Mombars – seinen richtigen Namen kannte niemand – hatte den größten Teil seines Lebens damit verbracht, den Spaniern die Eingeweide herauszureißen, nur weil es ihm Spaß machte oder weil ihn die unausgewogenen Berichte eines erleuchteten Geistlichen so verwirrt hatten, bis aus ihm ein blutrünstiger Fanatiker geworden war.
Als der junge Mombars Bartolome de Las Casas las, hätte er wissen sollen, daß dieser, bevor er sich zum Schutzpatron der Indios und zum unseligen Urheber der zu trauriger Berühmtheit gelangten »Schwarzen Legende« wandelte, der größte Sklavenhändler auf Hispaniola gewesen war und maßgeblich am ungerechten und grausamen Kommendengesetz beteiligt war, das sein guter Freund und Gouverneur Ovando eingeführt hatte. Hätte Mombars begriffen, daß man die Berichte von Las Casas als tätige Reue eines Missetäters auffassen mußte, dann hätte er vielleicht seinen blutigen Kreuzzug nie begonnen.
Der ehrgeizige Bartolome de Las Casas, ein Spieler, Schürzenjäger, Säufer und Raufbold, war einer der unangenehmsten Zeitgenossen Westindiens, bis zu dem unseligen Tag, an dem er an einem strengen Gottesdienst teilnahm, in dem man ihm öffentlich seine Laster und Ausschweifungen vorhielt. In diesem Augenblick beschloß er, sein Leben zu ändern, die Kutte anzuziehen und es den vielen verführerischen Frauen gleichzutun, die nach der Heirat die größten Puritanerinnen werden.
Wenige Menschen haben im Lauf der Geschichte so vielen Menschen Schaden zugefügt wie Bartolome de Las Casas: Durch seine Schuld wurden Millionen von Indios versklavt, und durch seine Schuld wurde eine große Anzahl Menschen, die ihn bei der Durchsetzung dieser Sklaverei niemals unterstützt hatten, in der Geschichte als schlimme Unterdrücker abgestempelt.
Das alles konnte jedoch das kränkliche Hirn eines leicht zu beeindruckenden jungen Franzosen nicht wissen. Vielmehr kam Mombars zu der Überzeugung, daß alle Spanier Verbrecher sein mußten. Daher schwor er sich, jeden Mann, der im Nachbarland geboren worden war, auf grausamste Weise zu vernichten.
Im Prinzip war dieser Haß wohl nur der Firnis, der andere, wesentlich tiefere Haßgefühle verdeckte. Im Lauf der Jahre war es dem sadistischen Mombars nämlich herzlich egal geworden, ob der Mann, dem er die Eingeweide herausriß, nun Spanier, Engländer oder Holländer war.
Mombars war der uneingeschränkte Bewunderer und Schüler seines Landsmannes L’Olonnois, dessen größtes Vergnügen darin bestand, seinem Opfer das Herz auszureißen und es vor den Augen des Sterbenden zu verschlingen. Zusammen bildeten die beiden das makabre Duo, das die Seeräuberei in den schlimmsten Verruf brachte.
Die erfolgreichsten Korsaren der Antillen waren zweifellos die Engländer Drake, Raleigh und Morgan, die meistgehaßten Piraten die Franzosen Mombars und L’Olonnois. Allerdings waren auch die zwei am meisten »bewunderten« Seeräuber, Vent en Panne und Chevalier de Grammont, ebenfalls Franzosen.
Von diesen großen Namen war inzwischen nur noch der blutrünstige Todesengel am Leben, vielleicht auch noch der elegante Chevalier de Grammont, der sich wie Mombars angeblich unwiderruflich in sein Winterquartier zurückgezogen hatte.
Kein Wunder also, daß Sebastián das Herz bis zum Hals schlug, als ihn am folgenden Samstag abend die Rothaarige in ihre Hütte führte und dort ein Riese auf ihn wartete, der ihn mit dämonischen Augen, die sich unter buschigen Augenbrauen verbargen, fixierte.
»Also du bist der Navigator der Jacare?« fragte er mit kellertiefer Stimme. »Ich bin Mombars, der Todesengel.«
Er sprach sehr langsam, im Pidgin-Englisch, das alle einfachen Seeleute der Antillen verwendeten: eine bunte Mischung aus englischen, französischen, spanischen, portugiesischen und holländischen Wörtern, wobei Mombars aber auch immer wieder Wörter aus dem karibischen Dialekt einstreute, den die Mehrheit seiner indianischen Besatzung sprach.
Der Margariteno wandte sich sofort der Rothaarigen zu, als wolle er ihr seine Empörung darüber ins Gesicht schleudern, daß sie ihm eine so schmutzige Falle gestellt hatte:
»Warum hast du mir das angetan? Ich hab dir doch gesagt, daß ich das Schiff nicht wechseln will.«
Der haarige Gorilla, den die Last der Jahre gebeugt hatte und dessen weiße Löwenmähne zu winzigen Ringellocken geflochten war, was ihm ein wirklich bizarres Aussehen gab, beschränkte sich darauf, seine riesigen nackten Füße auf den Tisch zu legen, während der Korbstuhl, in dem er saß, fast unter seinem Gewicht zusammenbrach. Mit der gleichen tiefen Stimme fuhr er fort:
»Ich will ja nur mit dir reden. Ich werde dich schon nicht fressen.« Er sah ihn so an, als könne ihn niemand anlügen, ohne daß er es bemerkte. »Bist du ein Spanier?«
»Margariteno der dritten Generation. Ist schon lange her, daß ich alles aufgegeben habe, was mit Spanien zu tun hat.«
»Renegat?«
»Einfach aufgegeben. Punktum.«
»Na schön«, versetzte der Todesengel, als genügte ihm diese Erklärung. »Du hast Spanien also aufgegeben. Warum hängst du so an diesem alten Säufer Jacare Jack?«
»Weil er immer gerecht gewesen ist, gut bezahlt und ein großartiger Kapitän ist.«
»Ich bin auch ein gerechter Mann, biete dir das Zwanzigfache dessen, was er dir bezahlt, und als guter Kapitän gelte ich auch. Was ist der Unterschied?«
»Sein Schiff ist sicherer.«
»Woher weißt du das?«
Sebastian machte nur eine vielsagende Geste.
»Ich weiß es eben!«
»Verstehe!« murmelte der andere. »Ist das wegen dieser berühmten Routenbücher? Sind die so wichtig?«
Sebastián hatte am Fußende des riesigen Betts der Rothaarigen Platz genommen, die sich diskret nach draußen an den Strand verdrückt hatte, als ginge sie das alles nichts an. Er nickte entschlossen.
»Ich habe viel von deinem Schiff gehört. Von seiner gewaltigen Feuerkraft und seinen märchenhaften Schätzen, aber ich garantiere dir, nicht mit allem Gold Perus könntest du bezahlen, was der Alte hat.«
»Du übertreibst.«
»Keineswegs! Wie viele Schiffe voller Schätze ruhen auf dem Grund der Karibik…? Dutzende? Vielleicht Hunderte? Mit den Routenbüchern des Kapitäns wären die meisten von ihnen niemals untergegangen.«
»Bis du sicher?«
»So sicher, wie ich hier bin. Und so sicher, wie ich in zwei Jahren die Bücher auswendig kann, wie heute der Alte.« Er beugte sich vor. »Dann werde ich dir von Nutzen sein. Heute, ohne diese Routenbücher, wird dein Schiff auf Grund laufen, und folglich wirst du mir die Gedärme herausreißen. Wozu dienen mir zehntausend Pfund, wenn mir keine Zeit bleibt, sie auszugeben?«
Mombars nahm die Füße vom Tisch, stützte sich mit den Ellenbogen darauf und fuhr sich mit beiden Händen durch die weiße Mähne, als könne er damit die Gedanken vertreiben, die ihm durch den Kopf gingen.
Er schien viel zu müde oder zu alt, um das Piratenleben wieder aufzunehmen. In seinem gelblichen Gesicht waren tiefe Falten zu sehen, und der mächtige Rumpf wurde schon schlaff, doch noch immer flößte allein seine Anwesenheit Furcht ein, nicht nur, weil er so wild aussah, sondern vor allem seines Rufes wegen. Dieser eilte ihm nicht unbedingt voraus, sondern umgab ihn wie ein böser Heiligenschein.
Und Mombars, der Todesengel, strömte mit jeder Pore seines Körpers Gewalt aus.
»Es fällt mir schwer, aber ich glaube dir«, murmelte er schließlich. »Niemand, der bei klarem Verstand ist, schlägt zehntausend Pfund aus, wenn er nicht sehr triftige Gründe dafür hat, und deine scheinen triftig zu sein.« Er sah ihn an: »Und was machen wir jetzt?«
»In Cumaná gibt es einen Navigator, Martin Prieto. Vielleicht…« begann Sebastian schüchtern, brach aber angesichts der unwirschen Geste seines Gegenübers sofort ab.
»Hör auf! Wer denkt an Martin Prieto? Ich weiß, daß alle Kapitäne einen Arm dafür hergeben würden, um auf ihn zählen zu können, aber dieser Spanier ist seinem König so verdammt ergeben, daß er in der Lage wäre, ein Piratenschiff auf Grund zu setzen, nur damit es eines weniger gäbe. Reden wir von dir.« Er musterte ihn aufmerksam. »Wenn du die Routenbücher des alten Jacare Jack hättest, würdest du dann mein Angebot annehmen?«
»Mit dem Archiv des Alten? Natürlich! Wie ich dir doch schon sagte, wenn man weiß, wie man die Bücher lesen muß, kommt man mit verbundenen Augen überall hin. Und der Kapitän hat mir gezeigt, wie das geht.«
»In diesem Fall«, befand der Riese und legte seine riesigen nackten Füße wieder auf den Tisch, »müssen wir sie uns eben holen… Oder nicht?«
Jetzt dachte Sebastián über das nach, was er eben gehört hatte, dann stand er auf, ging zur Tür und betrachtete die Rothaarige, deren Silhouette sich gegen den rötlichen aufgehenden Mond abzeichnete.
