Die kalte Luft, die durch die Ventilation hereinwehte, trug noch immer einen leichten Geruch nach überhitztem Metall und verschmor-tem Material mit sich. Schwache Echos einer Explosion drangen bis zu seiner Kabine vor, während ein Zittern durch das Schiff ging. Die Stimmen vor der Schleuse wurden vor Schreck lauter, hastige Schritte waren zu hören. Für ihn war das alles kein Grund, sich von der Stelle zu rühren, denn er wusste, wenn der Feind seine Angriffe wieder aufgenommen hätte, wäre längst der Alarm ertönt, und dem Schiff wäre mehr als nur ein Treffer zugefügt worden. Und selbst wenn es sich um eine Attacke gehandelt hätte, gab es für ihn nichts zu tun, da ihm keine Aufgabe übertragen worden war.
Er saß in der kleinen Kabine, die man ihm zugewiesen hatte, und hielt die Arme vor der Brust verschränkt und die Hände unter die Achseln geschoben, um gegen eine innere Kälte anzukämpfen, die sich einfach nicht vertreiben lassen wollte. Er hörte die Geräuschku-lisse des Schiffs und seiner Crew, und solange die Luke geschlossen war, konnte er zumindest so tun, als kenne er dieses Schiff und die Crew. Aber die Schiffe, die er eigentlich kannte, und die Besatzungen, mit denen er gedient hatte, existierten schon lange nicht mehr, und das hätte ganz sicher auch auf ihn zutreffen sollen.
Ein wenig veränderte er seine Sitzposition, während er die Hände fester an seinen Körper drückte, aus dessen Innerstem unablässig Kälte aufstieg. Bei dieser Bewegung strich er mit einem Knie gegen die raue Kante des kleinen Schreibtischs, mit dem diese Kabine aus-gestattet war. Er betrachtete die Kante und versuchte zu verstehen, was sie zu bedeuten hatte. Die Zukunft sollte eigentlich glatt sein, glatt und sauber, hell und freundlich. Sie sollte nicht rauer sein als die Vergangenheit. Das wusste doch jeder. Andererseits sollten Kriege auch nicht allem Anschein nach ewig dauern und der Zukunft ihre Glätte und ihre Helligkeit rauben; einer Zukunft, die nun nur noch auf Effizienz ausgerichtet sein konnte.
»Captain Geary, Sie werden im Shuttlehangar benötigt.«
Es dauerte einen Moment, ehe die Mitteilung zu ihm durchdrang.
Warum wurde er dort benötigt? Doch Befehl war Befehl, und wenn ihm jetzt auch noch die Struktur der Disziplin abhanden kam, dann würde ihm vielleicht überhaupt nichts mehr bleiben. Er atmete schwer aus und erhob sich. Seine Beine waren von der inneren und äußeren Kälte steif. Bevor er die Kabine verließ, stählte er sich innerlich, da er den Leuten da draußen gar nicht gegenübertreten wollte.
Dann aber riss er die Luke auf und machte sich auf den Weg.
In den Gängen der Dauntless, dem Schlachtkreuzer der Allianz, drängten sich Unteroffiziere ebenso wie Offiziere, die für ihn Platz machten, sobald sie ihn bemerkten. Dabei entstand eine schmale Gasse, die sich wie durch Magie vor ihm öffnete und gleich hinter ihm wieder schloss, während er sich beharrlich in Richtung Shuttlehangar schleppte. Dabei schaute er stur geradeaus, um in keines der Gesichter zu blicken, da er genau wusste, was sich in ihnen wider-spiegeln würde. Er hatte die Hoffnung und die Ehrfurcht gesehen, die für ihn weder nachvollziehbar noch erstrebenswert waren. Und er wusste, dass sich zu dieser Ehrfurcht auch noch Schmerz und Verzweiflung gesellten, und in solche Gesichter wollte er schon gar nicht sehen. Es kam ihm vor, als würde er sie alle enttäuschen, obwohl er ihnen nie etwas versprochen und auch nie behauptet hatte, mehr zu sein, als er in Wahrheit war.
Plötzlich war die Menge vor ihm so gedrängt, dass es kein Durch-kommen für ihn gab. Eine junge Frau, ein Junioroffizier, drehte sich um und bemerkte ihn. »Captain Geary!«, rief sie, wobei eine völlig irrationale Hoffnung ihr Gesicht strahlen ließ, dessen eine Seite mit schmieriger Hydraulikflüssigkeit überzogen war. Ein leichter Gips-verband an einem Arm bedeckte eine Verletzung aus der jüngsten Schlacht. Ihre Uniform wies an der Seite des verletzten Arms Brand-spuren auf.
Geary wusste, er sollte mit irgendeiner Bemerkung reagieren, aber ihm wollte einfach nichts einfallen. »Zum Shuttlehangar«, erklärte er schließlich.
»Auf diesem Weg kommen Sie da nicht hin, Captain«, erwiderte die Frau, der mit einem Mal nichts mehr von ihrer Erschöpfung anzumerken war und die auch keine Notiz davon nahm, dass Geary eigentlich gar nicht auf sie reagiert hatte. Ihr plötzlicher Enthusias-mus ließ sie unglaublich jung erscheinen, wodurch er sich sogar noch älter fühlte. »Solange die Schäden vom letzten Gefecht besei-tigt werden, bleibt der Zugang versiegelt. Sie haben die letzte Erschütterung gespürt, nicht wahr? Wir mussten einige Brennstoffzellen abstoßen, bevor sie explodieren konnten. Aber bald werden wir wieder einsatzbereit sein. Wir sind doch noch nicht geschlagen, oder? Das kann nicht sein.«
»Ich muss zum Shuttlehangar«, wiederholte Geary langsam.
Die junge Frau blinzelte. »Zum Shuttlehangar… Begeben Sie sich zwei Decks tiefer und dann geradeaus. Der Weg dort sollte frei sein.
Es ist gut, Sie zu sehen, Sir.« Bei diesem letzten Satz versagte ihre Stimme.
Es ist gut, mich zu sehen?, wunderte sich Geary. Eine aus Wut geborene Hitze lieferte sich einen heftigen Kampf mit der eisigen Kälte in seinem Inneren. Wieso? Doch er nickte nur und antwortete nüchtern:
»Danke.«
Zwei Decks tiefer bewegte sich Geary wieder durch die Menge, die sich vor ihm teilte und hinter ihm die Reihen schloss. So sehr er sich auch bemühte, niemanden anzusehen, nahm er doch immer wieder aus dem Augenwinkel schmerzhaft verzogene Gesichter wahr, die von einem krankhaften Optimismus erfasst wurden, sobald sie Geary bemerkten.
Admiral Bloch wartete am Zugang zum Shuttlehangar, sein Stabschef und eine kleine Gruppe anderer Offiziere an seiner Seite. Bloch gab Geary ein Zeichen und zog ihn zu sich, um unter vier Augen mit ihm zu reden. Im Gegensatz zu den anderen wirkte Bloch über das jüngste Gefecht nicht so verzweifelt, sondern vielmehr betäubt, als könne er noch immer nicht so ganz verstehen, was sich abgespielt hatte.
