Sie standen nebeneinander. Drei zerlumpte, entkräftete Wilde, die Armbrust auf der Schulter, den Sack aus Tierhäuten auf dem Rücken, drei abgerissene, von Frost und Schnee versengte, vor Hunger und Erschöpfung schwarz gewordene Menschen, drei mikroskopisch kleine Gestalten in dieser fremden, riesigen, leeren und stummen Welt, und starrten auf das tote Schiff, das vor sechzehn Jahren auf den Planeten gestürzt war, ohne jemals wieder aufsteigen zu können.
Dann begannen sie den Abstieg über den Steilhang, sich an Steinen festklammernd, bemüht, auf dem unsicheren Geröll nicht ins Laufen zu kommen. Und doch, und obwohl ihnen die Beine fast den Dienst versagten, rannten sie immer schneller.
Nach einer weiteren Stunde waren sie auf der Talsohle angelangt.
Vor sechzehn Jahren war Oleg reichlich ein Jahr gewesen, Dick knapp zwei, Marjana aber noch gar nicht auf der Welt. Und so wußten sie natürlich nichts mehr von der Landung des Forschungsschiffes „Pol“ hier in den Bergen.
Ihre ersten Erinnerungen waren mit der Siedlung verbunden, mit dem Wald; das Verhalten der flinken roten Pilze und der Räuberlianen lernten sie eher kennen als die Überlieferungen der Alten von den Sternen und der anderen Welt. Der Wald war ihnen viel verständlicher als die Erzählungen über Raketen oder Häuser, in denen an die tausend Menschen wohnten. Die Gesetze des Waldes, die Gesetze der Siedlung, geboren aus der Notwendigkeit, ein Häuflein von Menschen am Leben zu erhalten, die an eine solche Existenz nicht gewöhnt waren, die simplen Gesetze des Überlebens, taten das Ihrige, die Erinnerung an die Erde aus den Hirnen zu verdrängen. Statt dessen erwuchs die abstrakte Hoffnung in ihnen, daß man sie irgendwann finden und alles ein Ende haben würde. Doch wie lange würden sie dulden und ausharren müssen? Zehn Jahre? Die waren bereits vergangen. Hundert Jahre? Das würde bedeuten, nicht sie, sondern erst ihre Urenkel könnten gerettet werden. Vorausgesetzt, sie hätten überhaupt Urenkel, und es gelänge ihnen und der ganzen Siedlung, diesen Zeitraum durchzustehn. Die Hoffnung der Alten existierte für die nachfolgende Generation im Grunde schon nicht mehr, war eher störend für das Leben im Wald.
Dennoch konnten die Alten nicht anders, als diese Hoffnung an die Jungen weiterzugeben, weil selbst der Tod für die Menschen an Schrecken verlor, wenn sie um die Fortführung ihres Geschlechts wußten. Der Tod wird erst dann zu etwas Endgültigem, wenn nicht nur du selbst mit ihm verschwindest, sondern auch all das, was dich mit dem Leben verbindet.
Deshalb waren der Lehrer und die Alten bestrebt, jeder so gut er konnte, den Kindern ein Zugehörigkeitsgefühl zur Erde zu vermitteln, den Gedanken, daß ihre Abgeschiedenheit früher oder später ein Ende finden würde. Auf dieser Verbindungssprosse zur Welt aber stellte das Schiff hinter dem Paß etwas Reales dar. Es existierte, war erreichbar, und wenn nicht in diesem tausend Tage währenden endlosen kalten Winter, so doch im nächsten, wenn die Kinder herangewachsen waren und den Paß auf eigenen Beinen bewältigen konnten.
Vorausgesetzt, sie wollten es noch, denn innerlich hatten sie sich bereits von der Erde gelöst, das Schiff war etwas Fremdes für sie, der Wald dagegen ihr Zuhause. Das gab ihnen einerseits die Chance zu überleben, die den Alten genommen war, andererseits drohte der Siedlung, dieser kleinen Menschenkolonie, hierdurch letztendlich der Tod.
Dick, Oleg und Marjana stiegen in den Talkessel hinab, zum Schiff, und obwohl es vor ihren Augen wuchs, riesig und faßbar vor ihnen lag, blieb es doch nur Legende, eine Gralsschale. Keiner von ihnen hätte sich gewundert, wenn es bei der ersten Berührung in Staub und Asche zerfallen wäre. Sie waren zum Haus ihrer Väter zurückgekehrt, das sie erschreckte, weil es sich in diesem kalten Tal befand.
Vorher hatte es ja nur in ihren Träumen und in den Legenden existiert, die ihnen bei mattem Lampenschein erzählt wurden, wenn draußen, hinter dem schmalen, durch einen Vorhang aus Fischhaut geschützten Fensterschlitz der Hütte der Schneesturm heulte.
Die Existenz des Schiffes ließ die Träume und Legenden wieder auferstehn, verlieh ihnen einen neuen Sinn und verband die abstrakten, ungenauen Bilder, die ihnen die Vorstellung eingegeben hatte, mit der Realität des Giganten da vorn. Diesen Widerspruch hatten die Alten nie begriffen, denn hinter der Schilderung der Katastrophe, der plötzlich einbrechenden Kälte und Finsternis, hinter dem Bericht über die leeren Korridore, in denen nach und nach das Licht verlosch, während von draußen trockene Schneeflocken hereindrangen — hinter all dem verbargen sich ganz konkrete Korridore und Lampen, das Schweigen der Hilfstriebwerke und das Ticken der Strahlungsmesser.
Für die Zuhörer aber, für Oleg und seine Altersgefährten, waren bei diesen Schilderungen lediglich die Schneeflocken faßlich. Die Korridore dagegen verschmolzen in ihrer Phantasie mit dem Waldesdickicht oder einer dunklen Höhle, denn man kann sich nur das vorstellen, was man selbst gehört und gesehen hat. Deshalb begriffen sie erst jetzt, wie die Leute damals von hier aufgebrochen waren — wie sie die Kinder und Verwundeten geschleppt, in größter Hast all jene Gegenstände gegriffen hatten, die für die erste Zeit benötigt wurden, denn in diesem Augenblick vermutete niemand, daß sie den Rest ihres Lebens hier zubringen und in dieser kalten Welt sterben würden: Die gigantischen Maßstäbe und die ungeheure Macht der kosmischen Zivilisation wiegten sie selbst hier in trügerische Sicherheit, sie glaubten, alles Geschehene, und sei es noch so tragisch, bedeute lediglich eine zeitweise Unterbrechung, eine Zufälligkeit, die schon bald behoben sein würde, wie alle Unregelmäßigkeiten behoben wurden.
Oder fast alle.
Und da war auch die Luke. Als sie damals aufbrachen, so erzählte der Alte immer, hatten sie die Luke geschlossen, die Havarieleiter, auf der sie in den Schnee hinabgestiegen waren, unter einen überhängenden Felsen getragen. Diese Stelle war auf der Karte eingezeichnet, doch brauchten sie die Leiter nicht erst zu suchen — der Schnee war weggetaut, und sie lag ganz in ihrer Nähe. Die hellblaue Farbe war hier und da abgeblättert, und als Dick die Leiter anhob, blieb ihr Abdruck als bläuliche Zeichnung auf dem Schnee zurück.
Dick klopfte mit dem Fingernagel gegen die Streben.
