Darya Lang hatte das Gefühl, eine entsetzliche Antiklimax erleben zu müssen. So weit gekommen zu sein, sich innerlich auf Konfrontationen und Gefahren und aufregende neue Erfahrungen vorbereitet zu haben … nur um dann ganz allein zurückgelassen zu werden und ungeduldig warten zu müssen, tagelang, während andere entschieden, wann — und ob überhaupt! — man ihr gestatten würde, den letzten und wichtigsten Abschnitt ihrer Reise hinter sich zu bringen!
Niemand in der ganzen Allianz hatte ihr zu verstehen gegeben, ihre Aufgabe auf Erdstoß würde leicht sein. Aber es hatte ihr auch niemand zu verstehen gegeben, sie könne Schwierigkeiten haben, die Schwesterwelt von Opal auch nur zu erreichen, nachdem sie erst einmal in das Dobelle-System gekommen war. Bisher hatte sie Erdstoß noch nicht einmal gesehen, außer aus weiter Ferne. Nun hing sie auf unbestimmte Zeit auf der Sternenseite von Opal fest, hatte nichts zu tun, ihr standen nur Kurzstrecken-Transportmöglichkeiten zur Verfügung, und sie hatte keinen Einfluss darauf, was als Nächstes geschah.
Perry hatte ihr ein ganzes Gebäude überlassen, ganz für sich allein, in unmittelbarer Nähe zum Raumhafen. Er hatte ihr versichert, dass sie sich ganz frei würde bewegen können, ganz wie es ihr beliebe, sie könne mit jedem reden, mit dem sie würde reden wollen, und alles tun, was sie ihr einfiele.
Sehr freundlich von ihm. Bloß dass im ganzen Gebäude niemand war, und dass es dort nichts gab außer Wohnquartieren — und er hatte ihr gesagt, sie solle sich bereit halten, sich unmittelbar nach seiner Rückkehr mit ihm zu besprechen. Rebka und er waren gewiss für mehrere Tage fort. Wohin sollte sie denn gehen? Was sollte sie tun?
Sie rief Karten von Opal auf ihrem Bildschirm auf. Für jeden, der die fixierten Kontinente und die genauestens definierten Grenzen zwischen Wasser und Land von Wachposten-Tor gewohnt war, erwiesen sich diese Karten hier als sonderbar unbefriedigend. Die Konturen des Ozeanbodens von Opal waren als dauerhafte Charakteristika dieses Planeten eingezeichnet, aber das schienen auch die einzigen geographischen Konstanten dieser Welt zu sein. Über die Schlingen konnte man nichts Weiteres herausfinden außer ihren derzeitigen Positionen und den Driftraten von ein paar Hundert der größten; dazu kam — ein beunruhigender Datensatz — die abgeschätzte Dicke und die abgeschätzte Lebensdauer jeder einzelnen Schlinge. Im Augenblick stand Dana auf einer Materialschicht, die weniger als vierzig Meter dick war, und diese Dicke änderte sich in unvorhersagbarer Weise von Jahr zu Jahr.
Darya deaktivierte den Bildschirm wieder, setzte sich und rieb sich die Stirn. Sie fühlte sich nicht gut. Zum Teil mochte das an der reduzierten Schwerkraft liegen: Hier auf der Sternenseite von Opal betrug sie nur vier Fünftel des Standards. Doch vielleicht lag es zum Teil auch an der Desorientierung, die die raschen Interstellarreisen mit sich brachten. Jeder einzelne Test besagte steif und fest, dass der Bose-Antrieb sich in keiner Weise auf Menschen auswirke. Doch Darya erinnerte sich an die Bewohner der Alten Archen, die sich stets nur mit Subluminalgeschwindigkeit fortbewegten und behaupteten, die menschliche Seele könne nicht schneller reisen als mit Lichtgeschwindigkeit.
Wenn die Bewohner der Archen Recht hatten, würde ihre Seele wirklich lange brauchen, um sie wieder einzuholen.
Darya ging zum Fenster hinüber und blickte zum wolkenbedeckten Himmel von Opal hinauf. Sie war einsam und sehr weit von zu Hause fort. Sie wünschte sich, sie könne wenigstens einen kurzen Blick auf Rigel werfen, dem nächstgelegenen Superriesen von Wachposten-Tor, doch die Wolkendecke hatte nicht eine einzige Lücke. Darya war einsam, und sie war auch verärgert. Hans Rebka mochte ja ein interessanter Mann sein, vielleicht auch an ihr interessiert — sie hatte das Funkeln in seinen Augen bemerkt —, doch sie hatte nicht extra einen so weiten Weg zurückgelegt, nur damit dann irgendein Hinterweltlerplaneten-Bürokrat ihr aus einer Laune heraus alle Pläne zunichte machte.