»Die Syndik-Führer haben sich zu Verhandlungen bereit erklärt und bestehen darauf, dass ich und alle anderen Flaggoffiziere persönlich daran teilnehmen. Wir befinden uns nicht in der Position, eine Weigerung auszusprechen.« Die Stimme des Admirals klang verhalten und wirkte ganz anders als jener volltönende Enthusias-mus, an den Geary sich gewöhnt hatte. Selbst seine Augen waren matt. »Damit sind Sie während unserer Abwesenheit der ranghöchste Offizier an Bord, Captain.«
Geary legte die Stirn in Falten. Bis zu diesem Moment war ihm diese Tatsache gar nicht bewusst gewesen, aber tatsächlich hatte sich bis heute nichts daran geändert, dass er ein Captain war, auch wenn die Beförderung sehr lange zurücklag. Mit diesem Dienstgrad war jedoch auch Verantwortung verbunden. »Ich kann nicht…«
»Doch«, unterbrach ihn Admiral Bloch und atmete tief durch. »Bitte, Captain. Die Flotte braucht Sie.«
»Sir, bei allem Respekt…«
»Captain Geary, ich könnte es Ihnen nicht verdenken, wenn Sie sich fragen, ob es für Sie nicht besser gewesen wäre, hätten wir Sie nicht gefunden. Ich dachte… Viele Leute dachten, dass das ein Vor-bote des Glücks war. ›Black Jack‹ Geary kehrt von den Toten zu-rück, um die Flotte der Allianz auf dem Weg zu ihrem größten Sieg zu begleiten.« Einen Moment lang schloss Bloch die Augen. »Jetzt muss ich das Kommando über die Flotte jemandem übergeben, dem ich vertrauen kann.«
Geary verzog den Mund und wollte Bloch anschreien, um dem Admiral klarzumachen, dass der Mann, dem er seine Flotte anvertrauen wollte, nicht der Mann war, der jetzt vor ihm stand. Dass diese Person nie existiert hatte. Aber Blochs Augen waren nicht nur matt, sondern tot, wie Geary nun sehen konnte. Schließlich nickte er bedächtig. »Aye, aye, Sir.«
»Wir sitzen in der Falle. Diese Flotte ist die letzte Hoffnung der Allianz. Aber das ist Ihnen natürlich klar. Wenn etwas geschieht, dann… geben Sie Ihr Bestes. Versprechen Sie es mir.«
Wieder musste Geary gegen den Wunsch ankämpfen, lautstark zu widersprechen. Doch es würde zu schwer für ihn sein, dieses innere Eis zu brechen, und ein starrsinniges Pflichtgefühl beharrte darauf, dass er sich Admiral Blochs Bitte nicht verweigern konnte. »Das verspreche ich.«
»Die Dauntless… Hören Sie, Captain…«, Bloch beugte sich vor und redete noch leiser weiter. »Die Dauntless hat den Schlüssel an Bord. Verstehen Sie? Fragen Sie Captain Desjani. Sie weiß es, und sie kann es erklären. Dieses Schiff muss heimkehren. Irgendwie, egal wie. Der Hypernet-Schlüssel muss zurück zur Allianz gelangen.
Wenn wir das schaffen, dann gibt es noch eine Chance und wir werden die Schiffe und die Menschen nicht völlig umsonst verloren haben. Versprechen Sie es mir, Captain Geary.«
Geary starrte ihn verständnislos an, der inständige Tonfall in der Stimme des Admirals traf ihn trotz seiner betäubten Sinne wie ein Schock. Es war ja nicht so, als hätte Geary für alle Zeit das Kommando. Bloch würde mit den Syndiks verhandeln, zurückkehren und damit wieder die Befehlsgewalt ausüben. Geary musste sich nicht mit den Einzelheiten dieses »Schlüssels« auf der Dauntless beschäftigen, der in irgendeinem Zusammenhang mit dieser modernen Methode der Reise von Stern zu Stern stand, die noch schneller verlief als die überlichtschnelle Systemsprünge aus Gearys Zeit. »Jawohl, Sir.«
»Gut. Danke! Vielen Dank, Captain. Ich wusste, wenn ich auf jemanden zählen kann, dann auf Sie.« Falls Geary eine Reaktion auf diese Aussage des Admirals anzusehen sein sollte, ließ sich Bloch zumindest nichts davon anmerken. »Ich werde da drüben mein Bestes geben, aber wenn es hart auf hart kommt…« Einen Moment lang schwieg der Admiral. »Wenn es irgendwie geht, versuchen Sie das zu retten, was von der Flotte noch übrig ist.« Als er Geary dann zu den anderen führte, verkündete er laut und deutlich: »Während meiner Abwesenheit übernimmt Captain Geary das Kommando über die Flotte.«
Alle Offiziere drehten sich daraufhin zu Geary um, die jüngeren mit einer Mischung aus Erstaunen und Erleichterung, die älteren mit skeptischer Miene, während sie alle murmelnd den Befehl des Admirals zur Kenntnis nahmen.
Geary hob die Hand zum förmlichen Salut, der ihm in Fleisch und Blut übergegangen war, den er aber in dieser Flotte bislang nirgends hatte beobachten können. Er wusste nicht, wann man in der Flotte der Allianz aufgehört hatte, das Salutieren als selbstverständliche militärische Höflichkeit anzusehen, doch er würde den Teufel tun und einem vorgesetzten Offizier zum Abschied nachwinken. Bloch reagierte mit einer eingerosteten, halbherzigen Geste, dann wandte er sich ab und durchquerte eilig den Eingangsbereich, um zu dem wartenden Shuttle zu gelangen. Ihm folgten ein paar der älteren Offiziere.
Reglos sah Geary mit an, wie das Shuttle ablegte, während er rätselte, wie er sich nun fühlen sollte. Kommandant über eine ganze Flotte. Beziehungsweise über das, was von dieser Flotte noch übrig war. Der Höhepunkt in der Karriere eines Offiziers der Navy.
Natürlich würde dieses Kommando nur kurze Zeit währen. Ganz gleich, wie düster die Lage auch sein mochte, wollte doch keiner von ihnen, dass er tatsächlich die Befehlsgewalt hatte. Das war von Admiral Bloch nur eine Geste an den legendären Captain »Black Jack« Geary, eine symbolische Ehre, bis der Admiral seine Verhandlungen abgeschlossen hatte. Diese Verhandlungen mochten sich eine Weile hinziehen, aber Geary hatte selbst einmal mit Vertretern der Syndikatwelten zu tun gehabt. Zwar waren ihm die Syndiks nie sympathisch gewesen, doch er war sich sicher, dass sie lieber jetzt eine Einigung finden würden, statt die Verluste zu riskieren, die eine in der Falle sitzende Allianz-Flotte ihnen im Todeskampf noch zufügen würde.
