kaum besser beschleunigen konnte. Er konnte die Witch an-weisen, mit einem anderen Shuttle die gestrandete Crew von Ishiki’s Rock abzuholen und das defekte Shuttle aufzugeben. Oder er konnte ein Wartungsteam hinbeordern, um den Vogel zu reparieren. Die Witch war nahe genug an Ishiki’s Rock, um ein Team loszuschicken, die Reparaturen auszuführen und das Shuttle noch schnell genug zur Witch zurückzubringen, damit die Flotte noch rechtzeitig vor dem Eintreffen der Syndiks das System verlassen konnte. Das wür-de allerdings knapp werden, weshalb die sicherste Lösung die war, den Vogel einfach zurückzulassen.
Aber wäre das nicht nur noch mehr Wasser auf die Mühlen derjenigen, denen es nicht gefiel, dass die Allianz-Flotte vor den Syndiks »davonlief«?
Doch wenn sie lange genug blieben, um das Shuttle zu bergen oder zu reparieren, und dabei ging dann etwas schief, liefen sie Gefahr, dass Syndik-Jäger die Witch einholten. Er konnte ein paar Schiffe entsenden, damit die die Witch verteidigten, doch wie viele wären dafür erforderlich? Wenn die Syndiks auf maximale Beschleunigung gingen und nach der halben Strecke mit den Bremsmanövern begannen, würden sie die Witch deutlich früher erreichen.
Und was würde mit den Gestrandeten auf Ishiki’s Rock geschehen, wenn die Syndiks schneller waren als erwartet? Je näher sie kamen, umso weniger Zeit blieb Geary zum Reagieren.
Einunddreißig Leute. Ein Frachtshuttle. Ich kann diese Leute rausholen, das ist gar kein Problem. Es sei denn, etwas anderes geht schief.
Was natürlich passieren könnte, und dann haben wir den Ärger. Und wenn ich versuche, mein Gesicht zu wahren, indem wir das Shuttle zu bergen versuchen, setze ich damit noch mehr Menschenleben aufs Spiel. Wenn wir das System schnell verlassen müssen…
Verlassen müssen, Geary? Sag lieber: wenn wir davonlaufen müssen.
Das ist es nämlich, was du machst, auch wenn du es noch so schön zu um-schreiben versuchst. Du weißt das, und jeder andere weiß das auch. Und es gefällt dir genauso wenig wie allen anderen.
Die Flotte hat mir bis hierher vertraut, da wird es Zeit, dass ich ihr auch vertraue. Wenn ich in der Lage sein will, diese Leute zu führen, dann muss ich ihnen vertrauen.
Und führen kann ich sie nur, wenn sie weiter an mich glauben.
Aber sie werden nicht weiter an mich glauben, wenn ich ihnen nicht zeige, dass sie siegen können, wenn sie auf mich hören.
Captain Desjani sah ihn an. Bezüglich der sich bietenden Alternativen war sie zweifellos zu den gleichen Schlussfolgerungen gelangt, und sicherlich fragte sie sich nun, wie er entscheiden würde.
Geary atmete tief durch, dann öffnete er einen Kanal zur ganzen Flotte. »An die Allianz-Flotte, hier spricht Captain Geary. An alle Einheiten: Nehmen Sie Gefechtsformation Alpha ein. Ich wiederhole, nehmen Sie Gefechtsformation Alpha ein. Führen Sie diesen Befehl sofort nach Erhalt aus. Nehmen Sie Position relativ zum Flaggschiff Dauntless ein, richten Sie die Formationsachse an der Längsachse der Dauntless aus. Alle Schiffe in Gefechtsbereitschaft gehen. Geschätzte Zeit bis zum Gefecht beträgt…«, er überschlug, wie schnell die beiden Streitkräfte aufeinandertreffen würden, wenn die Allianz-Flotte den Syndiks geradewegs entgegenflog, »…acht Stunden.« Er sah zu Desjani. »Captain Desjani, lassen Sie Ihren Komm-Wachhabenden bitte dem Personal auf Ishiki’s Rock mitteilen, dass die Flotte kommt, um sie abzuholen. Und dann lassen Sie die Dauntless bitte so drehen, dass der Bug auf den Rendezvouspunkt zeigt, an dem wir mit der Syndik-Flotte zusammentreffen, wenn diese weiter dem Kurs folgt, auf dem sie ins System gekommen ist.«
»Aye, aye, Sir!« So wie jeder andere, den er von seinem Platz aus auf der Brücke sehen konnte, machte Desjani einen aufgeregten Eindruck.
