5. Kapitel

Während Ross schlief, absorbierte seine Graswelt Kohlenstoff und CO2 aus Erde und Luft und baute Sauerstoff auf. Im Laufe der Jahrhunderte vermehrte sich der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre, ja, er verdoppelte sich sogar. Es war unvermeidlich, daß Zeiten der Dürre eintraten, denen Gewitter folgten. Eines Tages traf ein Blitz die Erde, entzündete das trockene Gras, das bis zu sechs Meter hoch war, und innerhalb von wenigen Minuten tobte eine Feuersbrunst über mehrere Morgen Fläche. Ein Funkenregen stob den gefräßigen Flammen voran und verbreitete den Brand mit Windeseile.

In der sauerstoffreichen Luft entzündete sich auch feuchtes Material, und die Funken erloschen nicht. Eine Flutwelle gieriger Flammen fegte über die Erde. Regenschauer dämmten das Feuer ein, löschten es aber nicht. Auch Gegenwind und kahle Bergkämme geboten dem Feuermeer keinen Einhalt.

Einige Inseln im mittleren Pazifik blieben verschont, doch alle anderen erlagen dem Tod aus der Luft und wurden zu riesigen Scheiterhaufen.

Als Ross erwachte, glaubte er, das Rad der Zeit habe sich zurückgedreht. Eine rotumrandete Sonne blinzelte trübe auf die verkohlte Erde herab, deren Atmosphäre von Staub und Asche erfüllt war. Ehe er sich die Verwüstung ansah, erklärte ihm „Schwester“, was geschehen war, und versicherte, daß die Luftzusammensetzung dank des entwichenen Kohlenstoffs nun wieder normal sei und die Verbrennungsrückstände, die gegenwärtig noch um die Erde kreisten, mit der Zeit verschwinden würden, genau wie nach der ersten Katastrophe.

„Ich habe Sie geweckt, Sir, um Ihnen die Ergebnisse der Grasversuche zu zeigen.“

Ross unterdrückte ein Gähnen.

„Der Mond rückt ständig näher, und dadurch steigern sich Ebbe und Flut um ein Vielfaches. Die Gräser wanderten tiefer und tiefer in den Ozean. Sie paßten sich dem größeren Druck an, der dort herrscht, der Dunkelheit und der Wärme. Es wurde beobachtet, daß die Pflanzen größere Mengen an Mineralien aufnehmen und speichern. Dies läßt sich auf die Notwendigkeit zurückführen, ständig zu wandern, auf der Flucht vor wildbewegten Wassermassen. Und aus eben diesem Grund entstehen neuerdings kurze Wurzelstöcke, die leicht aus dem Meeresboden gezogen werden können.“

Ross fand dies keineswegs so aufregend, daß man ihn deshalb hätte wecken müssen.

„Seit einiger Zeit schließen sich diese Pflanzen zu Gruppen zusammen. Einige hundert dieser Pflanzenkolonien kriechen wie lebendige Teppiche über den Boden, grasen ihn ab nach Mineralien und unbeweglichen Exemplaren ihrer eigenen Art.“

„Laßt ihnen ein paar Millionen Jahre Zeit“, seufzte Ross, „und seht zu, was daraus wird.“ Er wandte sich um, denn er wollte wieder hinuntergehen. Schön, das ist eine bemerkenswerte Mutation, überlegte er. Aber meine Kraft, zu hoffen, ist erschöpft.

„Schwester“ vertrat ihm rasch den Weg. „Bleiben Sie bitte wach, Sir!“

Die Ausdrucksweise und die Art, wie der Roboter sich vor ihn stellte, ließen eher darauf schließen, daß die Maschine einen Befehl, nicht aber eine Bitte aussprach. Ross spürte Ärger in sich aufsteigen. „Warum?“ fragte er knapp.