Ihm wurde bewusst, dass die verbliebenen Offiziere ihn anstarrten, wobei sich zu der Bandbreite ihrer Gefühlsregungen nun auch noch gebannte Erwartung gesellte. Geary wandte sich der Gruppe zu und nickte. »Weggetreten.« Alle zogen sich sofort zurück, nur zwei von ihnen blieben lange genug stehen, um mit einem ungelen-ken Salut den Befehl zu bestätigen. Geary erwiderte die Geste und fragte sich abermals, warum und wann eine solche Selbstverständlichkeit aus der Mode gekommen war.
Dann stand er da und sah den beiden Offizieren nach, wie sie sich entfernten. Was er als Nächstes tun sollte, wusste er nicht so recht.
Wo war der Platz des stellvertretenden Befehlshabers der Flotte?
Vermutlich auf der Brücke der Dauntless, wo ihn jeder beobachten konnte, weil niemand viel zu tun hatte. Welchen Unterschied macht es schon, wo ich hingehe? Wenn es sein muss, kann ich meine Befehle auch von der Kabine aus geben, aber das ist nicht nötig. Und was sollte ich machen, wenn ich Befehl geben könnte? Alles, was mir vertraut war, und jeder, den ich kannte, ist längst Geschichte. Ich bin so schrecklich müde. Fast ein ganzes Jahrhundert habe ich im künstlichen Tiefschlaf verbracht und das Dasein all meiner Freunde verschlafen, und trotzdem bin ich immer noch müde. Zum Teufel!
Er kehrte in seine Kabine zurück und setzte sich an den Schreibtisch mit den rauen Kanten, dann betrachtete er den Tisch und versuchte, so wie zuvor, an nichts zu denken. Aber das gelang ihm nicht, weil er jetzt eine Aufgabe hatte. Nach ein paar Minuten regten sich die Gewohnheiten des langjährigen Dienstes und ließen ihn aktiv werden. Geary studierte das Kommunikationspad gleich neben dem Schreibtisch, weil er Gewissheit haben wollte, dass er die richtigen Tasten betätigte. »Brücke, hier ist Captain Geary. Stellvertretender Befehlshaber der Flotte. Geben Sie mir bitte Bescheid, wenn das Flottenshuttle das Syndik-Flaggschiff erreicht hat.«
»Aye, aye, Sir.« Der Unteroffizier auf dem Schirm nickte eifrig, sein Blick war von Ehrfurcht erfüllt, als er Geary sah. »Geschätzte Ankunftszeit ab jetzt in fünfzehn Minuten.«
»Danke.« Hastig schaltete Geary den Schirm ab, da ihn die offensichtliche Heldenverehrung des Mannes nervös machte. Er versuchte, sich wieder in diesen betäubten Zustand zu versetzen, doch sein Pflichtgefühl wollte ihm einfach keine Ruhe lassen. Anstatt weiter dagegen anzukämpfen, widmete er sich den übrigen Kontrollen.
Das Gefechtssystem des Flaggschiffs wollte ihn zuerst nicht den aktuellen Status der Flotte wissen lassen, doch von irgendwoher empfing es die Information, dass Geary jetzt der stellvertretende Befehlshaber war, und fast zähneknirschend gewährte es ihm schließlich doch den Zugriff. Geary las die Liste der Schiffe langsam und me-thodisch durch, und schließlich begann sich unter dem Gefühl innerlich völlig abgestorben zu sein, Schmerz zu regen. So viele Schiffe hatten sie verloren, so viele verbliebene Schiffe waren stark beschädigt. Kein Wunder, dass sich Admiral Bloch zu Verhandlungen mit den Syndiks bereit erklärt hatte.
»Captain Geary. Unser Shuttle hat das Syndik-Flaggschiff erreicht.«
»Danke.« Geary wollte sich nicht vorstellen, wie Admiral Bloch durch das feindliche Schiff getrieben wurde, um den siegreichen Gegner anzuflehen oder einen Bluff zu versuchen, damit er ihm wenigstens ein paar Zugeständnisse abringen konnte. Geary hatte sich nicht darum gekümmert wie die Syndiks mit ihren eigenen Leuten, geschweige denn mit anderen Leuten, umgingen, aber man konnte mit ihnen reden.
»Ca-Captain Geary, hier ist der Ko-Kommunikationsoffizier.«
Geary schaute auf den Bildschirm. Der Mann schien noch aufgewühlter als jeder andere, den er bislang zu Gesicht bekommen hatte.
Viel, viel aufgewühlter. »Was gibt es?«
»Eine… eine Nachricht… vom Syndik-Flaggschiff, Captain. S-sie wurde an alle Schiffe gesendet.«
»Stellen Sie sie zu mir durch.« Das Gesicht des Offiziers verschwand vom Schirm, dann sah Geary Admiral Bloch und die anderen Senioroffiziere der Allianz, die vor einem Schott standen, das sich auf dem Syndik-Flaggschiff befinden musste. Die Kamera fuhr zurück, sodass ein Shuttlehangar ebenso erkennbar wurde wie ein Syndik-Vertreter in maßgeschneiderter Uniform mit glänzenden Rangabzeichen und der unverkennbaren Arroganz eines Chief Executive Officer.
»Allianz-Flotte, Ihr Admiral kam zu uns, um die Bedingungen Ihrer Kapitulation ›auszuhandeln‹«, sprach der CEO in die Kamera und machte eine Geste.
Gearys Mund war mit einem Mal trocken, als ein Syndik-Spezial-trupp vor die Gruppe trat – einer für jeden Allianz-Offizier – und aus nächster Nähe das Feuer auf Admiral Bloch und die anderen eröffnete. Bloch und seine Leute versuchten noch, ihre Habtachtstellung zu wahren, doch als das Blut ihre Uniformen zu tränken begann, konnten sie sich nicht länger auf den Beinen halten. Augenblicke später lagen alle Allianz-Offiziere regungslos und offensichtlich tot auf dem Boden.
Der Syndik-CEO deutete mit einer nachlässigen Geste auf die Leichen. »Es gibt mit Ihren vormaligen Anführern nichts zu verhandeln. Wer sonst noch versuchen will, mit uns zu ›verhandeln‹, den erwartet das gleiche Schicksal wie diese Dummköpfe. Diejenigen Allianz-Schiffe und -Offiziere, die sich bedingungslos ergeben, werden wir angemessen behandeln. Wir liegen nicht mit denjenigen im Streit, die von fehlgeleiteten Anführern wie jenen dort zum Kampf gegen uns gezwungen wurden.« Trotz des Schocks fragte sich Geary, ob dem Syndik-CEO eigentlich klar war, wie verlogen sich diese Aussage anhörte. »Aber wer versucht, mit uns zu ›verhandeln‹, der wird sterben, wenngleich vielleicht nicht so schnell wie Ihr Admiral.
Sie haben eine Stunde Zeit, um Ihre Schiffe an uns zu übergeben.