So wie sie sich im Augenblick fühlte, war es wohl besser, ein wenig auf der Schlinge herumzuspazieren, statt in diesem niedrigen, klaustrophobische Gedanken evozierenden Gebäude eingesperrt zu bleiben. Sie ging hinaus und stellte fest, dass ein beständiger Nieselregen fiel. Unter solchen Umständen mochte es schwierig werden, die Schlinge zu Fuß zu erkunden — die Oberfläche bestand aus ungleichmäßig dicht und hoch wachsenden Gruppen von Seggen und Farnen, die auf einem weichen, leicht krumigen Mutterboden wuchsen, der seinerseits von den engen Wurzeln und dem glitschigen Gewirr von dicht am Boden wachsenden Rankpflanzen zusammengehalten wurde.
Doch zu Hause ging Darya auch immer barfuß, und mit nackten Zehen würde sie sich auch ganz ordentlich an den stabilen Ranken festhalten können. Sie beugte sich hinunter und streifte die Schuhe ab.
Außerhalb des Kontrollbereiches des Raumhafens wurde der Boden noch unebener, und voranzukommen wurde immer schwieriger. Doch Darya brauchte sowieso unbedingt wieder ein bisschen körperliche Ertüchtigung. Sie hatte gerade einen guten Kilometer zurückgelegt und sich schon entschlossen, einen wirklich langen Spaziergang zu machen, als ein kleiner dichter Busch nur wenige Meter vor ihr ein zorniges Zischen ausstieß. Die Köpfe der Pflanzen wurden hinunter- und schließlich flachgedrückt — von einem massigen, stämmigen, aber nicht sichtbaren Objekt.
Erschreckt keuchte Darya auf, machte einen Satz zurück und landete auf dem feuchten Boden. Hier barfuß zu gehen — oder eigentlich: überhaupt hier zu gehen — erschien ihr plötzlich wie eine sehr, sehr dumme Idee. Sie hastete zum Raumhafen zurück und erbat ein Fahrzeug. Dieses hatte nur eine sehr eingeschränkte Reichweite, doch Darya konnte damit immerhin noch über das Ufer der Schlinge hinausschweben und so einen ungehinderten Blick auf den Ozean von Opal werfen.
»Sie hätten sich keine Sorgen machen brauchen«, meinte der Techniker, der ihr das Fahrzeug zur Verfügung stellte. Er bestand darauf, ihr zu zeigen, wie die einfachen Kontrollhebel und dergleichen zu bedienen waren, auch wenn sie sich recht sicher war, dass sie das auch allein hätte herausfinden können. »›Was Schlimmes schafft’s nie zum Ufer‹, und die Leute ham auch nix Gefährliches mitgebracht, als das hier zum ersten Mal besiedelt wurde. Und Giftiges gibt’s hier auch nich. Ihnen hätt gar nix passieren können.«
»Was war das dann?«
»’ne alte Riesenschildkröte.« Der Techniker war ein hochgewachsenen, blasser Mann in einem schmutzigen Overall und mit einem Lächeln, das seine Zahnlücke prächtig zur Schau stellte, und allgemein sehr ungezwungenem Auftreten. »Wiegt vielleicht ’ne halbe Tonne, isst die ganze Zeit. Aber immer nur Farne und Gräser und so. Bei der könnten Sie auffem Rücken reiten, und die würd nix merken.«
»Stammt die von hier?«
»Nö.« Die kurze Einführung in die Handhabung des Flugwagens war vorbei, aber der Techniker hatte es offensichtlich nicht eilig. »Auf Opal gibt’s keine Wirbeltiere. Das größte, was es hier an Land gibt, ist so ’ne Art vierbeinige Krabbe.«
»Gibt es denn im Ozean gefährliche Lebensformen?«
»Nich’ gefährlich für Leute wie Sie und mich. Zumindest nich’ absichtlich. Wenn man ’n Stück weit vom Ufer entfernt is, dann muss man auf große, grüne Buckel aufpassen, die manchmal an die Oberfläche kommen — ungefähr ’n Kilometer im Durchmesser. Das is dann ’n Gießer. Manchmal beschädigen die ’n Boot, aber bloß, weil sie halt nich’ wissen, dass das da is.«
»Und wenn so ein Ding unter eine Schlinge käme?«
»Warum soll so ’n Vieh so doof sein, so was zu tun?« Seine Stimme klang, als wolle er sie ein wenig aufziehen. »Die kommen hoch, um Luft und Sonnenlicht zu kriegen, und beides gibt’s nich unter ’ner Schlinge. Sie sollten mal zusehen, dass Sie eins von denen zu sehen kriegen — so ’n Gießer zu sehen, das is schon was! Um diese Jahreszeit kommen die ziemlich häufig rauf. Und Sie haben richtig Glück gehabt, dass Sie diese alte Riesenschildkröte gesehen ham, wissen Sie? Noch ’n paar Tage, dann wär die weg gewesen. Die brechen immer besonders früh auf.«