„Aus psychologischen Gründen, Sir“, antwortete die Maschine. „Sie sollten mindestens einen Monat wach bleiben, damit Sie begreifen und anerkennen können, was inzwischen erreicht wurde. Es gehen wichtige Veränderungen vor, und Sie versagen sich die Gelegenheit, Sir, sich diesen Verhältnissen anzupassen. Sie müssen sich wieder für Tatsachen interessieren. Wir — wir bangen um Ihre Gesundheit, Sir.“

Ross schwieg. Er fand, daß nach Lage der Dinge Gesundheit ein großer Nachteil sei.

„Wie wär’s mit einer schönen Parade, Sir?“ fragte „Schwester“ heiter. „Zwar stehen augenblicklich nicht so viele Roboter zur Verfügung wie damals, aber dafür ist die Sicht auch schlechter. Sie könnten ohnehin nicht so weit sehen. Außerdem könnten wir ein Kampfspiel für Sie arrangieren. Die Zerstörungen müßten selbstverständlich nur zum Schein durchgeführt werden, denn Roboter können einander nicht zerstören, es sei denn, um einen Menschen zu verteidigen. Aber wir haben zahlreiche Bücher über Kriegsstrategie in uns aufgenommen und glauben daher, daß wir Ihnen einen Scheinkrieg vorführen könnten, der Ihnen gefiele.“

Ross schüttelte den Kopf.

„Außerdem gibt es Dinge, bei denen Sie uns helfen könnten“, setzte „Schwester“ wieder an, und dann — zum erstenmal innerhalb von unzähligen Jahrtausenden — begann in dem Roboter etwas zu ticken.

„Wie?“ fragte Ross, denn er konnte sich nicht vorstellen, wozu ihn die Roboter brauchten.


* * *

Draußen prasselte ein Regenschauer hernieder. Kurz darauf dampfte die Erde, und die Luft wirkte klarer. Über der See erschien eine verschwommene Scheibe und kämpfte gegen die Rauchschwaden an. Die Sonne stand als formloses Leuchten im Westen, also mußte dies der Mond sein. Ross spürte ein wenig Hoffnung in sich aufkeimen. Aber es war die Hoffnung auf ein endgültiges, Entkommen.

Er hatte nicht gehört, was „Schwester“ ihm erklärte, und zwang sich nun zur Aufmerksamkeit.

„…füllen uns Ihre Richtlinien nicht aus. Auch Roboter können sich langweilen, wenn sie gezwungen werden, mikroskopische Veränderungen an den Pflanzen zu beobachten, die sich erst nach Jahrtausenden zeigen. Wir haben daher unser gesamtes Wissen erweitert und durch Berechnungen Fehlendes ergänzt. Mit den Naturwissenschaften kamen wir gut voran…“

Wieder tickte es im Inneren der Maschine, wie immer, wenn „Schwester“ vor einer unlösbar scheinenden Aufgabe stand. Was der Roboter jetzt zu sagen hatte, schien ihm an das zu gehen, was bei ihm die Nieren ersetzte.

„…aber in Soziologie und den verwandten Wissensgebieten haben wir Fragen entdeckt, zu deren Klärung wir menschliche Anleitungen benötigen“, schloß er rasch.

„Und zwar?“ fragte Ross.

„Beispielsweise“, sagte,Schwester“, „ist es statthaft, daß menschliche Wesen durch periodisch wiederkehrende Kriege auf eine höhere Zivilisationsstufe gezwungen werden, wenn es wünschenswert, aber nicht lebenswichtig ist, daß sie sich rasch entwickeln?“

Ihr faßt ein heißes Eisen an, dachte Ross überrascht und erschrocken. „Aus meiner Erfahrung würde ich sagen, daß solche Manipulationen nie gerechtfertigt werden können. Diese menschlichen Wesen — die übrigens nur in euren Köpfen leben — sollten sich langsam und auf natürliche Weise entwickeln. Nur wenn sie psychologisch reif sind für ihre Erkenntnisse, werden sie am Leben bleiben, um die Erfolge ihrer Fortschritte zu genießen.“

Er unterbrach sich, denn ein Verdacht stieg in ihm auf. Dann fragte er: „Ich glaube zwar, daß dies alles nur Hypothesen sind. Aber die Roboter wollen doch nicht etwa gegeneinander Krieg führen, um ihre Kenntnisse…“

„Nein, Sir“, sagte „Schwester“.