Danach werden wir jeden Widerstand zerschlagen.«
Geary starrte auf den Monitor, als das Bild verschwand und der Kommunikationsoffizier wieder auftauchte, der Geary mit verzweifelter Miene anschaute. Er wusste, dass die Syndiks erbarmungslos waren, aber er hätte nie für möglich gehalten, dass sie zu solch abscheulichen Handlungen fähig waren. So wie andere Dinge, die Geary seit seinem Erwachen in Erfahrung gebracht hatte, schien es, als hätten sich die Syndiks im Verlauf dieses langen Kriegs sehr verändert, und das nicht zum Guten.
Ein paar Sekunden vergingen, ehe ihm klar wurde, dass das Kommando über die Flotte nicht länger nur eine vorübergehende Sache war. Eine im Gefecht stark dezimierte Flotte, die in der Falle saß, die einem zahlenmäßig hoffnungslos überlegenen Feind gegenüberstand. Und der noch eine Stunde bis zur Kapitulation oder zur völligen Vernichtung blieb, während der Kommunikationsoffizier stellvertretend für unzählige Besatzungsmitglieder hoffte und betete, Geary werde irgendetwas unternehmen.
Er atmete tief durch und war sich bewusst, dass die Leere, die er seit seiner Rettung in seinem Innersten verspürte, ihm jetzt half, keine Miene zu verziehen. »Geben Sie mir Captain…« Wie war der Name, den Admiral Bloch erwähnt hatte? »Desjani. Captain Desjani. Sofort.«
»Jawohl, Sir. Sie ist auf der Brücke, Sir.«
Auf der Brücke. Erst jetzt fiel Geary ein, dass Desjani die Befehlshaberin der Dauntless war. Hatte er sie kennengelernt? Er konnte sich nicht erinnern.
Im nächsten Moment tauchte Captain Desjanis Gesicht auf dem Monitor auf. Sie schien im mittleren Alter zu sein, das Gesicht war von der Zeit, der Erfahrung und der jüngsten verheerenden Schlacht so sehr gezeichnet, dass Geary sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, wie sie wohl zu Friedenszeiten ausgesehen haben musste.
»Man sagte mir, Sie wollten mich sprechen.«
»Captain, ist Ihnen die letzte Nachricht der Syndiks bekannt?«
Bevor sie antwortete, schluckte sie erst schwer. »Ja. Sie wurde an alle Schiffe geschickt, jeder befehlshabende Offizier hat sie gesehen.«
»Wissen Sie, warum die Syndiks Admiral Bloch ermordet haben?«
»Weil sie seelenloser Abschaum sind«, gab sie zurück und zog an-gewidert die Mundwinkel nach unten.
Geary merkte, wie sich Ärger in ihm regte. »Das ist kein Grund, Captain.«
Einen Moment lang starrte sie ihn nur an. »Die haben uns unserer Anführer beraubt, Captain Geary. Eine Syndik-Flotte wäre in der gleichen Situation ohne Führung, und die nehmen an, dass das bei uns genauso läuft. Die wollen uns jeden Mut nehmen, indem sie uns ein Massaker zeigen. Indem sie vor unseren Augen unsere Füh-rungsriege ermorden, soll sichergestellt werden, dass wir keinen weiteren Widerstand organisieren können.«
Er reagierte mit einem ebenso starren Blick und fühlte sich einen Moment lang nicht in der Lage, ein Wort über die Lippen zu bringen. »Captain Desjani, diese Flotte ist nicht führungslos.«
Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich, sie machte große Augen.
» Sie haben das Kommando?«
»Das war Admiral Blochs Aussage. Ich dachte, das sei Ihnen bekannt.«
»Ich wurde davon in Kenntnis gesetzt, jedoch… ich war mir nicht sicher, wie Sie reagieren würden, Captain Geary. Aber Sie werden die Befehlsgewalt übernehmen? Den Sternen sei Dank. Ich muss die anderen Schiffe informieren. Ich hatte deren laufende Diskussion darüber mitverfolgt, wie wir vorgehen sollten, als Sie mich riefen.«
Geary vergaß, was er als Nächstes zu ihr hatte sagen wollen, als ihm bewusst wurde, welche mögliche Bedeutung Desjanis Aussage hatte. »Eine Diskussion? Worüber haben die anderen Captains diskutiert?«
»Was sie tun sollen, Sir. Sie reden darüber, wie sie nach dem Tod von Admiral Bloch und den anderen Flaggoffizieren weiter verfahren sollen.«
» Was machen sie?«, fragte Geary ungläubig und aufgebracht.
»Wurden sie nicht darüber informiert, dass Admiral Bloch mir das Kommando über die Flotte übertragen hat?«
»Ja… Sir.«
»Hat keiner der Captains mit dem Flaggschiff Kontakt aufgenommen, um Befehle entgegenzunehmen?«
Desjanis eben noch hoffnungsvolle Miene ließ nun eine andere Ge-fühlsregung erkennen, nämlich die Skepsis eines erfahrenen Offiziers, wenn dessen Vorgesetzter kurz vor dem Durchdrehen stand.
»Ähm… nein, Sir. Es gab keine Kontaktaufnahme mit dem Flaggschiff.«
»Diese Leute diskutieren, was sie tun sollen, und keiner von ihnen kommt auf die Idee, mit dem Flaggschiff Kontakt aufzunehmen?«
Geary hatte Mühe, allein die Tatsache zu begreifen, dass sich diese Captains nicht an ihn gewandt hatten. Auf das Salutieren zu verzichten, war eine Sache, aber Captains, die einfach die Anwesenheit einer übergeordneten Autorität ignorierten? Was war aus der Allianz-Flotte geworden, die er gekannt hatte? Captain Desjani beobachtete ihn aufmerksam und wartete auf den Wutausbruch, mit dem sie fest rechnete. Doch mit erzwungener Ruhe sprach er dann die Worte, die sich irgendwo tief in ihm formten, so als würde er eine uralte Aufnahme abspielen. »Captain, nehmen Sie bitte mit den Kommandanten aller Schiffe Kontakt auf und richten Sie ihnen aus, sie sollen sich auf Anweisung des Befehlshabers der Flotte zu einer Konferenz an Bord des Flaggschiffs einfinden.«
»Uns bleibt weniger als eine Stunde, bis das Ultimatum der Syndiks abläuft, Captain Geary.«
»Dessen bin ich mir bewusst, Captain Desjani.« Und ich bin mir in zunehmendem Maß bewusst, dass ich diesen Leuten zeigen muss, dass ich hier das Kommando habe, damit mir diese Flotte nicht zerfällt. Außerdem muss ich unbedingt etwas über diese Captains erfahren, damit ich sie nicht in einem entscheidenden Punkt falsch einschätze. Ich weiß verdammt zu wenig über sie. »Admiral Bloch zeigte mir seinen Konferenzraum und sagte, er könne dort ein virtuelles Treffen mit seinen Captains einberufen.«
»Ja, Sir. Das erforderliche Datennetz ist innerhalb der Flotte noch funktionsfähig.«
»Gut. Ich will sie in zehn Minuten bei dieser Konferenz sehen, und innerhalb der nächsten fünf Minuten erwarte ich von jedem einzelnen Captain die Bestätigung meines Befehls. Und falls sich einer von ihnen drücken möchte, sagen sie ihm, jeder ist zur Teilnahme verpflichtet.«
»Ja, Sir.«
Mit einem Anflug von Schuldgefühlen fiel ihm ein, dass er Captain Desjani auf ihrem eigenen Schiff in einem ganz und gar unhöflichen Tonfall herumkommandiert hatte. Er selbst hatte das auch gehasst, als ihm so etwas einmal widerfahren war. Das musste er sich jetzt vor Augen halten. »Vielen Dank, Captain. Kommen Sie bitte zum Konferenzraum. Wir treffen uns davor in… acht Minuten.«
Wenn er sich nicht täuschte, war der Konferenzraum ungefähr fünf Minuten von seiner Kabine entfernt. Geary nutzte die verbleibenden drei Minuten, um noch einmal die Aufstellung der Flotte aufzurufen, dann sah er sich eindringlich die Positionen der verschiedenen Schiffe zueinander an und ging im Geiste durch, welches von ihnen wie stark beschädigt worden war. Was früher einmal eine pflichtgemäße geistige Übung gewesen war, hatte sich zu etwas entwickelt, das er innerhalb von drei Minuten so umfassend wie möglich in sich aufnehmen musste. Ihm fiel etwas auf, was auf der Anzeige fehlte, etwas, von dem er wusste, dass es dort sein sollte. Er ergänzte es und sah sich die Darstellung eine Weile an, während er zu verstehen versuchte, warum sie für ihn keinen Sinn ergab.