»Und wo ziehen die hin?«
»In den Ozean. Wohin denn sonst? Die wissen, dass der Gezeitensturm ansteht, und die wollen’s schön kuschelig haben, wenn’s so weit ist. Die müssen wissen, dass es dieses Jahr besonders dicke kommt.«
»Sind die denn da in Sicherheit?«
»Klar. Das Schlimmste, was denen passieren kann, ist, dass eine von denen ’ne Zeit lang auf dem Trockenen sitzt, wenn mal so richtig Ebbe herrscht, ’n paar Stunden später können sie dann weiterschwimmen.«
Mit diesen Worten stieg er vom Trittbrett auf der linken Seite des Wagens. »Wenn Sie den kürzesten Weg zum Ufer der Schlinge finden wollen, dann fliegen Sie ganz niedrig und schauen einfach, in welche Richtung die Köpfe der Riesenschildkröten zeigen! Dann kommen Sie direkt da hin.« Er wischte sich die Hände an einem schmutzigen Lappen ab, sodass sie genauso schwarz waren wie vorher, und warf Darya sein herzlichstes, bewunderndstes Lächeln zu. »Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie ’nen Gang wie ’ne Göttin ham und sich echt toll bewegen? Is so! Wenn Sie also gern Gesellschaft wollen, wenn Sie wieder da sind: Sie finden mich hier! Ich wohn hier ganz in der Nähe. Bin übrigens Cap.«
Während Darya Lang den Wagen in die bezeichnete Richtung lenkte, beschäftigte sie sich in Gedanken mit den Welten des Phemus-Kreises. Oder lag es vielleicht nur an der Luft von Opal, dass die Männer ihr hier ganz andere Blicke zuwarfen als sonst? In den letzten zwölf Jahren auf Wachposten-Tor, seit sie erwachsen war, hatte sie nur eine einzige Beziehung gehabt, insgesamt vielleicht vier Mal ein Kompliment erhalten und wenn es hoch kam, ein halbes Dutzend bewundernder Blicke aufgefangen. Hier erntete sie schon das zweite Mal in zwei Tagen besondere Aufmerksamkeit.
Naja, Legatin Pereira hatte ihr ja gesagt, sie solle sich von nichts überraschen lassen, was außerhalb des Territoriums der Allianz geschehe. Und ihr Nennonkel Matra war deutlich deutlicher geworden, als er erfahren hatte, wohin sie fahren wollte: »Auf den Welten des Kreises ist wirklich jeder sexbesessen! Müssen die auch sein, sonst sterben die nämlich aus.«
Die Riesenschildkröten waren aus der aktuellen Flughöhe von Daryas Wagen aus nicht zu erkennen; doch ein Weg zum Ufer der Schlinge ließ sich leicht finden. Eine Zeit lang flog Darya einfach ein wenig über den Ozean und war sehr zufrieden, als sie den riesenhaften grünen Rücken eines Gießers entdeckte, der gerade aus den Tiefen des Ozeans auftauchte. Aus der Ferne gesehen, hätte man eben diesen Rücken für eine kleinere, zufälligerweise kreisrunde Schlinge halten können, bis sich diese plötzlich zu öffnen schien, zehntausende Mäuler auf einmal aus dem Rücken hervorstießen, und jedes einzelne einen zischenden Schwall weißen Wasserdampfs ausstieß. Nach zehn Minuten schlossen sich die Mäuler wieder, doch der Gießer aalte sich weiterhin an der Oberfläche in dem dort warmen Wasser.
Zum ersten Mal begriff Darya, dass diese Schlingen auf einer den Gezeiten unterworfenen Wasserwelt wie Opal ökologisch gesehen nicht nur sinnvoll waren, sondern perfekt. Gezeiten besaßen auf Welten wie Wachposten-Tor vor allem zerstörerische Kraft, weil dort der steigende und sinkende Spiegel des Ozeans durch feste Landgrenzen in seinem Spielraum deutlich eingeschränkt war. Doch hier konnte das Wasser sich uneingeschränkt bewegen, die Schlingen trieben einfach auf dem sich verändernden Meeresspiegel. Ja, auch wenn die Schlinge, auf der der Sternenseiten-Raumhafen errichtet worden war, sich gerade in diesem Moment aufwärts oder abwärts bewegen musste — eine Folge des Schwerefeldes von Mandel und Amarant, so befand sich diese Schlinge relativ zur Oberfläche des Ozeans gesehen in absoluter Ruhe. Jegliche die Stabilität gefährdenden Auswirkungen kamen von Effekten dritter Ordnung, die sich aufgrund ihrer Größe ergaben.
