»Niemandem sonst?« entsetzte sich der Junge.

»Das scheint dir wenig?« lautete die ironische Antwort. »Was hilft es dir, auf hundert Männer zu vertrauen, wenn du selbst scheiterst?« Der Panamese deutete vielsagend auf das Achterkastell. »Dort schläft der Kapitän, so vom Fieber geschüttelt und von den Würmern zerfressen, daß er kaum noch eine Waffe halten kann, doch nicht einer dieser Mistkerle hat auch nur den Mumm, die Stimme zu heben.« Er grinste übers ganze Gesicht: »Du mußt lernen, zu befehlen.«

»Und wer bringt mir das bei?«

»Das lehren sie nicht einmal in Salamanca, mein Sohn. Nicht einmal dort.«

Im Morgengrauen rief der Schotte Sebastián zu sich in die Kajüte.

»Wie hast du dich entschieden?«

»Ich werde das Schiff nehmen.«

»Und die Flagge?«

»Die auch.«

»Wenn das so ist, solltest du auch meinen Namen übernehmen. Du tust mir damit einen Gefallen, und dir übrigens auch.«

»Warum das denn?« erstaunte sich der Margariteno.

»Wenn Kapitän Jacare Jack weiter in der Karibik Schiffe überfällt, wird keiner ihn mit einem reichen Mann aus Westindien in Verbindung bringen, der nach Aberdeen zurückgekehrt ist. Und wenn sie dich eines schlechten Tages erwischen, wird keiner auf die Idee kommen, daß ein bartloses Jüngelchen Jacare Jack sein könnte, der seit über zwanzig Jahren die Meere unsicher macht.«

»Ganz schön raffiniert!«

»Dieses Schiff ist für Seitenwinde wie geschaffen.«

»Was wollt Ihr damit sagen?«

»Wind von achtern hilft allen in gleicher Weise, doch alle Winde auszunutzen gelingt nur den Schlauen.« Er sah ihn von der Seite an. »Wo bewahrst du deine Perlen auf?«

»Auf der Insel.«

»Wir können dort haltmachen, um sie zu holen, und dann läßt du mich in England von Bord. Ab dann gehört das Schiff dir.«

»In England?« entgegnete Sebastian schockiert. »Aber das liegt doch…!«

»Südlich von Schottland«, unterbrach ihn Kapitän Jack belustigt. »Nichts ist perfekt. Nicht einmal meine Heimat…« Er streckte ihm die Hand entgegen, in die Sebastian kräftig einschlug, und schloß: »Also abgemacht, aber das bleibt für den Augenblick lieber unter uns. Einigen wirst du gar nicht gefallen.«

»Und wer sind die?«

»Das mußt du selber rausfinden, und zwar lieber früher als später…«Jacare Jack nickte ihm zum Abschied zu. »Und jetzt sag Lucas, daß er Kurs auf die Insel nehmen soll, und laß mich ausruhen. Jetzt wo ich weiß, daß ich bald zu Hause sein werde, kann ich ja vielleicht etwas schlafen.«

»Habt Ihr noch ein Haus in Aberdeen?«

Traurig schüttelte der Schotte den Kopf.

»Ich bin auf der Straße aufgewachsen und mit zwölf auf mein erstes Schiff gegangen. Jedes Haus, das ich mir dort kaufe, wird mein Haus sein, doch gibt es da eines, unter dessen Portal ich manche Nacht geschlafen habe, von dem habe ich immer geträumt.« Er lächelte bitter. »Dafür brauche ich deine Perlen.«

Wieder zurück an Deck, suchte Sebastián Lucas Castafio, um ihm den Befehl des Schotten zu überbringen. Der Panamese verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln.

»Gehen wir deine Perlen holen?«

»Möglich.«

»Das heißt, daß wir bald einen neuen Kapitän kriegen.«

Der Angesprochene zuckte fast unmerklich mit den Schultern.

»Auch möglich.«

»Gratuliere, Junge!« lautete die ehrliche Antwort des Adjutanten, während er Sebastian herzlich auf die Schultern klopfte. »Und alles Glück der Welt. Du wirst es brauchen…«

Als hielte er damit einen bedeutenden Abschnitt im Leben des Schiffs für beendet, fuhr er den wachhabenden Steuermann an:

»He, du verdammter Maure! Kurs Nordost!« Und zu den zwei Männern gewandt, die auf Deck in einer Ecke Karten spielten: »Und ihr zwei, kümmert euch um das Manöver!«

»Was soll denn jetzt diese Kursänderung?« wollte einer von ihnen wissen, der sich nur unwillig aus einem Spiel reißen ließ.

»Hier befiehlt der Kapitän und kein Hurensohn… Noch Fragen?«

Es gab keine Fragen mehr, denn schließlich war es ziemlich egal, welchen Kurs sie steuerten, solange das Meer ruhig, die Winde günstig waren und sich kein Segel am Horizont zeigte.

Die meisten Schiffe brachen von einem Hafen auf und fuhren irgendwo hin, daher war dort das Leben an Bord von der Notwendigkeit bestimmt, früher oder später das Ziel zu erreichen. Die flüchtige jacare dagegen vagabundierte von einem Ort zum anderen, stets bereit, sich auf ein ahnungsloses Opfer zu stürzen oder eine schnelle Flucht zu unternehmen, wenn der Feind zu mächtig war. Das bloße Segeln war daher eine monotone Lebensweise ohne große Überraschungen.

Ein Überfall war eine Angelegenheit von Stunden, doch eine Beute konnte Wochen, ja Monate auf sich warten lassen. Daher hatte sich die Besatzung der Jacare daran gewöhnt, das schnittige Schiff als ihren heimatlichen Herd anzusehen, und die Geduld als ihre Verbündete.

Man aß, schlief, schrubbte die Decks, schwatzte oder spielte Karten, wohl wissend, daß das harte Geschäft der Piraten in erster Linie langweilige Routine bedeutete. Aufgrund der langen Mußestunden erinnerte die verwahrloste Besatzung eher an eine Bande von Vagabunden als an eine schlagkräftige Truppe von Halunken, die in der Lage war, eine ganze Flotte zu versenken.

Sebastián Heredia fing an, jeden einzelnen unter die Lupe zu nehmen, um herauszufinden, wer von ihnen auf die verlockende Idee kommen könnte, ihm ein Messer in den Rücken zu jagen, um das Kommando an sich zu reißen. Und er kam zur schmerzlichen Überzeugung, daß er nahezu die Hälfte der Mannschaft loswerden mußte, wenn er in Zukunft noch ruhig schlafen wollte.

Als die sichere Zuflucht der Grenadinen schon in Sichtweite war, weihte er den Kapitän in seine Gedanken ein. Der beschränkte sich darauf, mit beiden Händen anzudeuten, wie gleichgültig ihm das war.

»Sobald dir das Schiff gehört, kannst du machen, was du willst. Eines aber solltest du wissen: Wenn du einige von ihnen zum Teufel schickst, werden die anderen glauben, daß du vor ihnen Angst hattest, und von da an kannst du von ihnen nur noch Verrat erwarten.« Er gab ihm einen herzlichen Handschlag, als wollte er seinem Sohn die letzten Ratschläge mit auf den Weg geben, und fuhr im gleichen Ton fort: »Wer Kapitän eines Schiffs wie dieses sein will, muß gleich vom ersten Tag an klar machen, was es geschlagen hat. Wenn du das nicht schaffst, verzichtest du lieber gleich, bevor es zu spät ist.«

»Und wenn einer gegen mich rebelliert?«

»Dann hängst du ihn am Großmast auf. Dafür ist er da. Erst dann kommen die Segel.«

Das war eine seltsame Lebensanschauung, aber Sebastián Heredia mußte zugeben, daß es anders tatsächlich nicht ging, wenn er fünfzig zähnefletschende Seewölfe befehligen wollte. Wenn seine eigene Aufgabe darin bestand, sich mit Gewalt fremdes Eigentum anzueignen, dann mußte er akzeptieren, daß ein anderer versuchen würde, ihm das seine abzunehmen. In diesem Fall konnte er nur mit gleicher Münze heimzahlen: mit Gewalt.

Wenn er den schweren Weg einschlug, Anführer der Piraten zu werden, gab es nur eine Möglichkeit, Erfolg zu haben: Sie mußten ihn als ihren Besten ansehen. Als sie im Morgengrauen vor der kargen Insel Mayero Anker warfen, hatte er sich schon eine Lebensanschauung zu eigen gemacht, der er den Rest seiner Tage treu bleiben sollte: Was immer er tat, er würde es mit seinem Gewissen vereinbaren können, auch wenn es ihm nicht behagen sollte.

Er holte seine Perlen aus mehreren sicheren Verstecken und betrachtete sie noch einmal, ohne daß ihm der Abschied leid getan hätte. Sie waren sehr schön, doch war er seit seiner frühesten Jugend daran gewöhnt, sie zu bewundern. Sie konnten noch so groß sein und die Menschen sie noch so schätzen, sie waren doch nur runde Perlmuttkugeln, von denen es in den Untiefen rund um Margarita viele Tausende gab.

Nichts im Vergleich zu einem Schiff von vierzig Metern Länge und über dreißig Kanonen.

Am gleichen Nachmittag befahl Kapitän Jack seinen Männern, auf der weiten Fläche zwischen seiner Hütte und dem Meer Platz zu nehmen, er lehnte sich mühevoll gegen die Balustrade und musterte sie alle ausgiebig, bevor er begann:

»Viele Jahre lang habe ich euch befehligt, so gut ich es verstand, und ich muß zugeben, daß ihr mir gehorcht habt, so gut ihr konntet. Es waren gute Jahre, die uns reiche Schätze gebracht haben, doch für mich sind sie jetzt vorbei, ohne daß mich feindliche Kanonen in Stücke geschossen hätten.« Er lächelte etwas bitter: »Man könnte sagen, es ist der Moder unterhalb der Wasserlinie des Rumpfs, der mich durchlöchert.«

Allgemeines Murmeln war zu hören. Die Männer blickten sich bestürzt an, mußten sie doch fürchten, ihren »Arbeitsplatz« zu verlieren, doch der Schotte bedingte sich mit erhobenen Armen Ruhe aus und fuhr etwas schelmisch blinzelnd fort.

»Ruhe! Ich werde zwar gehen, aber ihr habt bereits einen neuen Kapitän.« Er deutete auf den erwartungsvollen Sebastián Heredia und bekräftigte: »Hier ist er!«

Jetzt schlug die Bestürzung der Männer in Entsetzen, ja Ungläubigkeit um, und nach langem Tuscheln und manchen feindseligen Ausrufen trat der erste Steuermann, Zafiro Burman, einige Schritte vor, um dem Mann, der bisher sein unbestrittener Befehlshaber gewesen war, offen die Stirn zu bieten.

»Er…? Und warum gerade er?«

»Weil er der einzige ist, der mir das Schiff abkaufen kann.« Er sah ihm direkt in die Augen. »Kannst du das etwa?«

»Nein!« gab der andere zu und griff sich an den riesigen Saphir, der an einer Halskette hing. »Das weißt du doch! Aber der ist doch nur ein Milchbart…«

»Na schön…« versetzte der Schotte, als ginge ihn diese Sache überhaupt nichts an. »Ich denke, das wird sich zeigen. Auf jeden Fall hat er Perlen und du nur Läuse.« Er bedeutete Sebastián, auf die Balustrade zu kommen. »Du bist dran! Ich habe das Meinige getan.«

Der Angesprochene gehorchte und stellte sich an die Seite des Kapitäns. Wie dieser musterte er ausgiebig einige Männer, die mit der Alternative nicht gerade glücklich schienen.

Schließlich schenkte er seinem Vater, der scheinbar völlig abwesend im Schatten eines Baums saß, einen langen Blick, und nachdem er sich einige Male geräuspert hatte, fing er an:

»Tatsache ist, daß ich mit meinen Perlen das Schiff kaufen kann und ihr nicht. Doch klar ist auch, daß diese Perlen mir nicht das Recht geben, daß ihr mich als Kapitän anerkennt.« Er machte eine kurze Pause, ohne sie aus den Augen zu lassen, und fuhr mit überraschender Gelassenheit fort. »Ein Befehlshaber braucht viele Dinge: Wissen, Intelligenz, Autorität und vor allem Mumm in den Knochen, um mit demjenigen fertig zu werden, der glaubt, mehr Ansprüche auf die Kapitänskajüte zu haben.« Wieder unterbrach er seine Rede, als ob die Leute danach aufmerksamer zuhören würden, und nachdem er sich vergewissert hatte, daß dies tatsächlich der Fall war, klopfte er mehrere Male mit dem Finger gegen die Brüstung: »Wenn einer von euch glaubt, daß er mehr Rechte als ich hat, die Jacare zu kommandieren, dann soll er es jetzt sagen, damit wir es austragen können. Noch sind wir alle gleich.« Sein Finger wanderte von einem zum anderen. »Wenn aber niemand vortritt, heißt das, daß ihr mich akzeptiert, und von diesem Augenblick an ist es mit der Gleichheit vorbei, und wer meine Befehle verweigert, den lasse ich aufknüpfen… Alles klar?«

Es war Lucas Castano, der ihm klugerweise zur Seite sprang und gelassen erwiderte:

»Völlig klar!«

Der Margariteno schenkte ihm ein dankbares Lächeln und beharrte im gleichen Tonfall.

»Ist jemand unter euch, der diesen Schritt machen möchte?«

Die Männer blickten sich an, darauf vertrauend, daß ein anderer vortreten würde, und als sich keiner dazu entschließen wollte, richteten sich alle Augen auf Zafiro Burman, als sollte dieser seinen Protest von vorher fortsetzen.

Doch nachdem er lange seine schwarzen Zehen angestarrt hatte, die zum Erde schaufeln getaugt hätten, schützte der erste Steuermann schließlich schulterzuckend eine Gleichgültigkeit vor, die ihm mehr als fern lag.

»Die Zeit wird es weisen…«

»Nein, Zafiro, nein!« fuhr ihm der Junge in die Parade. »Die Zeit hat da nichts zu weisen. Du selbst mußt es tun.« Er neigte sich nach vorn, als könne er ihn dadurch besser mustern. »Und zwar gleich jetzt!« sagte er mit deutlich drohendem Ton. »Akzeptierst du mich als Kapitän, oder nicht?«

Der andere schien einige Augenblicke zu überlegen, doch dann stimmte er mit einem lustlosen Kopfnicken zu.

»Einverstanden«, murmelte er. »Ich akzeptiere dich.«

»Bist du sicher?«

»Sicher.«

»Ganz sicher?«

Der Tonfall forderte eine negative Antwort geradezu heraus, als wollte man dem Gegner eine letzte Gelegenheit zum Widerruf geben, doch der Angesprochene drehte sich um und ging zu den Bäumen, während er mit rauher Stimme entgegnete:

»Ganz sicher!«

Sebastian ließ ihn gehen, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, und wandte sich dem Rest der Versammlung zu. Mit wesentlich freundlicherem Ton fuhr er fort:

»Von diesem Augenblick an bin ich Kapitän Jacare Jack, und seine Fahne gehört mir ebenso wie sein Schiff. An Bord wird sich nichts ändern, auch nicht bei der Arbeit. Und jetzt könnt ihr euch amüsieren. Morgen stechen wir in See.«

Doch am folgenden Morgen erwartete ihn eine bittere Überraschung.

Sein Vater war verschwunden, und auf seinem Strohsack fand sich nur eine ungelenk gekritzelte Nachricht: »Du brauchst mich jetzt nicht mehr. Ich kehre nach Hause zurück.«

Sebastian fand, daß diese Botschaft typisch war für seinen Vater: unverblümt und ohne Sinn, denn all die Jahre hatte der Vater den Sohn gebraucht und umgekehrt. Außerdem gab es kein Haus mehr, zu dem er zurückkehren konnte.

Er lief zur Anlegestelle, und es überraschte ihn nicht, daß eine der Schaluppen verschwunden war. Sein erster Gedanke war, die Anker zu lichten und seinem Vater in Richtung Süden zu folgen, doch bald war ihm klar, daß ihm das Schiff eigentlich erst gehörte, wenn er den Schotten wohlbehalten an der Küste des fernen Englands abgesetzt hatte.

Am gleichen Nachmittag verließen sie die Insel, um Kurs Nordost zu setzen. Für Sebastian war es der traurigste Tag seines Lebens, denn obwohl er sich damit tröstete, daß er gar nicht anders konnte, fühlte er sich in gewisser Weise schuldig, daß er es zuließ, einen kranken und erledigten Mann in sein unausweichliches Verderben ziehen zu lassen.

Was konnte der arme, früh gealterte Mann auf Margarita tun, wenn er die Insel überhaupt in seiner Nußschale erreichte?