Ohne sich umzudrehen, erwiderte er:
»Glaub nicht, daß ich daran nicht auch schon gedacht habe.« Seine Stimme klang so dünn, daß sein Gegenüber die Ohren spitzen mußte. »Eine Million Mal!« beharrte er. »Aber wie?« Jetzt wandte er sich erneut um und sah ihn an. »Wie?«
»Eine Möglichkeit muß es doch geben.«
»Ich kenne keine«, entgegnete der Margariteno. »Der Kapitän bewahrt alles in einer Kiste auf, die er binnen Sekunden ins Meer werfen kann. Und wenn die Bücher ins Wasser fallen, verläuft die Tinte, und alles ist verloren.« Er zuckte mit den Schultern, als wolle er seine Ohnmacht einräumen. »Ihm ist das egal, denn er hat die Bücher im Kopf. Aber ich noch nicht. Tut mir leid, aber so ist es!«
»Wir werden einen Weg finden, ihn zu überraschen!« rief der Franzose irritiert aus. »Er wird nicht ständig auf dieser verdammten Kiste sitzen.«
»In Port-Royal schon. Solange wir im Hafen sind, verläßt er seine Kajüte kaum und schließt sich dort ein, weil er niemandem vertraut. Auf offener See oder im Quartier sieht das anders aus, doch dann kann ich nichts machen, wie du verstehen wirst. Ich bin allein!«
»Niemand würde dir helfen?«
»Wer? Und wobei? Eine Rebellion anzuzetteln? Und warum? Um den Kapitän zu wechseln? Sie sind mit dem zufrieden, den sie haben.« Er winkte ab. »Nein! Wie ich gesagt habe. Man kann nichts tun.« Er machte einen zaghaften Versuch, sich nach draußen zu dem Mädchen zu begeben, doch zwei aus der Dunkelheit auftauchende Wilde versperrten ihm drohend den Weg und bedeuteten ihm, in die Hütte zurückzukehren. Er gehorchte und sah Mombars an, der in der Zwischenzeit keinen Mucks gemacht hatte. »Was soll das?« rief er aus. »Wirst du mir jetzt die Gedärme herausreißen, nur weil ich dir die Wahrheit gesagt habe? Ich wäre der erste, der sich diesen Schatz holen würde, denn ich gehöre zu den wenigen, die damit etwas anfangen können, aber was nicht geht, geht nicht.«
»Sei ruhig und laß mich nachdenken!« grunzte der menschliche Gorilla, dem das Hirn zu rauchen schien. »Wo ist euer Quartier?«
»Wir haben zwei: eins in den Jardines de la Reina für kurze Aufenthalte und das andere in den südlichen Grenadinen, wo wir den Sommer verbringen.«
»Wann werdet ihr euch in eins der beiden zurückziehen?«
»Ich denke, in ein paar Tagen, denn dem Alten steht Port-Royal bis hierher. Wahrscheinlich werden wir zu den Jardines de la Reina segeln, um das Schiff unterhalb der Wasserlinie zu reinigen und damit sich die Besatzung vom Suff und den Huren erholen kann.«
»Wie lange werdet ihr dort bleiben?«
»Höchstens zwei Wochen!«
»Setz dich!«
Sein autoritärer Ton duldete wie üblich keinen Widerspruch, daher setzte sich Sebastian in den klapprigen Stuhl am anderen Ende des Tisches.
»Was nun?« fragte er mißmutig.
»Wir müssen nachdenken. Und zwei Köpfen fällt mehr ein als einem allein.«
»Und worüber willst du nachdenken?«
»Wie wir deinem Kapitän das Spielzeug abnehmen.«
»Aha!«
»Sei nicht so pessimistisch«, tadelte ihn der Todesengel, der verblüfft, irritiert oder in seinem Ego verletzt schien, nur weil jemand so offen an seinem Erfolg zweifelte. »Du hast gesagt, daß er in dem Quartier und auf See nicht mehr so wachsam ist, stimmt’s?«
»Natürlich. In dieser Zeit kann ich die Dokumente studieren, wann immer ich will, solange ich keine Kopien mache.«
»Gut! Das ist die Gelegenheit, sie sich anzueignen.«
Sebastián sah ihn wie einen Geisteskranken an.
»Und was mache ich dann? Soll ich mit einer Kiste auf den Schultern über die Wellen laufen oder mich auf einer Insel verstecken, die so kahl ist, daß sogar die Kaninchen Sonnenschirme tragen?«
»Wie ist die Insel?«
»Welche?«
»Die im Jardin de la Reina.«
»Nur eine Sandbank mit einer tiefen Bucht.«
»Ihre maximale Höhe?«
»Über Meeresspiegel? Etwa zehn Meter. Aber der Jacare reicht das, denn wenn sie ihre Masten kappt, ist sie nicht höher als die Dünen, und niemand, der in der Umgebung segelt, würde vermuten, daß sich an einem solchen Ort ein Schiff verbirgt.«
»Er war schon immer ein schlauer Fuchs, dieser verdammte Schotte!« rief Mombars aus. »Wirklich verdammt gerissen! Aber ich denke, diesmal können wir ihn reinlegen.« Er beugte sich vor und legte seine schwere Pranke auf den Unterarm des Margariteno. »Hör mal!« fügte er mit seiner rauhen, jetzt etwas aufgeregt klingenden Stimme hinzu. »Mir fällt da ein Plan ein, der funktionieren könnte.«
»Ich kann nicht glauben, daß jemand ein so hohes Risiko eingeht, nur um sich eine Handvoll Papiere zu holen«, sagte Celeste mit ungewöhnlichem Ernst. »Und ich mache mir Sorgen, daß du in deine eigene Falle tappst.«
Die Geschwister aßen zusammen mit ihrem Vater unter einer schattigen westindischen Kastanie, die das stolze Kap beherrschte, zu Mittag, zur einen Seite das kristallklare blaue Meer, zur anderen die Ruinen der alten Villa von Kapitän Bardinet.
Die zahlreichen Arbeiter – fast alles Sklaven –, die mit dem Abriß beschäftigt waren, nutzten die heißen Stunden der Siesta, um sich im nahen Meer zu erfrischen. Fröhlich planschten, spielten und tollten sie im Wasser.
Allein die Tatsache, daß sie jetzt kein Zuckerrohr mehr schneiden mußten, sondern ein Haus abreißen konnten, eine wesentlich angenehmere Arbeit, schien Grund genug für ihre Begeisterung zu sein. Mit gewisser Bewunderung schaute Sebastian sie an, dann wandte er sich seiner Schwester zu, um ihr mit liebevoller Geduld zu antworten:
»Für deine >Papiere< würde sich jeder gute Seemann ein Bein ausreißen. Kolumbus ist fast zwei Jahre zwischen dem Golf von Honduras und Panama herumgeirrt, bis er schließlich hier, in Jamaika, auf Grund lief, und anderthalb Jahrhunderte später hielten Gegenwinde und gefährliche Strömungen die Flotte von L’Olonnois, Van Klijn und Pierre de Picard am gleichen Ort über ein Jahr lang fest. Vierhundert ihrer siebenhundert Männer haben dieses unselige Abenteuer nicht überlebt.« Er nahm sich einen Hähnchenschenkel und biß hinein, ohne Celeste auch nur einen Augenblick aus den Augen zu lassen: »Glaubst du, daß es jemandem gefällt, Jahre seines Lebens damit zu vergeuden, blind auf unbekannten Meeren herumzuirren und dabei zu riskieren, jede Minute an der Küste oder an einem Riff zu zerschellen?«
»Nein. Natürlich nicht«, räumte das Mädchen ein.
»Dann wirst du auch verstehen, daß Leute, die Zeit, Schiffe, Geld und Freunde verloren haben, nur weil ihnen einige schlichte >Papiere< gefehlt haben, alles daransetzen, sie zu bekommen. Denk daran, wer an Land den Weg nicht kennt, verirrt sich nur, aber wer ihn auf See nicht kennt, der geht unter.«
»Aber das Risiko, das du mit Mombars eingehst, scheint mir allzu groß«, beklagte sich das Mädchen. »Was passiert, wenn die Sache schiefgeht?«
»Dann sehen wir uns niemals wieder«, lautete die ehrliche Antwort. »Aber wenn alles gutgeht, dann werden wir den besten Rum der Karibik brennen, bis wir alt sind.«
»Versprichst du das?« fragte sein Vater.
Wie zum Schwur hob Sebastián die Hand.
»Wenn der Ballast der Ira de Dios, wie behauptet wird, tatsächlich aus Silberbarren besteht, dann kehre ich niemals mehr auf See zurück.« Er lachte amüsiert. »Meine Karriere wird die kürzeste und einträglichste in der Geschichte der Seeräuberei sein.«
»Wann willst du aufbrechen?«
»Morgen, und wenn es soweit ist, wird Astrid eine grüne Laterne an die Tür ihrer Hütte hängen, damit Mombars Bescheid weiß, daß wir zum Jardin de la Reina segeln. Das Weitere wird sich finden.«
»Hast du Angst?«
Der Margariteno ließ sich mit der Antwort Zeit und betrachtete die Sklaven bei ihrer Herumtollerei, bevor er nickte, ohne dabei auch nur ein bißchen rot zu werden.
»Wenn man Mombars kennt, wäre es unsinnig, keine Angst zu haben. Er hat schon etwas Beeindruckendes an sich, und ich schwöre dir, wenn sich der Teufel dazu entschließt, Mensch zu werden, dann würde er diesen Mann auswählen. Sein unerschütterlicher Glaube an die eigene Kraft ist aber auch seine Schwäche. Er ist davon überzeugt, daß er uns versenken würde, weil die meisten seiner neunzig Kanonen Sechsunddreißigpfünder sind, während wir davon nur zwanzig haben.«
»Und trotzdem willst du es mit ihm aufnehmen?«
Der junge Kapitän lächelte recht geheimnisvoll:
»Weißt du was? Die Indios auf dem Festland schwören, daß die gefährlichsten Kaimane nicht im Wasser, sondern an Land leben.«
Den Rest des Nachmittags verbrachten sie im Schatten der Kastanien und schauten den Arbeitern zu, die lachend mit schweren Hämmern die Ruinen der Negrita von Bardinet einrissen. Bei Anbruch der Nacht verabschiedeten sie sich mit einer festen Umarmung. Vielleicht würden sie sich niemals wiedersehen.
Celeste und ihr Vater kehrten in der Kutsche zu ihrem Haus in Caballos Blancos zurück, währen Sebastian ohne Hast den Weg nach Port-Royal einschlug, das nach der langen Tagesruhe allmählich wieder munter wurde.
Er lud die verführerische Rothaarige ins eleganteste Restaurant der Stadt ein. Dort lernten sie persönlich den stolzen Laurent de Graaf mit seinen erlesenen Manieren kennen. Nach einer langen Liebesnacht begab er sich auf sein Schiff, wo die gesamte Mannschaft auf ihn wartete, bereit, das Manöver auszuführen, das sie aus dem stillen Wasser einer Bucht führen würde, die tatsächlich die sicherste geheiligte Zuflucht auf Erden war.
Das Meer war ruhig, und von Land wehte eine sanfte Brise. Sie hißten die meisten Segel und setzten Kurs Südwest, um die Insel in westlicher Richtung zu umsegeln und danach direkt nach Norden zu fahren, bis drei Tage später die ersten kleinen Inseln des Jardin de la Reina auftauchen würden.
Sebastian Heredia nutzte die Gelegenheit, seine Besatzung zu versammeln und ihr seine Pläne zu erläutern.