Die Lebensformen auf diesem Planeten dürften, so begriff Darya, in ähnlicher Weise sicher sein. Falls nicht gerade einer der Gießer das Pech hatte, in einem Gebiet festzusitzen, in dem eine besonders starke Ebbe den Meeresgrund freilegte, würde das Tier den Gezeitensturm wahrscheinlich gar nicht bemerken.
Darya flog einen Punkt nahe dem Ufer der Schlinge an, schon weit genug auf dem ›Festland‹, um sich darauf halbwegs wohl zu fühlen, und ließ den Wagen absinken. Es regnete nicht, ja, es sah sogar fast so aus, als würde Mandel es heute noch schaffen, wenigstens kurz den Kopf durch die Wolkendecke zu strecken. Darya stieg aus und blickte sich um. Es war sonderbar, sich auf einer Welt zu befinden, auf der es so wenige Menschen gab, dass von Horizont zu Horizont nicht ein einziger zu sehen war. Aber das war kein unangenehmes Erlebnis. Darya ging näher an das Ufer der Schlinge heran. Die Pflanzen mit den weichen Stielen und den lang gezogenen Blättern, die den Ozean hier säumten, bogen sich unter der Last ihrer gelben Früchte; eine davon war so groß wie Daryas Faust. Wenn man Gap glauben schenken konnte, dann konnte man diese Früchte gefahrlos essen, aber das erschien Darya ein unnötiges Risiko. Auch wenn die Fauna und Flora ihres Intestinaltraktes um entsprechende Lebensformen erweitert worden waren, die für Opal geeignet waren, mussten ihre internen Mikroorganismen doch wahrscheinlich erst noch ausdiskutierender hier für was zuständig war. Dana ging näher an die unregelmäßig geformte Kante der Schlinge heran, zog die Schuhe wieder aus und beugte sich vor, um eine Hand voll Meerwasser zu schöpfen. Dieses Risiko war sie bereit einzugehen.
Dann nippte sie einige Tropfen von ihrer Handfläche. Das Wasser schmeckte brackig und war nicht in der Art salzig, wie Darya das von Meerwasser gewohnt war. Es erinnerte sie eher an den Geschmack ihres eigenen Blutes.
Der Gedanke an das komplizierte chemische Gleichgewicht einer Welt wie Opal brachte sie dazu, sich hinzusetzen und darüber genauer nachzudenken. In einer Welt ohne Kontinente konnten Flüsse und Bäche nicht immer weiter Salze und Basen aus durch Aufwerfungen freigelegten Tiefenstrukturen auslaugen. Mikroaustritte von Methan und höheren Kohlenwasserstoffen mussten sich auf dem Meeresboden ereignen, wobei diese Verbindungen dann durch die Wassersäule absorbiert wurden. Das ganze Land-Wasser-Gleichgewicht musste drastisch anders aussehen als auf der Welt, die Darya kannte. War diese Ökologie wirklich stabil? Oder erholten sich Opal und Erdstoß immer noch von diesem traumatischen Ereignis, das vor mehr als vierzig Millionen Jahren stattgefunden hatte — als sie in ihre wilde neue Umlaufbahn um Mandel geschleudert worden waren?
Darya ging etwa einhundert Meter weiter in Richtung ›Inland‹ und setzte sich dann im Schneidersitz auf einen dunkelgrünen Hügel.
Als heller Fleck war das Zentralgestirn zu erkennen, hoch oben in dem wolkenverhangenen Himmel. Es würde noch mindestens zwei weitere Stunden hell bleiben. Jetzt, da Darya sich Opal etwas genauer angeschaut hatte, erblickte sie eine warme, freundliche Welt, ganz und gar nicht diese turbulente, tosende Welt, die sie sich vorgestellt hatte. Gewiss konnten Menschen hier leben, sogar während des Gezeitensturms. Und wenn Opal so angenehm und freundlich war, sollte dann sein Zwilling, Erdstoß, so anders sein?
Aber er würde sogar sehr, sehr anders sein müssen, wenn Daryas eigenen Schlussfolgerungen auch nur ansatzweise stichhaltig waren. Sie starrte zu dem grauen Horizont hinüber, an dem nichts zu erkennen war, kein Boot, kein Land, und ging zum tausendsten Mal die Argumentationskette durch, die sie letztendlich dazu gebracht hatte, das Dobelle-System aufzusuchen. Wie überzeugend waren diese Ergebnisse, bei denen minimale Restwerte zum minimalen Fehlerquadrat aufgetreten waren? Darya erschien es völlig undenkbar, dass eine derartig präzise Datenübereinstimmung rein zufällig auftreten sollte. Aber wenn diese Ergebnisse ihr doch so überzeugend und so unbestreitbar erschienen, warum hatten dann andere nicht die gleichen Schlüsse gezogen?