„Sie ist leicht“, sagte er, „wir müssen sie mitnehmen.“
Er bekam keine Antwort. Marjana und Oleg standen ein Stück weg und betrachteten, den Kopf weit zurückgelegt, den gewölbten Schiffsbauch. Das Schiff schien völlig unversehrt zu sein, man hätte meinen können, im nächsten Augenblick damit weiterfliegen zu können. Und Oleg stellte sich sogar vor, wie es vom Talkessel abhob, immer schneller in den blauen Himmel stieg und zu einem schwärzlichen Kreis, zu einem Punkt im Blau wurde … Seine Müdigkeit war wie weggeblasen. Sein Körper war leicht und gehorchte ihm, und die Ungeduld, so schnell wie möglich einen Blick ins Innere des Giganten zu werfen, vermischte sich mit der Angst, für immer in der abgeschlossenen Sphäre des Raumschiffs zu verschwinden.
Er schaute zur Havarieluke hinüber. Immer wieder hatte der Alte dem Jungen eingeschärft: „Diese Luke ist nicht verschlossen, merk es dir, wir haben sie nur rangezogen. Du steigst auf der Leiter zu ihr hinauf und mißt als erstes die Strahlung. Es dürfte keine Strahlung mehr vorhanden sein, immerhin sind sechzehn Jahre vergangen, aber miß trotzdem. Damals war sie einer der Gründe, weshalb wir so überstürzt aufbrechen mußten. Die Radioaktivität und der Frost. Vierzig Grad bei nicht funktionierender Heizung, dazu die Strahlung — wir konnten unter keinen Umständen bleiben. Obwohl der Aufbruch genauso aussichtslos schien — wir wußten ja nicht, daß wir an ein Tal gelangen würden, wo es den Wald und damit mehr Wärme gab.“
Dick schlenderte um das Schiff herum, wobei er mit der Lanzenspitze leere Kisten und Büchsen herumdrehte — es gab hier viele Dinge, die die Leute damals aus dem Schiff gebracht hatten und dann zurücklassen mußten.
„Na, was ist“, sagte Oleg, „gehn wir rein?“
„Einverstanden“, erwiderte Dick, hob die Leiter auf und lehnte sie an der Luke gegen die Bordwand. Dann stieg er als erster hinauf, steckte Thomas’ Messer in den Spalt, drückte dagegen, doch das Messer brach ab.
„Wir haben fast keine Messer mehr“, brummte Dick.
„Der Alte hat gesagt, die Luke wäre offen“, sagte Oleg.
„Ach, der hat doch schon alles vergessen“, knurrte Dick, „alten Leuten kann man nicht trauen.“
„Thomas wüßte, was jetzt zu tun wäre“, sagte Marjana.
„Es wäre wirklich zu dumm“, schimpfte Dick, „hier erfrieren zu müssen, so dicht bei dem Koloß.“ Dick rüttelte an der Luke — vergeblich. Dann hämmerte er mit der Faust dagegen, und Oleg erwartete einen tiefen, langanhaltenden Ton, doch nichts dergleichen.
Oleg, der gut, sogar ausgezeichnet lesen konnte, entzifferte, wie ein Anfänger die Lippen bewegend, die mit goldenen Buchstaben eingravierte Inschrift auf dem Schiff: „POL“.
„Stimmt“, sagte er, „Pol“.
„Dachtest du vielleicht, wir hätten ein anderes Schiff gefunden?“ sagte Dick und sprang von der Leiter hinunter in den Schnee. „Wir müssen unsern Kopf anstrengen“, fuhr er fort, „so kriegen wir die Luke nicht auf.“
Marjana zitterte. „Seltsam“, sagte sie, „vorhin war es gar nicht kalt, und jetzt ist es so eisig.“
„Und ich hab mächtigen Hunger“, entgegnete Dick.
„Dort gibt’s wahrscheinlich jede Menge zu essen. In den Blechbüchsen. Thomas hat gesagt, darin verdirbt nichts.“
Nun kletterte Oleg zur Luke hinauf, holte sich mit der einen Hand gegen das eiskalte Metall des Schiffskörpers stemmend, den Strahlungsmesser hervor und hielt ihn gegen den schmalen Spalt. Der Zeiger schlug eine Winzigkeit aus, erreichte aber bei weitem nicht die rote Markierung. Im Talkessel war es sehr still, Oleg hörte nicht nur die Unterhaltung der beiden unter ihm, sondern sogar Marjanas Atem.
„Schade, daß Thomas es nicht geschafft hat“, sagte das Mädchen. „Du glaubst gar nicht, wie leid mir das tut.“ „Natürlich ist es schade“, stimmte Dick zu. „Aber er hätte es auf keinen Fall geschafft. Und wir mit ihm womöglich auch nicht.“
„So darfst du nicht reden“, sagte Marjana.
„Er ist tot“, erwiderte Dick, „Tote hören nichts.“
„Ich weiß nicht recht“, sagte Marjana, „vielleicht hören sie doch.“ Oleg drückte gegen die Luke, sie rührte sich nicht von der Stelle. Und wenn er sie nun zu sich heranzog? Aber wie?
„Klappt’s nicht?“ fragte Marjana. Die Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben, es wurde gleich dunkler und für sie gewohnter.
„Moment“, sagte Oleg, „wieso wollen wir die Luke eigentlich immer nach außen oder innen aufstoßen, wie wir das von unsren Türen zu Hause kennen? Vielleicht wird eine Schiffstür ganz anders geöffnet?“
„Komm runter“, sagte Dick „was soll’s. Ich geh mit einem Stein hoch.“
„Mit einem Stein richtest du gar nichts aus“, erwiderte Oleg. „Wie könnte das bloß funktionieren. Ob sie zur Seite aufgeht?“
Die Tür war ein wenig ins Innere der Schiffswand eingelassen und führte unter die Verkleidung. Ja wirklich, ich müßte sie vielleicht zur Seite schieben, überlegte Oleg.
Das ist zwar nicht üblich, aber da das Schiff fliegt, ist es wahrscheinlich sinnvoller so, damit die Tür unterwegs nicht versehentlich aufgeht. Und so rief er Dick zu: „Gib mir mal das Messer!“
Dick warf das abgebrochene Messer hoch und begann, die Hände unter den Achseln, vor Kälte herumzustampfen.
Sogar er fror! Trockener Schnee fiel. Sie waren allein auf der weiten Welt, sie starben vor Hunger und Kälte, das Schiff aber wollte sie nicht einlassen.
Oleg führte den Messerstumpf an den Lukenspalt und versuchte den Schnapper wegzudrücken. Der gab plötzlich ein lautes Klicken von sich, und die Tür fuhr leicht, als hätte sie nur darauf gewartet, zur Seite, verschwand in der Wand. Es war also richtig gewesen. Oleg drehte sich nicht um, rief den anderen nichts zu, um ihnen seine Klugheit vor Augen zu führen. Er hatte die Aufgabe gelöst, und das war das Wichtigste. Er mochte das: Aufgaben lösen, selbst wenn sie nicht kompliziert waren. Es genügte, daß die anderen nicht damit fertig wurden. Er steckte das Messer in den Gürtel und holte erneut den Strahlungsmesser hervor.
„Oh“, hörte er Marjana ausrufen, „Oleg hat die Tür aufgekriegt!“
„Das ist gut“, sagte Dick, „dann geh jetzt. Na geh schon, was stehst du hier noch rum?“
Der Strahlungsmesser wies aus, daß keine Gefahr bestand. Es hatte alles seine Richtigkeit.