Und wie würde er reagieren, wenn er feststellen mußte, daß er in dem Haus, in das er zurückzukehren glaubte, nichts mehr von dem vorfinden würde, was er vor Jahren zurückgelassen hatte?

Die schmerzvolle Vergangenheit, die zu vergessen er sich so oft bemüht hatte, kam Sebastián wieder ins Gedächtnis zurück, und wieder einmal mußte er sich fragen, was in all den Jahren aus seiner Mutter und seiner Schwester geworden war.

Ob sie wohl noch auf der Insel lebten?

Wahrscheinlich wohnten sie noch immer im Palast des Gesandten der verabscheuten Casa de Contratación, die schon vor geraumer Zeit einen hohen Preis auf die gesamte Besatzung des tollkühnen Schiffs ausgesetzt hatte, denn nur zu oft hatte die jacare die Casa um ihre wertvollen Waren erleichtert. Sebastián schauderte schon bei dem Gedanken, was eines Tages geschehen würde, wenn sein Vater auf den Mann traf, der ihm auf so grausame Weise seine Familie geraubt hatte, doch was würde erst passieren, wenn er auf seine Mutter traf?

Sebastián war nie ganz klar gewesen, wer der wahre Schuldige an dem Geschehenen war: der Mann, der mit seinem Geld und seiner Macht die Frau des anderen verführt hatte, oder die Frau, die sich von dieser Macht und diesem Geld hatte verführen lassen und darüber hinaus noch ein unschuldiges Wesen mit sich gerissen hatte, das noch nicht alt genug war, um selbst über sein Schicksal zu entscheiden.

Ein ums andere Mal rief er sich das Bild seines Vaters ins Gedächtnis, der wie ein Besessener Messer, Schwerter und Macheten schärfte, und er konnte nicht vergessen, wie er ins Leere blickte. Es jagte ihm Angst ein, wenn er sich vorstellte, was passieren würde, wenn dieses gequälte Wesen auf die Menschen traf, die auf so grausame und schändliche Weise seine friedliche Existenz vernichtet hatten.

Die Jacare war das schnellste Schiff, das in diesen Augenblicken auf den Meeren kreuzte, aber dennoch hatte der Junge den seltsamen Eindruck, als würde sie kaum von der Stelle kommen.

Er war an die karibische See gewohnt, auf der sich früher oder später eine ferne Küste abzeichnete oder Seevögel die Nähe des Landes ankündigten, doch die Unendlichkeit jenes dunklen und toten Ozeans mit seinen hohen Wellen und heulenden Winden setzte ihm zu. Nicht weil er Angst vor dem Meer hatte, sondern weil er sich Sorgen machte, vielleicht den Rückweg nicht mehr zu finden und für immer in einem Europa bleiben zu müssen, von dem er nur Schlimmes gehört hatte.

Hunger und Ungerechtigkeit hatten seine Großeltern dazu bewogen, in der Neuen Welt die Möglichkeiten zu suchen, die ihnen die alte Welt verweigerte. Und seit er denken konnte, hatte der Margariteno die fixe Idee, daß am anderen Ende des Ozeans nur ausgedörrte Länder lagen, deren Bewohner, gerissene Schelme, nur darauf aus waren, auf Kosten anderer zu leben.

Warum Kapitän Jack so sehr daran lag. in ein unbarmherziges Land zurückzukehren, aus dem er schon als Kind hatte fliehen müssen, um nicht Hungers zu sterben, konnte Sebastian niemals verstehen. Doch verspürte er auch nicht die geringste Neugier, den Grund dafür herauszufinden, und als an einem nebligen Morgen der Ausguck die Küste Englands ankündigte, kam er nicht einmal auf den Gedanken, einige Meilen näher heranzusegeln, um einen Blick darauf zu werfen.

»Die Segel reffen und beidrehen!« befahl er unwirsch. »Diese Nacht bringen wir den Kapitän an Land.«

Er aß mit ihm allein in der Achterkajüte. Der Schotte schien einen schweren inneren Kampf auszufechten. Natürlich hatte er den logischen Wunsch, als reicher Mann, der sich um seine Zukunft keine Sorgen zu machen brauchte, in seine Heimatstadt Aberdeen zurückzukehren, andererseits erfüllte es ihn mit tiefer Trauer, sein Schiff und seine Lebensweise aufgeben zu müssen, die ihm so viele glückliche Jahre beschert hatten.

»Das Schlimmste daran ist, daß ich mich trotz meines vielen Geldes nie wieder so frei fühlen werde wie in der Zeit, als ich ein einfacher Pirat war. Nun werde ich mich wieder zum Sklaven dieses Geldes machen, während ich mir früher den Luxus leisten konnte, es über Bord zu werfen.«

»Aber Ihr werdet ohne die dauernde Furcht leben, daß eine feindliche Flotte am Horizont auftaucht.«

»Wenn du lange Zeit auf der Jacare gesegelt bist, wirst du dich freuen, eine feindliche Flotte am Horizont zu erblicken«, lautete die gelassene Antwort. Er lächelte ein wenig, als lächelte er über seine intimsten Erinnerungen. »Du wirst Furcht verspüren, doch du wirst es auch genießen, wenn du merkst, daß du ihnen trotz ihrer Kanonen auf der Nase herumtanzen kannst, denn dieses verdammte Schiff ist wie eine Wespe, die tausend Mal ein störrisches Maultier sticht, während dieses nur blind auskeilen kann.« Er ließ sich in seinen Sitz zurückfallen, und sein Gesichtsausdruck war voller Stolz. »Einmal habe ich drei Galeonen vor San Juan versenkt, ohne daß man mir nur ein Segel zerrissen hätte.«

Der Junge nickte.

»Lucas Castano hat mir davon erzählt.«

»Er hat mutig gekämpft, und an diesem Tag habe ich ihn zu meinem Adjutanten gemacht.« Wohlwollend klopfte er ihm auf die Hand. »Vertrau ihm! Er ist der einzige an Bord, vor dem du immer sicher sein wirst.«

»Ich weiß.«

»Als ich zum ersten Mal meine Flagge hißte, war ich nicht so gut dran. Damals konnte ich noch keinem vertrauen. Und was die Fahne betrifft«, fügte er hinzu und deutete mit dem Kopf auf das Tuch, das säuberlich gefaltet auf einer breiten Kommode aus Mahagoni lag. »Hier hast du sie! Paß gut darauf auf!«

»Das werde ich. Jetzt ist sie meine.«

»Dann achte darauf, daß du sie niemals neben einem Korsaren flattern läßt«, murmelte der Schotte fast unhörbar. »Das wollen Patrioten sein, doch in Wirklichkeit sind es nur dreckige Mörder, denen es mehr Spaß macht, ein Schiff brennen und die Besatzung absaufen zu sehen, als es zu plündern, und wer so was tut, ist verrückt.« Er schnalzte mit der Zunge, als wollte er deutlich machen, wie sehr ihm das mißfiel. »Danach werden sie ausgewählt: Verrückte und Mörder, und um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, verleiht man ihnen noch Adelstitel, während man uns, die wir uns bemühen, die Leute zu schonen, aufhängen läßt.« Ein ums andere Mal schüttelte er den Kopf, als könnte er es einfach nicht fassen: »Traurige Zeiten sind das, in denen die Dinge, die du raubst, mehr zählen als die Menschen, die du umbringst. Ich versteh’s einfach nicht!«

Am Abend war die Küste nur noch einen Steinwurf entfernt, und als es schon fast stockfinster war, ließ man eine kleine Schaluppe zu Wasser.

Der Schotte verabschiedete sich nach und nach von allen Männern, und als er vor Lucas Castano angelangt war, kam es zu einer rührenden Umarmung. Schließlich baute er sich vor Sebastian auf und grüßte ihn fast militärisch:

»Viel Glück, Kapitän! Das Kommando gehört Euch!«

»Viel Glück!«

Dann kletterte er die kurze Leiter hinunter, ergriff die Ruder und löste sich vom Schiff, bis die Dunkelheit der Nacht ihn einhüllte und man nur noch das rhythmische Klatschen des Wassers hörte.

Dann aber schallte aus der Ferne ein Ruf aus zitternder Kehle herüber, so laut, als käme er aus dem Totenreich.

»Adios…!! Und gute Jagd…!!!«

»Adios, Kapitän…« schallte es im Chor zurück.

Als nur noch Stille und Dunkelheit herrschten, gab Sebastián Heredia Matamoros, der frischgebackene Kapitän Jacare Jack, seinen ersten Befehl, der keinen Widerspruch duldete.

»Die Segel hoch! Kurs Südsüdwest…!«

Vor dem Golf von Biscaya und Kap Finisterre wühlten heulende Stürme das Meer auf. Für die Mannschaft, die an ein anderes Klima gewöhnt war, waren diese tobenden Unwetter eine schauerliche Erfahrung, noch mehr aber für das Schiff, das für ganz andere Breiten konstruiert worden war.

Um Mitternacht brachen die Eisenklammern, die den »falschen« Besanmast am Topp mit dem echten verbanden. Ein Marsgast fiel über Bord und verschwand. Er hatte die Taue des ins Wasser gefallenen Segels kappen wollen. Dieses hatte einen riesigen Sack gebildet, der das Schiff in Schieflage brachte. Bei jedem schweren Brecher von der anderen Seite drohte das Schiff zu kentern.

In diesen bangen Augenblicken mußte Sebastián seinen ganzen Mut zusammennehmen, um nicht die Nerven zu verlieren. Lucas Castano erwies sich wieder einmal als ein mit allen Wassern gewaschener Seemann, der mit allen Situationen fertigwurde, ohne die Ruhe zu verlieren.

Zwei Kanonen, die sich aus ihrer Verankerung gerissen hatten und drohten, ein Leck in den Rumpf zu schlagen, mußten sie ins Wasser werfen. Als sie schließlich die portugiesische Küste erreichten und das Unwetter sich legte, hatten ihnen Sturm und Wellen so übel mitgespielt, daß sie das Ruderboot eines Fischers hätten entern können.

»Jetzt ist mir klar, warum das hier die Küste des Todes heißt«, murmelte Zafiro Burman und blickte auf die hohen Wellen, die sie hinter sich gelassen hatten, als wären sie ein Gespenst, das sie immer noch einholen könnte. »Das hier ist kein Meer. Das ist eine verdammte Sauerei!«

»Als Kind habe ich mal einen Wirbelsturm erlebt«, bemerkte der neue Kapitän Jacare Jack, »und ich weiß noch, wie schrecklich der war, obwohl wir uns in die Gewölbe der Festung La Galera geflüchtet hatten. Aber ich hätte mir nicht ausmalen können, gegen so etwas auf offener See anzukämpfen.«

Drei Tage später, als sie bereits ruhig an der afrikanischen Küste entlang segelten, wurde ihnen klar, daß das Schiff angeschlagen war und unterhalb der Wasserlinie kleine Lecks aufwies, die der Zimmermann weitgehend vergeblich während der Fahrt zu reparieren versuchte.

»Wir müssen das Schiff an Land kalfatern«, befand Meister Bertrán schließlich, der jede Planke der Jacare zu kennen schien, als hätte er sie selbst geschnitzt. »In diesem Zustand schafft es die Überfahrt nicht.«

»Wieviel Zeit wirst du brauchen?« wollte der Margariteno wissen.

»Mindestens eine Woche.«

Sein neuer Kapitän wies auf die sandige Küste, die Backbord in der Ferne zu sehen war.

»Hier scheint es keinen geeigneten Ort zu geben. Und wenn wir nicht aufpassen wie die Luchse, schneiden uns die Mauren hier die Kehle durch.«

»In vier oder fünf Tagen sind wir in Sichtweite der Kanarischen Inseln«, mischte sich Lucas Castano ins Gespräch. »Auf einigen Inseln finden wir sicher einen einsamen Strand, an dem wir arbeiten können.«

»Die Kanaren gefallen mir auch nicht gerade«, urteilte Sebastián Heredia. »Wahrscheinlich wissen sie dort, daß die Casa einen Preis auf unsere Köpfe ausgesetzt hat, und die Jacare ist ein unverwechselbares Schiff.«

»Dieses Risiko müssen wir eingehen«, beharrte Meister Bertrán selbstbewußt. »Ansonsten haben wir bald sechs Strich Wasser im Kielraum.«

Damit hatte er nicht unrecht, denn obwohl die Männer im Turnus Stunde um Stunde schöpften, ging der Wasserstand nicht zurück. Das malträtierte Schiff ächzte und stöhnte während der Fahrt derart, daß man in der Stille der Nacht hätte glauben können, sein letztes Stündlein habe geschlagen.

Schließlich tauchte in der Ferne ein düsteres Kap auf, dann ein weiteres, und schließlich kamen die hohen Klippen der Nordküste von Lanzarote in Sicht, die eine Wasserstraße von nur einer Meile Breite von den seichten Stränden der kleinen Insel Graciosa trennte. Hier konnte man sehr gut ein Schiff an Land ziehen, da sich keine Menschenseele sehen ließ. Waren auf der Insel aber Soldaten stationiert, das war dem Margaritefio bewußt, stand er vor unlösbaren Problemen, wenn es galt, einen Angriff zurückzuschlagen.

Auf offener See waren seine Männer erfahrene Kämpfer und wurden mit jeder Schwierigkeit fertig, solange sie die Planken eines Schiffs unter ihren Füßen spürten. Doch hatte Sebastian keine Ahnung, wie seine Männer reagieren würden, wenn sie nicht mehr auf die Schnelligkeit und Manövrierfähigkeit der Jacare vertrauen konnten, die sie notfalls aus der Schußlinie brachte.

»Eine Woche ist viel Zeit…« dachte er sich ein ums andere Mal, während er sorgenvoll auf die Steilküste blickte. »Verdammt viel Zeit.«

Schließlich entschloß er sich, mit den fünf besten Schützen der Mannschaft an Land zu gehen, und übergab Lucas Castano das Kommando an Bord mit der strikten Anweisung, bei Anzeichen der geringsten Gefahr die Anker zu lichten.

Als es dunkel wurde, ließen sie die Schaluppe zu Wasser, steuerten die letzte Landspitze auf der Luvseite der Insel an und gingen in tiefster Finsternis an einem breiten Strand mit hohen Dünen an Land, zwischen denen sie das Boot mühelos verstecken konnten.

Im Morgengrauen sahen sie sich verblüfft an, in was für karge, von Felsen übersäte Gefilde sie geraten waren. Zahlreiche hohe Vulkankegel verliehen der Landschaft ein unwirkliches Aussehen, als wären sie auf einem anderen Planeten gelandet. Die nackte Erde hatte nichts mit den Antillen gemein, auf denen sie geboren oder zumindest aufgewachsen waren.

Kein Baum, kein Bach, ja nicht einmal eine winzige Wiese, auf der ein einfaches Maultier hätten weiden können, und die Luft war so trocken, daß man sich andauernd räuspern mußte.

»Was für ein seltsamer Ort«, murmelte hinter dem Rücken Sebastians einer, der sich offenbar ein Land ohne Wälder kaum vorstellen konnte. »Zum Fürchten!«

Dann hörten sie das vom Winde verwehte Läuten einer fernen Glocke: ein Klang, der ihnen völlig unpassend erschien auf diesem Boden, auf dem wohl nur Eidechsen leben konnten.

Unendlich vorsichtig tasteten sie sich weiter vorwärts, und bald konnten sie die drohende Silhouette eines düsteren Forts ausmachen, das an einem der schlafenden Vulkane förmlich zu kleben schien. Unterhalb der Festung breitete sich ein kleines weißes Dorf aus, dessen stolze Kirche ein Kuppeldach zeigte.

»Hier leben ja doch Menschen«, murmelte der gleiche von vorhin, als wolle er seinen eigenen Worten nicht trauen. »Wovon leben die nur, zum Teufel?«

»Wirklich ein Wunder«, erwiderte Sebastian.

Den restlichen Tag lagen sie auf der Lauer, ohne auch nur eine Menschenseele zu entdecken. Erst als die Sonne nicht mehr auf die Felsen brannte, konnten sie einen Mann ausmachen, der sehr langsam auf sie zukam und das seltsamste Tier am Zügel führte, das sie je gesehen hatten.

»Was für ein häßliches Pferd!« rief der ewige Schwätzer aus. »Und wie komisch das läuft!«

»Das ist doch kein Pferd, du Idiot!« fuhr ihn der Margariteno an. »Das muß ein Kamel sein.«

Bei Anbruch der Dunkelheit näherten sie sich den ersten Häusern und achteten über zwei Stunden lang auf alle Geräusche und Stimmen, bis sie davon überzeugt waren, daß es dort lediglich ein halbes Dutzend Männer im waffenfähigen Alter gab.