Ihr fiel nur eine einzige Antwort ein: Ihr waren diese Überlegungen leichter gefallen, weil sie eine Stubenhockerin war, ein Mensch, der nie zwischen den Sternen hin und her reiste. Die Menschheit und ihre nichtmenschlichen Nachbarn waren darauf konditioniert worden, den Raum und alle Entfernungen vor dem Hintergrund des Bose-Antriebs zu messen. Interstellarer Transport basierte auf einem präzisen Netzwerk aus Bose-Knoten. Die alten Maßeinheiten der geodätischen Entfernung hatten inzwischen kaum noch Bedeutung; jetzt zählte nur noch die Anzahl der Bose-Knoten, die man hinter sich bringen musste. Nur die Archenbewohner, oder vielleicht die alten Kolonisten, die durch den Kriechraum schlichen, mochten erleben, wie eine Veränderung an einem Artefakt der Baumeister eine Signal-Wellenfront erzeugte, die sich von ihrem Ursprung mit Lichtgeschwindigkeit durch die Galaxis bewegte. Und nur jemand wie sie, Darya Lang, der von allem fasziniert war, was mit den Baumeistern zu tun hatte, mochte sich die Frage stellen, ob es einzelne Orte und Zeiten gab, an denen all diese sphärischen Wellenfronten sich miteinander überschnitten.
Jedes einzelne Puzzlesteinchen dieser Argumentation kam Darya schwach vor, doch alle zusammen hatten Darya vollends überzeugt. Sie spürte, wie erneut Ärger in ihr aufstieg. Sie war am richtigen Ort — oder würde es zumindest bald sein, wenn sie nur endlich Opal verlassen und selbst nach Erdstoß gelangen könnte! Doch stattdessen saß sie hier in einem verschlafenen Traumland fest!
Einem verschlafenen Traumland. Noch während diese Worte sich in ihrem Verstand ausformten, hörte sie ein knirschendes Surren hinter sich. Eine Gestalt, einem Albtraum entronnen, flog durch die Luft und landete, alle sechs Beine ausgestreckt, genau vor ihr.
Darya schrie nicht, aber nur, weil ihre Kehle ihr den Dienst versagte.
Die Gestalt vor ihr hob zwei der dunkelbraunen Beine vom Boden und bäumte sich auf, ragte nun drohend vor ihr auf. Darya blickte auf einen dunkelroten, in Segmente unterteilten Hinterleib und einen kurzen Hals mit einer scharlachrot und weiß gestreiften Halskrause. Darüber thronte ein weißer, augenloser Kopf, doppelt so groß wie der eines Menschen. Einen Mund besaß dieses Wesen augenscheinlich nicht, doch ein dünner Saugrüssel ragte aus der Mitte des ›Gesichts‹ hervor; er war zusammengerollt und verschwand in einer Art Kehlsack unterhalb des faltigen Kinns.
Darya hörte eine ganze Reihe schriller, getrillerter Quietschlaute. Gelbe, oben offene Hörner in der Mitte des braunen Kopfes wurden geschwenkt und schienen ihren ganzen Körper zu scannen. Darüber entfaltete sich ein Paar hellbrauner Antennen, unverhältnismäßig lang auch für diesen großen Kopf, bildete zwei Meter lange Fächer, die in der feuchten Luft leicht zitterten.
Jetzt löst sich der Schrei, der Darya bisher in der Kehle stecken geblieben war, und sie machte einen Satz rückwärts, stolperte dabei über den kleinen Grashügel, auf dem sie zuvor gesessen hatte. Im selben Augenblick eilte eine zweite Gestalt mit langen, gleitenden Sprüngen herbei und kauerte sich vor den Panzer der ersten. Es war ebenfalls ein Arthropode, fast so hochgewachsen wie der Erste, der Körper glich dabei aber eher einem Stock, der kaum dicker war als Daryas Arm. Der schmale Kopf dieses Wesens wurde von lidlosen, zitronengelben Facettenaugen dominiert. Auf kurzen Augenstielen wurden sie nun herumgeschwenkt, um Darya in Augenschein zu nehmen.
In diesem Moment nahm Darya einen moschusartigen Geruch wahr, komplex und unvertraut, aber nicht unangenehm, und einen Augenblick später öffnete das kleinere der beiden Wesen den Mund. »Atvar H’sial entbietet Grüße«, sagte eine sanfte Stimme, verzerrt zwar, aber doch erkennbar in einer Sprache der Menschen.
Das andere Wesen sagte nichts. Als der erste Schock ein wenig abgeklungen war, konnte Darya auch wieder vernünftig denken.