Sie hörten ihm schweigend zu. Erstaunen, ja Ungläubigkeit breitete sich aus. Schließlich ergriff wieder einmal Zafiro Burman als erster das Wort.
»Sollen wir glauben, daß der Todesengel lebt und du ihn persönlich getroffen hast? Nicht möglich!«
»O doch, und in einer guten Woche wirst du ihn auf der Brücke der Ira de Dios sehen, wenn du nicht lieber auf den Cayman-Inseln an Land gehen willst, gemeinsam mit allen anderen, die Angst haben.«
»Teufel noch mal…!« rief der erste Steuermann entrüstet aus. »Hast du dir wirklich in den Kopf gesetzt, dich mit der Ira de Dios anzulegen? Nicht einmal der Alte hätte sich das getraut.«
Der Margariteno, der neben dem Steuermann stand und die übrigen Männer um einen Meter überragte, sah sich alle der Reihe nach an, bemerkte ihre ernsten Gesichter und gab schließlich zu bedenken:
»Stets habt ihr euch beklagt, daß ihr nichts zu tun habt und die Beute so armselig ist.« Vielsagend breitete er die Arme aus. »Jetzt biete ich euch endlich alle Aktion der Welt und die größte Beute, von der ihr je geträumt habt. Was wollt ihr noch?«
»Nichts weiter. Der Plan ist großartig, aber Mombars ist nun mal Mombars«, mischte sich ein zerknirschter Nick Cararrota ein. »Ich sehe mich schon mit offenen Gedärmen laufen.«
»In dieser Hinsicht brauchst du dir keine Sorgen zu machen«, versetzte Kapitän Jack mit Humor. »Auf der Insel, die wir ausgesucht haben, gibt es keine Bäume, an die sie die Gedärme nageln können.«
»Schöner Trost!«
»Die Entscheidung liegt bei euch«, fuhr Sebastián Heredia fort und bemühte sich, gleichgültig zu wirken. »Wer Schiß hat, kann auf den Cayman-Inseln bleiben, denn ich komme mit zwanzig Männern aus, und für die wird der Anteil um so phantastischer ausfallen.«
»Können wir darüber nachdenken?« wollte ein langer dünner holländischer Kanonier wissen. »So eine Entscheidung sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen.«
»Nur diese Nacht. Morgen früh will ich wissen, wer mit mir kommt und wer nicht.« Er bedeutete Lucas Castano, ihm in die Kajüte zu folgen, und als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, nahm er Platz und fragte: »Was meinst du?«
»Wie der Malteser so schön gesagt hat: >Mombars ist nun mal Mombars<. Bei seinem Namen allein gefriert einem das Blut in den Adern.«
»Meine Güte!« beklagte sich der Kapitän bitter. »Sind sie nun Piraten oder nicht? Ich bin auf diesem Schiff aufgewachsen. Jahrelang sind sie mir mit ihren früheren Heldentaten in den Ohren gelegen und daß sie in der Lage seien, San Juan, Cartagena oder sogar die Flotte selbst anzugreifen, und jetzt, in der Stunde der Wahrheit, jagt ihnen ein einziger Name Angst ein.« Er sah ihm in die Augen. »Dir auch?«
Der Panamese, der auf dem Fensterbrett des Achterfensters Platz genommen hatte, von dem er bei einem plötzlichen Schlingern des Schiffs ins Wasser gefallen wäre, schüttelte leicht den Kopf.
»Erinnere dich daran, daß ich dich erst auf die Idee gebracht habe, diesen Hurensohn reinzulegen. Er beschäftigt mich, aber Angst jagt er mir keine ein. Trotzdem mußt du akzeptieren, daß es Leute gibt, die sich bei dem Gedanken nicht wohl fühlen, es mit neunzig Kanonen und über zweihundert Wilden aufzunehmen, die Menschenfresser sein sollen.«
»Verstehe! Ich mache auch keine Freudensprünge, aber jetzt sind die Würfel nun mal gefallen.«
Der Margariteno aß allein zu Abend, versuchte im unergründlichen Gesicht des Kochs, der das Essen servierte, zu lesen, wie die Entscheidung seiner Besatzung ausfallen würde, doch ganz offensichtlich hatte der Filipino auch keine Ahnung, was in diesen Augenblicken auf dem unteren Vorderdeck passierte. Und so beschränkte er sich darauf, Sebastian weiter zu bedienen, wie er es immer getan hatte, seit der Kapitän sein Amt angetreten hatte.
»Und du?« fragte Sebastian, als der Koch das Geschirr abräumte. »Bleibst du auf den Caymans oder kommst du mit?«
Mit unbeweglichem olivenfarbenen Gesicht entgegnete der kleine Mann fatalistisch:
»Ich habe immer Angst gehabt, am Galgen zu enden, Kapitän, aber wenn wir gewinnen, eröffne ich in Port-Royal ein gutes Wirtshaus. Und sollten wir verlieren, werde ich mich mit einem Stein um den Hals ins Meer stürzen, um nicht in die Hände von Mombars zu fallen.«
Er verließ die Kajüte, was Sebastian die Möglichkeit gab, über einen riskanten Plan nachzudenken, in dem es nur zwei Möglichkeiten gab: Sieg oder Tod. Am folgenden Morgen, als die Glocke den Wachwechsel ankündigte, versammelte Sebastian erneut seine Mannschaft an Deck und kam ohne Umschweife zur Sache.
»Alle, die auf den Caymans bleiben wollen, versammeln sich an der Backbordseite«, befahl er. »Alle, die mitkommen wollen, an der Steuerbordseite.«
Zafiro Burman hob die Hand.
»Mach dir keine Umstände! Wir alle wollen lieber als Piraten sterben statt als Bettler leben. Hiß die schwarze Flagge!«
»Die schwarze Flagge?« fragte der Kapitän überrascht.
»Genau!«
»Hier und jetzt?«
»Hier und jetzt!« lautete die entschlossene Antwort. »Wir haben beschlossen, daß wir von diesem Augenblick an in den Kampf ziehen.«
Sebastián Heredia Matamoros wandte sich Lucas Castano zu und befahl ihm mit einem Lächeln:
»Einverstanden! Hol die Flagge. Klar zum Gefecht!«
Das schien der magische Satz zu sein, auf den fünfzig Seewölfe monatelang gewartet hatten. »Klar zum Gefecht!« hieß soviel wie »Beute in Sicht!«, und diese zwei Wörter, »Gefecht« und »Beute«, verstand jeder an Bord am besten.
Die Waffen, die so lange Zeit geruht hatten, blitzten in der Mittagssonne; die Kanonen, die so lange stumm geblieben waren, krachten, damit man ihren Zustand prüfen konnte, und das Pulver, das so lange in der untersten Pulverkammer geschlummert hatte, wurde auf Deck ausgestreut, um sicherzugehen, daß es nicht feucht und damit nutzlos geworden war.
Der Vorabend der Schlacht ist für die Beteiligten wesentlich aufregender als der Kampf selbst, und die Besatzung der Jacare wußte, daß ihr eine brutale, blutige und erbitterte Schlacht bevorstand.
Als Sebastián Heredia sie so vom Achterkastell aus betrachtete, hatte er das Gefühl, zum ersten Mal so richtig mitzuerleben, wie es auf einem Piratenschiff zuging, und zum ersten Mal wurde ihm die wahre Persönlichkeit der Männer bewußt, die ihre Heimat und ihre Familien verlassen hatten, um sich dem riskanten Gewerbe zu widmen, auf unbekannten Meeren herumzuirren und nach einer wertvollen Beute zu suchen.
Die Jacare roch geradezu nach Gewalt, und während Sebastián die Gesichter der Mannschaft betrachtete, kam er zu dem Schluß, daß jeder einzelne der zerlumpten Verbrecher bereit war, den letzten Tropfen Blut für den Sieg zu opfern.
Er blickte zur riesigen Flagge mit Totenkopf und Krokodil hinauf, die vom höchsten Mast flatterte. Er fühlte eine Gänsehaut, weil diese Flagge jetzt nicht als Symbol eines einfachen Beutezugs, sondern als Zeichen der Freiheit schlechthin flatterte.
Zum gegebenen Zeitpunkt kletterte Zafiro Burman auf den Großbaum, rief seine Gefährten zusammen und verkündete der enthusiastischen Menge:
»Mombars ist ein Riese, und mit seiner Mähne im Wind sieht er wie ein Ungeheuer aus. Aber wenn er tot ist, dann ist es auch mit seiner Tollwut vorbei, und ohne ihn sind seine Männer nur noch ein Haufen Wilder.« Er zeigte seine Kette, die er um den Hals trug und von der er sich niemals trennte: »Wer Mombars in Stücke schießt, dem schenke ich meinen Saphir.«
Zwei Tage später zeichneten sich die ersten Umrisse der Inseln und Riffe ab, die Kolumbus zu Recht »Garten der Königin« oder »Labyrinth« getauft hatte. Das Archipel war wahrscheinlich eines der schönsten, für die Seefahrer gleichzeitig auch das gefährlichste der Antillen.
Bei Anbruch der Nacht ankerten sie im Schutz des Cayo del Rabihorcado, bis sie es wagen konnten, im ersten Morgenlicht weiter in das Archipel vorzudringen, ohne Angst zu haben, auf einen Felsen zu laufen. Sebastián befahl, kein Licht an Bord zu entzünden, ließ die Wachen verdoppeln und ordnete absolutes Schweigen an, obwohl es wenig wahrscheinlich war, daß jemand im Dunkeln das im Schutz der gefährlichen Riffe liegende Schiff angreifen würde.
»Bei Mombars kann man nicht vorsichtig genug sein«, schloß er. »Und sollte er uns überholt haben, könnte er uns mitten in der Nacht überraschen.«
Alles blieb jedoch ruhig. Zehn Minuten, bevor die Sonne über der fernen kubanischen Küste aufging, hatte man bereits damit begonnen, die Segel zu setzen, und das Schiff war bereit, seine schwierige Fahrt fortzusetzen, sobald man die trügerischen Untiefen im Tageslicht klar erkennen konnte.
Drei Männer kletterten auf die Masten, damit ihnen nichts entgehen konnte, was sich vor ihrem Bug abspielte. Zafiro Burman stand am Steuerrad, und selbst der letzte Marsgast paßte wie ein Luchs auf. So wagten sie sich in das gefährliche Labyrinth aus Wasser und Korallen, das schon so viele Schiffe und Menschenleben gefordert hatte.
Zum Glück kannten die meisten Männer diese Gewässer aus lange vergangenen Zeiten, in denen sie unter dem alten Kapitän hier gesegelt waren, und so konnten sie nach zehn nervenaufreibend langen Stunden die Anker an der tiefsten Stelle einer stillen Bucht einer winzigen Insel werfen, auf der nur einige wenige krumme Kokospalmen etwas Schutz vor der brennenden Sonne boten.