»Kehren wir zurück!« befahl Jacare Jack schließlich. »Ich glaube, bei so wenigen Menschen gehen wir kein Risiko ein.«

Sie kehrten zum Schiff zurück und setzten das Schiff an einer stillen Reede auf Sand. Nachdem sie die Kanonen an Land gebracht hatten, um jeden Angriff von der Steilküste aus zurückschlagen zu können, machten sie sich daran, das Schiff so schnell wie möglich zu reparieren und zu kalfatern.

Am dritten Tag entdeckten sie einige Ziegenhirten, die sie von den Klippen aus beobachteten. Über ihren Anblick zerbrachen sich die Piraten aber kaum den Kopf, denn die Hirten schien die Anwesenheit des mächtigen Schiffs mit seinen gut sichtbaren zwanzig Kanonen weit mehr zu beunruhigen.

Um so erstaunter waren die Piraten, als am nächsten Morgen langsam eine winzige Gestalt die glatte, wie mit dem Messer geschnittene Felswand hinabkletterte.

Sie hielten den Atem an, denn jeden Augenblick konnte dieses törichte Wesen in den Abgrund stürzen. Ihre Überraschung wurde jedoch noch größer, als sie schließlich feststellen mußten, daß da ein sehr junges und attraktives Mädchen auf diese Weise sein Leben aufs Spiel setzte.

Sebastian ging ihr entgegen, um sie wegen ihres törichten Verhaltens zur Rede zu stellen, doch das Mädchen ließ ihm gar nicht die Zeit, den Mund zu öffnen, sondern fragte in aller Unschuld:

»Fahrt ihr nach Westindien?«

»Ja«, sagte der Margariteno, dessen Verblüffung immer größer wurde. »Warum?«

Das Mädchen, denn es war kaum mehr als ein Mädchen, auch wenn es bereits weibliche Rundungen aufwies, zog aus der Tasche seines schlichten Kleids einen fleckigen Umschlag und reichte ihn Sebastian.

»Könnt Ihr mir den Gefallen tun und diesen Brief meinem Verlobten überbringen?« bat sie inständig. »Sie haben ihn vor einem Jahr eingezogen, und seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört. Die Schiffe kommen bei ihrer Rückkehr aus Westindien hier nicht vorbei.«

Sebastian nahm das grobe Papier, auf dem mit fast kindlicher Schrift zu lesen stand: »Pompeyo Medina. Westindien.«

»Aber in welchem Teil Westindiens ist er denn?« wollte er wissen.

»Das weiß ich nicht«, entgegnete das Mädchen mit rührender Offenheit. »Doch Westindien kann ja nicht sehr groß sein, und ich bin sicher, daß Ihr ihn findet. Er ist groß, hat braune Haare, riesige dunkle Augen und am Kinn ein tiefes Grübchen.« Sie zeigte ein faszinierendes Lächeln, als sie fragte: »Werdet Ihr ihm meinen Brief geben?«

»Ich werde tun, was ich kann«, versprach der Margariteno.

»Danke!«

Schon auf dem Rückweg drehte sie sich nach hundert Metern noch einmal um und rief ihnen fröhlich zu:

»Und sagt ihm, daß ich immer auf ihn warten werde. Immer!«

Dann verschwand sie endgültig, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sebastian blickte ihr nach, als hätte er gerade eine Fata Morgana erlebt.

Als er schließlich zurückkam, scharten sich seine Männer erwartungsvoll um ihn.

»Was wollte diese Verrückte?« fragte Lucas Castano geradezu neugierig.

Sebastian zeigte ihm den Brief:

»Wahrscheinlich ein Jahr weiterträumen.«

Als sie drei Tage später die Jacare endlich wieder zu Wasser ließen und Kurs nach Süden einschlugen, stieß der neue Kapitän einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus, daß die Gefahr vorüber war, doch fragte er sich noch oft, wie es so seltsame Orte wie diese Insel geben konnte und so unschuldige Mädchen wie das mit dem Brief.

Ein steifer Nordostwind trieb sie, ohne daß sie sich groß anstrengen mußten, nach Westen. Über dem ruhigen, dunklen Meer wölbte sich ein klarer, wolkenloser Himmel. Und so gingen die Tage friedlich dahin, bis der Ausguck einen treibenden Leichnam direkt voraus meldete.

Sie betrachteten ihn, während er langsam steuerbord vorbeitrieb.

Es handelte sich um die von Fischen schon sehr angenagte Leiche eines mageren Jungen, der schon einige Tage im Wasser gelegen haben mußte. Der Zwischenfall wäre nicht unbedingt der Rede wert gewesen, wäre nicht drei Stunden später ein neuer Toter aufgetaucht. Und auf diesen folgte ein weiterer, und wieder einer, bis man von einer wahren Prozession von Leichen hätte sprechen können, die mit dem Gesicht nach unten in einem immer ruhigeren Meer dahintrieben.

Und alle waren schwarz.

Männer, Frauen und Kinder. Alle schwarz.

Einigen hatten die in der Umgebung kreisenden Haie einen Arm oder ein Bein abgerissen, und bei einem kleinen Mann schwammen die blutigen Eingeweide wie eine Familie von Quallen herum.

Selbst die rauhen Seewölfe, die an Gewalt und Tod gewöhnt waren, glaubten einem dantesken Schauspiel beizuwohnen, denn eines war klar: Die Menschen waren keines gewaltsamen Todes gestorben, sondern zweifellos unschuldige Opfer eines tragischen Schiffbruchs, der keinen verschont hatte.

Bald mußten sie jedoch feststellen, daß keine Spur eines Schiffbruchs zu entdecken war. Keine Planke, nicht einmal ein leeres Faß oder ein Segelfetzen… Nichts!

Nur Tote.

»Ein Sklavenschiff«, rief plötzlich Nick Cararrota aus.

Sebastian Heredia wandte sich dem häßlichen Malteser zu, der als bester Fechter an Bord galt und von dessen bewegter Vergangenheit man nur so viel wußte, daß er alles getan hatte, was auf dieser Welt nur verboten oder illegal sein konnte.

»Was soll das heißen, ein Sklavenschiff?« wollte er wissen.

»Daß vor uns wahrscheinlich ein Schiff fährt, das Sklaven aus Senegal geladen hat.« Der narbengesichtige Kerl spuckte in Richtung einer der Leichen aus. »Wenn die Ware krank wird, wirft man sie über Bord, noch bevor sie den Löffel abgegeben hat.«

»Warum das denn?«

»Wenn sie halbtot im Hafen ankommt, kauft sie keiner, und wenn sie an Bord stirbt, zahlt die Versicherung nicht.« Er fletschte seine schlechten Zähne wie ein hungriger Wolf. »Wenn der Kapitän die Kranken aber ins Wasser wirft, damit sie die übrige Fracht nicht anstecken, wird das als legal angesehen, und die Versicherung ersetzt die Auslagen.«

»Bist du sicher?« fragte Lucas Castano verblüfft. »Sollen wir vielleicht glauben, daß es eine Versicherung für solche Risiken gibt?«

»Natürlich! In London.«

»Und woher weißt du das?«

Der Malteser begnügte sich mit einem Schulterzucken und grinste fast belustigt, während er ironisch fortfuhr:

»Ich verstehe schließlich mein Metier «

»Bist du mal auf einem Sklavenschiff gefahren?«

»Nur ein einziges Mal«, gab Cararrota ohne jegliche Scham zu, »und ich kann dir sagen, man verdient dabei zwar Geld wie Heu, aber es ist der elendste Beruf, den ich kenne. Und ich kenne verdammt viele! Nicht um alles Geld in der Welt würde ich noch einmal auf einem dieser verfluchten Schiffe anheuern.«

Der Wind schlief ein.

Und es wurde Nacht.

Das Meer verwandelte sich in einen riesigen Spiegel, in dem bald der Mond glänzte, und es schien, als hätten sich alle Elemente verschworen, den Männern der Jacare ein immer höllischeres Spiel zu bieten.

Über die Reling gebeugt betrachtete Sebastian die halbe Nacht lang ein versteinertes Meer. Jeden Augenblick fürchtete er eine neue phosphoreszierende Masse zu sehen, denn um die Leichen wimmelten so viele winzige Fische im Wasser herum, daß es gespenstisch im Mondlicht leuchtete.

Er konnte es einfach nicht fassen, daß ein Mensch so tief sinken konnte, einen kranken Jungen lebendig ins Wasser zu werfen, um für dessen Leben ein paar Pfund von einer Versicherung einzustreichen.

»Die haben es nicht verdient zu leben«, sagte er zu sich selbst. »Die haben es wirklich nicht verdient.«

Kurz vor Sonnenaufgang war in der Ferne ein Stöhnen zu hören. Der Ausguck riß Lucas Castano aus dem Schlaf, und dieser weckte wiederum den Margariteno auf. Sebastian befahl sofort, Fackeln zu entzünden, Schaluppen ins Wasser zu lassen und nach etwaigen Schiffbrüchigen zu suchen.

Sehr schnell hatten sie ihn gefunden. Es war ein riesiger Schwarzer, der aber so erschöpft und starr war, daß er, kaum an Bord gezogen, in eine Ohnmacht fiel, aus der er erst am Vormittag erwachte.

Sein Bericht, den er in einer seltsamen Mischung aus englischen, spanischen und portugiesischen Wortfetzen stammelte, gespickt mit zahlreichen Wörtern aus irgendeinem gottverlassenen afrikanischen Land, bestätigte die Aussage des Maltesers. Das einzige, was man wirklich verstehen konnte, war, daß der Kapitän ihn wegen unaufhörlichen Durchfalls über Bord hatte werfen lassen.

Als sie wissen wollten, wie viele Leute an Bord waren, konnte er noch nicht einmal eine ungefähre Zahl nennen.

»Muita!« war alles, was er sagte. »Muita people!«

Sebastian Heredia ging zu seiner Kajüte zurück und dachte über das Gehörte nach. Schließlich steckte er seinen Kopf wieder heraus und gab einen barschen Befehl:

»Die Masten hoch und alle Segel setzen! Wir machen Jagd auf diese Hurensöhne.«

Das Sklavenschiff konnte nicht viel Vorsprung haben, doch wehte nicht die leiseste Brise, was das Segeln auch für ein so behendes Schiff wie die Jacare zum aussichtslosen Unterfangen machte. Allein von dem Augenblick, in dem man in der Ferne voraus einen Leichnam ausmachen konnte, bis zu dem Moment, da dieser sich achtern aus den Augen verlor, verging eine Ewigkeit.

Plötzlich fiel dem Margariteno eine Geschichte ein, die seine Mutter ihm erzählt hatte: das Märchen vom kleinen Jungen, der sich im Wald verirrt und Steinchen streuend den Rückweg findet.

Das Sklavenschiff hinterließ eine ähnliche Spur und verriet damit seine genaue Route, und tatsächlich entdeckte der Ausguck schließlich erfreut im Westen einen Punkt am Horizont.

Bei Anbruch der Nacht hatten sie das Schiff allerdings noch immer nicht erreicht, und als es dunkel wurde, drehte der Verfolgte unvermittelt nach Süden ab, um ihnen auszuweichen. Doch jetzt half ihnen ein rächender Vollmond, in dessen Licht sie das Sklavenschiff sehen konnten, bevor es sich backbord davonstehlen konnte.

Im Morgengrauen waren sie nur eine knappe Meile von seiner Steuerbordseite entfernt. Bald wehte ein dermaßen grauenvoller Gestank herüber, daß selbst einige der erfahrensten Seeleute, die mit Gleichmut die schlimmsten Stürme ertrugen, kurz davor waren, sich zu übergeben.

»Aber was ist denn das?« wollte Zafiro Burman wissen. »Was ist das nur für ein Gestank?«

»Der Duft der Sklavenschiffe«, entgegnete in aller Seelenruhe der Malteser. »Er hat mich monatelang verfolgt, obwohl ich mir die Kleider vom Leib gerissen, das Haar abrasiert und mich hundertmal gebadet habe. Wie ich schon sagte: die elendste Arbeit auf Erden.«

Kurz vor Sonnenaufgang ließ Kapitän Jacare Jack die Krokodilsflagge mit dem Totenkopf hissen und einen Warnschuß vor den Bug des schwarzen Schiffs setzen, das alle an Bord für den riesigsten, häßlichsten und schwerfälligsten Seelenverkäufer hielten, der je auf den Weltmeeren gesegelt war.

Kein Schoner, keine Brigantine, keine Fregatte, keine Korvette, sondern eine Art Kreuzung zwischen alter Karavelle und Rumpelkasten, allerdings zu breit und zu kurz. Die drei asymmetrisch angeordneten Masten waren unterschiedlich hoch, und das ganze Schiff war ein einziges unförmiges Chaos, als hätte man es ohne jeglichen Plan und mit den unfähigsten und unordentlichsten Zimmerleuten der Küste gebaut.

Warum jemand diesen Schrotthaufen zu Wasser gelassen hatte, war ebenso unerklärlich, doch hier war er, schaukelte hin und her wie in einem Sturm, obwohl der Ozean an diesem Tag so ruhig war wie ein Ölsee.

Die Besatzung machte nicht die geringsten Anstalten, zu fliehen oder zu kämpfen. So ging die jacare längsseits, und ein halbes Dutzend Männer sprangen an Bord, als müßten sie sich kopfüber in eine Kloake stürzen. Der Geruch von heißem Schweiß, Kot und Urin schlug ihnen wie eine gewaltige Ohrfeige entgegen.

Dieses Schiff war die Hölle.

An Bord angelangt verstand man allerdings, warum die Ausrüster es auf so absurde Weise hatten bauen lassen. Das war kein Schiff, mit dem man von einem Ort zum anderen fuhr, sondern eine Art riesiger schwimmender Sarg, in dessen vier übereinanderliegenden Lagerräumen man so viele Sklaven wie möglich unter den schlimmsten Bedingungen einpferchte.

Männer, Frauen und Kinder lagen ausgestreckt auf schweren Tischen, die etwas geneigt waren, damit Urin und Exkremente zum Boden abfließen konnten. Hand- und Fußgelenke waren mit dicken Eisenketten gefesselt, so daß sie nicht die geringste Bewegung machen konnten.

Schulter an Schulter lagen sie aneinandergereiht. Kaum ein Meter Höhe trennte sie von der nächsten Menschenschicht, und das alles in einer Hitze, die über fünfzig Grad betragen mußte, und mit so wenig Luft, daß es ein Wunder war, überhaupt noch einen Menschen am Leben anzutreffen.

Die nicht minder übelriechende Besatzung bestand aus einem walisischen Kapitän und zwölf rohen Männern. Als man sie gereizt zur Rede stellte, warum sie diese armen menschlichen Wesen so grausam behandelten, schien sich der Kapitän zu erstaunen.

»Menschliche Wesen? Was für menschliche Wesen? Sind doch nur Neger!«

»Sind Neger vielleicht keine Menschen?«

»Natürlich nicht!« gab der andere mit verblüffender Sicherheit zurück.

»Was dann?«

»Sklaven.«

»Sklaven? Nichts weiter?«

»Es waren Sklaven, wir haben sie als Sklaven gekauft, und wir bringen sie nach Jamaika, um sie dort als Sklaven zu verkaufen.« Der Waliser zuckte die Schultern, als hätte er damit alles erklärt. »Was sollten sie sonst sein außer Sklaven?«

»Verstehe… Wie viele habt ihr?«

»In Dakar sind wir mit 780 aufgebrochen, doch etwa hundert sind unterwegs gestorben.«

»Gestorben, oder habt ihr sie lebendig ins Wasser geworfen?«

»Was tut das zur Sache? Sie waren krank! Wir haben ihnen Leiden erspart, als wir sie ins Meer warfen, denn sie haben sich fast zu Tode geschissen.« Der widerliche Kerl schnalzte verächtlich mit der Zunge. »Ein Sklave mit Durchfall bringt keinen müden Heller ein und macht nur Probleme.«

Der frischgebackene Kapitän Jacare Jack dachte eine lange Zeit nach, wobei er sich in einem vergeblichen Versuch, dem Gestank zu entgehen, die Nase zuhielt. Schließlich deutete er auf die übrige Besatzung, deren schwimmende, stinkende Schande man ironischerweise auf den absurden Namen Four Roses getauft hatte.

»Keiner von Euren Männern leidet an Durchfall?«

»Nicht daß ich wüßte…« beeilte sich sein Gegenüber mit der Antwort, sichtlich pikiert.