Sie hatte Bilder gesehen. Kein einziges hatte eine derartige Größe und ein derart bedrohliches Auftreten erwarten lassen, doch bei dem Wesen, das als Erstes angekommen war, handelte es sich unverkennbar um einen Cecropianer, einen Angehörigen der dominanten Spezies der achthundert Welten unspannenden Cecropianischen Föderation. Das zweite Wesen musste ein Übersetzer sein, eine niedere Spezies, die, so hieß es zumindest, jeder Cecropianer benötigte, um mit Menschen interagieren zu können.
»Ich bin Darya Lang«, antwortete sie langsam. Die beiden anderen waren so fremdartig, dass Gesichtsausdrücke für sie vermutlich nur wenig Bedeutung hatten. Sie lächelte trotzdem.
Eine Pause entstand, und wieder nahm sie diesen fremdartigen Geruch wahr. Die beiden gelben Hörner des Cecropianers drehten sich in ihre Richtung. Nun konnte sie erkennen, dass sich darin ein sehr zartes Geflecht dünner, spiralförmiger Röhren befand.
»Atvar H’sial bietet Entschuldigung durch den anderen an.« Einer der gegliederten Arme des schweigenden Cecropianers vollführte eine kurze Bewegung und deutete auf das kleinere Wesen, das jetzt zu seinen Füßen kauerte. »Wir denken, wir haben Sie vielleicht erschreckt.«
Das dürfte wohl die Untertreibung des Jahres sein! Irgendwie war es irritierend, die Worte, die im Denken des einen Wesens ausgeformt worden waren, von einem anderen ausgesprochen zu hören. Doch Darya wusste, dass die Saatwelt der Cecropianischen Clade — ihr Mutterplanet, so wie die Erde der Mutterplanet der ganzen Menschheit war — eine wolkenverhangene Kugel im matten Licht eines roten Zwergsterns war. In einer derartig stygischen Umwelt hatten die Cecropianer niemals die Fähigkeit zu sehen entwickelt. Stattdessen ›sahen‹ sie durch Echoortung, wobei sie hochfrequente Schallimpulse aus dem gefalteten Resonator in ihrem Kinn ausstießen. Das zurückgeworfene Signal fingen sie mit den offenen gelben Hörnern auf. Ein positiver Nebeneffekt war, dass ein Cecropianer auf diese Weise nicht nur die Körpergröße, die Gestalt und die Entfernung zu jedem einzelne Objekt in seinem ›Blickfeld‹ erfuhr, sondern auch noch, dank der Doppler-Verschiebung des zurückgeworfenen Signals, die Geschwindigkeit, mit der sich die entsprechenden Objekte bewegten.
Doch das System hatte auch seine Nachteile. Da auf diese Weise ›Hören‹ durch ›Sehen‹ okkupiert war, mussten Cecropianer untereinander auf andere Art und Weise kommunizieren. Dies geschah bei ihnen auf chemischem Wege, sie ›sprachen‹ miteinander, indem sie Pheromone absonderten, chemische Botenstoffe, deren variable Zusammensetzung ihnen eine vollständige, sehr differenzierte Sprache ermöglichte. Eine Cecropianerin wusste nicht nur, was ihr Gegenüber sagte; mittels der Pheromone konnte sie das Gesagte fühlen, Emotionen unmittelbar auszutauschen. Die entfalteten Antennen konnten einen Geruch schon anhand eines einzigen Moleküls identifizieren, und es gab viele Tausende verschiedener dieser Duftstoffe.
Und für eine Cecropianerin war ein Lebewesen, das nicht die richtigen Pheromone verströmte, kein kommunizierendes Lebewesens Sie konnte ihren Gegenüber zwar ›sehen‹, aber sie konnte es nicht fühlen. Zu derartigen Nichtwesenheiten gehörten auch Menschen. Darya wusste, dass die ersten Kontakte zwischen Cecropianern und Menschen völlig unproduktiv gewesen waren, bis die Cecropianer innerhalb ihrer Föderation eine Spezies gefunden hatten, die sowohl zu sprechen als auch die Pheromone zu produzieren und zu erspüren in der Lage waren.
Darya deutete auf das andere Wesen, das seine gelben Augen in sonderbar verstörender Weise so gedreht hatte, dass es mit dem einen sie, mit dem anderen den Cecropianer, diesen Atvar H’sial anschaute. »Und wer sind Sie?«
Langes, verwirrendes Schweigen. Schließlich öffnete das Wesen wieder den Mund mit den langen, schnurrhaarartigen Antennen.