Nachdem man die Masten auf die Hälfte gekappt hatte, ragten sie nicht einmal mehr über die kleinen Dünen. Außer von der engen Einfahrt in die Bucht war die Jacare daher von keinem Punkt aus zu sehen: ein perfekter Aufenthaltsort, der aber aufgrund der sehr kahlen Landschaft als Winterquartier völlig ungeeignet war.
Wer von Bord ging, konnte lediglich auf die Dünen steigen oder Spaziergänge über den endlosen Strand unternehmen, um sich schließlich unter eine der kühnen Palmen zu setzen, deren Anwesenheit die Naturgesetze zu widerlegen schien. Immerhin gab es Schildkrötennester in Hülle und Fülle, und die Bucht war so fischreich, daß der Filipino nur eine Angel auswerfen mußte, um die Speisekammern zu füllen.
Die Sandinsel war von gefährlichen Korallenriffen umgeben, daß man sich selbst mit einem Ruderboot nicht hätte nähern können, ohne auf Grund zu laufen. Nur die weite Bucht besaß eine sechzig Meter enge Einfahrt, die so tief war, daß jedes Schiff sie ohne Furcht, zu stranden oder beschossen zu werden, befahren konnte, denn die flache Sandküste bot nicht die geringste Möglichkeit, eine Festung oder auch nur eine schlichte Geschützstellung zu errichten.
Der Platz war also ein idealer Zufluchtsort vor den Naturgewalten, gleichzeitig aber auch eine tödliche Falle, wenn es darum ging, einen Feind abzuwehren.
Die Männer waren sich dieser Gefahr wohl bewußt. Kaum hatte man Anker geworfen und die Segel gerefft, brach an Bord hektische Aktivität aus. Nach Anbruch der Nacht arbeiteten die Männer im Schein aller Laternen, derer sie habhaft werden konnten, und der Fackeln weiter, die man alle fünf Meter in den Sand des Strands steckte.
Alle wußten, daß die Ira de Dios jeden Augenblick auftauchen konnte, und wenn sie zu früh kam, würden die Gedärme eines jeden einzelnen die Dünen der Insel bedecken.
Am nächsten Vormittag konnte sich kaum ein Mann an Bord noch auf den Beinen halten, aber sowohl Sebastián Heredia als auch Lucas Castano waren mit dem Ergebnis zufrieden.
»Gut!« seufzte der Panamese erleichtert. »Jetzt müssen wir nur wieder zu Atem kommen und abwarten.«
»Wie lange?«
»Ein, zwei, drei Tage. Wer weiß. Vielleicht kommen sie gar nicht.«
»Die kommen!«
»Das hoffe ich auch. Nach so viel Mühe wären die Männer fürchterlich enttäuscht.«
»Aber vielleicht kommen sie dann mit dem Leben davon«, gab Sebastian zu bedenken.
»Manchmal sind andere Dinge wichtiger als das Leben«, entgegnete sein Stellvertreter unbefangen. »Und das ist so eine Gelegenheit. Und jetzt leg ich mich schlafen. Ich bin schließlich nicht mehr der Jüngste.«
Es wurde Nacht, und die Nacht war voller Spannung.
Für die meisten Männer der Jacare war es zugleich die kürzeste und längste Nacht ihres Lebens. Zwar schliefen sie, weil sie wirklich erschöpft waren, doch in ihrem tiefsten Inneren wollte etwas wach bleiben, denn die Angst ist ein Gefühl, das niemals müde wird und in der größten Dunkelheit wie der Docht einer Kerze brennt.
Und Mombars war nahe.
Der Todesengel lauerte auf sie.
Zweihundert Wilde, direkte Nachfahren der gefürchteten karibischen Kannibalen, die einst die gesamte Karibik in Angst und Schrecken versetzten, wetzten ihre Messer, um ihnen die Eingeweide herauszureißen.
Wer konnte mit so einem Damoklesschwert über dem Kopf schlafen?
Zwei Stunden vor Sonnenaufgang waren alle Männer bereits wieder auf den Beinen, und nach einem kargen und schweigsamen Frühstück nahm jeder seinen Gefechtsposten ein.
Die Morgenröte ließ auf sich warten, und als sie schließlich kam, waren ihre Hände leer.
Keine Menschenseele war am Horizont zu sehen.
Drei Männer standen Wache auf den Dünen, die übrigen kehrten an Bord zurück, teils erleichtert, teils aber auch frustriert, daß die nervenaufreibende Warterei weiterging.
Da Sebastian wußte, daß Untätigkeit zum schlimmsten Feind seiner Besatzung werden konnte, befahl er ein Floß mit quadratischem Segel zu bauen, das er in der Mitte der Buchteinfahrt postieren ließ.
Dann gab er den Kanonieren den Befehl, auf die Mitte dieses Segels zu zielen, und ließ sie feuern, bis sie es genau trafen. Auf diesen exakten Punkt ließ er die Kanonen fixieren.
Schließlich richteten sie sich auf eine weitere Nacht der Angst ein.
Und auf einen weiteren Morgen ohne Feinde.
Und so vergingen fünf Nächte.
Doch am Morgen des sechsten Tags durchbrach eine Stimme die Stille der ruhigen Bucht:
»Schiff in Sicht!«
Bei Gott! Da war sie!
Sie stiegen auf die Düne und sahen zu, wie das stolze, mächtige Schiff gemächlich zwischen Inseln, Untiefen und Riffen dahinglitt. Es war schon schwer zu glauben, daß ein trauriger Küstensegler mit kaum dreißig Kanonen es wagte, sich mit einer der eindrucksvollsten Kriegsmaschinen anzulegen, die in jenen Zeiten durch die Karibik segelten.
»Ist er das?«
Sebastian reichte Lucas Castano, der gefragt hatte, das schwere Fernrohr.
»Wer sonst?«
Der Zweite an Bord schaute lange hindurch, bis er schließlich die riesige Flagge mit dem unverzierten Totenkopf einwandfrei ausmachen konnte, und nickte überzeugt:
»Das Wappen von Mombars, kein Zweifel.«
»Jeder auf seinen Posten.«
Jeder Mann nahm schweigend und ohne Hast seinen ihm vorher zugewiesenen Posten ein. Nur der junge Kapitän und sein Adjutant blieben zwischen den Dünen und ließen das Schiff nicht aus den Augen, das jetzt direkt auf die Insel zusteuerte.
Im Sand ausgestreckt und ein Auge am riesigen Fernglas, konzentrierte sich Sebastián auf den riesigen Mann mit der weißen Mähne, der seinerseits die Insel von seinem Befehlsposten aus musterte, und murmelte:
»Schön. Jetzt gibt es kein Entkommen mehr. Er oder wir!«
Keiner hätte genau sagen können, wieviel Zeit verging, bis der Bug der Ira de Dios eine gute halbe Meile vor der Buchteinfahrt verharrte.
Einigen erschien es wie eine Ewigkeit.
Anderen nur wie wenige Minuten.
Das eindrucksvolle Schlachtschiff hatte alle Segel mit Ausnahme der Focksegel gerefft und glitt daher sehr langsam voran, während es die Kanonenschächte öffnete. Drei Kanonenreihen zeigten ihre Mündungsrohre, die bereit waren, bei dem geringsten Anlaß Eisen und Feuer regnen zu lassen.
Der Todesengel stand neben dem Steuermann und betrachtete ein letztes Mal den eleganten Küstensegler, der am Ende der Bucht vor Anker lag, und obwohl ihm die Jacare ihre Steuerbordseite zuwandte, an der die Klappen ihrer Kanonen klar auszumachen waren, schien Mombars zum Schluß zu kommen, daß er wenig zu fürchten hatte, wenn er frontal auf das bewegungslose Schiff zusteuerte.
Mit seinem Fernglas suchte er die flachen Sandbänke auf beiden Seiten des Kanals ab. Erst als er keine Kanone zwischen den kleinen Dünen und den einzelnen Palmen entdecken konnte, befahl er vorzurücken.
Schließlich schaute er auf den Mann, der sich auf die höchste Erhebung der Insel gestellt hatte und wiederholt ein rotes Tuch schwenkte.
Das war das Zeichen, das bestätigte, daß der spanische Navigator und Renegat Seekarten und Routenbücher in Sicherheit gebracht hatte.
Er blickte zu den Wachen im Mastkorb hinauf, die ihm mit einer Geste bestätigten, daß auch von dort oben keinerlei Gefahr zu erkennen war.
Mit einer Handbewegung befahl er, die Focksegel weiter zu verkleinern, und das Schiff setzte seine langsame Fahrt fort.
Kurze Zeit darauf gab die Jacare einen zaghaften Warnschuß ab, der an die hundert Meter vor dem Bug der Ira de Dios ins Wasser klatschte, doch diese hielt eine Erwiderung nicht für nötig. Zum einen war die Drohung sehr verhalten, zum anderen hätte man im Augenblick nur mit der kleinen Bugkanone auf den Angreifer feuern können.
Mit stummer Geste ließ Mombars die schwarze Flagge einholen: ein unmißverständlicher Hinweis auf seine friedliche Absicht. Er wollte kein ungleiches und absurdes Kanonenduell beginnen, sondern längsseits der Jacare gehen und ihr seine Feuerkraft demonstrieren. So gedachte er die Herausgabe ihrer Seekarten und Routenbücher zu erzwingen. Im Gegenzug würde er das Schiff verschonen.
Mombars sah keinen Grund, das Schiff eines Kollegen zu versenken, denn sein wahres Interesse war es nach wie vor, den Spaniern die Gurgel durchzuschneiden. Noch in seinem hohen Alter war er nach wie vor davon überzeugt, daß dies der Grund sei, warum ihn sein Schöpfer auf die Welt geschickt hatte.
Seine gefürchtete Flagge einzuholen und feindliches Feuer nicht zu erwidern schien seiner Ansicht nach Beweis genug für seinen guten Willen zu sein. So beschränkte er sich darauf, weiter durch die Einfahrt vorzudringen, und konzentrierte sich mehr auf das, was sich die Männer an den Bleiloten zuriefen, als auf einen neuen Angriff seitens der Jacare.
»Zwölf Faden und Sand!«
»Zwölf Faden und Sand!«
»Elf Faden und Sand!«
»Elf Faden und Sand!«
Nur das war im Augenblick wirklich wichtig, denn solange seine Kanonen geladen und seine Männer auf ihren Posten waren, mußte er sich nur Sorgen machen, ob er auch genügend Wasser unter dem Kiel hatte.
An Land verfolgten Sebastián und sein Adjutant den langsamen Vorstoß des Schiffs, das ihnen nunmehr wie eine riesige Todesmaschine vorkam, in deren Takelwerk über zweihundert Wilde hingen, die bereit waren, sie zu entern. Und als sie die zerbrechliche Silhouette der entblößten Jacare betrachteten, tauschten sie einen sorgenvollen Blick aus.