»Schade, denn sonst hätte ich einen wunderbaren Grund gehabt, euch alle über Bord werfen zu lassen.« Er machte eine kurze Pause, während der er sich genüßlich am Kopf kratzte, und fuhr schließlich im gleichen Ton fort. »Aber wenn ich’s mir recht überlege, brauche ich gar keinen Vorwand. Ich lasse euch ins Meer werfen, weil ihr alle Hurensöhne seid.«

»Das könnt Ihr nicht machen!« protestierte der Kapitän. »Wir haben uns ergeben, und die Gesetze der Piraten sehen vor…«

»Von Sklavenschiffen steht nichts in den Vorschriften der Bruderschaft der Küste, deshalb tu ich, was mir gefällt. Wem gehören die Sklaven?«

Der Waliser zögerte einige Augenblicke, doch dann schien er zu begreifen, daß ihm Lügen hier nicht weiterhalf, und antwortete mißmutig:

»Der Casa de Contratación in Sevilla.«

Jetzt schien der Margariteno überrascht zu sein. Er und Lucas Castano, der neben ihm stand, schauten sich erstaunt an, und er entgegnete schließlich mit Härte: »Das ist gelogen. Die Gesetze verbieten es der Casa, mit Sklaven zu handeln.«

»Das mag schon sein, aber ich arbeite seit fünf Jahren für sie. Nicht offiziell, aber wenigstens drei ihrer Gesandten zählen zu den Ausrüstern des Schiffs.«

»Wer alles?«

»Das kann ich Euch nicht sagen.«

»Natürlich könnt Ihr das!« erregte sich der Margariteno. »Ich lasse Euch so oder so ins Meer werfen, doch gibt es zwei Arten: mit oder ohne hundert Peitschenhiebe.« Er drohte mit dem Finger. »Also sagt mir diese Namen!«

Der Waliser zögerte aufs neue, blickte seine Männer an und kam zu dem Schluß, daß er ausgespielt hatte. Er murmelte mit einer fast unmerklichen Geste des Gleichmuts:

»Gines Alvarado, Hernando Pedrárias und Borja Centeno.«

»Pedrárias Gotarredona, der Gesandte auf Margarita?« Da der Kapitän heftig nickte, drang Jacare Jack weiter. »Seid Ihr sicher?«

»Ihm lege ich einmal im Jahr Rechenschaft ab.«

»Wie sieht er aus?«

»Mittelgroß, kräftig, blond und mit sehr hellen Augen.«

»Kennt Ihr seine Frau?«

»Verheiratet ist er nicht, aber er lebt mit einem Weib zusammen, das sehr schön sein muß.«

»Hat er Kinder?«

»Eine Tochter.« Der Waliser legte eine kurze Pause ein und fuhr fort: »Eigentlich ist sie fast schon eine Frau.« Abschätzig verzog er den Mund. »Offensichtlich aber nicht seine Tochter, sondern die der Hure.«

»Ich sehe, Ihr sagt die Wahrheit.« Der Margariteno wandte sich zu Lucas Castano und befahl ihm ohne leisestes Zögern: »Ab ins Meer mit ihm!«

Ohne Umschweife packte der Angesprochene den Waliser, der keinerlei Widerstand leistete, am Kragen, schleifte ihn an die Bordkante und warf ihn ins Wasser.

Sebastian Heredia sah zu, wie der Kapitän abtrieb und dabei schweigend mit den Armen ruderte. Dann wandte er sich der übrigen, zu Tode erschrockenen Mannschaft der Four Roses zu, und nachdem er die vier Fähigsten ausgewählt hatte, verkündete er mit ungerührtem Ton:

»Diese vier folgen mir mit dem Schiff. Der Rest der Mannschaft wird dem Kapitän Gesellschaft leisten. Anschließend befreit ihr die Sklaven und laßt sie an Deck.«

»Sie passen nicht alle drauf«, gab Nick Cararrota zu bedenken. »Und wenn du sie freiläßt, werden sie sich auf uns stürzen. Es sind verdammt viele.«

Jacare Jack dachte einige Augenblicke nach, dann ließ er den riesigen Schwarzen an Bord kommen, den sie in der Nacht zuvor gerettet hatten, und erklärte ihm, so gut er konnte, daß er sie auf dem Festland absetzen wollte.

»Wenn ihr tut, was ich euch sage, werdet ihr frei sein und könnt ein neues Leben anfangen. Aber wenn ihr Probleme macht, dann schicke ich euch mit Kanonenschüssen auf den Grund des Meeres. Ist das klar?«

Der andere nickte, stieg in die Laderäume hinab und blieb eine lange Weile unten. Als er zurückkehrte, lächelte er glücklich.

»Wenn du ihnen die Ketten abnimmst, werden sie der Reihe nach Luft schöpfen. Es wird keine Probleme geben.«

»Also einverstanden!« Der Margariteno wandte sich den vier Sklavenhändlern zu, die ihn mit einem Funken Hoffnung in den Augen betrachteten. »Folgt unserem Kielwasser! Wenn ihr eure Sache gut macht, könnt ihr vielleicht eure Haut retten. Ansonsten wißt ihr, was euch erwartet.«

Minuten später löste sich die Jacare von der Four Roses und setzte ihre langsame Fahrt nach Westen fort. Das stinkende Schiff folgte ihr mit einer guten Meile Abstand. Auf dem Deck wimmelte es nunmehr von schwarzen schwitzenden Körpern, die fröhlich mit den Händen winkten, während sie ein seltsames Danklied anstimmten.

Im Kielwasser des Sklavenschiffs blieben der walisische Kapitän und acht seiner Männer zurück, die verzweifelt mit den Armen ruderten, um sich über Wasser zu halten, während um sie herum bereits die Haie zu kreisen begannen.

Wieder allein in seiner Kajüte, betrachtete Sebastián durch die Achterluke das grausige Schiff, das mit einer guten Meile Abstand dem Kielwasser der Jacare folgte, und dachte lange Zeit über die Ereignisse des Tages nach. Besonders machte ihm zu schaffen, daß der Mensch, der sein Leben und das unzähliger Margaritenos zerstört hatte, sich nicht nur als Tyrann, sondern jetzt auch als Sklavenhändler erwiesen hatte, der sich mit dem Leiden Hunderter dieser Menschen bereicherte.

»Sind doch nur Neger!«

Diese verächtliche Bemerkung wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen. Zwar hatte er schon als Kind die Sklaverei in den Kolonien als etwas Normales erlebt, doch wie haltlos diese schreiende Ungerechtigkeit war, hatte er bisher noch nicht nachvollziehen können.

Die wenigen Sklaven, die er bislang kennengelernt hatte, standen auf der sozialen Leiter kaum tiefer als die meisten Fischer von Juan Griego, die unter den harten Gesetzen der Casa de Contratación ihr Leben fristen mußten. Niemals war ihm in den Sinn gekommen, daß man diese Unglücklichen gewaltsam aus ihrem Heim und dem Kreis ihrer Familie gerissen hatte, um in den Besitz einer jeden Person überzugehen, die bereit war, den Preis dafür zu bezahlen.

»Neger« war auf Margarita stets gleichbedeutend mit »Sklave« gewesen, aber erst, seit er gesehen hatte, wie man sie wie wilde Tiere unter Deck der Four Roses einpferchte, war Jacare Jack klargeworden, was Sklaverei wirklich bedeutete.

Nicht einmal Schweine zerrte man so zum Schlachthof. Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben wurde dem blutjungen Kapitän bewußt, daß die Gesellschaft sich nicht in Reiche und Arme, Priester und Piraten, Soldaten und Zivilisten teilte.

Unterdrücker und Unterdrückte, das kam der Sache schon viel näher, und das, was Sebastian an diesem Morgen beobachtet hatte, legte den Schluß nah, daß die Gier der Unterdrücker keine Grenzen kannte. Schließlich gab es Männer wie Hernando Pedrárias, denen eine fast absolute Macht nicht zu reichen schien, da sie zu den unvorstellbarsten Ungerechtigkeiten fähig waren, um dadurch noch ein wenig reicher zu werden.

Sebastián fragte sich, ob er, Anführer einer ruchlosen Bande von Seewölfen, so tief sinken könnte, mit Menschen zu handeln, und kam zu dem Schluß, daß er zwar ohne Skrupel acht Menschen in den Tod schicken konnte wie vorhin, doch allein bei dem Gedanken, auch nur einen der wehrlosen Afrikaner zu verkaufen, wurde ihm übel, auch wenn viele von ihnen, wie Cararrota versicherte, die Sklaverei als völlig selbstverständliche Lebensweise akzeptierten.

»Die meisten werden schon als Sklaven ihrer Stammeshäuptlinge geboren«, hatte er einmal erläutert. »Eigentlich ändert sich nur die Hautfarbe ihres Herrn, und oft werden sie von den Weißen schonungsvoller behandelt. Das Schlimmste ist stets die Überfahrt, da die Händler den größten Profit herausschlagen wollen und aus den Schiffen wahre Tierkäfige machen.«

»Würde es dir vielleicht gefallen, Sklave zu sein?« fauchte ihn Lucas Castano mißmutig an.

»Was bin ich anderes gewesen, bevor ich mich dazu entschlossen habe, Wegelagerer, Sklavenhändler oder Pirat zu werden?« gab der andere bitter zurück. »Von früh bis spät habe ich mich für einen Hungerlohn abgerackert, und von der Hautfarbe abgesehen ging es mir kaum anders als diesen Unglücklichen.« Er warf seinen Zuhörern einen griesgrämigen Blick zu, um in einem fast vorwurfsvollen Ton zu schließen: »Wer von euch noch nie in ähnlicher Weise ausgebeutet worden ist, der soll die Hand heben.«

Keiner meldete sich, und wenn Sebastian an die harten Zeiten dachte, in denen die verwünschte Casa de Contratación von seinem Vater verlangte, ein ums andere Mal zwischen den Haien nach Perlen zu tauchen, die sie ihm dann zum läppischen Preis von Perlmutt abkaufte, mußte er zugeben, daß der Malteser tatsächlich recht hatte und sich ihr damaliges Leben nur wenig von dem eines beliebigen afrikanischen Sklaven unterschied.

Als sie eine Woche später endlich die Küste des Festlands erblickten, ließ der Kapitän daher eine Abordnung der Schwarzen an Bord der Jacare kommen, die als Älteste unter ihren Gefährten das größte Ansehen genossen.

»Ich habe beschlossen, euch im Golf von Paria an Land zu bringen. Dort könnt ihr in den Wäldern der Orinoco-Mündung verschwinden. Ihr bekommt Waffen, damit ihr überleben könnt.« Er musterte sie der Reihe nach, während er fortfuhr: »Den Spaniern wird es gar nicht gefallen, eine Gruppe geflohener Sklaven frei herumlaufen zu sehen, denn wenn sich das herumspricht, werden sich euch viele Sklaven anschließen. Ihr müßt eure Freiheit mit Blut und Feuer verteidigen. Doch dafür müßt ihr euch erst einmal einen Anführer wählen, denn mehr kann ich nicht mehr für euch tun.«

»Du hast schon so viel getan«, warf der große Schwarze ein, den sie aus dem Meer gerettet und auf den passenden Namen Moises getauft hatten. »Du hast uns das Leben gerettet, dafür werden wir dir ewig dankbar sein.«

»Am besten dankt ihr mir, indem ihr euch nicht noch einmal versklaven laßt«, entgegnete der Margariteno lächelnd. »Ich sehe, daß ihr unterschiedlichen Stämmen angehört und viele verschiedene Sprachen sprecht, doch werdet ihr nur frei sein, wenn ihr eure Unterschiede für immer vergeßt.«

»Wie viele Verfolger wird man schicken?«

»Keine Ahnung«, räumte Sebastian Heredia ein, »doch es werden einfache Soldaten sein, die Urwald und Hitze hassen. Daher werden die Sümpfe stets eure besten Verbündeten sein. Laßt euch auf keine offene Schlacht ein, sondern lockt die Verfolger immer tiefer ins Dickicht, bis sie der Suche müde sind. Dieser Kontinent ist sehr groß, und wenn ihr es schafft, daß sie euch vergessen, ist genügend Platz für alle da.«

»Wähle du unseren Anführer«, bat der älteste der Sklaven, wobei er bedeutungsvoll auf Moises blickte. »Keiner wird deine Entscheidung in Frage stellen.«

Der junge Kapitän wandte sich den Gefährten des Schwarzen zu.

»Seid ihr damit einverstanden?«

Schweigend nickten sie.

»Na schön! Wenn das so ist, wähle ich Moises. Er hat viel Mut bewiesen, als er sich über Wasser hielt, während die Haie um ihn kreisten, und ich bin sicher, daß er euch mit ebensoviel Mut zum Sieg führen wird. Gott mit euch!«

»Welcher Gott?«

Jacare Jack musterte verblüfft den kleinen Mann, der eine so merkwürdige Frage gestellt hatte, und zuckte schließlich die Schultern.

»Alle Götter. Je mehr, desto besser. Ihr werdet sie brauchen.«

Am Abend gingen sie in einer stillen und einsamen Bucht vor Anker, die von dichter Vegetation umgeben war. Dann brachte man die Sklaven der Reihe nach an Land. Viele aber zogen es vor, sich kopfüber ins Wasser zu stürzen und fröhlich zum Strand zu schwimmen. Nachdem man ihnen alles übergeben hatte, was man an Waffen, Munition und Proviant gefahrlos entbehren konnte, setzte die Jacare ihre Fahrt fort, nach wie vor mit der langsamen und stinkenden Four Roses im Kielwasser.

Ohne seine menschliche Fracht erinnerte das Sklavenschiff an eine auf dem Wasser schaukelnde Nußschale. Sie hatte so wenig Tiefgang, daß man so gut wie keine Segel setzen konnte aus Angst, das wie eine Feder im Wind manövrierunfähig treibende Schiff würde kentern.

Nach vier mühsamen Tagen ließ man den unförmigen Pott mitten in der Bucht von Porlamar vor Anker gehen. Auf dem einzigen Segel, das er gehißt hatte, stand mit riesigen ungelenken Buchstaben geschrieben zu lesen: »Pedrárias, Sklavenhändler. Das ist dein Schiff.«

Sofort strömten fast alle Einwohner am Strand zusammen.

Über Stunden hinweg verharrte die Roses an Ort und Stelle, damit auch die Bewohner der benachbarten Dörfer herbeieilen konnten, um sie zu sehen. Die Kanonen der Jacare – die in sicherer Entfernung beigedreht hatte – sorgten in der Zwischenzeit dafür, daß niemand das riesige Segel bergen konnte. Kurz vor Sonnenuntergang feuerten die gleichen Kanonen auf das Schiff, und wenige Augenblicke später brannte der düstere Sarg wie Zunder.

Seine vier Mann Besatzung stürzten sich rechtzeitig ins Wasser und schwammen langsam zur Küste, wo sie unverzüglich von einer Abteilung Soldaten abgeführt wurden. Als der stinkende Pott schließlich vollständig untergegangen war, lichtete die Jacare die Anker und ging auf Kurs Nordost.

In der folgenden Nacht näherte sich eine Schaluppe in aller Stille der Festung La Galera. Mit drei seiner besten, bis an die Zähne bewaffneten Männer sprang Sebastián Heredia an Land, stieg still und leise die breite Steintreppe empor und klopfte diskret an die Pforte von Hauptmann Sancho Mendana.

Der Offizier schien nicht überrascht zu sein, ihn zu sehen.

»Hab dich schon erwartet«, murmelte er lächelnd. »Ich habe mir gedacht, daß du vorbeikommen wirst nach all dem Zirkus, den dein Schiff in Porlamar veranstaltet hat.«

»Hat sich ja schnell herumgesprochen.«

»Auf der ganzen Insel redet man von nichts anderem mehr.«

»Pedrárias, der Sklavenhändler.«

»Wenn das stimmt, ist er seinen Posten los.«

»Es stimmt…«, befand der Margariteno, um unvermittelt das Thema zu wechseln und gespannt zu fragen: »Habt Ihr meinen Vater gesehen?«

Hauptmann Mendana nickte.

»Eines schönen Tages stand er vor eurem alten Haus und wollte die jetzigen Bewohner hinauswerfen. Ich habe es geschafft, daß sie ihn nicht angezeigt haben, und ihn mit einem Freund nach Boca del Rio geschickt, doch seit zwei Wochen ist er verschwunden.«

»Glaubt Ihr, daß er meine Mutter sucht?«

»Gut möglich.«

»Weiß Pedrárias, daß er wieder auf der Insel ist?«

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, aber dieser gottverdammte Hurensohn hat seine Augen und Ohren überall. Früher oder später erfährt er es doch.«

»Ich muß meinen Vater vor Pedrárias finden.«

Der Offizier machte es sich in einem zerschlissenen Lehnstuhl bequem, zündete sich bemerkenswert bedächtig seine riesige Pfeife an, und als der Tabak richtig brannte, erwiderte er.