„Es ist dunkel im Schiff“, sagte Oleg, „gebt mir eine Fackel.“ Selbst bei der großen Kälte in der letzten Nacht hatten sie die Fackeln nicht angetastet, zumal sie wenig Wärme spendeten. Dafür aber brannten sie lange.
„Ist es dort warm?“ fragte Marjana.
„Nein“, erwiderte Oleg. Er schnupperte. Im Schiff herrschte ein fremder, unheilvoller Geruch, so daß Oleg Angst hatte, es zu betreten. Doch ihm wurde schlagartig bewußt, daß er jetzt wichtiger war als Dick, daß der andere sich mehr fürchtete.
Dick bemühte sich inzwischen, mit Hilfe von Feuersteinen die Fackel zu entzünden. Schließlich begann sie zu brennen, mit kleiner, im Tageslicht kaum sichtbarer Flamme. Dick stieg die Leiter zur Hälfte hoch und reichte Oleg die Fackel. Weiter ging er keinen Schritt. Oleg nahm die Fackel und leuchtete ins Schiff hinein. Vor ihm lag Finsternis, unter den Füßen spürte er den rauhen, ebenen Fußboden. Und Oleg sagte laut, um die eigene Angst zu ersticken: „Na, ich geh dann. Nehmt euch gleichfalls Fackeln und folgt mir. Ich erwarte euch im Schiff!“
Der Boden unter seinen Füßen federte leicht, als würde er über die Rinde lebender Bäume schreiten. Aber Oleg wußte, daß der Fußboden etwas Lebloses war und es auf der Erde solche Bäume nicht gab. Ihm kam es vor, als würde irgendwo da vorn jemand auf ihn warten, und er blieb wie erstarrt stehen. Doch dann begriff er, daß nur sein eigener Atem, von irgendwelchen Gegenständen reflektiert, zu ihm zurückkehrte. Oleg tat erneut einen Schritt, und das Licht der Fackel, nun stärker geworden, erhellte die nach oben zu gewölbte Wand. Eine helle, glänzende Wand. Er berührte sie vorsichtig — sie war kalt.
Nun bin ich also daheim, dachte Oleg. Zwar besitze ich schon ein Zuhause — die Siedlung —, aber jetzt gibt es noch dieses Haus. Es nennt sich kosmisches Forschungsraumschiff „Pol“, ist mir schon tausend Mal im Traum erschienen und in Wirklichkeit doch ganz anders.
Dabei kenne ich es bereits, bin sogar hier geboren.
Irgendwo im dunklen Innern des Schiffes befindet sich der Raum, in dem ich zur Welt kam.
„Wo steckst du?“ fragte Dick.
Oleg drehte sich um. Dicks Silhouette füllte fast die Lukenöffnung aus.
„Komm her, hab keine Angst“, rief Oleg, „hier ist niemand.“
„Kann auch gar nicht“, sagte Dick betont laut, „er wäre längst erfroren.“ Seine Stimme hallte durch den Korridor.
Oleg hielt ihm die Fackel hin, damit er seine daran anzünden konnte. Dann wartete er, bis der andere Marjana Platz machte und auch ihre Fackel anbrannte.
Die drei Fackeln erhellten alles viel besser, nur die Kälte war gewaltig. Nicht zu vergleichen mit dem Frost draußen, denn dort lebte die Luft. Hier dagegen war sie tot.
Der Korridor mündete schon bald in eine Tür, und nun wußte Oleg, wie sie zu öffnen war. Dick und Marjana beobachteten ihn und erkannten die Sicherheit in seinen Handlungen. Sie war nicht absolut, verriet aber eine größere Verbundenheit mit dem Schiff, als die beiden sie besaßen. Für sie war das Schiff eine furchteinflößende Höhle, und wären nicht der Hunger, die Angst vor der Eiswüste gewesen — sie wären draußen geblieben.
Vielleicht hätte sich das anders verhalten, wenn Thomas es bis hierher geschafft hätte. Oleg war in ihren Augen noch kein Führer und nicht imstande, die Geheimnisse zu lüften.
Immerhin, sagten sie sich, besser Oleg als keiner.
Die Tür führte in eine runde Halle, wie sie ihnen noch nie zu Gesicht gekommen war. Hier hätte ihre ganze Siedlung Platz gefunden. Trotz des Lichts, das von den drei Fackeln ausging, lag die Decke des Raums im Dunkeln.
„Der Hangar“, sagte Oleg, womit er die vom Alten übernommenen Worte wiederholte. „Hier befinden sich die Landeboote und die anderen Transportmittel. Doch bei der Landung wurde die Stromversorgung außer Betrieb gesetzt, was verhängnisvolle Folgen hatte.“
„Ja, die Besatzung und die Passagiere waren gezwungen, den Weg durch die Berge zu Fuß zurückzulegen“, ergänzte Marjana.
Der Alte hatte im Unterricht immer darauf gedrungen, daß sie die Geschichte der Siedlung auswendig lernten, auch den Beginn dieser Geschichte, damit sie das nie vergaßen. „Wenn die Menschen kein Papier besitzen“, sagte er stets, „lernen sie ihre Geschichte auswendig. Ohne die Geschichte geben sie ihr Menschsein auf.“ „Und das alles unter großen Opfern …“ fuhr Dick fort, verstummte aber sofort. Hier war es unmöglich, laut zu sprechen.
Vor ihnen, den Weg versperrend, lag ein etwa zehn Meter langer Zylinder.
„Aha“, sagte Oleg, „das muß das Landeboot sein, das sie aus dem Hangar schleppen wollten, bevor sie überstürzt aufbrechen mußten.“
„Wie kalt es hier ist“, sagte Marjana.
„Ja, es ist noch die Winterkälte“, erwiderte Dick. Und an Oleg gewandt, dessen Führungsrolle er nun doch anerkannte: „Und wohin jetzt?“
„Irgendwo muß eine offene Tür zu den Triebwerken sein“, antwortete Oleg. „Dort dürfen wir aber nicht rein.
Wir müssen die Treppe finden, die nach oben führt.“
„Wie gut du alles behalten hast“, sagte Marjana. Sie gingen weiter an den Wänden entlang.
„Hier gibt’s bestimmt viele nützliche Dinge“, sagte Dick. „Die Frage ist nur, wie wir sie nach Hause schleppen.“
„Und wenn hier doch die Toten umgehn?“ sagte Marjana.
„Hör schon auf, sonst hau ich dir eine runter“, schimpfte Dick.
„Aber ja, natürlich …“ Oleg blieb stehen.
„Was ist los, hast du was entdeckt?“ „Nein, aber mir ist ein Gedanke gekommen. Wenn wir die Enden der Leiter zurückbiegen, können wir sie mit Gegenständen beladen und hinter uns herziehn. Wie den Schlitten, den Sergejew gebaut hat.“
„Und ich dachte schon, du hättest einen Toten gesehn“, sagte Marjana.
„Das mit der Leiter hab ich mir auch schon überlegt“, stimmte Dick eilig zu.
„Hier ist die erste Tür“, sagte Oleg, „aber die interessiert uns nicht.“
„Ich schau trotzdem mal rein“, erwiderte Dick.
„Dort könnte es Strahlung geben“, sagte Oleg, „der Alte hat uns davor gewarnt.“
„Die kann mir nichts anhaben, ich bin stark“, prahlte Dick.