»Der Name des Übersetzers lautet J’merlia. Er verfügt nur über wenig Intelligenz und spielt bei diesem Zusammentreffen keine Rolle. Bitte ignorieren Sie ihn einfach! Es ist Atvar H’sial, die mit Ihnen, Darya Lang, zu sprechen wünscht. Ich möchte mit Ihnen über den Planeten Erdstoß sprechen.«
Anscheinend machte Atvar H’sial sich dieses andere Wesen in etwa in der Art und Weise zu Nutze, wie auf den reicheren Welten der Allianz Dienstroboter eingesetzt wurden. Doch es würde eines sehr komplexen Roboters bedürfen, die Übersetzungsarbeit zu übernehmen, die dieser J’merlia hier leistete — sehr viel fortgeschrittener als jeder Roboter, von dem Darya jemals gehört hatte, vielleicht von denen auf der Erde selbst abgesehen.
»Was ist mit Erdstoß?«
Der Cecropianer kauerte sich dichter an den Boden, stützte seine beiden Vorderbeine so auf, dass sein augenloser Kopf kaum mehr als einen Meter vor Darya in der Luft hing. Gott sei Dank hat der keine Zähne oder Mandibeln, dachte Darya, sonst könnte ich das nicht ertragen!
»Atvar H’sial ist auf zwei Fachgebiete spezialisiert«, erklärte J’merlia jetzt. »Auf Lebensformen, die sich an extremen Umweltstress adaptiert haben, und auf die Urheber — die verschwundene Spezies, die von den Menschen als die ›Baumeister‹ bezeichnet wird. Wir trafen erst vor wenigen Zeiteinheiten auf Opal ein. Schon vor langer Zeit reichten wir das Gesuch ein, Erdstoß um die Zeit des Gezeitensturms besuchen zu dürfen. Diese Genehmigung wurde uns bisher nicht erteilt, doch am Raumhafen von Opal sprachen wir mit einer Menschen-Person, die uns berichtete, dass auch Sie planen, Erdstoß aufzusuchen. Ist das wahr?«
»Na ja, das ist so nicht ganz wahr. Ich habe den Wunsch, Erdstoß aufsuchen.« Darya zögerte. »Und ich hege den Wunsch, kurz vor dem Gezeitensturm dort zu sein. Aber wie haben Sie mich gefunden?«
»Das war einfach. Wir sind dem Not-Positionsgeber Ihres Fahrzeugs gefolgt.«
Das habe ich nicht gemeint, dachte Darya. Ich meine, woher hast du gewusst, dass ich überhaupt existiere?
Doch der Cecropianer sprach bereits weiter. »Sagen Sie, Darya Lang: Können Sie arrangieren, dass auch Atvar H’sial die Genehmigung erhält, Erdstoß aufzusuchen?«
War das, was Darya gemeint hatte, vielleicht im Zuge der Übersetzung verloren gegangen? »Ich fürchte, Sie haben mich falsch verstanden. Natürlich möchte ich Erdstoß aufsuchen. Aber ich habe keinen Einfluss auf die Erteilung der entsprechenden Genehmigungen. Das liegt ganz in der Hand der beiden Männer, die sich derzeit gerade auf Erdstoß aufhalten, um die dort herrschenden Bedingungen zu prüfen.«
Kurz blitzte Mandel durch die Wolkendecke. Reflexartig breitete Atvar H’sial ihre — irgendetwas hatte Darya zu verstehen gegeben, dass sie es hier nicht mit einem Cecropianer zu tun hatte, sondern mit einer Cecropianerin — Deckflügel aus und enthüllte vier zarte, rudimentäre Flügel, auf denen Darya lang gestreckte rote und weiße Augenflecken erkennen konnte. Es waren diese Musterung, die Halskrause und die phenomenale Sensitivität Duftstoffen gegenüber, die dazu geführt hatten, dass die ersten Zoologen, die einen Vertreter dieser Spezies untersucht hatten, ihnen den ausgefallenen Namen ›Cecropianer‹ gegeben hatten — auch wenn sie mit der Spezies Samia cecropia, dem Amerikanischen Riesenseidenspinner, genauso wenig verwandt waren wie mit jeder anderen terranischen Spezies auch. Darya wusste, dass die Cecropianer noch nicht einmal Insekten waren, auch wenn sie ihnen nicht nur das Exoskelett gemein hatten, sondern auch die Gliederfüßer-Struktur und die Tatsache, dass sie zwischen ihrem Jung- und ihrem Erwachsenen-Stadium eine Metamorphose durchliefen.