Wieder war er in den Gängen der Dauntless unterwegs, wieder waren die Gesichter der Crew ihm erwartungsvoll zugewandt. Geary erinnerte sich an das Versprechen, das er Admiral Bloch gegeben hatte, und versuchte, den Eindruck zu erwecken, als wisse er genau, was er da tue. Er war auch mal ein Junioroffizier gewesen und hatte sich diesen Trick vor langer Zeit angeeignet. Allerdings war er sich nicht sicher, was er sonst noch gelernt hatte, das sich jetzt wirklich als hilfreich erweisen konnte.
Ein Marine der Allianz stand stocksteif in Habtachtstellung vor dem Konferenzraum und salutierte, als Geary sich ihm näherte. Die Geste irritierte ihn einen Moment lang, bis er begriff, wenn es jemanden gab, der an alten Traditionen festhielt, dann waren es die Marines.
Captain Desjani trat vor. »Captain Geary, die Befehlshaber aller Schiffe sind anwesend.«
Er warf einen Blick in Richtung Konferenzraum, der aus seinem gegenwärtigen Blickwinkel leer zu sein schien. »Alle?«
»Ja, Sir. Die meisten von ihnen scheinen glücklich darüber zu sein, Ihre Befehle entgegenzunehmen«, fügte Desjani hastig an.
»Glücklich.« Natürlich waren sie glücklich. Sie hatten keine Ahnung gehabt, was sie tun sollten, aber jetzt konnten sie sich ja an ihn wenden. Und das galt auch für Desjani, die um mindestens zehn Jahre jünger geworden zu sein schien, seit er das Kommando übernommen hatte. Sie warten auf den Helden, der sie retten kommt, dachte Geary grimmig. Dabei ist das so unfair. Nach allem, was sie durchgemacht haben… Er überlegte, wie er sich fühlte mit dieser Leere in seinem Inneren, und er fragte sich, welche Leere diese Leute verspüren mochten, nachdem sich ihre Welt plötzlich so sehr verändert hatte, dass es ihre Vorstellungskraft überstieg. Forschend betrachtete er den Captain der Dauntless und versuchte zu erkennen, was sich unter dieser Erschöpfung befinden mochte. »In welcher Verfassung sind sie?«
Sie stutzte, als verstehe sie die Frage nicht richtig. »Alle Captains haben uns den aktuellen Status über die Schäden an ihren Schiffen gemeldet, Sir. Sie können sie abrufen und…«
»Das habe ich bereits. Aber ich rede nicht von den Schiffen. Sie haben mit diesen Leuten gesprochen, Captain. Ich darf annehmen, Sie kennen sie gut. In welcher Verfassung sind sie?«
Captain Desjani zögerte. »Sie haben alle die Nachricht der Syndiks gesehen, Sir.«
»Das sagten Sie bereits. Und jetzt möchte ich Ihre ehrliche Meinung zu diesen Schiffskommandanten hören. Fühlen sie sich geschlagen?«
»Wir sind nicht geschlagen, Sir!« Der Satz endete nicht in dem en-thusiastischen Tonfall, in dem er begonnen hatte, und Desjani senkte einen Moment lang den Blick. »Sie sind… erschöpft und müde, Sir.
So wie wir alle. Wir dachten, ein Schlag im Heimatsystem der Syndiks könnte eine Entscheidung zu unseren Gunsten herbeiführen und diesem Krieg ein Ende bereiten. Wir führen den Krieg schon seit langer Zeit, Sir, und aus dieser Hoffnung ist nichts weiter her-ausgekommen als… als…«
»…als das hier.« Geary wollte den Plan nicht noch einmal beschrieben bekommen. Admiral Bloch hatte ihn im Gespräch mit ihm ein Dutzend Mal oder öfter erläutert. Ein kühner Schlag gegen den Feind, möglich gemacht durch etwas namens Hypernet, was es zu Gearys Zeiten nicht gegeben hatte, und durch einen Verräter in den Reihen der Syndiks. Oder besser gesagt: durch einen angeblichen Verräter. »Darf ich annehmen, dass wir es hier mit dem größten Teil der Syndik-Flotte zu tun haben?«
»Ja, Sir. Nahezu deren gesamte Flotte.« Desjani wurde leiser und kämpfte sichtlich um ihre Selbstbeherrschung. »Die nur auf uns gewartet hatte. Unsere Vorhut hatte schlichtweg keine Chance.«
»Das Hauptfeld konnte sich aber den Weg freischießen.«
»Richtig, allerdings zu einem sehr hohen Preis. Nicht einmal Black… entschuldigen Sie. Wir können nicht darauf hoffen, mit den uns noch verbliebenen Schiffen die Syndik-Streitkräfte da draußen zu besiegen.«
Geary wurde nachdenklich und nahm nur beiläufig wahr, wie Desjani sich abrupt unterbrochen und das Thema gewechselt hatte.
Wichtiger war, was sie gesagt hatte. Keine Hoffnung. Der Legende zufolge enthielt die Büchse der Pandora inmitten all der schlechten Dinge angeblich ein wahres Geschenk: Hoffnung. Etwas, das die Menschen dazu brachte, auch dann nicht aufzugeben, wenn doch schon alles verloren war. Aber wenn diese Leute tatsächlich auch alle Hoffnung aufgegeben hatten… Er schaute Captain Desjani an und entdeckte wieder, was er gar nicht sehen wollte. In den Augen, die auf ihn gerichtet waren, flackerte immer noch ein Funken Hoffnung.