„Strahlung ist unsichtbar, das weißt du doch, du hast es im Unterricht gehört.“ Oleg ging, die Fackel dicht an die Wand haltend, weiter. Es war keine ebene Wand, hier gab es Nischen, freiliegende Schalttafeln mit allen möglichen Knöpfen oder kalt glänzenden Bildschirmen.
Thomas war Ingenieur gewesen, er hätte gewußt, was all diese Knöpfe bedeuteten und welche Macht sie bargen.
„Da haben sie nun so was Gewaltiges zusammengebaut“, sagte Dick, der sich mit dem Schiff noch immer nicht anfreunden konnte, „und sind trotzdem zu Bruch gegangen.“ „Dafür sind sie durch den Himmel geflogen“, erwiderte Marjana.
„Da ist die Tür“, sagte Oleg. „Von dort aus gelangen wir in die Wohnkabinen und zur Navigationszentrale.“
Die Worte „Navigationszentrale“ und „Steuerpult“
hatten geradezu etwas Beschwörendes an sich. Und nun würde er, Oleg, diese Zentrale gleich zu Gesicht bekommen.
„Weißt du noch die Nummer deines Zimmers?“ fragte Marjana.
„Kajüte heißt das“, berichtigte Oleg. „Natürlich weiß ich sie. Es war die vierundvierzig.“
„Mein Vater hat mich gebeten, unsere aufzusuchen und mich dort umzusehn. Wir hatten die hundertzehn. Du bist auf dem Schiff geboren, nicht wahr?“
Oleg gab keine Antwort, diese Frage erforderte keine.
Seltsam war nur, daß Marjana an das gleiche dachte wie er.
Es ist immer merkwürdig, wenn jemand, den man nicht für besonders klug hält, plötzlich genauso denkt wie man selbst.
Oleg schob die Tür zur Seite — und prallte zurück. Er hatte vergessen, daß die Havariebeleuchtung im Schiff noch funktionieren konnte, obwohl der Alte darauf aufmerksam gemacht hatte. Sie beruhte auf dem Prinzip der Fluoreszenz, wirkte also autonom aus sich heraus. Es gibt Farben, die ihre Leuchteigenschaft über viele Jahre erhalten, und mit diesen Farben waren einige Korridore und Navigationszentren des Schiffes gestrichen.
Das Licht kam von überall und nirgends und machte alles ringsum hell. Wenigstens so hell, daß die Fackeln gleichsam verloschen — ihr Schein war nutzlos und unsichtbar geworden.
„Oje“, sagte Marjana, „und wenn hier nun doch jemand lebt?“
„Gut, daß es hell ist“, erwiderte Oleg, „da können wir unsre Fackeln aufsparen.“
„Mir kommt’s auch gleich wärmer vor“, sagte Marjana.
„Das trügt“, sagte Oleg, „aber bestimmt werden wir ein paar warme Sachen finden. Und wir werden in einem Raum schlafen.“
„Nein“, entgegnete Dick, der ein wenig zurückgeblieben war und den hellen Korridor noch nicht betreten hatte, „ich werde nicht hier schlafen.“
„Aber warum denn?“
„Ich werde draußen im Schnee übernachten, dort ist es wärmer.“
Oleg verstand, daß der andere Angst hatte, die Nacht im Schiff zuzubringen, er aber, Oleg, wollte hier bleiben. Er fürchtete sich nicht vor dem Schiff. Furcht hatte er anfangs empfunden, als es noch überall dunkel war, doch jetzt … Es war sein Haus. „Ich werde ebenfalls draußen schlafen“, sagte Marjana.
„Im Schiff sind die Schatten der Menschen, die früher hier gelebt haben.“
Rechterhand führte die Wand des Korridors in eine Vertiefung und war von einem durchsichtigen Material begrenzt, das an eine dünne Wasserschicht erinnerte.
Marjana fiel ein, daß dieser Stoff Glas genannt wurde.
Dahinter aber befanden sich grüne Pflanzen. Mit kleinen, ebenfalls grünen Blättern, wie es sie in ihrem Wald nicht gab.
„Werden sie auch nicht nach uns schnappen?“ fragte Oleg.
„Aber nein“, antwortete Marjana, „sie sind erfroren.
Außerdem sind die Pflanzen auf der Erde nicht bissig, oder hast du vergessen, was Tante Luisa uns über sie erzählt hat?“
„Ist doch unwichtig“, ließ sich Dick vernehmen, „gehen wir. Wir können schließlich nicht ewig hier herumspazieren. Und was ist, wenn’s nun auf dem Schiff doch nichts zu essen gibt?“
Merkwürdig, dachte Oleg, mir steht der Sinn im Augenblick überhaupt nicht nach Essen. Dabei hab ich eine Ewigkeit nichts zu mir genommen. Das müssen die Nerven sein.
Nach weiteren zehn Schritten erblickten sie erneut eine Nische, doch dort war das Glas zerbrochen. Marjana streckte die Hand aus, um die Pflanzen dahinter zu berühren.
„Das darfst du nicht!“ rief Dick.
„Ich weiß es besser“, erwiderte Marjana, „ich spüre sie.
Und die hier sind tot.“ Sie berührte einen der Zweige, und seine Blätter zerfielen zu Staub.
„Schade, daß wir keine Samen von ihnen haben“, sagte Marjana, „wir würden sie bei uns in der Siedlung aussäen.“
„Das Wichtigste befindet sich rechts“, sagte Oleg, „dort sind die Lagerräume. Wir wollen nachsehn, was es dort gibt.“
Sie wandten sich nach rechts. Mitten im Korridor lag ein zerrissener, halb durchsichtiger Sack, aus dem mehrere Büchsen aus hellem, weißem Metall gerollt waren. Der Sack war offenbar entzweigegangen, als die Menschen panikartig das Schiff verließen.
Es wurde ein eigentümliches, wundersames Mahl. Sie öffneten unzählige Büchsen — Dick mit dem Messer, Oleg dagegen erriet, daß man auch ohne Messer zurechtkam, indem man einfach auf den Büchsendeckel drückte. Sie kosteten nacheinander den Inhalt der Dosen und Tuben, und fast immer schmeckte es angenehm und fremd. Um die Büchsen tat es ihnen nicht mehr leid, denn es gab Kammern auf dem Schiff, die randvoll mit Kisten und riesigen Blechbehältern waren, in denen sich Millionen solcher Büchsen und anderer Lebensmittel befanden. Sie tranken Kondensmilch, und leider fehlte Thomas, denn nur er hätte ihnen sagen können, daß es welche war; sie schlangen Sprotten in sich hinein, ohne zu wissen, worum es sich handelte; sie drückten Konfitüre aus Tuben, obwohl sie ihnen zu süß war, kauten Mehl, ohne es zu kennen.
Marjana war verlegen über die Unordnung, die sie überall und speziell auf dem Fußboden anrichteten. Freilich kamen ihr die Bedenken erst, nachdem sie sich sattgegessen hatten und nur noch Büchsen mit unbekanntem Inhalt öffneten.
Solche, die sie bereits gekostet hatten, rührten sie nicht mehr an.