»Ich werde mein Bestes tun, um dir zu helfen, doch versprechen kann ich nichts. Pedrárias haßt mich und wird jeden Vorwand nutzen, mich abzusetzen.« Er schnalzte mit der Zunge und verzog angewidert seinen Mund. »Und die Zeiten sind schlecht für Leute ohne Einkommen.«

»Das waren sie immer.«

»Heute ist es schlimmer. Die Casa setzt Sklaven ein, um nach Perlen zu tauchen, und obwohl die meisten dabei krepieren oder ersaufen, sind es so viele, daß die traditionellen Taucher keine Arbeit mehr haben. Ganze Familien mußten auswandern, um nicht zu verhungern.«

»Und keiner tut was?«

»Was sollten sie schon tun? Pedrárias ist hier wie ein Vizekönig, und wenn man ihm nicht sicher nachweisen kann, daß er wirklich ein Sklavenhändler ist, wird keiner ihm die Macht entreißen.«

»Es war sein Schiff, das ich versenkt habe.«

Hauptmann Mendana musterte ihn, ohne seine Verblüffung zu verbergen.

»Du willst das gewesen sein? Nach allem, was erzählt wird, hat Kapitän Jacare Jack den Pott versenkt. Wenigstens war es sein Schiff.«

Die Antwort des Jungen klang ungewöhnlich ernst:

»Um Euch zu belügen verdanke ich Euch zu viel, und ich bin sicher, Ihr werdet es niemandem weitererzählen, was ich Euch jetzt sage.« Sebastián machte eine kurze Pause, bevor er leise hinzufügte: »Inzwischen bin ich Kapitän Jacare Jack, und das Schiff gehört mir.«

Der Offizier brauchte eine Weile, bevor er einen leisen erstaunten Pfiff ausstieß, musterte sein Gegenüber von Kopf bis Fuß, als fiele es ihm unendlich schwer zu akzeptieren, daß jener kleine Junge, dem er manche schmerzhafte Kopfnuß verpaßt hatte, heute ein gefürchteter Piratenführer war. Beiläufig, als hätte das alles nicht die geringste Bedeutung, fuhr er fort:

»Das ändert die Lage, und wenn ich dich noch einmal auf der Insel erwische, laß ich dich aufhängen.«

»Das weiß ich.«

»Niemals hätte ich geglaubt, daß so was aus dir werden würde«, versetzte Sancho Mendana mit sichtlichem Bedauern. »Es hat mir gefallen, dich als meinen eigenen Sohn anzusehen, und obwohl ich zugeben muß, daß sie dich dazu getrieben haben, kann ich einfach nicht akzeptieren, daß aus dir etwas geworden ist, was ich verabscheue.«

»Verabscheut Ihr die Piraten mehr als die Beamten der Casa oder die Sklavenhändler?«

»Nicht mehr, aber ebenso. Die ehrlichen Menschen in diesem Teil der Welt leben in ständiger Furcht, daß Leute von eurem Schlag sie mitten in der Nacht überfallen, ihre Frauen schänden, ihre Söhne umbringen und ihre Häuser anzünden. Kein Pirat, nicht einmal du, verdient etwas anderes als eine Schlinge um den Hals.«

»Tut mir leid, Euch so sprechen zu hören«, entgegnete der Junge betrübt. »Ich schätze Euch.«

»Ich dich auch. Doch du bist es, der sich außerhalb des Gesetzes gestellt hat.«

»Gesetz?« klagte der Margariteno. »Was für ein Gesetz? Das Gesetz, das mir alles genommen hat, was ich besaß?«

»Deine Mutter hat dich aus freien Stücken verlassen, und ich denke, es gibt kein Gesetz dagegen«, gab ihm der andere zu bedenken und legte die Pfeife zur Seite, als wollte sie ihm plötzlich nicht mehr schmecken. »Es war bestimmt nicht gerecht, deinen Vater einzusperren, darum habe ich euch auch bei der Flucht geholfen, aber zu akzeptieren, daß du zum Piratenkapitän wirst, ist was ganz anderes. Geh in dich! Noch ist es Zeit.«

Sebastián Heredia schüttelte den Kopf.

»Zu spät! Vor drei Wochen habe ich eine Schar Sklavenhändler ins Meer werfen lassen.«

»Wen schert denn das?« warf der Offizier ein. »Meiner Meinung nach ist es kein Verbrechen, Sklavenhändler über Bord zu werfen. Eher im Gegenteil.« Er legte seine Hand auf den Unterarm des Jungen und fuhr fast flehentlich fort: »Vergiß sie, gib dieses verfluchte Schiff auf, und such dir das Leben, das sie dir als Kind beigebracht haben.«

»Als Kind habe ich gelernt, daß nur ein reicher Mann aufzutauchen braucht, und alles, woran du glaubst, ist nur noch ein Scherbenhaufen«, lautete die bittere Antwort. »Eine einzige Tat löscht eine Million Worte aus.«

»Wenn du dein Leben nach dem ausrichtest, was sie dir in einem bestimmten Augenblick angetan haben, dann machst du dich zum Sklaven deiner Vergangenheit«, urteilte der Offizier überzeugt. »Jetzt, wo du schon ein Mann bist, hast du kein Recht mehr, deine Taten mit den Irrtümern deiner Mutter zu entschuldigen.«

»Da gehen die Meinungen auseinander.«

»Meinungen helfen dir wenig, wenn du unter dem Galgen stehst. Ob du willst oder nicht, wenn du eine Bande Verbrecher befehligst, wirst du selbst einer werden. Du kannst nicht im Dreck wühlen, ohne dir die Hände schmutzig zu machen.« Er zündete seine Pfeife wieder an, als würde diese ihm dabei helfen, die richtigen Argumente zu finden. »Ich weiß nicht, was du bisher getrieben hast, aber etwas sagt mir, daß du noch nicht verdorben bist. Gib das Schiff jetzt auf!«

»Um was zu tun?« fragte der Margariteno, als wäre er überzeugt, keine vernünftige Antwort zu erhalten. »Welches Schicksal erwartet mich, wenn ich das Schiff aufgebe und mir eine ehrenwerte Arbeit suche? Du hast von schwierigen Zeiten gesprochen, aber das waren sie schon, als mein Vater seine Haut an den Felsen dort unten ließ.« Verächtlich zuckte er mit den Schultern. »Die Casa schnürt den Leuten über Jahre hinweg die Kehle zu, bis sie schließlich ersticken. Da ist es mir schon lieber, wenn sie mich irgendwann gleich richtig aufhängen.«

»Und das Übel, das du inzwischen anrichtest oder das deine Männer anrichten, wenn du sie nicht im Griff hast?« Der Offizier senkte die Stimme, damit die Begleiter, die Sebastian draußen hatte warten lassen, ihn nicht hören konnten: »Piraten sind sie. Verstehst du nicht? Räuber, Frauenschänder und Mörder. Der Abschaum der Welt!«

»Für mich sperrt sich der Abschaum der Welt in einen Palast ein und plündert mit ungerechten Gesetzen die Schwachen aus«, widersprach ihm der Margariteno. »Das sind die wahren Blutsauger. Die machen aus der Welt eine Kloake und riskieren noch nicht mal den Hals dabei! Wir leben monatelang auf dem Meer, müssen Flauten und Stürme ertragen, und jedesmal, wenn wir uns einem Schiff nähern, riskieren wir, daß man uns mit Kanonenschüssen empfängt. Aber die nicht! Die haben einen Kaperbrief für das Land in der Tasche, und wenn es noch etwas Schlimmeres gibt als Piraten, dann Korsaren.«

Hauptmann Sancho Mendana zögerte lange mit der Antwort. Er ging zum Fenster, betrachtete die stille Bucht, in der sich nur einige Sterne spiegelten, und plötzlich wirkte er um Jahre gealtert oder unendlich müde.

»Ich habe keine Lust, weiter zu diskutieren. Bald wird es hell, und dann hast du besser schon das Weite gesucht.« Er drehte sich um und musterte den kleinen Jungen von früher. »Ich gebe dir eine Woche, um deinen Vater zu finden. Nur eine Woche! Danach werde ich dein schlimmster Feind sein.«

»Niemals werde ich Euch als meinen schlimmsten Feind betrachten können«, hauchte der junge Mann. »Und niemals werde ich die Hand gegen Euch erheben, so sehr Ihr mich auch bedrängen werdet.«

»Das wird nicht mein Problem sein. Ich habe dir gesagt, was dich erwartet. Und jetzt ab mit dir! Geh, und komm nicht wieder.«

Als der noch fast bartlose Kapitän Jacare Jack den Raum verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatte, lehnte der bedrückte Offizier seine Stirn gegen das Fensterglas und stieß einen kurzen, bitteren Seufzer aus.

Stets war er ein einsamer Mann gewesen, und seine Ersatzfamilie bestand heute nur noch aus einem armen verrückten Teufel, der durch irgendeinen gottverlassenen Winkel der Insel irrte, und einem sanftmütigen Jungen, der dabei war, ein schmutziger Pirat zu werden. Was nützten ihm die Mühen und Opfer vieler Jahre, all die Schlachten und alten Wunden? Was half es, Prinzipien treu zu bleiben, die niemand mehr zu respektieren schien?

Aufgrund seiner untadeligen Dienste und seiner unerschütterlichen Loyalität hätte er längst zum Obersten befördert werden müssen, zum Festungskommandanten in Cartagena de Indias, San Juan de Puerto Rico oder Panama. Doch die Jahre gingen dahin, und noch immer war er hier, vergessen und dazu verdammt, unzählige Male die unvergeßlichen Sonnenuntergänge von Juan Griego zu betrachten. Dabei wußte er, daß ihm die Nacht nur Einsamkeit und Stille brachte und der neue Tag neue Einsamkeit und wieder eine lange Abenddämmerung, die ihn bereits zu Tode langweilte.

Emiliana Matamoros, die einzige Frau, die er in seinem ganzen Leben geliebt und stets wie eine unerreichbare Jungfrau verehrt hatte, war die Geliebte des abscheulichsten Wesens, das er jemals kennengelernt hatte, geworden, und in den Schenken konnte er hören, daß Emilianas Tochter Celeste schon bald die Mutter im Bett des gehaßten Don Hernando Pedrárias ablösen würde.

Auf der Insel ging das Gerücht um, daß die fett und welk gewordene Emiliana Matamoros schon vor einiger Zeit zum bitteren Schluß gekommen war, daß ihre früheren Reize die Leidenschaft des Gesandten der allmächtigen Casa de Contratación von Sevilla nicht mehr zu wecken vermochten, und sie fürchten mußte, von einer der zahlreichen attraktiven Mulattinnen, die auf der Insel ihren Körper zu Markte trugen, aus dem schönen Palast am Rand von La Asunción, den sie seit Jahren bewohnte, verdrängt zu werden. Deshalb war sie offensichtlich entschlossen, die Angelegenheit innerhalb der Familie zu regeln und ihre Rolle als herrische Geliebte mit der einer unterwürfigen Kupplerin zu vertauschen.

»Wer den Luxus kennengelernt hat, will nicht zurück in die Armut«, tuschelten die bösen Stimmen. »Vor allem dann nicht, wenn die Armut nicht einmal Würde hat.«

Hauptmann Sancho Mendana fragte sich, was eine noch so würdevolle Armut sollte, wenn sie nur, wie die seine, traurige Erinnerungen nährte, und ebenso fragte er sich, ob Sebastián Heredia nicht recht hatte, dem es lieber war, ein einziges Mal aufgehängt zu werden, statt das ganze Leben mit dem Strick um den Hals zu verbringen.

Wenn er nicht binnen zwei Jahren zum Kommandanten befördert wurde, mußte er, das sahen die Dienstvorschriften des Königs vor, seinen Abschied nehmen und Reservist werden, und Hauptmann Mendana wußte nur zu gut – er hatte es bei vielen Waffengefährten gesehen –, daß in diesen Fällen der kärgliche Sold die meisten Monate nicht ausgezahlt wurde.

Die Krone, die unzählige Male grausame Opfer verlangt hatte, vergaß die geleisteten Dienste nur zu schnell, und Hunderte von Veteranen mußten ihren Lebensabend als Bettler unter Bettlern verbringen.

Er ließ seine Vergangenheit Revue passieren, warf einen Blick auf seine Gegenwart und versuchte sich vorzustellen, wie seine Zukunft aussehen mochte. Über der schönen Bucht von Juan Griego wurde es langsam hell.

Vielleicht wäre es das Vernünftigste gewesen, alles aufzugeben und dem unbesonnenen Jungen als Seeräuber zu folgen, doch seine moralischen Überzeugungen hatte Hauptmann Sancho Mendana stets über seine eigenen Interessen gestellt. Daher verwarf er diese Idee sofort, denn sie ging gegen alle Prinzipien, die er stets verteidigt hatte.

Die Krone haßte die Piraten, daher war es seine Pflicht, sie zu bekämpfen, wo immer sie sich verbergen mochten, selbst wenn einer von ihnen der einzige Freund war, der ihm auf dieser Welt geblieben war.

Zurück auf der Jacare ließ Sebastián Heredia Lucas Castano holen und teilte ihm mit, daß er in Manzanillo an Land gehen wollte, um von dort bis nach La Asuncion die Suche nach seinem Vater fortzusetzen.

»Du bringst das Schiff zu den Frailes-Inseln. Dort gehst du bis Samstag nacht vor Anker und nimmst mich wieder an Bord.«

»Keine gute Idee«, entgegnete der Panamese sofort.

»Warum?«

»Weil die Männer unruhig sind«, lautete die ehrliche Antwort. »Seit der Fahrt nach England, dem Aufenthalt auf Lanzarote und der Geschichte mit der Four Roses haben wir keinen roten Heller mehr gesehen. Mit Seeräuberei hat das nichts mehr zu tun, finden sie.«

»Was kann ich denn dafür, daß wir auf unserem Weg nur ein Sklavenschiff getroffen haben?«

»Wir hätten die Schwarzen verkaufen können«, befand sein Stellvertreter überraschend unbefangen.

»Ich handle nicht mit Sklaven.«

»Die meisten Männer sehen das nur als Verkauf einer Ladung. Wir haben vorher auch nicht mit Piken und Schaufeln gehandelt, doch dann war’s ein großartiges Geschäft, und nur das zählt.«

»Für dich auch?«

»Meine Meinung tut nichts zur Sache«, gab der andere ungeniert zurück. »Ich gehöre zu den Offizieren, schlafe in einer guten Kajüte und muß nur Befehle erteilen.« Er schüttelte den Kopf. »Doch die meisten Männer müssen mit einer Hängematte in einem heißen Verschlag unter Deck vorliebnehmen, stehen Wache oder klettern auf die Mäste und scheuern sich dabei die Hände wund, und der einzige Grund, warum sie dieses Leben ertragen, ist die Hoffnung auf eine gute Beute. Und wenn die ausbleibt, werden sie rebellisch.«

»Verstehe…«

»Verstehen allein genügt nicht. Du mußt es verinnerlichen. Jetzt bist du der Kapitän, und zunächst einmal mußt du die Besatzung bei Laune halten, wenn du nicht riskieren willst, daß man dich über Bord wirft.«

»Ich werde daran denken.«

Der Margariteno schloß sich in seiner Kajüte ein, dachte über drei Stunden lang nach und ging schließlich an Deck. Dort nahm er auf der Brücke Platz und ließ die gesamte Besatzung zusammenläuten.

Als alle versammelt waren und ihn erwartungsvoll anblickten, musterte er der Reihe nach ihre Verbrechervisagen und erklärte betont gelassen:

»In letzter Zeit ist es nicht sehr gut gelaufen, und ihr seid wahrscheinlich ungehalten, doch das wird sich ändern.« Er räusperte sich, um mit noch tieferer Stimme fortzufahren: »Ihr wißt, daß wir Ende Oktober haben. In einem guten Monat wird die Flotte aus Sevilla hier auftauchen…«

»Ich hoffe, du bist nicht auf den Gedanken gekommen, sie anzugreifen…«.warf Zafiro Burman sarkastisch ein. »Sie würden uns in Stücke schießen.«

»Nein!« antwortete er trocken. »So verrückt bin ich nicht!«

»Also was dann…?«

»Ihr müßt wissen, daß die Casa de Contratación zu dieser Zeit in La Asunción die meisten Perlen aufbewahrt, die das Jahr über gesammelt worden sind. Wenn die Produktion nicht zu sehr nachgelassen hat, dürften das über sechstausend sein.«

»Sechstausend!« rief einer erstaunt aus. »Nicht möglich.«

Der junge Kapitän Jacare Jack nickte nachdrücklich.