»Wenn es ihm gelingt, seine Kanonen in Stellung zu bringen, schießt er sie mit einer einzigen Breitseite in Stücke.«
Schon fuhr die Ira de Dios durch die Einfahrt der Bucht und machte sich bereit, allmählich nach Steuerbord zu drehen. Langsam passierte ihr Bug den Punkt, an dem die Mannschaft der Jacare vorher das Floß für ihre Schießübungen hatten ankern lassen.
Ein Meter, zwei Meter, drei Meter.
Sebastian Heredia richtete eine schwere Pistole in die Höhe und feuerte einen Schuß in die Luft ab.
Sofort antworteten ihm drei Kanonenschüsse von der Jacare. Das war das Signal für die 22 Kanonen, die sich unter der Sandbank an der Leeseite der Ira de Dios verbargen. Alle feuerten zur gleichen Zeit auf einen Zielpunkt von nur zwei Metern Durchmesser an der Backbordseite des Bugs, unmittelbar über der Wasserlinie.
Das riesige Schiff erzitterte vom Bug- bis zum Achtersteven und kam sofort zum Stehen.
Mombars’ Schiff war absichtlich mit den härtesten Edelhölzern Westindiens gebaut worden und hätte jeden feindlichen Treffer weggesteckt, aber niemand hatte an die Möglichkeit gedacht, daß man auf so kleinem Raum 22 sechsunddreißigpfündige Kanonenkugeln abbekommen konnte, die aus nur gut hundert Metern Entfernung abgefeuert worden waren.
Die Planken zersplitterten, die dicken Spanten brachen, das zweite Deck brach und riß die schweren Kanonen mit sich. Durch das riesige Leck strömte sofort das Wasser ein, wodurch die Ira de Dios in die für ein Segelschiff gefährlichste Schlagseite geriet: an der Leeseite des Bugs.
Dutzende Männer fielen von den Masten und Wanten auf das Deck, und wer nicht stürzte, konnte sich nur an irgend etwas klammern, um nicht das gleiche Schicksal zu erleiden.
Das Schiff bebte, die Mannschaft an der Steuerbordseite rutschte nach Backbord, wo sie über die Reling fiel, und als ein Dutzend Kanonen losgingen, feuerten die der einen Seite in die Luft, die der anderen ins Wasser.
Der noch immer ungläubige Todesengel rappelte sich auf und klammerte sich an das nutzlos gewordene Steuerrad, um zuzusehen, wie etwa dreißig Männer aus großen, tiefen Schanzgräben im Sand auftauchten und das grobe Segeltuch entfernten, unter dem sie ihre Kanonen versteckt hatten. Sie luden sie jetzt mit so atemberaubender Geschwindigkeit, daß Mombars kaum Zeit blieb, seine Männer vor einer neuen Breitseite zu warnen, als diese auch schon mit einer Rauchwolke einschlug.
Die zweite Breitseite war noch verheerender als die erste, denn sie traf ein bereits tödlich verwundetes Schiff und schlug eine neue Bresche, die den Hauptmast unmittelbar unter Deck zersplitterte, so daß dieser bei seinem Sturz das Freibord und alle, die sich darauf befanden, fünf Meter hoch in die Luft schleuderte.
Es war ein Massaker.
An Bord der Ira de Dios zeigten alle Götter die Größe ihres Zorns. Während die meisten Besatzungsmitglieder sich an irgend etwas klammerten, entschloß sich der Rest, ins Wasser zu springen und zur Küste zu schwimmen.
Jetzt spuckten die Kanonen kleine Säcke mit Pistolenkugeln aus, die einen tödlichen Regen über die an Deck gebliebenen Männer ausschütteten, und unter Jammern, Todesschreien und Flüchen streckte die gefürchtetste Besatzung der Karibik ihre Waffen, hob die Hände und flehte um Gnade.
Ächzend und knirschend wie eine sterbende Bestie streckte die Ira de Dios ihre Steuerbordseite in die Höhe und begann langsam zu sinken.
Sebastián Heredia, der seinen Blick nicht von dem Riesen mit der langen weißen Mähne gelassen hatte, sah, daß dieser sich bis zur Tür seiner Kajüte vorkämpfte und sich darin einsperrte, entschlossen, lieber mit seinem Schiff unterzugehen als in feindliche Hände zu fallen.
Niemals sah man ihn lebend wieder.
Die Wilden, die am Strand angelangt waren, wurden von den Männern der Jacare sofort in Ketten gelegt, und wer auch nur den geringsten Widerstand zeigte, bekam eine Kugel in den Kopf.
Eine Stunde nach dem Kampfgetümmel waren nur noch knapp dreißig Gefangene übrig, davon einige, die mit dem Tod rangen, und das Wrack eines Schiffs, das sanft auf dem sandigen Grund der Bucht ruhte, wobei die Masten und ein kleiner Teil des Achterdecks noch über Wasser ragten.
Sie blieben noch drei weitere Wochen auf der kleinen Insel und widmeten sich ganz der Aufgabe, die Ira de Dios zu zerlegen und von ihren unendlichen Schätzen zu »befreien«. Freudestrahlend sah die Mannschaft der Jacare dabei zu, wie sich diese Schätze allmählich auf dem Strand aufhäuften.
Vier der Wilden ertranken im Inneren des Wracks, das einmal ihr Schiff gewesen war, nachdem man sie gezwungen hatte, nach den Silberbarren, die als Ballast dienten, zu tauchen. Wie Zafiro Burman so schön sagte: »Sie haben sie dorthin gelegt, also sollen sie gefälligst ihr Leben riskieren, um sie zu holen.«
Da man den Gefangenen nur die Wahl gelassen hatte, entweder aufgeknüpft zu werden oder zu tauchen, hatten sie keinen Augenblick gezögert, sich für die zweite Möglichkeit zu entscheiden, um so mehr, da Sebastián ihnen feierlich versprochen hatte, daß er die Überlebenden auf der Insel mit Wasser, Lebensmitteln und Werkzeug zurücklassen würde, mit dem sie die Beiboote der Ira de Dios reparieren konnten, die während der Schlacht nicht in Stücke geschossen worden waren.
Wären die Männer von Kapitän Jack die Verlierer gewesen, hätte sie ein wesentlich schlimmeres Schicksal erwartet. Als die Taucher am fünften Tag die bereits verwesende Leiche ihres langjährigen und fast als »lebendige Gottheit« verehrten Kapitäns entdeckten, ergaben sie sich ihrem Los. Das nackte Leben zu retten lohnte allein die ganzen Mühen.
Auf diese Weise stapelten sich schließlich in den Laderäumen der Jacare 314 Silberbarren, 22 schwere Boiler, neun schöne Türgriffe und erlesenes Tafelgeschirr aus purem Gold, dazu eine riesige Kiste voller Perlen und Smaragde, die allein als Beute ausgereicht hätte.
Natürlich jubelten die Männer vor Begeisterung.
Jede Nacht legten sie die Gefangenen in Ketten, und mit Ausnahme der Wachen becherte, sang und würfelte die gesamte Mannschaft. Unablässig redete man davon, was man tun würde, sobald man wieder in Port-Royal an Land ging.
»An eines müßt ihr stets denken«, ermahnte sie Sebastián. »Wer den Schnabel nicht halten kann und herumerzählt, daß wir die Ira de Dios versenkt und geplündert haben, den lasse ich kielholen. Mombars war ein verdammter Hurensohn, den sie alle gehaßt haben, aber viele werden es nicht hinnehmen, daß man ungestraft einen Piraten beraubt, denn das nächste Mal könnten sie selbst dran sein.«
Die Gesetze der Bruderschaft der Küste von Tortuga – die in gewisser Weise auf Jamaika noch in Kraft waren – sahen ein Verbot, sich gegenseitig zu plündern, zwar nicht ausdrücklich vor, das hieß aber nicht, daß ein Mitglied des »Gremiums« ein anderes einfach massakrieren und berauben konnte.
Man schwor sich also eisernes Schweigen, und nachdem man drei Tage das Ende eines tobenden Sturms abgewartet hatte, der die kleine Insel mit wahren Sturzbächen überschüttete, ließ der Margariteno die Anker lichten und wieder Südkurs steuern.
Als sie eine Woche später wieder in der stets gastfreundlichen Bucht von Port-Royal vor Anker gingen, hatten Laurent de Graaf und weitere vier Schiffe den Hafen verlassen. Andere hatten ihre Stelle eingenommen, darunter eine wegen ihrer Feuerkraft besonders auffallende stolze portugiesische Brigg, die bis dahin noch niemand in der Karibik gesehen hatte.
Sie trug den merkwürdigen Namen Botafumeiro.
Als es dunkel wurde, ging Sebastian Heredia mit seinem gesamten Anteil an der gerecht verteilten Beute an Land und schlug den Weg zur kleinen Villa in Caballos Blancos ein, die er eine gute Stunde später erreichte.
Sein Vater und seine Schwester wollten ihren Augen kaum trauen, als sie die Schätze sahen, die Sebastian vor ihnen ausbreitete.
»Gütiger Gott! Was willst du denn damit alles anstellen?« wollte schließlich eine geradezu betäubte Celeste wissen.
»Zunächst einmal die Negrita komplett wieder aufbauen und dann die Rumbrennerei von Caballos Blancos kaufen. Dann sehen wir weiter.«
»Und was passiert mit dem Schiff?«
Sebastian zuckte mit den Schultern.
»Das habe ich noch nicht entschieden, denn die meisten meiner Leute wollen sich zur Ruhe setzen.«
»Mir kommt das seltsam vor, daß eine ganze Verbrecherbande plötzlich ehrbar werden will«, murmelte ein ungläubiger Miguel Heredia. »Ich verwette meinen Schnurrbart darauf, daß sie binnen eines Jahres ihren Anteil verschleudert haben.«
»Die wollen nicht ehrbare Leute werden«, stellte sein Sohn mit gewissem Humor klar. »Die haben einfach nur eingesehen, daß sie so eine Beute nie wieder kriegen werden, und sie sind es leid, auf der Suche nach einer armseligen Prise weiter über die Meere zu irren. Du weißt es besser als jeder andere, was für ein schweres Leben das ist.«
»Ihnen gefällt es.«
»Rum, Glücksspiel und Frauen sind ihnen noch lieber. Die Seeräuberei ist kein Priesteramt. Damit verdient man Geld.«
»Und wie lange wird es dauern, bis sie ihren Anteil verschleudert haben?«
»Das ist nicht mein Problem. Und wer kein Geld mehr hat, kann jederzeit auf einem anderen Schiff anheuern. Aber für die Jacare, so wie sie jetzt ist, war das die letzte Fahrt, und ihre Flagge bleibt für immer eingeholt.«
Anschließend mußte er in allen Details berichten, was seit dem Augenblick ihrer Trennung geschehen war, und als sein Vater und seine Schwester schließlich schlafen gingen, machte der Margariteno einen langen Spaziergang am Strand, um sich auszumalen, wie nach so vielen aufregenden Jahren auf See sein Leben an Land aussehen konnte.