»Captain Geary!« Ihm war nicht aufgefallen, dass Co-Präsidentin Rione ebenfalls auf die Brücke gekommen war. Als er sich zu ihr umdrehte, bemerkte er ihre entrüstete Miene. »Haben Sie etwa vor, eine ausgewachsene Raumschlacht vom Zaun zu brechen, um die Kontrolle über dieses System zu erlangen?«
»Ja, genau das habe ich vor. Auf einem der Asteroiden in diesem System sitzen einunddreißig von unseren Leuten und ein Shuttle fest.«
»Und Sie glauben, Ihnen bleibt keine andere Wahl als ein Kampf mit den Syndik-Schiffen, die noch über einen halben Tag entfernt sind?«
Geary lächelte sie kurz und humorlos an. »Ich glaube, es ist aus einer Vielzahl von Gründen meine beste Wahl.«
»Sie können nicht Hunderte oder Tausende von Matrosen und wer weiß wie viele Schiffe aufs Spiel setzen, nur um einunddreißig Leute zu retten, die auch so ohne Probleme gerettet werden könnten. Und das Shuttle könnte ohne Weiteres auf diesem Asteroiden zurückblei-ben!«
»Keine der Alternativen bietet hundertprozentige Gewissheit, Madam Co-Präsidentin. Wir wissen nicht, was die Syndiks in genau dieser Minute tun. Selbst eine simple Rettungsmission, die durch unvorhersehbare Ereignisse verzögert wird, könnte die Witch und andere Schiffe in Gefahr bringen. Ja, ich riskiere die gesamte Flotte, um diese Leute, das Shuttle und alle Schiffe zu schützen, die versuchen, das Personal von dem Asteroiden zu holen. Es ist eine Frage der Verantwortung und des Vertrauens. Die Allianz-Flotte lässt niemanden im Stich.«
Plötzlicher Jubel ließ ihn und Rione hochschrecken. Als er sich umschaute, sah er, wie die Brückencrew die Fäuste reckte und zustimmend johlte.
Er wandte sich zu Captain Desjani um und bekam gerade noch mit, wie sie etwas in ihr Kommunikationssystem sagte. »Verzeihen Sie, Captain Geary. Ich hatte nur soeben Ihre Aussage flottenweit übertragen.« Obwohl er nun schon einige Monate an ihrer Seite verbracht hatte, war es für Geary immer noch ein Schock, den Ausdruck grenzenloser Bewunderung in ihren Augen zu sehen.
Aber er wusste auch, dass sie das Richtige gemacht hatte. So un-gern er das auch zugeben wollte – seine Worte würden der Flotte im bevorstehenden Gefecht den Rücken stärken. Und zweifellos würde man seine Bemerkung den inspirierenden Worten des großen Black Jack Geary hinzufügen. Er konnte nur zu jedem seiner Vorfahren beten, dass er niemals mitbekommen musste, wie jemand ihm seinen eigenen Spruch zitierte.
Rione machte den Eindruck, als würde sie auch beten. Allerdings vermutete Geary, dass sie eher dafür betete, der gesunde Menschenverstand möge doch noch die Oberhand gewinnen. »Captain Geary, wie kann ich Sie davon überzeugen, dass das Überleben dieser Flotte Vorrang vor allem anderen hat?«
»Madam Co-Präsidentin, ich kann Ihre Bedenken nachvollziehen.
Aber ich muss Sie bitten, meiner Überzeugung zu vertrauen, dass das Überleben dieser Flotte von zahlreichen Faktoren abhängt.«
»Captain.« Rione kam näher und sprach sehr leise weiter: »Sie wissen, wie wichtig es ist, dass die Dauntless unversehrt ins Gebiet der Allianz zurückkehrt. Das an Bord befindliche Objekt besitzt einen unschätzbaren Wert.«
»Das habe ich nicht vergessen«, erwiderte Geary genauso leise.
»Haben Sie dann vielleicht vergessen, dass ich die Schiffskontin-gente der Callas-Republik und der Rift-Föderation Ihrem Kommando entziehen kann, wenn ich das für richtig halte?«
»Nein, aber ich möchte Sie dringend bitten, das nicht zu tun.« Geary setzte eine Miene auf, die seiner Vorstellung davon entsprach, wie jemand dreinschauen musste, der sich aller Risiken bewusst und dennoch voller Zuversicht war. »Ich hätte gerne mit der Flotte noch länger geübt, doch die kann mit der Situation umgehen. Es gibt gute Gründe für mein Handeln, und ich hätte gern, dass Ihre Schiffe ebenfalls in Formation gehen.«
»Und wenn ich mich weigere?«
Geary atmete laut aus. »Dann gibt es nichts, was ich dagegen tun könnte. Das wissen Sie.«
Einen Moment lang musterte sie ihn, während sich Geary wünschte, seine Aufmerksamkeit wieder der sich anbahnenden Schlacht widmen zu können. Doch er wusste, er musste erst diese Angelegenheit erledigen. »Also gut, Captain Geary. Ihr bisheriges Handeln spricht für Sie. Sie sollen Ihre Schlacht bekommen, und die Schiffe der Callas-Republik und der Rift-Föderation stehen Ihnen zur Verfügung. Mögen die lebenden Sterne dafür sorgen, dass keiner von uns seine Entscheidung bereuen wird.«
»Danke.« Geary atmete noch einmal tief durch, dann konzentrierte er sich wieder auf das Display. Es würde noch einige Stunden dauern, bevor die Flotten aufeinandertrafen, aber er hatte bereits die ersten Schritte in die Wege geleitet, und eine Auseinandersetzung war damit unausweichlich geworden. Die verbleibende Zeit musste er nutzen, um seine Chancen auf einen Sieg zu maximieren. Und er musste Vorkehrungen für den Fall treffen, dass sie von einer Katastrophe heimgesucht wurden und er eine weitere verzweifelte Flucht aus dem Hut zaubern musste.