»O doch, wenn auch nicht alle von guter Qualität sind. Ich weiß, daß ein Schiff der Flotte sie an Bord nimmt, um sie nach Cartagena de Indias zu bringen. Dort kommen sie zu den Smaragden aus Nueva Granada, dem Gold aus Mexiko und dem Silber aus Peru.« Er ließ seine Männer eine Weile daran kauen und fuhr schließlich fort. »Ich habe vor, mir diese Perlen zu holen, bevor man sie fortschafft.«

»Wie soll das gehen?« wollte der erste Steuermann wissen, dessen Aufmüpfigkeit sich wieder im Auftrieb befand. »Niemand hat es je geschafft, La Asuncion anzugreifen.«

»Vielleicht weil es keiner aus Margarita versucht hat«, beschwichtigte Sebastian. »Ich verlange nur eins von euch: Habt eine Woche Geduld. Der Rest ist meine Sache.«

»Bist du sicher, daß du nur eine Woche brauchst?« wollte Nick Cararrota wissen.

»Ganz sicher.«

Er kehrte in seine Kajüte zurück, doch wenige Augenblicke später klopfte Lucas Castano an die Tür, trat ein und schloß sie hinter sich.

»Du riskierst verdammt viel«, war das erste, was er sagte. »Na schön, du hast ihnen die Beute schmackhaft gemacht und kannst jetzt deinen Vater suchen gehen, aber was wirst du ihnen nach deiner Rückkehr sagen?«

»Wenn ich die Perlen mitbringe, wird sich keiner beschweren.«

»Und falls nicht?«

»Dann schicken sie mich wohl zu den Haien.«

»Das siehst du ganz richtig!« versicherte der Panamese. »Du hast doch sicher einen Plan?«

»Natürlich.«

Der Panamese nahm auf dem Fensterbrett des großen Achterfensters Platz und musterte seinen unberechenbaren Kapitän wie ein Wesen von einem anderen Stern.

»Noch habe ich nicht herausgefunden, ob du der listigste Fuchs bist, dem ich je begegnet bin, oder der naivste«, murmelte er schließlich und ließ einen tiefen Seufzer hören. »Jedenfalls sitzt du auf dem Kapitänsstuhl, und das Schiff gehört dir. Ich hätte es in tausend Jahren nicht bekommen.«

»Und was heißt das deiner Meinung nach?«

»Entweder bist du wirklich der Schlauste, oder die Einfalt kann ein einträgliches Geschäft sein.«

»Na schön! Dann befiehl also Kurs auf Manzanillo. Wir werden sehen, was herauskommt.«

Nach Mitternacht betrat Sebastián Heredia ein weiteres Mal seine Heimatinsel. Nur in Begleitung von Justo Figueroa, einem rachitischen Krummbein, das mehr von einem schwindsüchtigen Straßenhändler als von einem Piraten an sich hatte, begab er sich auf einen Pfad, der sie zum übertriebenerweise sogenannten Königsweg führte, der den Norden der Insel mit La Asuncion verband.

Keiner achtete auf die beiden. In ihren abgerissenen Lumpen unterschieden sie sich kaum von den vielen hungernden Landstreichern, die in diesen Tagen von einem Ort Margaritas zum anderen zogen, um ihr Leben zu fristen. Die Zeiten wurden immer schwieriger, wie Hauptmann Mendana versichert hatte.

Der Verlust der Four Roses und ihrer kostbaren menschlichen Fracht hatte den ohnehin jähzornigen Don Hernando Pedrárias völlig aus der Haut fahren lassen. Um seine Verluste wettzumachen, verstärkte er nunmehr den Druck auf die darbende Inselbevölkerung auf geradezu absurde Weise.

Überall waren Klagen zu hören.

Leise zwar, aber Klagen.

Und Flüche.

Schmähungen und Flüche, die dem »Schwein Pedrárias« und der »Hure Matamoros« galten.

Unter ihresgleichen machten die am Boden zerstörten Margaritenos aus ihrem Herzen keine Mördergrube, wenn es darum ging, das »Schwein Pedrárias« für alles Ungemach, das sie ruiniert hatte, verantwortlich zu machen. Viele fragten sich, wie ein einziger Mann aus der ihrer Ansicht nach reichsten Insel der Erde ein Armenhaus hatte machen können.

Die unvorstellbar raffsüchtige Casa de Contratación schien nur ein Interesse zu haben: jedes Jahr noch größere Reichtümer nach Sevilla zu schicken. Millionen fielen dabei für die täglich zahlreicher werdenden unfähigen Schmarotzer ab. Der ehrgeizige Hernando Pedrárias schien alle Übel der Casa so sehr in sich zu vereinen, daß auf Margarita jede Hoffnung auf eine bessere Zukunft erstorben war.

Viele Einwohner spielten mit dem Gedanken, aufs Festland auszuwandern, auch wenn die Nachrichten aus Cumaná nicht gerade vielversprechend waren.

»Die Casa ist wie Gott, der an allen Orten wohnt«, fanden die Skeptiker. »Und wenn sie dir keine Perlen rauben kann, dann saugt sie dir das Blut aus.«

Im Verlauf der Geschichte mochte es den Menschen gelegentlich gelungen sein, sich mit Gewalt von blutdürstigen Diktatoren oder grausamen Invasoren zu befreien, doch nie hatten sie es geschafft, die stille und unbarmherzige Tyrannei der Bürokratenheere abzuschütteln.

Kein Held konnte es mit dem Spinnennetz der Casa de Contratación von Sevilla aufnehmen. Denn falls wirklich einmal einer ihrer Gesandten plötzlich verschwand, wurde er sofort von einem obskuren Nachfolger ersetzt, der das dichte Netz noch undurchdringlicher webte. Die Casa war eine Hydra, der für jeden Kopf, den man ihr abschlug, zwei neue wuchsen.

Auf eine Hürde folgte die nächste, auf einen abweisenden Beamten ein noch unzugänglicherer, auf eine schnelle Ablehnung ein langes Schweigen und auf ein ewiges Schweigen wieder eine brüske Ablehnung.

Ein gordischer Knoten im tiefsten, von einer tausendköpfigen Hydra bewachten Labyrinth wäre leichter zu lösen gewesen als das komplizierte System, das eine unangreifbare Casa de Contratación entwickelt hatte, die sich nur von ihren eigenen Leuten berauben ließ. Es war nämlich kein Geheimnis, daß auf den Frachtbriefen der Schiffe, die man nach Sevilla schickte, nur ein Viertel der tatsächlichen Ladung an Gold und Edelsteinen auftauchte. Nur für dieses Viertel, das durch den Zoll ging, legte die Casa der Krone gegenüber Rechenschaft ab.

Die übrigen drei Viertel teilte die Casa unter sich auf.

Die logische Folge dieses Raubs lag klar auf der Hand: Margarita würde das gleiche Schicksal ereilen wie vor Jahren Hispaniola. Aus der ersten Kolonie der Neuen Welt war inzwischen eine weitgehend entvölkerte Insel geworden, deren Einwohner größtenteils vor dem unerträglichen Druck der Casa geflohen waren.

Einst schickten die steinreichen Zuckermühlen tonnenweise »weißes Gold«, das nach der Erschöpfung der Goldminen das gelbe abgelöst hatte, nach Spanien, doch die unerträgliche Steuerlast, die ihnen die unersättlichen Blutsauger der habgierigen Casa de Contratación auferlegten, hatte sie schließlich in den Bankrott getrieben, fetzt rosteten die Mühlen vor sich hin, während die riesigen aufgegebenen Zuckerrohrfelder bald massenweise von Wildschweinherden verwüstet wurden.

Kurioserweise hatte der Ruin des Zuckerhandels die Entstehung einer neuen florierenden Industrie zur Folge. Französische Einwanderer, die sich im äußersten Westen der Insel niedergelassen hatten, entdeckten bald, daß man die Wildschweine jagen und ihr Fleisch wie in der Heimat in einem boucan räuchern konnte. Dieses schmackhafte Räucherfleisch hielt sich monatelang, ohne zu verderben, und war daher bei Seeleuten sehr beliebt.

So entstand das neue Geschlecht der »Bukaniere«: ungeschlachte, schmutzige und übelriechende Männer, die in der Wildnis Hispaniolas Tiere jagten und sie in die Häfen einer Küste brachten, die von allen Schiffen der Antillen angesteuert wurde.

Doch wieder einmal war die habgierige Casa de Contratación nicht bereit, aus ihren unendlichen Fehlern zu lernen. Wenn die Schiffe Räucherfleisch brauchten, befand sie, sollten sie gefälligst den zähen, madigen und sündteuren Speck kaufen, den sie selbst aus Sevilla importierte, und um jegliche Konkurrenz loszuwerden, schickte sie Federico de Toledo mit einem Heer nach Hispaniola, um die mühsam ihr Leben fristenden Bukaniere zu vertreiben.

Die lange und unbarmherzige Hetzjagd führte dazu, daß die Bukaniere mit der Zeit Festungen auf der kleinen wilden Insel La Tortuga errichteten, die nur wenige Meilen nördlich von Hispaniola lag. Von dort führten sie blitzschnelle Überfälle auf die Zuckerrohrfelder Hispaniolas durch, um sich danach wieder auf Tortuga zurückzuziehen. Bald versorgten sich die Schiffe dort mit Proviant.

Im Lauf der Jahre stieg die befestigte Bucht von Tortuga zum reichsten, geschäftigsten und lebenslustigsten Hafen der Karibik auf, während zur gleichen Zeit das einst pulsierende Santo Domingo im Dämmerschlaf versank. Die Leiter der Casa kümmerte das allerdings herzlich wenig. Schließlich war die Neue Welt so riesig und ihre Schätze so unerschöpflich, daß es wenig ausmachte, wenn danach ganze Landstriche und Städte wie verwüstet dalagen.

Nun schien die Reihe an Margarita gekommen. Dort war die Perlenproduktion dramatisch zurückgegangen. Schuld daran waren nicht etwa plötzlich faul gewordene Austern, sondern die logische Tatsache, daß ein apathischer afrikanischer Sklave, der umsonst arbeitete, weder das gleiche Risiko einging noch den gleichen Ertrag einbrachte wie ein Taucher, der zwischen den Riffen geboren und aufgewachsen war und mit einem guten Tagelohn seine Familie ernähren wollte.

Die Casa de Contratación von Sevilla hatte nie begriffen, daß ein guter Tagelohn oft eine vorzügliche Investition sein konnte. Einem Tagelöhner konnte man nämlich nicht drei Viertel seines Gewinns rauben, ohne daß dieser protestiert hätte. So hatten sich in den Gassen von La Asuncion die gleiche Mutlosigkeit und Lethargie wie auf der übrigen Insel breitgemacht.

Wohl aus diesem Grund wurden Sebastian Heredia und Justo Figueroa, als sie an einem heißen Nachmittag La Asuncion erreichten, dort nur von fünf räudigen Hunden und einer Herde Schweine begrüßt.

Ansonsten herrschte Totenstille. Keine Seele wagte sich in diesen brütendheißen Stunden auch nur unter die schattigen Arkaden der alten Steinhäuser, und lange Zeit entdeckten sie lediglich einen Bettler, der im Schatten des mächtigen Franziskanerklosters schlief.

»Wie ein Friedhof…«, lispelte die traurige Gestalt von Justo Figueroa, der nur noch zwei Zähne hatte. »Ist’s hier immer so tot gewesen?«

Jacare Jack schüttelte den Kopf. Nur ein einziges Mal hatte er mit seinen Eltern die Stadt besucht, und damals war sie ihm wie der lebendigste Ort des Universums vorgekommen.

Der Verfall schien das Verwaltungszentrum der Insel ebenso erfaßt zu haben wie die Küstendörfer, und der Margariteno konnte sich nur wundern, wie fatal sich die falsche Politik einer Handvoll Personen auf das Wohl der Mehrheit auswirken konnte.

»Die sind verrückt«, murmelte er, während ihn eine stille Wut erfaßte. »Völlig verrückt!«

Sie ließen sich im Schatten eines riesigen Kapokbaumes nieder, der den ganzen kleinen Platz beherrschte, und warteten darauf, daß die Stadt am Abend aus ihrer traurigen Lethargie erwachen würde, doch nur zwei Dutzend Personen wagten es, ihre Häuser zu verlassen, obwohl eine frische, nach Blumen duftende Brise aus den Bergen wehte.

Schließlich ging Sebastián Heredia auf eine Gruppe alter Frauen zu, die ihre Stühle nach draußen gestellt hatten und gemeinsam an einer riesigen Decke stickten.

»Mit Verlaub…« fragte er so höflich, wie er konnte. »Könnt Ihr mir sagen, wo sich der Palast von Don Hernando Pedrárias befindet?«

Sie musterten ihn sehr unfreundlich, bis Sebastián geistesgegenwärtig hinzufügte:

»Ich habe ihm eine Beschwerde zu übergeben.«

Die feindselige Haltung war plötzlich wie weggeblasen.

»In diesem Fall mußt du dich in der Reihe anstellen, mein Sohn«, bedeutete ihm die älteste. »Sein Palast liegt zwei Straßen weiter unten, neben dem Rathaus. Doch er verläßt kaum das Haus seiner Hure Matamoros. Der Blitz soll sie treffen!«

»Und wo wohnt die Matamoros?«

»In einem Steinhaus am Ausgang des Tals, auf dem Weg nach Tacarigua. Du kannst es nicht verfehlen. Es liegt mitten im Wald und stinkt nach Schwefel.«

Er dankte ihnen freundlich und kehrte zu seinem krummbeinigen Begleiter zurück.

»Such dir ein Haus zum Schlafen, oder besser, spiel den Bettler, damit keiner auf dich aufmerksam wird. Und versuch herauszufinden, wie viele Soldaten das Lagerhaus der Casa neben dem Rathaus bewachen. Aber nimm dich sehr in acht!«

»Keine Sorge…« beruhigte ihn Justo Figueroa. »So wie ich ausschaue, wird mich keiner für einen Piraten halten, auch wenn ich mit einem Totenkopf tätowiert bin. Ich werde auf der Straße schlafen und ein Maisbrot essen.«

»Um so besser! Wir treffen uns morgen, hier und zur gleichen Stunde.«

Er verschwand in der engen Stampflehmgasse, die nach Tacarigua führte, und eine gute Meile nach den letzten Häusern erblickte er einen dichten Wald, über dessen Wipfeln die Kuppel eines offenbar luxuriösen Herrenhauses ragte.

Alles war friedlich und ruhig. Keine Menschenseele weit und breit, nicht einmal das ferne Bellen eines traurigen Straßenköters störte die Abendstille Margaritas. Mit fünfhundert Mann, schoß es Sebastian einen Augenblick lang durch den Kopf, konnte man die Paläste und Häuser dieser halbverlassenen Stadt plündern bis zur letzten Perle und zum letzten Maravedi. Schnell verwarf er diese Möglichkeit jedoch wieder, denn in der Stunde der Wahrheit konnte eine böse Überraschung auf ihn warten.

Niemand konnte mit Bestimmtheit wissen, wie viele bewaffnete Männer plötzlich durch die riesigen Portale ins Freie stürmen, wie viele Soldaten beim leisesten Anzeichen von Gefahr aus Santa Ana, Juan Griego, Tacarigua oder Porlamar zur Hilfe eilen würden.

Wer immer La Asuncion am unzugänglichsten Punkt der Insel gegründet hatte, mußte sich darüber im klaren gewesen sein, daß Feinde stets vom Meer kommen würden. Und wer die Stadt überfallen wollte, mußte wissen, daß er unweigerlich in eine Falle lief, denn an der Biegung jedes Weges, der zur Küste zurückführte, konnte der Feind im Gebüsch lauern.

Seit Sebastian Heredia mit seinem Vater auf Perlensuche gegangen war, wußte er nur zu gut, daß an jedem strategischen Punkt der Küste stets ein riesiger Haufen Holz aufgeschichtet war, den die Wachen beim geringsten Anzeichen von Gefahr anzündeten. Piraten und Korsaren waren immer die schlimmsten Feinde der Insel gewesen.

Die Casa de Contratación von Sevilla natürlich ausgenommen.

Vielleicht weil sich die Casa sicher glaubte und sie wußte, daß ihr Name allein ausreichte, um einem Einheimischen die verrückte Idee auszutreiben, ihre Schatzkammern anzugreifen, gab es in der Hauptstadt keine große Garnison. Die Casa zog es vor, die Festungen an der Küste so weit wie möglich zu verstärken.

Dabei waren sich sowohl die Casa als auch die spanischen Autoritäten in Westindien darüber im klaren, daß ihre Möglichkeiten, sich gegen die Überfälle von Fremden zu wehren, äußerst begrenzt waren. Die Neue Welt war viel zu riesig und zu vielfältig, als daß eine so kleine Nation sie gleichzeitig hätte erforschen, erobern und bewahren können.