Danach wurden sie schläfrig — es zog ihnen die Augen zu, als drückte alle Müdigkeit der letzten Tage auf ihre Schultern. Dennoch gelang es Oleg nicht, die Kameraden zum Übernachten im Schiff zu überreden. Die beiden gingen, und kaum daß ihre Schritte im Korridor verhallt waren, bekam Oleg erneut Angst. Er mußte alle Kraft aufbieten, um ihnen nicht hinterherzueilen. Vielleicht wäre er ihnen gefolgt, wäre er nicht so grenzenlos erschöpft gewesen. Er streckte sich, die leeren Konservendosen wegschiebend, auf dem Fußboden aus, und schlief mehrere Stunden durch, es war, als ob die Zeit hier, auf dem Schiff, stillstand, nicht faßbar sei. Oleg schlief traumlos, ohne beängstigende Gedanken, schlief tief und ruhig, viel ruhiger als Marjana oder Dick, der trotz seiner Müdigkeit im Laufe des Abends und der Nacht mehrmals aufwachte und lauschte, ob nicht von irgendwoher Gefahr drohe. Hellhörig schreckte dann auch Marjana hoch, die ihren Kopf auf seine Brust gelegt hatte. Sie hatten sich mit sämtlichen Decken und der Zeltplane zugedeckt und froren nicht, weil am Abend dichter Schnee gefallen war und einen schützenden Wall um sie herum bildete. Dick hörte im Schlaf das Rascheln der Schneeflocken, hörte den Wind gegen die Bordwand des Schiffes über ihnen schlagen und stellte mit Genugtuung fest, daß es schneite. Auf diese Weise würden ihnen die Tiere, die es hier möglicherweise gab, nicht nachspüren.
Oleg erwachte früher als seine Kameraden, denn im Gegensatz zu ihnen fror er. Er hüpfte lange umher, um sich aufzuwärmen, dann aß er. Es war schon ein seltsames Gefühl, sich nicht immer fragen zu müssen, ob die Nahrung auch ausreiche — ein Gefühl, das er lange nicht mehr empfunden hatte. Ihm tat sogar ein bißchen der Bauch weh; nach seiner Meinung noch zu wenig bei dem vielen Essen. Es war ihm fast peinlich, die Überreste des üppigen Mahls zu betrachten, deshalb schob er die leeren und halbleeren Büchsen in eine Ecke des Raumes. Ich müßte meinen Erkundungsgang fortsetzen, dachte er, ob ich die anderen rufe? Lieber nicht, wahrscheinlich schlafen sie noch — Oleg kam es vor, als hätte er selbst nur wenige Minuten geschlummert.
Er beschloß, sich ein bißchen umzuschaun und dann die Kameraden zu wecken. Auf dem Schiff gab es schon lange kein Leben mehr, er brauchte also keine Angst zu haben. Außerdem mußten sie bald wieder zurück — in zwei, drei Tagen würde der Paß im Schnee versinken. Wir aber, so schalt er sich, vertrödeln die Zeit mit Schlafen.
Unglaublich!
Als echter Waldbewohner verfügte Oleg über einen ausgezeichneten Orientierungssinn, sogar hier auf dem Schiff. Er befürchtete nicht, sich zu verirren, und stieg deshalb gelassen die Schrägrampe hinauf, die nach oben zu den Wohnkabinen führte. Er wollte die Nummer vierundvierzig aufsuchen — seine Kajüte.
Den Wohnraum mit dem runden Schildchen 44 fand er erst nach einer Stunde. Und das nicht etwa, weil er schwierig zu entdecken gewesen wäre. Er hatte sich unterwegs einfach ablenken lassen, war zunächst ins Mannschaftslogis geraten, wo er einen langen Tisch erblickte, auf dem ihm besonders die kristallenen Salz— und Pfefferstreuer gefielen. Er steckte sogar je einen davon in seinen Sack, hoffte seiner Mutter eine Freude zu bereiten. Dann betrachtete er ausgiebig ein paar Schachfiguren. Der Kasten war bei dem Aufprall offenbar zu Boden gefallen und aufgegangen — die Figuren lagen auf dem Teppich verstreut. Er hatte noch nie etwas von einem solchen Spiel gehört und nahm an, es handle sich bei den Figuren um kleine Skulpturen ihm unbekannter Erdentiere. Erstaunlich war auch der Teppich selbst. Da er keine Nähte besaß, mußte er aus einer Tierhaut gefertigt sein. Doch welches Tier auf der Erde war so riesig und besaß so seltsame Muster? Gewiß handelte es sich um einen Meeresbewohner. Egli hatte erzählt, daß die größten Tiere Wale hießen und im Meer lebten. Nur hatte Oleg früher immer vermutet, sie besäßen eine glatte Haut. Der Junge sah dann noch viele wundersame, unbegreifliche Dinge und war, als er nach einer Stunde schließlich bei der Kajüte mit der Nummer vierundvierzig anlangte, voller Eindrücke. Freilich machte ihn diese Fülle von Eindrücken auch unzufrieden, denn er war unfähig, sich in all dem zurechtzufinden. Und betrübt, weil Thomas es nicht bis zum Schiff geschafft hatte, ihm nicht erklären konnte, wozu dieses und jenes gut war. Ja, so ungerecht es war, er empfand Groll gegen Thomas.
Vor der Tür mit der Nummer vierundvierzig blieb Oleg lange stehen. Er konnte sich nicht entschließen, sie zu öffnen, obwohl er wußte, daß ihn dort nichts Besonderes erwartete. Er kannte auch den Grund für dieses Zögern.
Obwohl die Mutter und alle anderen wiederholt versichert hatten, sein Vater sei bei der Katastrophe ums Leben gekommen — im Raum mit den Triebwerken, wo bei dem Aufprall der Reaktor auseinandergebrochen war —, schien ihm insgeheim, er könnte hier in der Kajüte sein. Vielleicht war er wieder zu sich gekommen, nachdem alle, in der Annahme, er sei tot, das Weite suchten, hatte sich hierhergeschleppt und war dann erfroren. Sogar an den Tod des Vaters hatte Oleg nie richtig geglaubt, in seiner Vorstellung lebte er und wartete hier unglücklich auf die Rückkehr der anderen. Möglicherweise lag es daran, daß auch die Mutter in ihrem tiefsten Innern überzeugt war, daß ihr Mann lebte. Das war ihr Fieberwahn, ihre Krankheit, die sie sorgsam vor den anderen, selbst vor dem Sohn, verbarg, nur daß der Sohn sie genau durchschaute.
Schließlich gab sich Oleg einen Ruck und öffnete die Tür. In der Kajüte herrschte Dunkel, denn ihre Wände waren mit ganz gewöhnlicher Farbe gestrichen. Er hielt einen Augenblick inne und zündete die Fackel an; seine Augen brauchten einige Zeit, sich an das Halbdämmer zu gewöhnen. Die Kajüte bestand aus zwei Räumen. Im ersten befanden sich ein Tisch und eine Liege, auf der sein Vater geschlafen hatte, im zweiten, sich daran anschließenden, hatte die Mutter mit ihm, dem Kleinkind, gewohnt.
Die Kajüte war leer, der Vater also doch nicht hierher zurückgekehrt. Die Mutter hatte sich geirrt.
Freilich wartete eine andere Überraschung auf ihn, eine andere Erschütterung. Es war der Ausdruck jenes Zeitenzipfels, jener Pause, in der das Schiff verharrte, seit es von den Menschen verlassen worden war, und die zu dem Tag herüberreichte, da Oleg nun zu ihm zurückkehrte.