Immer wieder kam es ihm seltsam vor, keine schwankenden Schiffsplanken mehr unter den Füßen zu haben und nicht jeden Augenblick vor einem Mast oder einer Schiffswand zu stehen.
Wenn er mitten in der Nacht aufwachte, ohne das Knarren der Jacare zu hören, befiel ihn eine seltsame Unruhe, und wenn ihm der Duft der feuchten Erde und der dichten Vegetation des fruchtbaren Jamaika in die Nase stieg, vermißte er sein Schiff, das nach Teer und feuchtem Holz roch.
Er würde noch lange brauchen, bis er kein echter Seemann mehr war, doch das Meer bot ihm keine Zukunft mehr. Schließlich sah er sich nicht als Kapitän eines Handelsschiffs, und ebenso absurd war die Vorstellung, daß ihm Engländer, Franzosen oder Spanier je ein Kommando über ein Kriegsschiff anvertrauen würden.
Ob er wollte oder nicht, seine Zukunft lag an Land.
Er setzte sich unter eine hohe Kokospalme und schaute zu, wie sich der Mond in den breiten, von Korallenriffen gebildeten Lagunen spiegelte, als ihn plötzlich eine seltsame Unruhe befiel, eine düstere Vorahnung, daß etwas Schreckliches passieren würde, ohne daß er hätte sagen können, woher die undefinierbare Gefahr kam, die all seine Bewegungen mit tausend Augen hinter seinem Rücken aus dem Dickicht der Zuckerrohrfelder zu verfolgen schien.
Er bemühte sich, seine Sorgen zu verscheuchen und sich selbst davon zu überzeugen, daß seine Familie und seine überaus wertvolle Beute in Sicherheit waren. Er hatte also nichts zu fürchten, wenn er sich dazu entschloß, auf der Insel zu bleiben. Diese würde stets eine Zuflucht für alle Menschen sein, die ihr von Plünderung und Gewalt bestimmtes Leben für immer ändern wollten.
Man mußte nicht besonders aufgeweckt sein, um zu begreifen, daß sich die Zeiten änderten und sich die glorreichen Zeiten der Seeräuberei allmählich ihrem Ende zuneigten. Die meisten ehrbaren Menschen der Region waren der Ansicht, daß mit Anbruch des schon so nahen neuen Jahrhunderts die Antillen nicht mehr die Jagdgründe der Seewölfe, sondern Teil einer zivilisierteren Welt sein würden, in der die Probleme nicht ausschließlich mit Plünderungen und Kanonenschüssen gelöst wurden.
Die Spanier schienen inzwischen akzeptiert zu haben, daß andere Mächte sich auf einigen Inseln der Karibik festgesetzt hatten, und früher oder später würden die Regierungen dieser Nationen zur Überzeugung gelangen, daß friedliche Handelsbeziehungen wesentlich einträglicher waren als ein Schiff nach dem anderen zu schicken, um andere Schiffe zu zerstören.
Mit dem Korsarenleben würde es an dem Tag vorbei sein, an dem ihnen ihre jeweiligen Souveräne den Schutz entzogen, und sobald keiner mehr die Korsaren brauchte, waren auch die Seeräuber und Freibeuter der Küste zu raschem Niedergang verurteilt. Der Fortschritt in der Neuen Welt würde sie von der Landkarte fegen.
In dieser unruhigen Nacht voller finsterer Gedanken kam Sebastián Heredia zu dem bitteren Schluß, daß ihm nichts anderes übrigblieb, als sein Leben zu ändern, auch wenn das Leben an Land für ihn ein kleiner Tod war.
Er schlief schlecht, und als er aufwachte, waren seine düsteren Gedanken noch immer nicht verschwunden. Als er jedoch die große Seeterrasse betrat, auf der seine Schwester lächelnd mit dem Frühstück auf ihn wartete, kam ihm im Licht des neuen Tages die Zukunft wieder wunderbar und vielversprechend vor.
»Mir ist etwas eingefallen!« rief Celeste aus, während sie ihm Eier mit Schinken und eine Tasse Kaffee servierte. »Jetzt weiß ich, was wir mit der Jacare machen können!«
»Na, da fällt mir ja ein großer Stein vom Herzen«, gab Sebastián im gleichen Tonfall zurück. »Und was können wir deiner Meinung nach machen?«
»Mit ihr Sklaven befreien«, erwiderte das Mädchen, als wäre das die normalste und einleuchtendste Sache der Welt. »Die Geschichte der Four Roses und wie du die Schwarzen an der Küste Venezuelas ausgesetzt hast, hat mich immer fasziniert.« Sie beugte sich vor und packte ihn ungewohnt fest am Arm. »Warum wiederholen wir das nicht?«
»Wiederholen?« wollte ihr Bruder verwundert wissen. »Es war reiner Zufall, daß ich auf die Four Roses gestoßen bin.«
»Ich weiß. Aber ich weiß auch, daß jedes Jahr Dutzende dieser Sklavenschiffe von den Küsten Senegals nach Brasilien und Westindien fahren. Und wenn ein so schnelles Schiff wie die Jacare diese Gewässer patrouilliert, dann können wir sie uns der Reihe nach vorknöpfen.«
»Und was fällt dabei für uns ab?«
»Nichts.«
»Nicht gerade viel.«
»Oh doch!« entgegnete das Mädchen überzeugt.
»Das mußt du mir erklären.«
»Doch nicht dir. Wenn du das schon getan hast, als du nichts hattest, um deine Mannschaft zu bezahlen, die dich jeden Augenblick über Bord hätte werfen können, dann hast du jetzt, wo du ein steinreicher Mann bist, doch noch weit mehr Grund dazu.«
»Und ist dir nie durch dein hübsches Köpfchen gegangen, daß ein steinreicher Mann seinen Wohlstand in Ruhe genießen will?«
»Jeder andere Mann, ja. Du nicht.«
»Also hör mal! Und warum?«
»Weil ich dich kenne und ich sicher bin, daß dir in ein paar Monaten die Zuckerplantagen und Rumbrennereien bis hierher stehen. Du gehörst aufs Meer…« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause und sah ihm direkt in die Augen. »Und ich ebenfalls.«
»Was willst du damit sagen?« regte sich der frisch pensionierte Kapitän Jack auf. »Soll das heißen, daß du dein Leben auf einem Schiff verbringen willst?«
»Und warum nicht? Mir ist klargeworden, daß mir das wirklich gefällt, und wenn ich schon akzeptiert habe, daß es nicht vernünftig war, an Bord eines Piratenschiffs zu bleiben, dann mußt du deinerseits akzeptieren, daß ich sehr wohl an Bord eines anderen Schiffs leben kann, dessen Besatzung normale Leute sind, die nur für eine edle Sache kämpfen.«
»Und wo finden wir diese normalen Leute?«
»Natürlich nicht in Port-Royal. Aber in jedem anderen Hafen, wenn wir sie gut bezahlen…«
»Eine Schnapsidee!«
»Mir gefällt sie…«
In diesem Augenblick erschien Miguel Heredia in der Tür und fragte spöttisch:
»Und was ist das für eine neue Schnapsidee?«
»Deine Tochter möchte, daß ich mit der Jacare Sklavenschiffe überfalle und die Schwarzen befreie.«
Sein Vater nahm Platz, goß sich eine Tasse Kaffee ein, dachte einige Augenblicke nach und nickte schließlich überzeugt.
»Die erste vernünftige Sache, die ich seit langem gehört habe.«
»Ist das dein Ernst?«
»Mein völliger Ernst. Du hast sehr viel Geld, ein prächtiges Schiff und wenigstens ein halbes Dutzend Männer, Lucas Castano eingeschlossen, die sich nur zu gern in dieses Abenteuer stürzen werden. Wir suchen uns eine neue Besatzung und werden den Rest unseres Lebens damit verbringen, etwas Edelmütiges für die Ärmsten der Armen zu tun. Das gefällt mir! Diese Schnapsidee gefällt mir sehr!«
Den ganzen Morgen über diskutierten sie dieses Thema weiter, und obwohl es seit Wochen Sebastians innigster Wunsch gewesen war, eine ganze Nacht in Gesellschaft der rothaarigen Astrid zu verbringen, beschloß er dennoch am Abend, nicht nach Port-Royal zurückzukehren, sondern im Haus zu bleiben. Vielleicht glaubte er, daß die unbestimmte Gefahr, die er fühlte, konkrete Gestalt annehmen würde und seine Familie Schutz nötig hatte.
Aber er täuschte sich. Nicht seine Familie hatte Schutz nötig. Denn als sich am gleichen Tag die Schatten der Nacht über die stille Bucht von Port-Royal ausbreitete, ließ die Botafumeiro zwei große Schaluppen mit bewaffneten Männern zu Wasser. Unweit der Jacare ließen sich diese ins Wasser gleiten, schwammen leise zum Schiff hinüber, das fast verlassen dalag, und kletterten ohne jegliches Geräusch an Bord.
Den drei gelangweilten Wachposten, dem philippinischen Koch und dem Küchenjungen, die gerade ihre Tagesarbeit beendet hatten, schnitt man einfach die Gurgel durch.
Kurz darauf nahmen Don Hernando Pedrárias Gotarredona und Kapitän Tiradentes das Schiff in Besitz. Maßlos verblüfft betrachteten sie die immensen Schätze in den Lagerräumen.
»Meine Güte!« rief Don Hernando aus. »Ich hätte nie gedacht, daß die Seeräuberei so einträglich ist.«
»Normal ist das aber nicht!« erwiderte der Portugiese sofort. »Die müssen gerade einen phantastischen Fang gemacht haben.«
»Wo?«
»Keine Ahnung.«
Der Ex-Gesandte der Casa de Contratación von Sevilla betrachtete noch einmal die unzähligen Silberbarren, die in endlos langen Reihen aufgestapelt waren, und schüttelte noch immer ungläubig mehrmals den Kopf.