»Wer viel rafft, verliert auch viel«, hieß es im Volksmund, doch die spanischen Autoritäten der damaligen Zeit schienen davon noch nichts gehört zu haben. Immer weiter drangen sie vor, um neue Länder zu unterwerfen und neue Reichtümer zu erschließen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, daß die Antillen, der neuralgische Punkt, von dem alle Siege abhingen, inzwischen zur Achillesferse des spanischen Weltreichs geworden waren.

Zu Lande- und zu Wasser suchten sich Piraten, Korsaren, Bukaniere und Freibeuter zwischen Kuba und Portobelo, zwischen Campeche und Cumanä in aller Ruhe ihre Beute aus, ohne daß sich ihnen je eine spanische Flotte, die diesen Namen verdient hätte, in den Weg gestellt hätte.

Die Flotte, die große Flotte, die allmächtige Flotte, verließ einmal im Jahr Sevilla. Ihr Auftrag lautete nicht, in der Karibik feindliche Schiffe zu bekämpfen, sondern lediglich, die unermeßlichen Reichtümer, die in diesem Jahr in den Kolonien angehäuft worden waren, sicher nach Spanien zu bringen und sie nicht in räuberische Hände fallen zu lassen. Die Sicherheit der Bewohner der Neuen Welt scherte sie keinen Deut. Es zählte nur die Sicherheit der Schätze, für die sich die Bewohner dieser Neuen Welt abgerackert hatten.

In zwei Jahrhunderten hatte Spanien in der strategisch so wichtigen Karibik niemals eine auch nur annähernd so mächtige Flotte wie jene stationiert, die jedes fahr die Schätze nach Sevilla begleitete. Das hatte sicher damit zu tun, daß die Funktionäre der Casa für ein versenktes Piratenschiff weder eine Provision erhielten noch drei Viertel des Werts einsacken konnten, sehr wohl aber für jede Perle, jeden Edelstein und jede Unze Gold, die den Zoll in Sevilla passierte.

Bürokratische Inkompetenz sollte in der Geschichte Spaniens stets menschliche Großtaten in den Schatten stellen, doch niemals machte die Korruption der Beamten in so schändlicher Weise die Träume und den Ruhm der Helden des Landes zunichte wie in diesen zwei unseligen Jahrhunderten.

Was brillante Männer geschaffen hatten, wurde von blassen Männlein ruiniert, und die Insel Margarita machte da beileibe keine Ausnahme von dieser bitteren Regel.

Während Sebastián im stillen das Unglück beklagte, in einem gleichzeitig elenden und ruhmreichen Land geboren zu sein, nahm er auf einem Stein Platz, als wollte er sich nach einem langen und ermüdenden Weg ausruhen, und musterte seine Umgebung, um herauszufinden, wie man nach einem Angriff auf die Stadt wieder die ferne Küste erreichen konnte.

Die Nacht brach herein, als er zu dem Schluß gelangte, daß man verrückt sein mußte, La Asunción plündern zu wollen. Nachdem er ohne Appetit etwas Käse und Zwieback mit einem Schluck Wein zu sich genommen hatte, suchte er den Schutz des Waldes, um sich schlafen zu legen. Er brauchte Ruhe und wollte an nichts mehr denken.

Noch bevor sich vor der Küste von Pampatar, dem östlichsten Punkt der Insel, das erste Morgenrot abzeichnete, schlüpfte Sebastión bereits lautlos aus dem Dickicht des Waldes und kletterte auf eine dichtbelaubte Eiche, die über die hohe Umgebungsmauer der riesigen Hazienda hinausragte, holte sein Fernglas aus der Tasche und richtete es auf den Eingang des verrammelt wirkenden Hauses.

Auf einem kleinen Turm entdeckte er einen schläfrigen Wachposten, und kurz darauf trat ein Dickwanst, der aussah wie ein Koch, aus einer Seitentür, um sich auf einem Blumenbeet zu erleichtern.

Kaum hatte er einige Minuten spioniert, als direkt unter ihm eine rauhe Stimme erschallte:

»Komm runter da!«

Der Junge betrachtete die Person von oben, und sofort überfiel ihn ein seltsames Gefühl. Das war nicht mehr der schweigsame, abwesende Mann, um den er sich so viele Jahre gekümmert hatte, denn seine Augen leuchteten ganz anders und seine Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln.

Sebastian sprang zu Boden, sie umarmten sich, und dann sah er sich den Mann genauer an. Kein Zweifel, das war der Mann, mit dem er in Juan Griego auf Perlensuche gegangen war, und nicht die traurige Gestalt, die auf der Jacare Macheten geschliffen hatte.

»Was ist nur mit dir passiert?« wollte er wissen. »Du scheinst ein anderer Mensch zu sein!«

»Das bin ich auch!«lautete die fröhliche Antwort von Miguel Heredia Ximénez. »Vor allem jetzt, wo du hier bist.« Er kniff ihn voller Freude in die Wangen. »Allerdings hast du länger auf dich warten lassen, als ich dachte.«

»Warum wartet nur überall alle Welt auf mich«, beschwerte sich Sebastián. »Ist das, was ich tue, so leicht zu durchschauen?«

»Nein«, beruhigte ihn sein Vater und umarmte ihn. »Doch als ich erfahren hatte, daß dein Schiff in Porlamar vor Anker gegangen ist, war ich sicher, daß du kommen würdest. Ich erwarte dich schon seit Wochen.«

»Was ist in dieser Zeit geschehen, das dich so verändert hat?«

Sein Vater nahm ihn am Unterarm und ging mit ihm einen kleinen Weg an der hohen Mauer entlang.

»Bald wirst du es wissen!« versprach er. »Doch jetzt erzähl mir von dir. Bist du immer noch Piratenkapitän?«

»Vor zwei Tagen war ich es jedenfalls noch«, lautete die humorvolle Antwort. »Aber in diesem Geschäft ist bekanntlich alles möglich.«

»Schade!« bedauerte der Vater. »Ich habe stets gehofft, daß du es doch rechtzeitig aufgeben würdest. Tritt ein! Wir sind da.«

Sie waren an einer winzigen Hütte am Waldrand angekommen, auf halber Höhe des Hügels, der das fruchtbare Tal beherrschte.

Der Margariteno warf einen langen Blick auf den armseligen, übelriechenden Verschlag, um bestürzt zu fragen:

»Hier also wohnst du?«

»Nur vorläufig. Bald werden wir aufbrechen.« Sein Vater lächelte leicht ironisch und blinzelte ihm zu. »Mit deinem Schiff, wenn sie es dir noch nicht abgenommen haben.«

Er war tatsächlich ein völlig anderer Mensch. Sogar jünger wirkte er, als hätte ihm der Aufenthalt auf der Insel die besten Jahre seines Lebens zurückgebracht.

Sebastian machte eine Geste in Richtung Herrenhaus und fragte:

»Was hast du herausgefunden?«

»Ich habe dir schon gesagt, daß du es bald wissen wirst.«

»Und warum nicht jetzt?« quengelte Jacare Jack. »Warum so geheimnisvoll?«

»Ich mag einfach jetzt noch nicht davon sprechen«, lautete die ausweichende Antwort. »Hast du Hunger?«

Er hatte einen alten Kasten geöffnet, in dem Käse und Wurst verstaut waren, und da sein Vater entschlossen schien, keine Erklärungen zu geben, begnügte sich sein immer verdutzterer Sohn damit, schweigend zu essen, bis es an der klapprigen Tür klopfte und ein Mädchen mit riesigen blauen Augen eintrat.

Sebastians Herz machte einen Hüpfer.

»Gütiger Gott…!« rief er mit zitternder Stimme. »Bist du…?«

Das Mädchen ließ ihm keine Zeit, die Worte zu beenden, sondern fiel ihm um den Hals und küßte ihm das ganze Gesicht ab, während der Vater lächelnd dabei zusah.

»Verstehst du jetzt? Das ist meine große Überraschung.«

Nach neuen Küssen, Umarmungen und langen Blicken, mit denen sich die Geschwister davon zu überzeugen schienen, daß sie sich tatsächlich nach so vielen fahren wiedergefunden hatten, entschloß sich Celeste dazu, ihrem Bruder haarklein und nicht ohne Humor zu erzählen, wie sie ihr Vater an einem Nachmittag während eines Ausritts in der Nähe des Hauses angesprochen und sie beschlossen habe, ihn in der armseligen Hütte zu verstecken, bis Sebastián auftauchen würde.

»Und wenn ich nicht gekommen wäre?« wollte Sebastián wissen.

»Wir waren sicher, daß du kommen würdest!« lautete die bestimmte Antwort des Mädchens. »Wir wußten es ebenso, wie ich niemals die Hoffnung aufgeben wollte, auch wenn ich sehr bittere Augenblicke erlebt habe.« Sie nahm das Gesicht ihres Bruders in die Hände und gab ihm einen dicken Kuß. »Wie hübsch du bist, gütiger Himmel! Du bist immer noch der hübscheste Bruder auf der ganzen Welt.«

»Und keine Schwester küßt so oft wie du.«

»Hab ja auch seit ewiger Zeit keinen mehr geküßt!« Celeste machte eine bittere Pause. »Und keiner hat mich geküßt…«

»Wie ist es dir all die Jahre ergangen?«

Das Mädchen, dessen überschäumende Lebensfreude scheinbar durch nichts zu erschüttern war, zuckte mit den Schultern, als wolle sie ihren vielen leidvollen Tagen keine Bedeutung zumessen.

»Was soll ich dir schon sagen? Am Anfang hab ich geheult wie ein Schoßhund, dann kam ich drauf, daß mir die Tränen nicht weiterhelfen würden, und beschloß, stark zu sein. Später gaben sie mir einen Hauslehrer, einen alten, sehr sympathischen Pfarrer, der mir über die schlimmsten Augenblicke hinweggeholfen hat. Als mir Hauptmann Mendana dann erzählte, daß du mit den Leuten auf der Insel Geschäfte machst, hab ich gehofft, daß du bald kommen würdest.« Sie kniff ihn fest in die Nase. »Aber dann sind Jahre vergangen!«

»Ich konnte doch nicht«, gab ihr Bruder zurück. »Wir waren auf einem Piratenschiff gefangen.«

»Ich weiß. Papa hat mir alles erzählt. Es gefällt mir nicht, daß du ihr Kapitän geworden bist. Doch da ich dich dadurch wiedergefunden habe, sei Gott dafür gedankt…Wann brechen wir auf?«

»Willst du wirklich alles aufgeben und mit uns kommen?« fragte der Margariteno erstaunt.

»Immer schon! Und lieber heute als morgen, denn Don Hernando hat sich in den Kopf gesetzt, mich zu verführen. Jeden Tag fällt es mir schwerer, ihn mir vom Leib zu halten.«

»Ich bringe ihn um«, sagte Kapitän Jacare Jack so kalt, daß es einen Augenblick lang selbst seine Schwester erstaunte. Schließlich ergriff sie seinen Arm, während sie ein ums andere Mal verächtlich den Kopf schüttelte.

»Vergiß ihn. Er verdient es nicht einmal, daß man sich seinetwegen die Hände schmutzig macht.«

»Wie kann ich ihn vergessen nach all dem Leid, das er uns angetan hat?«

Celeste Heredia schaute ihren abwesend wirkenden Vater an, der sich aus dieser heiklen Angelegenheit lieber heraushielt, und wandte sich schließlich wieder ihrem Bruder zu.

»Wir wissen alle, daß Mama die meiste Schuld trifft«, sagte sie. »Und für sie ist es schon Strafe genug, daß sie ihre Familie verloren hat, und bald ist sie auch ihr Haus und alle Privilegien los, denn ich bin sicher, daß Hernando sie schon seit einiger Zeit nicht mehr erträgt. Er hat sie nur noch nicht vor die Tür gesetzt, weil er sicher ist, daß sie mich früher oder später überreden wird, auf seine Avancen einzugehen.«

»Sei’s drum«, sagte Sebastian, »ich werde nicht mehr ruhig schlafen, wenn ich ihn am Leben lasse.«

»Ihn umzubringen nützt gar nichts, und vielleicht gehst du selber dabei drauf, und davon haben wir auch nichts«, gab ihm das kluge Mädchen zu bedenken. »Töten wollen ihn viele, und daher hat er die halbe Garnison nach Cumaná mitgenommen, denn nicht einmal dort fühlt er sich sicher.«

»Und was macht er dort?« fragte ihr Vater überrascht.

»Der Gouverneur hat ihn rufen lassen. Offensichtlich hat sich eine Gruppe entlaufener Sklaven in den Wäldern des Orinoco niedergelassen, und einige sagen, daß es seine waren.«

»Ich weiß, daß sie es waren!« stellte Sebastian klar. »Ich selbst habe sie befreit. Jetzt verstehe ich auch, warum ich in La Asuncion kaum Soldaten auf den Straßen gesehen habe.«

»Keiner wird es wagen, La Asuncion anzugreifen.«

»Nicht mal dann, wenn in den Schatzkammern der Casa ein Vermögen an Perlen liegt?«

»In diesem Jahr gibt es dort kaum Perlen«, gab ihm Celeste mit bedeutungsvollem Blick zu verstehen, was den Bruder etwas verwirrte.

»Was willst du damit sagen? Ist die Flotte vielleicht schon angekommen?«

»Bisher nicht«, lautete die lächelnde Antwort, die ein amüsantes Geheimnis zu bergen schien. »Als Hernando erfahren hat, daß ein Piratenschiff die Küste unsicher macht, habe ich ihm eingeflüstert, daß es wesentlich sicherer wäre, die besten Perlen hier im Haus zu verstecken.«

»Nicht möglich!« rief Sebastian fassungslos aus. »Hier? In diesem Haus?«

»Ganz genau! Es war nicht schwer, ihn davon zu überzeugen, daß niemand auf die Idee käme, die Perlen in einem kleinen Fäßchen zu suchen, das wiederum in einem riesigen Sherryfaß versteckt ist.« Sie lächelte schelmisch. »Und da sind sie immer noch und warten darauf, daß sie sich einer holt.«

Ihr Vater blickte sie tadelnd an:

»Denkst du vielleicht daran, sie zu stehlen?«

Die Antwort kam spontan und unverblümt, wie es Celeste stets gewesen war.

»Natürlich!« rief das Mädchen aus und schüttelte belustigt die lange, dunkle Mähne. »Seit Jahren denke ich daran, und wenn diese Perlen verschwinden, weil Hernando sie gegen alle Vorschriften der Casa aus den Schatzkammern geholt hat, wird ihn dieselbe Casa für den Rest seines Lebens in das tiefste Verlies werfen lassen. Ich kenne ihre Methoden!«

»Du liebe Zeit!« griff sich ein niedergeschlagener Miguel Heredia Ximénez an den Kopf. »Jetzt habe ich nicht nur einen Piraten zum Sohn, sondern auch noch eine Diebin zur Tochter. Wo soll das noch hinführen?«

»Ich sehe mich nicht als Diebin, Vater«, widersprach ihm seine Tochter ungerührt. »Für diese Perlen haben Hunderte geschuftet, die von diesen Schweinen der Casa nur ausgebeutet werden. Ich habe bestimmt eine sinnvollere Verwendung dafür.« Voller Inbrunst küßte sie ihren Vater auf die Wange. »Ich sehe sie als Entschädigung für die verlorenen Jahre.«

»Aber…!«

»Kein Aber!« unterbrach ihn Sebastián. »Ich bin in der Absicht gekommen, die Hauptstadt zu überfallen und mir die Perlen zu holen, denn meine Leute haben schon monatelang keine Beute mehr gesehen, aber das macht es natürlich leichter…« Er wandte sich seiner Schwester zu und fragte: »Wie viele sind es?«

»Etwas über zweitausend, aber alle prachtvoll.«

»Und hast du eine Idee, wie wir sie aus dem Haus bringen?«

»Wie sie hineingekommen sind…!« erklärte das Mädchen schulterzuckend, als wäre das die dümmste Frage der Welt. »In der Kutsche.«

»In der Kutsche des Gesandten der Casa de Contratación von Sevilla?« wiederholte ihr Vater, dessen Fassungslosigkeit weiter wuchs. »Nicht möglich!«

»So geht es am besten«, gab Celeste zurück, in ihrem typischen ungerührten Ton, der die absurdesten Dinge völlig normal erscheinen ließ. »Jeden Tag fahre ich mit der Kutsche zur Frühmesse des Franziskanerklosters. Ich kann mitnehmen, was ich will.«

»Begleitet dich denn deine Mutter nicht?«

»Früher schon, aber seit eine alte Frau sie beleidigt und bespuckt hat, nicht mehr.«

»Langsam habe ich den Eindruck, daß sie einen allzu hohen Preis für das bezahlt, was sie getan hat«, flüsterte Miguel Heredia.