In dem kleinen Raum stand ein Kinderbettchen. Oleg begriff sofort, daß diese Vorrichtung mit den seitlich herabbaumelnden Gurten — weich und scheinbar in der Luft schwebend — für einen Säugling bestimmt war. Und alles wirkte so, als hätte man das Kind eben erst, vor einer Minute, in aller Hast hinausgetragen, sogar ein winziges rosa Strümpfchen und eine Klapper, ein buntes Rasselspielzeug waren zurückgeblieben. Oleg, der noch nicht begriffen hatte, daß er in diesem geschützten Gebiet stillstehender Zeit mit sich selbst konfrontiert wurde, hob die Klapper auf und schüttelte sie. Und erst in dem Augenblick, beim Geräusch der Klapper erkannte er, so seltsam das sein mochte, die Realität des Schiffes an, die Realität dieser Welt, die ihn auf einmal viel tiefer und wirklicher dünkte als die Existenz der Siedlung und des Waldes. Im gewöhnlichen Leben war es nicht möglich, sich selbst zu begegnen. Die Gegenstände verschwanden, und blieb doch einmal etwas übrig, dann als Erinnerung.
Hier aber, am Bettrand befestigt, hing noch das Fläschchen mit einem Rest Milch; die Milch war zwar gefroren, doch man konnte sie aufwärmen und austrinken.
Als er sich aber so dem eigenen Ich gegenübersah, als er diese Begegnung nun endgültig begriffen und verarbeitet hatte, machte er sich auf die Suche nach den Spuren jener beiden anderen Menschen, die jenseits der angehaltenen Zeit zurückgeblieben waren — auf die Suche nach Vater und Mutter.
Die Mutter zu finden war leichter. Sie war von hier fortgerannt, ihn, Oleg, auf dem Arm, und so lag auf ihrem Bett im Hintergrund der Kajüte — ein geknülltes Häufchen — ihr in aller Hast abgestreifter Morgenrock. Ein Hausschuh schaute unter dem Bett hervor; das Buch, in ein Blatt Papier geschlagen, lag auf dem Kissen. Oleg hob das Buch auf, vorsichtig, weil er fürchtete, es könnte zerfallen wie jene Pflanze im Korridor. Doch das Buch hatte den Frost bestens überstanden. Es trug den Titel „Anna Karenina“ und war von einem Mann namens Tolstoi geschrieben. Es war ein dickes Buch, und auf dem Lesezeichen darin waren ein paar Formeln hingekritzelt “
die Mutter war Chemikerin. Oleg hatte noch nie die Handschrift seiner Mutter gesehen — im Dorf gab es kein Papier zum Schreiben. Er hatte auch noch nie ein Buch zu Gesicht bekommen, denn niemandem war es in jenem Moment eingefallen, so etwas mitzunehmen. Oleg hatte den Namen des Schriftstellers im Unterricht gehört, bei Tante Luisa, er hätte aber nie gedacht, daß jemand so ein dickes Buch schreiben könnte. Er nahm es mit dem festen Entschluß an sich: Und würde der Rückweg noch so schwer werden — das Buch mußte mit. Ebenso wie das Blatt Papier mit den Formeln. Nach einigem Überlegen packte er auch die Hausschuhe der Mutter in den Sack. Sie kamen ihm zwar reichlich eng vor für die alten kaputten Füße der Mutter, doch sie sollte sie wiederhaben.
Die Spuren des Vaters dagegen, so dinglich augenscheinlich sie waren, übten auf Oleg erstaunlicherweise weniger Wirkung aus als die Begegnung mit sich selbst. Es mußte daran liegen, daß der Vater zum Zeitpunkt der Katastrophe nicht bei ihnen gewesen war. Kurz vorher zum Wachdienst aufgebrochen, hatte er als akkurater Mensch, der keine Unordnung duldete, gründlich aufgeräumt. Seine Bücher standen hinter Glas aufgereiht im Regal, die Sachen hingen in einem Wandschrank … Oleg holte die Uniform des Vaters heraus — er hatte sie auf dem Schiff offenbar nie getragen, denn sie wirkte, aus blauem, kräftigem Stoff gefertigt, noch fast neu. Auf der Brust befanden sich oberhalb der Jackentasche zwei Sternchen, und die Hose war mit schmalen Goldlitzen versehen. Oleg hielt sich die Uniform an, sie war ihm etwas zu groß. Er zog die Jacke über seine, und sie paßte ihm fast, nur die Ärmel mußte er ein Stück umschlagen; ebenso ging es ihm mit den Hosenbeinen. Er fühlte sich bequem in der Uniform und glaubte sich auch im Recht: Wäre der Vater bei ihnen im Dorf, hätte er ihm gewiß erlaubt, sie hin und wieder anzuziehn.
Jetzt hatte Oleg endgültig Besitz vom Schiff ergriffen.
Er war überzeugt, daß er, wieder in den Wald zurückgekehrt, immer Sehnsucht nach ihm haben würde.
Es würde ihn zum Schiff ziehn wie den Alten, wie Thomas, und er sah auch nichts Verwerfliches darin. Es bedeutete den Sieg des Alten, der nicht wollte, daß die Jungen im Dorf Teil des Waldes wurden. Nun verstand Oleg in aller Deutlichkeit, wie und warum der Alte so dachte, seine Worte bekamen einen Sinn, den man nur hier erfassen konnte.
Dann kam Oleg auf die Idee, die Tischplatte hochzuklappen, auf deren Innenseite sich ein Spiegel befand. Der Junge hatte sein Gesicht bisher nur in dem kleinen Teich gesehen und in einem kleinen Spiegelscherben, den Kristina wie ein Heiligtum hütete. In einen richtig großen Spiegel dagegen hatte er noch nie geschaut. Wie er sich jetzt aber darin betrachtete, wurde ihm plötzlich die Zweiteilung seiner Person bewußt, eine Zweiteilung, die nichts Widernatürliches besaß: Dort, hinter der geöffneten Tür, war er eben noch der einjährige Oleg gewesen, der nicht einmal seine Milch ausgetrunken hatte, hier aber stand er in der Uniform des Vaters vor dem Spiegel, auch wenn er dem Vater kaum ähnelte, denn seine Haut war vom Frost verfärbt, das Gesicht dunkelverwittert und von frühen Falten durchzogen, hervorgerufen durch ständigen Hunger und rauhes Klima. Dennoch war er herangewachsen und hierher zurückgekehrt, er hatte die Uniform des Vaters angelegt und war zum Besatzungsmitglied des Raumschiffs „Pol“ geworden.
Im Schreibtisch fand er das Notizbuch des Vaters, es war zur Hälfte unbeschrieben — mindestens hundert weiße leere Blätter, ein regelrechter Schatz für den Alten! Er würde den Kindern im Unterricht bestimmte Dinge darauf aufmalen können, so daß sie begriffen und eine Vorstellung von ihnen bekamen, denn sie sollten, wenn sie groß waren, unbedingt zum Schiff zurückkehren. Oleg fand auch ein paar farbige Stereobilder von verschiedenen Erdenstädten, die er gleichfalls einpackte. Dann gab es da noch Dinge, die Oleg unverständlich waren und die er vorerst nicht anrührte — der Rückweg zur Siedlung wäre ohnehin schwierig genug. Einen der Gegenstände nahm er aber doch mit, denn ihm wurde sofort klar, worum es sich handelte, und er begriff, daß Sergejew und Waitkus glücklich darüber sein würden. Waitkus hatte ihm diesen Gegenstand des öfteren auf feuchten Lehm gemalt und dabei stets ausgerufen: „Ich werde mir nie verzeihen, daß keiner von uns daran gedacht hat, den Blaster mitzunehmen!“ Worauf der Alte jedesmal erwiderte: „Du machst dir ganz umsonst Vorwürfe. Um den Blaster zu holen, hätte man zur Kommandobrücke zurück gemußt, dort aber herrschte bereits eine tödliche Strahlung.“ Wie sich nun herausstellte, befand sich die Waffe beim Vater im Schreibtisch.