»Sir.« Sie sprach auf eine sonderbar gestelzte Weise. »Wenn ich frei reden darf, Sir. Wir brauchen Sie. Wir alle brauchen etwas, wor-an wir glauben können. Jemanden, der uns hier rausbringen kann.«
»Ich bin keine Legende, Captain, oder für was Sie mich auch halten mögen.« So. Jetzt hatte er es ausgesprochen. »Ich bin ein ganz normaler Mensch, ich kann keine Wunder vollbringen.«
»Sie sind ›Black Jack‹ Geary, Sir! Sie kämpften in einer der ersten Schlachten in diesem Krieg, obwohl Sie sich in einer aussichtslosen Situation befanden.«
»Und ich verlor diese Schlacht, Captain.«
»Nein, Sir!«, widersprach Desjani so nachdrücklich, dass er er-schrak. »Sie wehrten den Angriff ab und stellten sicher, dass alle Schiffe dieses Konvois sich in Sicherheit bringen konnten! Und dann hielten Sie weiter Ihre Position, damit auch die Begleitschiffe entkommen konnten! Sie trotzten den Syndiks und gaben Ihrer eigenen Crew den Befehl, den Rückzug anzutreten, während Sie bis zur Zerstörung Ihres Schiffs weiterkämpften. Diese Geschichte habe ich in der Schule gelernt, Sir, so wie jedes Kind in der Allianz.«
Geary musterte sie lange. So ist es nicht gewesen, Captain, wollte er erwidern. Ich kämpfte, weil ich es musste. Weil ich einen Eid geleistet hatte. Und schließlich blieben wir zurück, weil das Schiff zu stark beschädigt worden war, um noch die Flucht anzutreten. Ich gab der Crew den Befehl, das Schiff zu evakuieren, aber das war auch meine Pflicht, kein Heldenmut.
Jemand musste den Rettungskapseln noch lange genug Feuerschutz geben, damit sie entkommen konnten, und genau das war mein Job.
Ich wollte nicht sterben. Als auch das letzte Gefechtssystem ausfiel, stellte ich den Antrieb auf Selbstzerstörung und versuchte, mit der letzten Rettungskapsel davonzukommen. Einer beschädigten Rettungskapsel, die weitere Schäden davontrug, als mein Schiff explodierte. Das Ortungssignal war ausgefallen, und damit war die Kapsel nur ein Trümmerstück unter vielen, die als Folge der Schlacht in diesem System umhertrieben. Niemand entdeckte mich. Erst hundert Jahre später kam Ihre mächtige Flotte durch dieses vergessene System geschlichen und stieß auf mich.
Dann wurde ich aufgeweckt und erfuhr, dass sich die Allianz zu etwas entwickelt hatte, das ich nicht wiedererkannte. Nachdem man mich für tot gehalten hatte, wurde ich posthum für meine »Heldentat« zum Flottencap-tain befördert und zum legendären Helden der Allianz erklärt. Ich glaube, ein Captain kann ich sein. Aber wie kann irgendjemand ein legendärer Held sein, wenn er noch lebt?
Nichts davon kam über Gearys Lippen, denn bei Desjanis Anblick wusste er, sie würde ihm kein Wort glauben. Und falls doch, dann würde er mit seinen Schilderungen nichts anderes bewirken, als auch noch diesen kleinen Funken Hoffnung erlöschen zu lassen. Ich habe dem Admiral versprochen, diese Flotte nach Möglichkeit zu retten.
Ich weiß zwar nicht, wie ich das anstellen soll, aber vielleicht hat ja dieses heldenhafte Idol, an das hier alle glauben, tatsächlich eine Chance, das zu schaffen. »Das ist lange her, Captain«, entgegnete er schließlich mit sanfter Stimme. »Aber ich werde mein Bestes geben.« Und dafür beten, dass mein Bestes auch gut genug ist. »Bevor wir diese Besprechung beginnen, was hat es mit diesem ›Schlüssel‹ auf sich?«
Desjani schaute erst in beide Richtungen den Korridor entlang, dann antwortete sie so leise, dass Geary sie kaum hören konnte:
»Der Hypernet-Schlüssel der Syndiks befindet sich an Bord der Dauntless.«
»Und was zum Teufel bedeutet das?«
Sie reagierte erschrocken. »Verzeihen Sie, ich habe nicht daran gedacht, dass Sie kein Hypernet hatten.«
»Ich weiß darüber nur, dass dieses Hypernet viel schnelleres interstellares Reisen ermöglicht als der Sprungantrieb.«
»Sehr viel schneller, richtig, Sir. Der exakte Vorteil gegenüber dem Systemsprung variiert in Abhängigkeit irgendwelcher wissenschaft-licher Faktoren, die ich ehrlich gesagt nicht verstehe, aber der Vorteil bewegt sich üblicherweise zwischen den Faktoren zehn und hundert.«
»Verdammt.«
Captain Desjani nickte und sah sich abermals um, damit sie sicher sein konnte, dass niemand sie belauschte. »Im Gegensatz zum Systemsprung, der sich des Schwerkraftfelds eines Sterns bedient, muss ein Hypernet erst geschaffen werden. Wenn es eingerichtet ist, wird es auf etwas abgestimmt, das man für gewöhnlich als Frequenz bezeichnet, auch wenn es eigentlich eine viel kompliziertere Angelegenheit ist. Jedem Portal wird eine Art Unterfrequenz zugewiesen.
Um ein bestimmtes Hypernet zu benutzen, benötigt man den sogenannten Schlüssel. Durch ihn gelangt man in das Hypernet und kann das gewünschte Portal wählen.«
Geary nickte, während er die Konsequenzen des soeben Gehörten zu verarbeiten versuchte. »Und weil wir einen Schlüssel zum Syndik-Hypernet besitzen, können wir es benutzen. Wie ist die Dauntless an einen Schlüssel der Syndiks gelangt?«
»Der Verräter gab ihn uns.« Sie verzog die Mundwinkel. »Der angebliche Verräter. Dadurch wurde unser Schlag gegen die Heimatwelt der Syndiks überhaupt erst möglich.«
»Ich verstehe. Die Syndiks gaben Ihnen das Mittel an die Hand, um herzukommen, und Sie flogen Ihnen geradewegs in die Arme.«
Die müssen geahnt haben, dass ihr euch eine solche Gelegenheit nicht ent-gehen lassen würdet.
»Ja, Sir.«
»Dann wissen die Syndiks also, dass wir den Schlüssel haben.