Die Tochter schüttelte sanft den Kopf:

»Für sie ist er nicht zu hoch. Sie kann spät aufstehen, essen, was sie mag, teure Kleider anziehen und eine Menge Diener haben. Dafür ist ihr kein Preis zu hoch.«

»Früher war sie nie so.«

»Vielleicht ist sie immer so gewesen, hatte aber nie Gelegenheit, es zu zeigen. Nichts macht ihr mehr Spaß, als Leute herumzukommandieren, die ihr aufs Wort gehorchen.«

»Haßt du sie?«

Celeste Heredia wandte sich ihrem Bruder zu, der die Frage gestellt hatte, und schüttelte ohne Groll den Kopf.

»Eine Zeitlang habe ich sie für das gehaßt, was sie uns angetan hat und weil es mich anwiderte, daß sie sich wie eine läufige Hündin aufführte, um Hernando bei Laune zu halten, aber das ist vorbei. Heute kann ich sie nur noch bemitleiden, weil sie zusehen muß, wie ihr die Felle wegschwimmen. Ich bin sicher, daß sie mich als rettenden Strohhalm ansieht.« Sie schüttelte den Kopf, als machte es ihr Mühe, die Realität zu akzeptieren. »Ich, der ich all die Jahre ihr Alptraum war, weil ich sie allein durch meine Anwesenheit an ihr Verhalten erinnert habe, bin jetzt ihre einzige Hoffnung. Man sollte es nicht glauben!«

»Sprechen wir nicht mehr von ihr«, schloß ihr Vater das leidige Thema ab. »Das führt zu nichts, und die Erinnerung an Dinge, die wir ein für allemal vergessen sollten, verbittert uns nur.« Er ergriff die Hände der beiden. »Jetzt sind wir alle zusammen, und so soll es bleiben, mit oder ohne Perlen.«

»Mit den Perlen«, erwiderte seine Tochter. »Entweder nehme ich sie mit, oder ich esse sie auf, aber zurück lasse ich sie auf keinen Fall.«

»Einverstanden! Dann also mit den Perlen…«

»Also schön«, bemerkte Sebastián. »In diesem Fall bleibst du am besten hier, damit dich keiner in La Asuncion erkennt.« Er wandte sich seiner Schwester zu. »Samstag nacht nimmt mich das Schiff am Strand von Manzanillo auf. Der ideale Tag, um zur Messe zu gehen.«

»Das wird die schönste Messe meines Lebens«, lachte sie. »Bei Gott! Seit Jahren zerbreche ich mir den Kopf über meine Rache, aber daß sie so perfekt sein würde, hätte ich nie gedacht. Was für ein Gesicht wird er machen, wenn er entdeckt, daß sein unschuldiges Täubchen ausgeflogen ist und ihn gerupft hat statt er sie! Und wie wird er dreinschauen, wenn ihn der Gouverneur wieder nach Cumaná ruft und fragt, wo die Perlen geblieben sind!«

»Bist du sicher, daß sie ihn einsperren werden?«

»Für den Rest seines Lebens…! Und es wäre ein Wunder, wenn sie ihn nicht aufhängen. Die Casa versteht keinen Spaß, wenn es um ihre Interessen geht. Ein Gesandter kann berauben, wen er will, aber nicht sich selbst berauben lassen.« Wieder nahm sie das Gesicht des Bruders in die Hände, um ihm einen weiteren geräuschvollen Kuß aufzudrücken. »Ich bete dich an!« rief sie aus.

Eine Stunde später sagte sie ihnen, daß sie gehen müsse, ansonsten würde ihre Mutter lästige Fragen stellen. Kurz darauf verabschiedete sich auch Sebastián von seinem Vater, um ohne Hast in die Stadt zurückzukehren.

Während er dem staubigen Weg folgte, den er tags zuvor viel mutloser gegangen war, konnte er seine überschwengliche Freude darüber nicht unterdrücken, welch glückliche Wendung sein Leben in so kurzer Zeit genommen hatte. Als er am Herrenhaus vorbeiging, bedrückte ihn allerdings der Gedanke, seiner Mutter zu begegnen, doch mehr noch machte ihm seine Schwester zu schaffen.

Die Jahre der Trennung, der Luxus und der Einfluß Fremder hätten aus Celeste ein hochmütiges Mädchen machen können, das von einem armseligen, verrückt gewordenen Vater und von einem Bruder, auf dessen Kopf ein Preis ausgesetzt war, nichts mehr wissen wollte. Doch aus einem unerfindlichen Grund war sie immer noch das zärtliche, impulsive und anhängliche Mädchen, das ihn wie ein Schatten überallhin verfolgt hatte, als hätte die Zeit bei ihr keinerlei Spuren hinterlassen.

Ihre fröhliche, spontane und unbekümmerte Art hatte offensichtlich auch bei ihrem Vater ein erstaunliches Wunder bewirkt. Allein die Tatsache, sie wiedergefunden zu haben, schien den unglücklichen Miguel Heredia für alle Leiden zu entschädigen und wie eine wohltuende Seebrise die schwarzen Gedanken zu verscheuchen, die ihn an den Rand der geistigen Umnachtung getrieben hatten.

Während er über sie nachdachte, mußte Sebastian an ein altes Lied denken, das die Matrosen sangen, wenn sie auf den höchsten Mast kletterten. Es handelte von Männern, die auf See verlorengehen und bei ihrer Rückkehr in den Hafen feststellen, daß nichts sich in den Jahren der Abwesenheit geändert hat. Der Urheber dieser traurigen Ballade mußte etwas von einem Propheten gehabt haben, denn in gewisser Weise sagte er voraus, daß zwei Menschen, die sich im stürmischen Ozean ihrer Erinnerungen verloren hatten, unverhofft in einen sicheren Hafen zurückgekehrt waren, in dem sich ihre bittere Vergangenheit wie von Zauberhand in eine süße Gegenwart verwandelte.

Vielleicht deshalb fühlte der junge Kapitän Jacare fack, als er kurze Zeit darauf an der Pforte einer kleinen Einsiedelei am Eingang der Stadt vorbeiging, zum ersten Mal in seinem Leben die drängende Verpflichtung, Gott zu danken, und daher trat er, ohne zu zögern, in die abgeschiedene, stille Kapelle ein.

Das erste, was seine Aufmerksamkeit erregte, als er auf einer groben Bank Platz nahm, war ein riesiges wurmstichiges Bildnis der Jungfrau mit Kind, das ihn sofort an seine Mutter erinnerte, wenn sie Celeste stillte. Er mußte sich fragen, wie es möglich war, daß sich ein Wesen, das ihm so himmlisch und engelsgleich vorgekommen war, sich in jemanden verwandelt hatte, der in der Lage war, die eigene Tochter zu verderben, nur um weiterhin erst mittags aufstehen zu müssen und acht Diener zu haben.

In der langen Stunde auf der harten Bank dachte der Margariteno inniger über seine Gefühle nach als für den gesamten Rest seines Lebens. Er war so überglücklich, seine Schwester wiedergefunden zu haben, daß er nicht einmal seine Mutter hassen konnte.

Schließlich richtete er seinen starren Blick auf das Madonnenbild und murmelte, als hätte er in Wahrheit eine Abbildung von Emiliana Matamoros vor sich, die ihn hören könnte:

»Geh mir aus dem Sinn. Geh mir aus dem Sinn und kehr nicht wieder, weder in guter noch in schlechter Erinnerung. Ich will weder an die Mutter denken, die ich liebte, noch an die schändliche Frau, die ich verabscheue, noch an die unwürdige Alte, die du sein wirst.« Er starrte das Bild geradezu herausfordernd an. »Ich möchte nicht wissen, in welchen Häfen du dich herumtreiben wirst, um die Reste deiner Schönheit zu verhökern, während du daran denkst, daß du einen Mann und zwei Kinder hattest, die dich verehrten. Tu mir den Gefallen, geh mir für immer aus dem Sinn.«

»Kann ich dir irgendwie helfen, mein Sohn?« Er hob den Kopf und blickte einen hageren Alten an, der hinter ihm wie aus dem Nichts aufgetaucht war, und schüttelte den Kopf.

»Nein danke, Padre. Ich habe nur ein wenig gebetet.«

»Ein wenig?« versetzte der andere belustigt. »Ich habe dich schon vor geraumer Zeit eintreten sehen, und ein Junge deines Alters verbringt gewöhnlich im Haus des Herrn nicht so viel Zeit.« Wie ein Spürhund schnupperte er an Sebastians Kleidung: »Jetzt verstehe ich: Du bist ein Seemann und hast nicht viele Gelegenheiten, eine Kirche zu besuchen, stimmt’s?«

»Woher wollt Ihr wissen, daß ich ein Seemann bin?«

»Weil du nach Algen riechst. In meiner Jugend war ich Kaplan der Armada, und in dieser Zeit konnte ich am Geruch erkennen, welchen Posten einer auf dem Schiff hatte. Von den Algen abgesehen riechen die Marsgaste nach Leinen, die Zimmerleute nach Harz, die Köche nach Fisch und die Schiffsjungen nach Bilge.«

»Und die Pfarrer?«

»Die schlechten nach Wein, die guten nach Brot.« Der runzelige Alte grinste von einem Ohr zum anderen. »Wie ich diese Zeiten vermisse! Heute stinken die meisten Leute nur noch nach Mist.« Er betrachtete ihn mit neuerlicher Aufmerksamkeit. »Möchtest du beichten? Oft wird der Kopf dadurch klarer.«

»Danke, Padre«, lautete die ehrliche Antwort. »Aber ich glaube, meine Gedanken sind niemals klarer gewesen als heute, und wahrscheinlich würde ich nur die Euren verdüstern.«

Ausholend deutete der Alte auf die groben Mauern, die sie umgaben.

»Hat dir das alles geholfen?«

»Eine Menge«, gab der Margariteno zu.

»Gott sei gelobt!« rief der andere sichtlich verblüfft aus. »Der Herr möge mir verzeihen, aber ich muß ein schlechter Pfarrer sein, daß sich mein Geist um so höher erhebt, je größer die Kirche ist, in der er sich aufhält. In der Kathedrale von Burgos schwang sich meine Seele hinauf bis zum Glockenturm, doch an einem Ort wie diesem bleibt sie am Boden.«

Der verblüffte Jacare Jack musterte ihn von Kopf bis Fuß, um mit neuerlichem Interesse ungläubig zu fragen:

»Seid Ihr wirklich ein Priester?«

»Wenn auch du daran zweifelst, sind wir schon zwei«, lautete die belustigte Antwort. Doch unmittelbar darauf fuhr der gute Mann in einem anderen Ton fort: »Ja doch, mein Sohn! Ich bin schon Priester, seit ich denken kann, und es reut mich nicht. Mich hat einfach die Wehmut ergriffen, als ich dich roch. Wenn du auf einer Galeone mit neunzig Kanonen die Messe gesungen hast, kommt dir selbst die Kathedrale von Burgos lächerlich vor.«

Im ersten Tageslicht verließ die Kutsche Seiner Exzellenz Don Hernando Pedrárias das stille Herrenhaus, passierte das große Tor der hohen Mauer und fuhr auf die noch schlafende Stadt La Asuncion zu. Doch noch ehe sie den dichten Wald hinter sich gelassen hatte und auf die freien Felder des fruchtbaren Tals hinausgefahren war, sprangen plötzlich drei bewaffnete Männer zwischen den Bäumen hervor und richteten ihre schweren Pistolen auf den alten Kutscher, der beinahe vom Kutschbock gefallen wäre und sich den Hals gebrochen hätte.

Man zwang ihn, die schimmernde Uniform auszuziehen, und band ihn so fest an einen Baum, daß er sich erst Stunden später würde befreien können, und als die Räuber aufbrachen, gab ihm Celeste mit ehrlicher Zuneigung einen Kuß auf die Wange.

»Tut mir leid, Gervasio. Doch so ist es besser für alle.« Mit humorvoller Geste steckte sie ihm eine Geldbörse in die großen, schmutzigen roten Unterhosen und fügte hinzu: »Für den Ärger.«

»Wißt Ihr eigentlich, was Ihr da tut, Senorita?« fragte der Alte mit Bedauern in der Stimme. »Don Hernando wird Euch bis ans Ende der Welt verfolgen.«

»Die Welt ist sehr groß!« entgegnete sie und strich ihm liebevoll übers Haar. »Sehr groß! Macht Euch keine Sorgen. Jetzt habe ich Menschen, die mich beschützen.«

Nachdem sie ihn geknebelt hatten, setzten sie ihre Fahrt fort: Justo Figueroa in Uniform auf dem Kutschbock, Sebastián, Miguel Heredia in der Kutsche, und ihnen gegenüber nahm das lächelnde Mädchen Platz, das so aufgeregt und glücklich schien, als wolle man sie an diesem Tag in die Gesellschaft einführen.

Kurze Zeit danach zog sie eine schwere Kiste unter ihrem Sitz hervor und öffnete sie feierlich, um zu zeigen, daß sie randvoll mit schönen Perlen in allen nur denkbaren Schattierungen gefüllt war.

»Die besten des Jahres!« rief sie aus und nahm ein riesiges, fast schwarzes Exemplar in Form einer Birne zwischen die Finger. »Schau dir diese Perle an! Ein Königreich würde ich dafür hergeben.«

»Behalt sie!« forderte sie ihr Bruder auf. »Und häng sie dir um den Hals, damit sie dich an den Tag erinnert, an dem du zur Gesetzlosen geworden bist.« Er deutete auf den Wald, den sie gerade hinter sich gelassen hatten. »Dieser Gervasio hat recht«, fügte er besorgt hinzu, »die Casa läßt sich nicht ungestraft berauben.«

»Du raubst doch schon seit Jahren«, gab sie ihm zu bedenken und zog eine sympathische Grimasse, während sie die schwarze Perle in ihren Ausschnitt steckte. »Ich behalte sie!«

»Was können sie denn schon tun?« warf Miguel Heredia skeptisch ein. »Wenn sie es erfahren, sind wir schon über alle Berge.«

»Man kann nie wissen«, orakelte seine Tochter. »Bei Don Hernando kann man nie wissen. Ich hab keine Angst vor ihm, aber wir sollten auf der Hut sein.«

Als die ersten Häuser der Stadt in Sicht kamen, bog die Kutsche an der Kreuzung mit der kleinen Einsiedelei auf den Weg nach Santa Ana ab. Sie fuhren schon durch das Tal, als die Arbeiter auf den Feldern begannen, mit Steinen zu werfen und Beleidigungen auszustoßen, um sofort darauf die Flucht zu ergreifen.

Für die überwältigende Mehrheit der Margaritenos war die schwere Kutsche mit ihren anmaßenden Wappen an den Türen und dicken Brokatvorhängen das Sinnbild der Tyrannei schlechthin, und ihre schmerzliche Erfahrung lehrte sie, daß es nichts Gutes bedeutete, wenn die Karosse die Stadtgrenzen von La Asunción hinter sich ließ.

Gewöhnlich ließen sich die stolzen Rappen von Don Hernando Pedrárias Gotarredona nur selten auf dem Land sehen, und wenn doch, dann ging es meistens darum, die Steuerschraube noch fester anzuziehen.

Wenn die Dörfler die Pferde sahen, dachten sie an Hyänen, die den Gestank eines Kadavers witterten. Manche hätten Jahre ihres Lebens dafür hergegeben, die Rösser einfach abzuknallen, auch wenn sie wußten, daß die Gäule an der ganzen Misere keine Schuld traf.

Am frühen Nachmittag trabten die schwitzenden Pferde müde durch Santa Ana und schlugen schon den Weg nach Aricagua ein, denn keiner hätte es gewagt, die goldene Kalesche des Gesandten der Casa de Contratación von Sevilla aufzuhalten. In diesem Augenblick betrachtete Celeste Heredia die kostbare Tapete und murmelte:

»Ich hätte Lust, sie anzuzünden.«

Ihr Bruder blickte sie sichtlich überrascht an:

»Warte damit bis Manzanillo.«

»Erlaubst du es mir?«

»Natürlich!«

Die restliche Fahrt über sagte das Mädchen kein Wort mehr und schloß die Augen, nicht weil die anstrengende Fahrt sie ermüdet hätte, sondern weil sie sich ganz der Vorfreude hingeben wollte, bald die verhaßte Kutsche in Asche sinken zu sehen.

Für die übrigen Einwohner der Insel mochte die Kutsche ein Symbol der Tyrannei sein, für Celeste war sie darüber hinaus auch das Sinnbild der Perversion.

Zwischen den engen, flammend rot ausgeschlagenen Wänden der Kutsche hatte Celeste, die sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal als Frau fühlte, zum ersten Mal die verstohlenen Blicke des feurigen Liebhabers ihrer Mutter wahrgenommen. Hier hatte Don Hernando Pedrárias, den Blicken der Außenwelt entzogen, mit seinen schleichenden und hinterhältigen sexuellen Nachstellungen begonnen.

Загрузка...