Der Griff des Blasters lag fest in Olegs Hand. Um zu überprüfen, ob die Waffe geladen war, richtete er sie auf die Wand und drückte ab — ein Blitz schoß heraus und versengte sie. Oleg blinzelte geblendet, noch eine Minute danach tanzten Funken vor seinen Augen. Dann trat er mit dem Blaster in der Hand auf den Korridor hinaus und war jetzt mehr als nur Herr des Schiffes. Er hatte die Möglichkeit erhalten, künftig nicht mehr bloß als Bittsteller mit dem Wald zu reden: Bitte rühr uns nicht an, bitte tu uns nichts … Im Korridor blieb Oleg zögernd stehen. Er hätte gern noch einen Blick in die Steuerzentrale oder in die Funkkabine geworfen, doch es war wohl sinnvoller, zum Vorratslager zurückzukehren, weil Dick und Marjana, sollten sie bereits dort sein, sich gewiß Sorgen machten.
Oleg strebte eilig dem Lager zu, traf aber niemanden an.
Da werde ich die beiden wohl wecken müssen, sagte er sich. Auch wollte er, selbst wenn er es, sich nicht eingestand, gern in der Uniform eines Raumfliegers vor ihnen aufkreuzen, wollte ihnen zurufen: „Ihr schlaft und schlaft, dabei wird es Zeit für uns, zu den Sternen aufzubrechen …“
Oleg löschte die Fackel auch im erhellten Korridor nicht. Diesmal durchquerte er den Hangar auf schnellstem Weg, und die Strecke kam ihm nun viel kürzer vor als gestern, denn er hatte sich bereits an das Schiff gewöhnt.
Tageslicht schlug ihm entgegen — die Außenluke war geöffnet. Sie hatten sie zu schließen vergessen. Freilich war das bedeutungslos: In diesen Schneehöhen gab es schwerlich Tiere, was hätten sie hier zu suchen?
Oleg blinzelte etwa eine Minute ins Licht, bis sich seine Augen an die Sonne gewöhnt hatten. Sie stand hoch am Himmel, die Nacht war längst vorüber. Oleg öffnete die Augen wieder und war furchtbar erschrocken: Keinerlei Zeichen von Dick und Marjana! Der Schnee, über Nacht gefallen, hatte sämtliche Spuren vom Vortag verweht und war völlig unberührt.
„Heeh!!“ rief er leise. Die Stille ringsum war so grenzenlos, daß man sich scheute, sie zu stören. Gleich darauf bemerkte Oleg, daß etwa zwanzig Meter vom Schiff entfernt etwas Weißes in Bewegung geriet. Auf einem kleinen, flachen Schneehügel entdeckte er ein Tier, das im Schnee kaum auszumachen war, ein Tier, wie er es noch nie gesehen hatte. Es besaß Ähnlichkeit mit einer Eidechse, war aber von einem flauschigen Fell bedeckt und etwa vier Meter lang. Vorsichtig, um seine Beute nicht aufzuschrecken, machte es sich an dem Hügel zu schaffen.
Oleg starrte wie gebannt auf das Tier, harrte der Dinge, die da kommen sollten; den weißen Hügel brachte er nicht im entferntesten mit Dicks und Marjanas Nachtquartier in Verbindung. Selbst als die Pfoten des Tieres den Schnee beiseite geschaufelt hatten und der dunkle Fleck der Zeltplane sichtbar wurde, stand er noch immer reglos da.
In diesem Moment jedoch erwachte Dick. Er hatte sogar im Schlaf das Tier über sich gehört, seiner Nase war der fremde, gefährliche Geruch des Lebewesens nicht entgangen. Er griff nach dem Messer und wollte unter der Zeltplane hervorschnellen, verhedderte sich aber in den Decken. Oleg sah nur, daß der Schneehügel mit einemmal zum Leben erwachte, daß eine Schneesäule hochstiebte, unter der, ins Freie drängend, ein Fellhaufen sichtbar wurde. Das Tier war deshalb kein bißchen erschrocken, es schnappte vielmehr, nun endgültig überzeugt, sich nicht geirrt zu haben, nach der Beute, zerrte mit den Krallen an dem Fellbündel. Es war bestrebt, das Opfer zu Boden zu drücken und zu würgen, wobei es in seiner Vorfreude laut brüllte.
Oleg der Waldbewohner tastete mit der Hand nach dem Messer am Gürtel und berechnete den Sprung, während seine Augen schon nach der verwundbarsten Stelle des Tieres Ausschau hielten, in die er das Messer würde stoßen müssen; Oleg der Schiffsbewohner aber und Sohn des Bordmechanikers griff statt des Messers den Blaster, schoß jedoch nicht von hier, aus der Höhe, sondern sprang in den Schnee und stürzte, die Waffe fest in der Hand, auf das Tier zu. Der Angreifer hob bei seinem Anblick den Kopf und stieß abermals ein wildes Gebrüll aus. Er wollte Oleg in die Flucht treiben, hielt ihn offenbar für einen Konkurrenten. Doch Oleg blieb stehen und jagte dem Tier — nunmehr sicher, nicht versehentlich Dick zu treffen — eine volle Ladung in den weit geöffneten Schlund.
Während Dick und Marjana, nachdem sie gegessen und einen Rundgang durchs Schiff unternommen hatten, alles zum Ausgang schleppten, was sie mitzunehmen gedachten, begab sich Oleg in die obersten Räume, zur Navigationszentrale. Er forderte Dick auf mitzukommen, doch der weigerte sich — ihm genügte die Beute. Auch Marjana kam nicht. Oleg hatte ihr vorher die Krankenabteilung gezeigt, und sie suchte nun jene Instrumente und Medikamente zusammen, die Egli ihr beschrieben hatte. Das alles mußte in ziemlicher Hast geschehen, weil erneut Schneefall eingesetzt hatte und es merklich kälter geworden war. Noch ein Tag, und sie würden aus den Bergen nicht mehr herauskommen — der Schnee würde viele Tage lang niedergehn und der Frost fünfzig Grad erreichen.
Da stand Oleg also in der Steuerzentrale, verharrte mehrere Minuten, feierlich umringt von all den Apparaturen im Kopf des Schiffes, dessen Erschaffung eine unvorstellbare Leistung von Millionen Hirnen und tausend Jahren menschlicher Zivilisation verkörperte.
Doch Oleg spürte weder Erschrecken noch Hoffnungslosigkeit. Er wußte, daß die Siedlung von nun an zumindest für ihn, Oleg, nicht mehr Zentrum des Alls sein würde, sondern ein vorübergehender Zufluchtsort für jene Jahre, in denen das Schiff noch nicht ihr wahres Zuhause war. In denen sie es noch nicht so beherrschten, daß sie mit seiner Hilfe eine Möglichkeit fanden, der Erde Kenntnis von sich zu geben. Zu diesem Zweck aber mußten sie die Alten hatten das immer und immer wieder besprochen — den Notrufsender funktionstüchtig machen. Selbst wenn das erst in vielen Jahren möglich wurde, denn sie mußten ja alles neu lernen. Deshalb lenkte Oleg seine Schritte jetzt in die Funkzentrale: Der Alte hatte ihm beschrieben, wo er die Nachschlagewerke und Instruktionen über das Nachrichtenwesen finden würde, jene Bücher, deren Inhalt sie sich zueigen machen mußten, bevor der Alte und Sergejew starben. Denn sie waren die einzigen, die Oleg bei der Aneignung des Stoffes helfen konnten. Ihm und denen nach ihm.