»Wie konnten sie das alles nur an Bord lassen, nur bewacht von drei Idioten, einem Küchenjungen und einem Koch?«
»Weil es bisher noch niemand gewagt hat, mitten in der Bucht von Port-Royal ein Schiff zu entern«, erwiderte einer der Männer, die sie auf Tortuga angeheuert hatten. »Wenn sie uns schnappen, dann graben sie uns am Strand bis zum Hals in den Sand ein, damit uns die Krebse bei lebendigem Leibe fressen. Und ich versichere Euch, das ist die schlimmste Folter, die sich jemals ein Menschenhirn ausgedacht hat.« Er schüttelte immer wieder den Kopf. »Gefällt mir nicht! Gefällt mir überhaupt nicht.«
»Es wird dir schon gefallen, wenn du erst mal einen dieser Silberbarren mit nach Hause nimmst«, entgegnete Joáo de Oliveira abschätzig und spuckte wieder einmal aus. »Und jetzt schneidest du diesen Mistkerlen die Köpfe ab und legst sie in Salz ein.«
»Was habt Ihr da gesagt?« entsetzte sich der andere.
»Ich habe gesagt, daß wir gekommen sind, um uns die Köpfe der Besatzung der Jacare zu holen, und genau das werden wir jetzt tun.« Er spuckte erneut auf den Silberhaufen. »Das übrige ist ein Geschenk. Ein sehr angenehmes Geschenk, aber letzten Endes nur ein Geschenk.«
»Wollt Ihr jedem den Kopf abschneiden, der an Bord kommt?« wollte ein anderer der Männer wissen.
»Einem nach dem anderen.«
Einer nach dem anderen, zu dritt oder zu fünft kehrte die Besatzung der Jacare an Bord zurück, die meisten völlig betrunken. Dort wurden sie vom Tod überrascht und ohne Ansehen der Person in die Lagerräume geworfen. Heimtückisch ermordet sanken Justo Figueroa, Nick Cararrota, Mubarak el Moro und sogar Zafiro Burman zu Boden, der einzige, dem etwas Zeit blieb, schwachen Widerstand zu leisten, bevor man ihm die Kehle durchschnitt. Lucas Castano bemerkte dagegen nicht einmal, was auf dem Schiff vor sich ging, obwohl er als einer der letzten fast schon bei vollem Tageslicht an Bord kletterte.
Nur der schläfrige Mann, der mit einem Boot zwischen Schiff und Strand hin und her ruderte, ohne zu bemerken, was an Bord geschah, blieb verschont, denn Don Hernando Pedrárias brauchte ihn, um ihm den riesigen Leichenberg zu zeigen und ihn mit drohender Stimme zu fragen:
»Wer von denen ist Kapitän Jacare Jack?«
Der schreckensstarre Mann brachte kaum ein Wort heraus, während er ein ums andere Mal mit dem Kopf schüttelte:
»Keiner!« versicherte er. »Keiner von ihnen.«
»Wie ist das möglich?« fragte sein Häscher bestürzt. »Wo ist er denn?«
»An Land«, murmelte der andere kaum hörbar. »Bei seinem Vater und seiner Schwester.«
»Seinem Vater und seiner Schwester?« erstaunte sich Kapitän Tiradentes. »Keiner hat je erwähnt, daß dieser verdammte Schotte Familie hat.«
»Der Schotte ist schon vor langer Zeit nach Schottland zurückgekehrt«, stellte das Männchen klar, das sich um jeden Preis die Gunst seiner Häscher erhalten und sein Leben retten wollte. »Der jetzige Kapitän ist ein anderer.«
»Ein anderer? Wer?«
»Ein Margariteno… Sebastián Heredia.«
Jetzt war Don Hernando Pedrárias so perplex, daß er ungläubig auf einem Stapel Silberbarren Platz nahm.
»Sebastián Heredia! Nicht möglich. Wie heißt seine Schwester?«
»Celeste.«
»Celeste…! Jetzt verstehe ich. Damals war dieser Hurensohn noch ein richtiges Kind.« Er griff sich an die Schläfen, als wollten ihm diese gleich platzen. »Er ist das also gewesen. Der Sohn von Emiliana… Ich kann’s nicht glauben!«
»Vielleicht kann mir jemand erklären, was das bedeutet«, versetzte der Portugiese, dessen Gleichmut durch nichts zu erschüttern war. »Was soll das alles heißen, zum Teufel?«
»Das soll heißen, daß das Leben manchmal üble Streiche spielt. Verdammt üble!« lautete die ausweichende Antwort. »Aber jetzt hat ihn das Glück verlassen.« Don Hernando Pedrárias deutete auf den Leichenberg. »Hier liegt seine gesamte Besatzung und sein ganzes Vermögen. Wenn Gott uns weiterhin beisteht, dann werde ich ihm noch heute das Licht ausblasen.« Er wandte sich dem Männchen zu. »Wo wohnt er?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung!« beeilte sich der Angesprochene mit der Antwort, damit man ihm glaubte. »Er hat es vor allen geheimgehalten. Vorgestern nacht hat er seinen Anteil an der Beute in eine Kutsche geladen und ist verschwunden.«
»Wann kehrt er zurück?«
»Er hat dem Koch befohlen, für diese Nacht ein großes Abschiedsessen vorzubereiten, denn die meisten seiner Männer wollen sich zur Ruhe setzen.«
»Das Essen ist ohne Zweifel abgesagt«, kommentierte Kapitän Tiradentes ironisch und wies auf die Leichen. »Und zur Ruhe haben sie sich endgültig gesetzt. Was machen wir jetzt?«
Don Hernando Pedrárias dachte lange nach.
»Warten, bis er zurückkommt.«
Der Portugiese tauschte einen Blick mit seinen Männern aus, um mit beunruhigendem Ernst zu erwidern:
»Bei allem Respekt, Senor. Wenn es dunkel wird, lasse ich die Beute auf die Botafumeiro schaffen und mache mich aus dem Staub, denn jede Minute, die wir länger hierbleiben, bringt uns den Krebsen näher. Und wenn es übel ist, arm zu sterben, dann ist es geradezu idiotisch, zu sterben, wenn man gerade reich geworden ist.«
»Wir sind gekommen, um Kapitän Jack gefangenzunehmen, und genau das werden wir tun«, gab sein Auftraggeber barsch zurück.
»Gestattet, Senor, daß ich Euch widerspreche«, lautete die fast drohende Antwort. »Wir sind gekommen, um die Jacare zu zerstören, und ich garantiere Euch, sobald wir aufgebrochen sind, fliegt sie in die Luft. Wenn Ihr mit zehn Fässern voller eingesalzener Köpfe nach Cumaná zurückkehrt und versichert, daß einer von ihnen der Kopf von Kapitän Jack ist, dürft Ihr Euch wohl als rehabilitiert betrachten. Alles andere wäre nichts weiter als ein idiotischer persönlicher Rachefeldzug, der zu viele Leute in schwerste Lebensgefahr bringt.«
Dem Ex-Gesandten der Casa de Contratación von Sevilla lag eine ärgerliche Antwort auf der Zunge, dann aber blickte er in das strenge Gesicht seines Gegenübers und in die übrige unfreundliche Runde. Auf seiner Forderung zu beharren, das wurde ihm bald klar, hieße lediglich, den Leichenberg in den Lagerräumen zu vergrößern.
»Einverstanden«, knurrte er. »Schneidet ihnen die Köpfe ab, und bereitet alles vor, damit wir bei Anbruch der Nacht an Bord der Botafumeiro gehen können.« Er machte eine weitausholende Handbewegung. »Und von weitem möchte ich sehen, wie dieser Mistkahn in der Nacht brennt.«
»Kein Problem!« erwiderte der Portugiese sofort. »Da kenne ich mich aus.«
Don Hernando Pedrárias verließ die Lagerräume und begab sich direkt in die Kapitänskajüte, nahm im alten Sessel des Schotten Platz und betrachtete durch das schmale Fenster, wie in der immer brutaler werdenden Mittagshitze allmählich jegliche Aktivität in der Stadt erlahmte.
Er sah auf seine Uhr.
Es war zwanzig vor zwölf, und er lächelte bei dem Gedanken, daß dieser 7. Juli 1692 in die Geschichte als der Tag eingehen würde, an dem Port-Royal aufgehört hatte, die sicherste Zuflucht auf Erden zu sein. Jahrhundertelang würde man sich an den Tag erinnern, an dem ein portugiesisches Schiff unter dem Befehl eines spanischen Edelmanns in die Bucht eingedrungen war, ein Piratenschiff in Brand gesteckt, die gesamte Besatzung geköpft hatte und mit einem der größten Schätze, von denen je einer geträumt hatte, verschwunden war.
Und er, Don Hernando Pedrárias Gotarredona, würde sein verlorenes Prestige wiedererlangen und mit etwas Glück sogar die begehrte Macht.
Das einzige, was ihm zu seinem vollständigen Glück fehlte, war, daß nun noch die Kinder seiner Ex-Geliebten erschienen und damit Seiner Exzellenz Don Cayetano Miranda Portocarrero y Diaz de Mendoza das Vergnügen verschafften, sie auf dem Hauptplatz von Cumaná aufhängen zu lassen: als abschreckendes Beispiel für alle, die es wagten, sich mit der Casa de Contratación von Sevilla anzulegen.
»Alles wird sich finden«, sagte er sich. »Auch wenn ich sie heute nicht kriege, so weiß ich jetzt, wo sie sind.«
Er legte die Füße auf den Tisch und machte es sich in dem alten Sessel bequem, um genüßlich die Stadt auf der engen Landzunge zwischen Meer und Bucht zu betrachten, die in der Tropensonne schmorte.
Er bedauerte es, daß er nicht die Möglichkeit hatte, sich dieses Neue Babylon etwas näher anzusehen, in dem es angeblich mehr Gold und Edelsteine als in ganz England gab und in dem die Sünden einer einzigen Nacht alle Sünden übertrafen, die man im alten Europa in einem ganzen Jahrzehnt begehen konnte.
Gern hätte er die Schenken, Spielhöllen und Bordelle besucht, um seinen Trieben einmal freien Lauf zu lassen, ohne auf eine bigotte Provinzgesellschaft Rücksicht nehmen zu müssen, die es bestimmt nicht mit Wohlwollen gesehen hätte, daß ein Gesandter der Casa de Contratación von Sevilla sich solchen Ausschweifungen hingab.
In der ganzen Karibik sprach man von der Schönheit der Frauen aller Hautfarben und Nationalitäten, die sich unter den Portalen der großen Hauptstraße der Stadt anboten, und Don Hernando Pedrárias Gotarredona, der seit Monaten keine Frau außer der talgigen Emiliana Matamoros angerührt hatte, fragte sich, wann sich ihm wieder einmal eine solche Gelegenheit bieten würde.
»Schade!« murmelte er in sich hinein. »Wirklich schade, daß ich mir eine solche Gelegenheit entgehen lassen muß, aber wenn ich auf die Idee käme, von Bord zu gehen, wäre dieser verdammte Portugiese imstande, die Anker zu lichten und mit all dem Silber zu verschwinden. Ich an seiner Stelle würde es tun.«
Noch einmal betrachtete er die stolze, leuchtende und herausfordernde Stadt. Sie war fast beleidigend schön: Elegante, von langen Reihen hoher Kokospalmen eingerahmte Villen zeichneten sich über einem unvergleichlich türkisfarbenen Meer ab, und er mußte zugeben, daß die Leute, die Port-Royal an einer so privilegierten Stelle errichtet hatten, ganz genau gewußt hatten, was sie taten.