Warum ist die Tatsache so wichtig, dass er sich auf der Dauntless befindet?«
»Weil sie wissen, dass wir den Schlüssel haben, aber ihnen nicht bekannt ist, auf welchem Schiff er sich befindet. Sie haben keine Ahnung, ob er vielleicht schon zerstört worden ist oder ob er sich noch auf einem der überlebenden Schiffe befindet. Wenn sie wüssten, dass er sich an Bord der Dauntless befindet…«
»Dann würden sie sofort alles daransetzen, die Dauntless zu vernichten, um Gewissheit zu bekommen, dass auch der Schlüssel zerstört wird.«
»Ja, Sir.«
»Können die nicht einfach die… ähm, die Frequenz ihres Hypernets verändern?«
Desjani schüttelte den Kopf. »Das ist unmöglich, Captain Geary.
Sobald das Hypernet erst einmal eingerichtet ist, kann an den Gr-undeinstellungen nichts mehr verändert werden.«
Geary dachte über ihre Worte nach und war sich nur zu gut der Tatsache bewusst, dass er noch eine Menge zu lernen hatte. Im Augenblick jedoch musste er sich in den Konferenzraum begeben, um mit den Captains der anderen Schiffe zu reden. »Wie groß ist dieser Schlüssel?«
»Zu groß, als dass ihn jemand bei sich tragen könnte, wenn Sie das meinen. Er ist groß und schwer.«
»Können wir ein Duplikat herstellen? Kopien, die wir an einige andere Schiffe weitergeben?«
»Nein, das geht über die Fähigkeiten eines jeden Schiffs in der Flotte hinaus. Zu Hause, im Gebiet der Allianz, gibt es Welten, auf denen man dazu fähig ist.«
Er überlegte, welche Bedeutung der Schlüssel für die Allianz hätte, könnte man ihn nach Hause zurückbringen. Eine Aufgabe mehr, die auf den Schultern des großen Helden lastete. »Kommen Sie, reden wir mit den anderen Kommandeuren.« Leute, die so wie er aussahen, die aber offenbar nicht so dachten wie er. Wie lange würde er wohl brauchen, um all die Unterschiede herauszufinden, die sich im Verlauf von hundert Jahren Krieg entwickelt hatten? Er würde sehr sorgfältig darauf achten müssen, was sie sagten… »Warten Sie. Eine Sache noch. Als Sie davon sprachen, wir könnten nicht darauf hoffen, diese Syndik-Flotte hier zu besiegen, da wollten Sie eigentlich etwas anderes sagen. Was war das?«
Desjani trat verlegen auf der Stelle und wich seinem Blick aus. »Ich… ich wollte sagen, dass nicht mal Black Jack persönlich diese Syndik-Flotte besiegen könnte, Sir.«
Nicht mal Black Jack persönlich könnte diese Syndik-Flotte besiegen. Das klang nach einem geflügelten Wort. Sekundenlang rätselte Geary, was er darauf erwidern sollte, dann kam ihm ein Anflug von Selbstironie zu Hilfe. »Tja, Captain Desjani, dann wollen wir doch hoffen, dass Sie sich in dem Punkt irren, nicht wahr?«
Sie sah ihn ausdruckslos an, dann begann sie unerwartet zu grinsen. »Ja.«
Geary betrat den Konferenzraum, Desjani folgte ihm und deutete auf einen Platz in der Nähe der Tür. Eigentlich war der Raum gar nicht so groß. Geary hatte ihn zu sehen bekommen, als das virtuelle Konferenzsystem ausgeschaltet war. Es handelte sich um einen Raum von mittlerer Größe mit einem entsprechenden Tisch, der genug Platz für diejenigen bot, die tatsächlich an Bord der Dauntless waren, um an einer Besprechung teilzunehmen. Aber nun war das System eingeschaltet, und als Geary seinen Platz erreichte, erstreckte sich der Tisch weit vor ihm, und zu beiden Seiten saßen die Befehlshaber der verschiedenen Schiffe dieser Flotte. Unwillkürlich starrte Geary die Männer und Frauen an, da es ihn erstaunte, dass es so aussah, als würden sie alle sich tatsächlich in diesem Raum aufhalten. Sobald er einen von ihnen länger anschaute, kam das Bild näher, bis derjenige gleich neben ihm zu sitzen schien. Gleichzeitig wurde ein Schild mit dem Namen des jeweiligen Captains und seines Schiffs eingeblendet. In der Tischmitte befand sich für jeder-mann deutlich sichtbar eine Projektion, die die Positionen von Allianz-und Syndik-Schiffen darstellte. Während seines langen Schlafs hatte sich die Technologie in Sachen virtueller Bilder deutlich wei-terentwickelt.
Ich schätze, so ist es viel einfacher, Besprechungen abzuhalten. Geary fragte sich, ob das wirklich eine gute Sache war oder ob diese Technologie mit dazu beigetragen hatte, den Geist innerhalb der Flotte erlahmen zu lassen. Er stellte sich an seinen Platz und überlegte, ob wohl jemand »Stillgestanden« rufen würde. Aber als das nicht geschah, setzte er sich steif hin.
Niemand sprach ein Wort, und von Captain Desjani abgesehen, die links von ihm Platz genommen hatte, wurde er von allen Offizieren einfach nur angeschaut. Er erwiderte die Blicke und musterte einen Kommandanten nach dem anderen. Einige von ihnen wahrten bewusst eine nichtssagende Miene, um ihre Gefühle zu verbergen, andere, denen es nicht gefiel, dass Geary ihnen Befehle geben sollte, schauten ihn herausfordernd an. Doch die Mehrheit hatte sichtlich Angst vor dem Tod und betete, davor bewahrt zu werden. Allen gemeinsam war ein matter und zugleich besorgter Ausdruck, wenngleich auch unterschiedlich intensiv.
Geary holte tief Luft und beschloss, sich nicht von dem Mangel an Förmlichkeit anstecken zu lassen, der ihm in dieser Flotte an jeder Ecke begegnete, sondern sich so zu verhalten und so zu reden, wie er es gewohnt war. »Wer mich bislang noch nicht kennengelernt hat, ich bin Captain John Geary. Als Admiral Bloch die Dauntless verließ, übertrug er mir das Kommando über die Flotte. Ich beabsichtige, dieser Verantwortung nach bestem Können und Gewissen gerecht zu werden.« Er fragte sich, wie die anderen wohl seine Stimme wahrnahmen und was seine Worte ihnen bedeuteten.