In der Funkzentrale herrschte Halbdämmer, und so fand Oleg den Kasten mit den Instruktionen nicht gleich. Er nahm die Nachschlagewerke heraus, eine stattliche Anzahl, und er wußte nicht, welche wichtig waren. Er war aber entschlossen, eher die Hausschuhe der Mutter dazulassen als diese Bücher. Gar zu gern hätte er das eine und andere Instrument, irgendwelche Einzelteile mitgenommen, die ihnen von Nutzen sein konnten, sagte sich jedoch, daß sie das aufs nächste Mal verschieben mußten. Auf die Zeit, da sie in den Sinn all der Bildschirme und Schalttafeln hier eingedrungen waren.
Plötzlich erregte ein schwaches Flimmern in der Ecke einer Schalttafel, die halb verdeckt vom Funkersessel war, seine Aufmerksamkeit. Oleg näherte sich ihm vorsichtig, als ginge er auf ein wildes zu Tier zu.
Auf der Tafel flammte in regelmäßigen Abständen ein grünes Lämpchen auf. Oleg wollte einen Blick hinter das Pult werfen, um der Sache auf den Grund zu kommen, doch das gelang nicht. Er setzte sich in den Sessel und begann die verschiedenen Knöpfe zu drücken, freilich ohne jedes Ergebnis. Das Lämpchen flammte nach wie vor auf und erlosch. Was hatte das bloß zu bedeuten, wozu dieses grüne Licht? Wer hatte es installiert und zu welchem Zweck? Olegs Hand ertastete einen Hebel, der sofort nachgab und nach rechts rückte. Gleich darauf ertönte aus dem dünnen Netzgitter neben dem Lämpchen die ferne Stimme eines Menschen: „Hier spricht die Erde … Hier spricht die Erde …“ “
Danach ein Piepton im Takt zum Aufflammen des Lämpchens, und in diesem Piepen lag irgendein Sinn verborgen. Nach einer Minute wiederholte die Stimme: „Hier spricht die Erde … Hier spricht die Erde …“
Oleg hatte alles Zeitgefühl verloren. Er wartete erneut und erneut auf das Einsetzen der Stimme, der er keine Antwort geben konnte, die ihn aber bereits mit der Zukunft verband, mit jenem Augenblick, da er würde antworten können.
Das leise Klingeln der Armbanduhr rief ihn in die Wirklichkeit zurück — Dick hatte diese Uhr in seiner Kabine gefunden und ihm gegeben. Das Klingeln ertönte alle fünfzehn Minuten. Möglich, daß es so seine Richtigkeit hatte, vielleicht war sie aber auch einfach kaputt.
Oleg erhob sich und sagte zur Erdenstimme: „Auf Wiedersehen!“ Dann begab er sich zum Ausgang des Schiffes, den Sack mit den Lehrbüchern hinter sich herschleifend, von denen er kein einziges Wort begriff.
Dick und Marjana warteten unten bereits auf ihn.
„Ich wollte dich schon holen“, sagte Dick „willst du vielleicht für immer hier bleiben?“ „Ich hätte nichts dagegen“, antwortete Oleg. „Ich hab nämlich die Erde sprechen hören.“
„Wo?!“ rief Marjana.
„In der Funkzentrale.“
„Hast du ihr gesagt, daß wir hier sind?“
„Sie hören uns nicht. Das muß ein Automat sein. Die Funkverbindung ist doch zerstört, hast das vergessen?“
„Und wenn sie trotzdem wieder arbeitet?“
„Nein“, sagte Oleg, „das kann sie nicht. Aber Tages wird sie es.“
„Willst du das in Ordnung bringen?“
„Hier drin hab ich alle möglichen Bücher“, sagte Oleg, „ich werde sie auswendig lernen.“
Dick schnaufte skeptisch.
„Dick, Dickilein“, bat Marjana, „einen Augenblick nur.
Ich lauf schnell rüber und hör mir die Stimme von der Erde an. Es geht ganz schnell. Komm doch mit, ja?“
„Wer soll das alles schleppen“, brummte Dick mit einem Blick auf den Sack mit den Büchern. „Hast du vergessen, wieviel Schnee auf dem Paß liegt?“
Er fühlte sich schon wieder als Chef. Hinter seinem Gürtel sah man den Blastergriff stecken. Die Armbrust hatte er deswegen natürlich nicht aufgegeben.
„Ich werd’s schon schaffen“, sagte Oleg und stellte den Sack im Schnee ab. „Komm, Marjaschka, du sollst die Stimme hören. Um so mehr, als ich das Wichtigste vergessen habe. Hast du in der Krankenabteilung irgendwo ein kleines Mikroskop gesehen?“
„Nicht nur eins“, erwiderte Marjana.
„Na gut“, sagte Dick, „ich komme auch mit.“
Sie spannten sich zu dritt vor den Schlitten und zogen ihn zunächst den Steilhang des Talkessels hinauf, danach über die Hochebene und schließlich wieder bergab. Schnee fiel, und das Laufen bereitete ihnen Mühe. Aber es war nicht kalt, und vor allem hatten sie viel zu essen. Die leeren Konservenbüchsen warfen sie nicht weg.
Am vierten Tag, als sie den Abstieg in die Schlucht begannen, wo der Bach floß, vernahmen sie plötzlich ein vertrautes Meckern.
Die Ziege lag unter einem Felsdach unmittelbar am Wasser.
„Sie hat auf uns gewartet!“ rief Marjana.
Das Tier war so abgemagert, daß man meinen könnte, es würde jeden Augenblick sterben. Drei puschlige Zicklein machten sich auf der Suche nach den Zitzen an ihrem Bauch zu schaffen.
Marjana schlug schnell die Schlittenplane zurück und begann in den Säcken nach Nahrung für die Ziege zu suchen.
„Aber vergifte sie nicht“, sagte Oleg. Die Ziege kam ihm sehr schön vor, und er freute sich über sie, fast so wie Marjana, ja selbst Dick hegte keinen Groll mehr, er war ein gerechter Mensch.
„Warst schlau, als du vor mir Reißaus genommen hast“, sagte er zu dem Tier, „ich hätte dich wahrscheinlich getötet. Jetzt aber können wir dich vor Schlitten spannen.“
Das freilich gelang nicht. Mit geblähtem Rüssel zeterte sie so, daß die Felsen bebten. Auch die Jungen entpuppten sich als ziemliche Schreihälse, die mit ihrer Mutter mitfühlten.
So setzten sie ihren Weg fort: Dick und Oleg zogen den Schlitten, Marjana stützte von hinten ab, damit er nicht umstürzte, und den Schluß bildete die Ziege mit ihren Jungen. Sie maulte, wollte nichts als fressen. Selbst als sie endlich im Wald waren, wo es Pilze und Süßwurzeln gab, verlangte sie nach wie vor Kondensmilch, obwohl sie — ebenso wie die Wanderer — nicht wissen konnte, daß diese süße Masse Kondensmilch hieß.