Plötzlich fiel sein Blick auf eine menschliche Gestalt, die am Strand entlang ging.
Sie kam ihm vor wie eine Fata Morgana, die sich nur verschwommen im dichten Dunst der Bucht abzeichnete, die so still dalag wie ein Quecksilberteich.
Der hochgeschossene junge braune Mann, dessen Gang Don Hernando sofort an Celeste erinnerte, blieb plötzlich stehen und starrte auf die Jacare, als würde dort etwas seine Aufmerksamkeit fesseln.
Don Hernando Pedrárias Gotarredona schlug das Herz bis zum Hals. Fast schien es ihm aus der Kehle zu springen.
Da war er!
Das mußte er sein!
Die Welt hielt inne, eine ohrenbetäubende Stille legte sich über ganz Jamaika, das Licht wechselte auf unerklärliche Weise, und plötzlich flogen Tausende von Möwen, die auf dem Wasser schaukelnd geschlafen hatten, krächzend auf.
Der junge Mann am Strand schaute zu ihnen hinauf und begann plötzlich wie ein verrückt gewordener Tänzer zu zittern. Zur gleichen Zeit bebte alles, was hinter seinem Rücken war, krümmte sich, als wären die massiven Gebäude nur biegsame Palmen, die ein Wirbelsturm schüttelte.
Aus dem tiefsten Schlund der Erde drangen Millionen Donnerschläge herauf, ein gewaltiger Riß tat sich auf, verschlang Paläste, Schenken, Wirtshäuser und Bordelle, um sich über ihnen wieder zu schließen, als wäre da jemandem der größte vorstellbare Zaubertrick gelungen. Von der Landzunge, auf der vorher die Stadt gestanden hatte, war nur noch eine Staubwolke zu sehen.
Entgeistert fühlte Don Hernando Pedrárias Gotarredona, wie eine riesige Hand die Jacare emporhob und über die Bucht bis zur gegenüberliegenden Küste schleuderte. Auf seinem Weg stieß der Küstensegler mit dem Bug einer riesigen Galeone zusammen und zerschellte. Ohne daß er wußte, wie ihm geschah, fand Don Hernando sich rudernd in einer brüllenden, aufgewühlten See wieder, während um ihn herum ein Dutzend Schiffe unter dem Schreckensgeheul ihrer fassungslosen Besatzungen kenterte.
Das Jüngste Gericht war vor der Zeit gekommen.
Um 11 Uhr 50 am Morgen des 7. Juli 1692 erschütterten drei mächtige Erdstöße ganz Jamaika, doch am schlimmsten traf es Port-Royal. Die Stadt verwandelte sich in einen riesigen Friedhof, in dem die alten Leichen aus den Gräbern geschleudert wurden, um in der Sonne zu trocknen, während die eben noch Lebendigen in ihren luxuriösen Betten begraben wurden.
Draußen in der Bucht klammerten sich viele Menschen an ein Stück Holz, um sich über Wasser zu halten, doch die meisten gingen mit ihren Schiffen unter oder wurden von riesigen Wellen gegen die Klippen geschleudert. Die riesige Botafumeiro zerschellte in tausend Stücke, als sie gegen einen Felsen prallte, der über eine halbe Meile landeinwärts lag.
Der Ex-Gesandte der Casa de Contratación von Sevilla kämpfte verzweifelt, um sich über Wasser zu halten, doch eine dicke Planke schoß wie ein schwerer Pfeil vom Bogen Poseidons auf ihn zu, zerschmetterte ihm den Schädel und verspritzte sein Hirn in alle Himmelsrichtungen.
Als auf Jamaika endlich wieder Friede einkehrte, war das glanzvolle, sündige Port-Royal nur noch eine bittere Erinnerung.
Die Katastrophe der verfluchten Städte Sodom und Gomorrha hatte sich Tausende von Jahren später wiederholt.
Am Nachmittag gelang es Miguel und Celeste Heredia, sich mühsam einen Weg zwischen Erdspalten, riesigen Felsen und entwurzelten Bäumen zum Ufer der Bucht zu bahnen, auf deren Landzunge vor wenigen Stunden noch Port-Royal gestanden hatte. Angesichts des schrecklichen Schauspiels sank das schockierte Mädchen klagend auf die Knie.
Auf dem wieder ruhigen Wasser der Bucht schwammen Wrackreste und verstümmelte Leichen, und es wimmelte von Haien, die der Geruch des Bluts aus dem offenen Meer hierhergelockt hatte. Sie schienen ihres üppigen Festmahls schon überdrüssig zu sein und kein Interesse mehr daran zu haben, die zahllosen menschlichen Überreste zu vertilgen, die das schreckliche Erdbeben hinterlassen hatte.
An die fröhliche schöne Stadt erinnerten nur noch Splitter, rauchende Scheiterhaufen und verstreute Steinblöcke. Wie die Haie hatten sich Aasgeier aus den entlegensten Winkeln der Insel zum Bankett versammelt.
Die wenigen Überlebenden, von denen einige so übel zugerichtet waren, daß sie sich nur noch einen möglichst schnellen Tod wünschten, waren auch nach Stunden noch wie von Sinnen. Die meisten herbeigeeilten Helfer, darunter auch die Heredias, mühten sich nach Kräften, jeden aus seinem Grab zu holen, der unter dem Schutt noch einen Laut von sich gab.
Weil die meisten Häuser der Hauptstraße von der riesigen Erdspalte verschluckt worden waren und weil die meisten Besatzungsmitglieder der Schiffe in der Bucht in jenem fatalen Augenblick schliefen, blieb niemand am Leben, der aus eigener Erfahrung hätte erzählen können, was genau geschehen war. Eine unglückliche Schwarze, die vom Erdbeben in dem Augenblick überrascht worden war, als sie Wäsche über einige Felsen zum Trocknen auslegte und die man als die wichtigste Augenzeugin der schrecklichen Tragödie ansehen konnte, war von der Größe der Katastrophe so bestürzt, daß sie von diesem Tag an kein einziges Wort mehr herausbrachte.
Nur mittels der eindrucksvollen und makabren Skizzen, die man Jahre später anfertigte, konnten sich die Historiker eine ungefähre Vorstellung davon machen, was in Port-Royal an jenem heißen Mittag im Juli 1692 geschehen war, doch unglücklicherweise ging der größte Teil dieser Zeugnisse während eines heftigen Wirbelsturms Ende des letzten Jahrhunderts verloren.
Dennoch weigerte sich Celeste Heredia Matamoros, die vor dem Grab so vieler Menschen kniete, die Tatsache zu akzeptieren, daß ihr eigener Bruder ebenfalls ein Opfer der entfesselten Naturgewalten geworden war. Zwei Tage und zwei Nächte lang suchten sie und ihr Vater nach ihm, bis sie schließlich nur noch in den Sand des Strands sinken und sich der bitteren und unabänderlichen Realität geschlagen geben konnten.
Im westlichsten Winkel der Bucht konnte man die unverwechselbaren Masten der Jacare ausmachen, die in etwa vier Meter Tiefe lag, obwohl man sich fragen mußte, wie es möglich war, daß sich nicht ein einziges Besatzungsmitglied, so unerwartet und brutal der Schiffbruch auch hatte sein mögen, retten und mühsam an die Küste hatte schwimmen können.
Die meisten Überlebenden waren Besatzungsmitglieder der in der Bucht ankernden Schiffe, daher war es verwunderlich, daß keiner der hervorragenden Schwimmer an Bord der Jacare die Kraft oder das Glück gehabt hatte, sicher das Festland zu erreichen, so tief sie auch geschlafen haben mochten.
Natürlich wußten weder Celeste noch Miguel Heredia in diesem Augenblick, welche Tragödie die Menschen, mit denen sie so lange gesegelt waren, erlitten hatten, daß keiner von ihnen mehr am Leben war und ihre verstümmelten Körper im größten Frachtraum des schnellen Küstenseglers ruhten.
Als sie schließlich wieder genügend Mut gefaßt hatten, um zu akzeptieren, daß sie unwiderruflich allein waren und ihnen nichts weiter übrigblieb, als sich eine neue Zukunft aufzubauen, die nicht um die Person Sebastians kreiste, betrachtete Miguel Heredia lange seine Tochter und fragte fast tonlos:
»Was sollen wir jetzt machen?«
Das muntere Mädchen, das jeder Schicksalsschlag nur stärker zu machen schien, deutete lediglich mit dem Kopf auf den Ort, an dem die Jacare ruhte.
»Zunächst einmal bergen wir die Silberbarren, die laut Sebastian noch da unten sein müssen.«
»Warum das denn? Er hat uns mehr Geld hinterlassen, als wir in hundert Jahren ausgeben können.«
»Ein gutes Schiff und eine gute Besatzung sind teuer«, lautete die trockene Antwort. »Sehr sehr teuer.«
»Schiff? Wozu zum Teufel brauchen wir ein Schiff?«
»Um das zu tun, was ich schon immer tun wollte.«
»Und das wäre?«
»Gegen die Casa de Contratación und gegen die Sklavenhändler zu kämpfen.«
Ihr Vater blickte sie entgeistert an, und als ob er nicht sicher sei, richtig verstanden zu haben, was sie gesagt hatte, wiederholte er:
»Gegen die Casa de Contratación und die Sklavenhändler kämpfen? Was redest du denn da für einen Unfug? Bist du verrückt geworden?«
»Ganz und gar nicht«, entgegnete das verblüffende Mädchen. »Verrückt würde ich werden, wenn ich wüßte, daß ich den Rest meines Lebens damit verbringen müßte, darauf zu warten, daß mich irgendein Glücksritter zum Altar führt.« Entschieden schüttelte sie den Kopf. »Dafür wurde ich nicht geboren. Ich wurde geboren, um etwas für die Schwächsten zu tun, und wenn mir das Schicksal die Mittel dafür gegeben hat, werde ich das auch versuchen. Das ist das Mindeste, was ich Sebastian schuldig bin. Er hat ein sehr bitteres Leben gehabt, und er ist allzu jung gestorben. Schuld daran sind Leute, die glauben, ungestraft andere mißbrauchen zu können.« Sie blickte ihrem Vater fest in die Augen und fragte schließlich: »Wirst du mir helfen?«
Miguel Heredia dachte einen langen Augenblick nach, bevor er mit den Schultern zuckte.
»Ich halte es immer noch für eine Schnapsidee«, murmelte er. »Aber wenn du es zum Gedenken an Sebastian tun willst, was bleibt mir da anderes übrig?«