Eine Frau, die kurz vor der Pensionierung stehen musste, warf ihm einen stechenden Blick zu. »Nannte Admiral Bloch einen Grund für diese Maßnahme?«
Geary verspürte ein schwaches Lodern in seinem Inneren, das eine willkommene Abwechslung zu der Kälte darstellte, die ihm seit seiner Rettung zu schaffen machte. »Es gehört nicht zu meinen Ange-wohnheiten, einen vorgesetzten Offizier nach den Beweggründen für seine Entscheidung zu befragen.« Ein Raunen lief durch die Reihen der Captains, aber ihm war nicht klar, was das bedeuten mochte. »Admiral Bloch ließ mich allerdings wissen, ich sei aufgrund meines Dienstgrads und meiner Dienstzeit während seiner Abwesenheit der ranghöchste Offizier dieser Flotte.«
Die Frau zog spöttisch die Augenbrauen hoch. »Dienstzeit? Ist das Ihr Ernst?«
»Wollen Sie damit vorschlagen, dass wir unsere Dienstzeiten miteinander vergleichen, Captain…« Er sah auf das Namensschild, das neben ihr in der Luft hing. »Captain Faresa?«
»Das wäre bedeutungslos, wie Sie wissen.«
»Nein, das weiß ich nicht.« Geary ließ die aufsteigende Hitze auf seinen Tonfall überspringen. »Wenn die Captains dieser Flotte untereinander zu streiten beginnen, was über einen vorgesetzten Dienstgrad entscheiden sollte oder nicht, dann wird diese Flotte dadurch ins Chaos gestürzt, und Sie werden alle sterben.«
Es folgte ein kurzes Schweigen, bis sich ein anderer Offizier zu Wort meldete. Es war Captain Numos von der Orion. »Wollen Sie damit sagen, Sie könnten uns alle irgendwie erretten? Unserer Flotte bleiben nur zwei Möglichkeiten, Captain. Entweder kämpfen wir bis zum Tod, oder wir ergeben uns, damit wir versklavt werden und bestenfalls eines langsameren Todes sterben.«
Geary lächelte matt. »Ich kann bis zum Tod kämpfen. Vielleicht fällt mir das beim zweiten Mal leichter.«
Captain Duellos von der Courageous lachte. »Sehr gut, Captain Geary! Wenn das unser Schicksal ist…«
Wieder mischte sich Numos ein. »Es gibt noch eine andere Möglichkeit. Wenn wir die Formation auflösen und jeder für sich den Rückzug antritt, dann könnten ein paar von uns vielleicht bis zum Hypernet-Portal gelangen…«
»Die Formation auflösen?«, ging ein anderer Captain dazwischen.
»Sie meinen, jeder kämpft für sich selbst?«
»Ja. Die größeren und stärker in Mitleidenschaft gezogenen Schiffe sind ohnehin dem Untergang geweiht. Es ergibt also keinen Sinn…«
»Mein Schiff hat die schweren Schäden abbekommen, weil es das Feuer auf sich gelenkt hat, das für Sie bestimmt war! Und jetzt wollen Sie uns im Stich lassen, damit wir im Syndik-Arbeitslager…«
»Wenn es keine andere Alternative gibt…«
» Ruhe! « Erst als alle ihn anstarrten, wurde Geary bewusst, dass er so laut gesprochen hatte. Beim Anblick der Gesichter fragte er sich, wie sich diesmal seine Stimme angehört haben musste. »Diese Flotte wird nicht ein einziges Schiff im Stich lassen.«
Erneut hatte Numos etwas zu sagen, und Geary sah, wie einige der anderen Offiziere zustimmend nickten: »Das ist keine vernünftige Einstellung, weil Sie nicht dazu qualifiziert sind, diese Flotte zu befehligen, und das wissen Sie auch. Ihr Wissen, was Waffen und Taktiken angeht, ist hoffnungslos veraltet. Sie sind mit der aktuellen Situation in keiner Weise vertraut, weder hier noch zu Hause. Sie…«
Etwas in Geary ließ die Hitze förmlich explodieren. »Captain Numos, ich habe nicht diese Konferenz einberufen, um mit Ihnen oder einem der anderen Offizieren über meine Kommandobefähigung zu diskutieren.«
»Sie sind nicht qualifiziert, das Kommando über die Flotte zu führen. Sie wissen nicht…«
»Ich weiß, dass ich aufgrund meiner längeren Dienstzeit und aufgrund des letzten Befehls von Admiral Bloch das Kommando über diese Flotte habe. Und ich weiß auch, wenn ich Informationen benötige, um die richtige Entscheidung zu treffen, dann werden meine Untergebenen mir diese Informationen liefern!«
»Ich bin nicht Ihr…«
»Und wenn Sie oder ein anderer Kommandant sich nicht in der Lage dazu sehen, mich angemessen zu unterstützen oder meine Befehle auszuführen, dann werde ich denjenigen seines Postens entheben und ihn durch einen Offizier ersetzen, der mein Vertrauen genießt. Und – wenn ich das noch ergänzen darf – dem die anderen Schiffe vertrauen können, dass er ihnen den Rücken stärkt.« Numos’ Gesicht lief rot an. »Halten Sie sich für unfähig, mich angemessen zu unterstützen, Captain Numos?«
Der Mann schluckte, dann sprach er in dem gleichen starrsinnigen Tonfall weiter, klang aber längst nicht mehr so selbstbewusst wie noch gerade eben. »Captain Geary, Ihre längere Dienstzeit ist ein Zufallsprodukt, wie Sie selbst wissen. Ihre Dienstzeit als Captain be-läuft sich nur deshalb auf fast hundert Jahre, weil Sie erst posthum befördert wurden. Niemand wusste da, dass Sie noch leben. Ein Jahrhundert im künstlichen Tiefschlaf macht Sie nicht zu einem erfahrenen Captain.« Einige andere Kommandanten nickten wieder zustimmend, was Numos neuen Mut fassen ließ. »Wir müssen einen Befehlshaber auswählen, der in der Lage ist, die gegenwärtige Situation richtig einzuschätzen, und dafür sind Kenntnisse über die gegenwärtige Situation erforderlich.«
Daraufhin warf Geary Numos einen so frostigen Blick zu, dass der sich zurücklehnte, als hätte er ihn bedroht. »In der Allianz-Flotte, wie ich sie kenne, hat niemand seinen Befehlshaber ›ausgewählt‹.
Ich habe nicht die Absicht, von Ihnen oder sonst jemandem meine Autorität infrage stellen zu lassen.«
Ein stämmiger Mann am anderen Ende des Tisches räusperte sich.
»Captain Geary ist der dienstälteste Offizier, er hat das Kommando. Ende der Diskussion.«
Geary nickte ihm zu und merkte sich Gesicht und Namen. Captain Tulev von der Leviathan. Jemand, auf den Geary zählen konnte.
Dann meldete sich eine Frau der Allianz-Marines zu Wort. Colonel Carabali, die ihren Kommandoposten geerbt hatte, als der General der Marines zusammen mit den anderen Flaggoffizieren umgekommen war. »Wir haben unseren Befehlshabern Gehorsam geschworen. Die Marines akzeptieren, dass Captain Geary dem Regelwerk der Allianz-Flotte entsprechend unser Befehlshaber ist.«
»Verdammt«, warf ein anderer Captain ein. »Wenn er uns hier nicht rausbringen kann, wer soll das denn sonst schaffen?«
Wieder richteten sich alle Augen auf Geary, nachdem die Frau ausgesprochen hatte, was viele von ihnen gedacht haben mussten.
Er wollte diese Gesichter nicht sehen, aber er musste sich der Hoffnung und der Skepsis stellen, die er in ihnen entdeckte. Er konnte sich nicht länger verstecken. »Ich werde es versuchen.«