Die dunklen Flügel zitterten langsam. Atvar H’sial schien ganz in den sinnlichen Freuden der Wärme versunken. Einige Sekunden lang herrschte Schweigen, bis sich die Wolken wieder schlossen, und J’merlia sagte: »Aber Männer sind Männchen. Die beherrscht ihr doch, oder etwa nicht?«
»Ich gewiss nicht. Ganz und gar nicht.«
Erneut fragte Darya sich, wie präzise wohl die Übermittlung war, die sie und ihre Gesprächspartnerin erhielten. Was für den Übersetzungsprozess nötig war, klang, als könnte eine solche Übersetzung gar nicht erst gelingen: Schließlich waren da Klänge, die in chemische Botenstoffe verwandelt sein wollten, und chemische Botenstoffe, die im Umkehrzug in Klänge übersetzt werden mussten, und das alles lief über einen Vermittler, so fremd, dass dieser vermutlich mit keiner der beiden beteiligten Parteien über eine gemeinsame kulturelle Basis verfügte. Und Atvar H’sial und ihr fehlten auch gemeinsame kulturelle Eckdaten. Atvar H’sial war ein Weibchen, das wusste sie jetzt ganz genau, aber welche Rolle spielten in der Kultur der Cecropianer die Männchen? Waren Männchen Drohnen? Sklaven?
J’merlia stieß ein lautes Summen aus, aber keine Worte, die Darya hätte verstehen können.
»Ich beherrsche nicht die Männer, die diese Entscheidung zu fällen haben«, wiederholte Darya und sprach dabei so laut und deutlich, wie sie nur konnte. »Wenn sie mir verweigern, Erdstoß aufzusuchen, dann kann ich dagegen nicht das Geringste tun.«
Das Summen wurde lauter. »Höchst unbefriedigend«, meinte J’merlia schließlich. »Atvar H’sial muss Erdstoß während des Gezeitensturms aufsuchen. Wir sind weit gereist, brauchten lange, um hierher zu kommen. Es ist undenkbar, jetzt aufzugeben. Wenn Sie keine Genehmigung für uns erhalten können, für uns und für sich selbst, dann müssen andere Methoden ersonnen werden.«
Das große blinde Auge kam noch näher, so nah, dass Darya jede Borste und jede Pore erkennen konnte. Der Saugrüssel wurde ausgestreckt und berührte ihre Hand. Er fühlte sich warm und ein wenig klebrig an. Darya zwang sich dazu, nicht zurückzuzucken.
»Darya Lang«, sagte J’merlia dann. »Wenn Wesen ein gemeinsames Ziel verfolgen, dann sollten sie zusammenarbeiten, um dieses Ziel auch zu erreichen. Was auch immer andere ihnen für Hindernisse in den Weg stellen mögen, die, die ein Ziel verfolgen, gemeinsam, sollten sich nicht davon abhalten lassen. Wenn Sie uns Ihre Kooperation zusichern könnten, dann gibt es eine Möglichkeit, wie Darya Lang und Atvar H’sial Erdstoß vielleicht doch aufsuchen können. Mit offizieller Genehmigung oder ohne.«
Hatte J’merlia Atvar H’sials Gedanken wirklich richtig interpretiert? Es klang jedenfalls ganz so, als ob Darya gerade eben für eine geheime Operation angeworben worden wäre!
Darya blieb wachsam, aber diese Vorsicht vermischte sich mit Aufregung, mit einer gewissen Vorfreude. Es war, als hätte die Cecropianerin Daryas Gedanken gelesen. Wenn Rebka und Perry ihr gestatten sollten, Erdstoß aufzusuchen: wunderbar! Aber wenn nicht … würden sich andere Wege finden lassen. Eine geheime Operation etwa.
Und nicht einfach nur irgendeine Operation: eine Unternehmung, die darauf abzielte, sie zu ihrem Ziel zu bringen — während des Gezeitensturms.
Darya konnte das Pfeifen der Luft hören, die beständig durch die Stigmen der Cecropianerin gepumpt wurden. Aus dem Saugrüssel von Atvar H’sial troff eine dunkelbraune Flüssigkeit, und das augenlose Gesicht war das eines Dämons aus dem Albtraum eines Kindes. J’merlia, die schwarze, achtbeinige Gestalt, die neben Darya kauerte und so sehr an ein Strichmännchen erinnerte, hätte aus dem gleichen Albtraum stammen können.
Doch die Menschheit musste lernen, sich von Äußerlichkeiten nicht abschrecken zu lassen. Zwei Lebewesen, die in ähnlicher Weise dachten und dabei auch noch das gleiche Ziel verfolgten, konnten einander niemals völlig fremdartig sein.
Darya beugte sich vor. »Also gut, Atvar H’sial. Ich bin daran interessiert zu hören, was Sie zu sagen haben. Erklären Sie mir Ihre Pläne bitte genauer!«
Sie war ganz gewiss nicht bereit, irgendeinem wie auch immer gearteten Plan zuzustimmen. Aber es konnte gewiss nichts schaden, einfach nur zuzuhören!