„Ist das die Wahrheit?“ fragte Ross scharf.

„Ja, Sir“, versicherte „Schwester“.

„Das würdest du auch behaupten, wenn du mir jetzt einen Bären aufgebunden hättest“, murmelte Ross. „Aber eins laß dir gesagt sein!“ Er hob die Stimme und musterte Schwester mit starrem Blick. „Ich will keine Kriege, gleichgültig, wie wichtig die Gründe scheinen, aus denen man sie führen will. — Das ist ein Befehl!“

„Ich verstehe, Sir.“

„Um eure geschäftigen kleinen Denkapparate in Schach zu halten und vor Grillen zu bewahren, will ich euch eine Aufgabe stellen, die viel Mühe und Zeit kostet. Wenn dieses Werk jedoch vollbracht ist, wird es mich mehr freuen als alle Paraden und Kampfspiele der Welt.“


* * *

Ross stellte sich den Palast aller Paläste vor, das letzte Gebäude, das die Erde zieren würde. Ein fünfzehn Meter hoher Turm sollte das Fassungsvermögen einer großen Stadt haben. Das Baumaterial mußte durchsichtig sein und den Blick in alle Himmelsrichtungen freigeben, Hitze und grelles Sonnenlicht jedoch abhalten. Architektonisch einfach, sollte der Bau als Ganzes und in allen Einzelheiten zu den Dingen passen, die er barg, ihre Wirkung jedoch gleichzeitig unterstreichen.

Länger als der Bau des Palastes würde es dauern, ihn einzurichten, denn er wünschte Rekonstruktionen der berühmtesten Plastiken und Kopien der Werke alter Meister, kurz die Kunstschätze der Erde in diesem Gebäude zu sehen. So schnell wie möglich wollte er dort einziehen, denn er hatte es satt, jedesmal in seinem unterirdischen Gefängnis aufzuwachen. Sobald der Palast fertig war, sollte das Krankenhaus geschlossen werden.

„Wir können nur die Werke rekonstruieren, von denen Beschreibungen oder Abbildungen existieren, die in unseren Speichern aufbewahrt werden“, wandte „Schwester“ ein. „Kopien der Gemälde sind leicht anzufertigen, Plastiken dagegen stellen uns vor schwierigere Aufgaben. Aufzeichnungen über Architektur müssen gesichtet und geprüft werden, und da uns Intuition und Schöpferkraft fehlen, wird dieses Projekt viel Zeit in Anspruch nehmen.“

„Zeit habe ich massenhaft“, sagte Ross leichthin. Dann überlegte er, daß eine solche Behauptung zwar einen Menschen irregeführt hätte, nicht aber einen Roboter.

Drei Wochen lang blieb er diesmal wach und beobachtete auf den Bildschirmen des Kontrollturmes, wie das blaßgrüne Seegras über den Meeresboden wanderte. Er legte fest, wie groß der Palast sein und was er enthalten sollte. Vielleicht erschien er „Schwester“ eine Spur größenwahnsinnig, Hauptsache, der Roboter merkte nicht, daß er den Maschinen möglichst schwierige Aufgaben stellte, damit er Zeit gewann und sie ihn schlafen ließen.

In Wirklichkeit nämlich reizten ihn die Kunstschätze wenig. Es war ihm auch gleichgültig, ob sich ein Kristallturm Hunderte von Metern in den Himmel reckte.

Ihm ging es bei diesem Projekt nur um eins: Er wünschte, daß sein für den Tiefschlaf eingefrorener Körper aus der sicheren unterirdischen Gruft geholt und zum Palast gebracht wurde. Denn er rechnete damit, daß es im Palast — Gefahren für ihn gab.

Ehe er das Bewußtsein verlor, dachte er an den riesigen Mond, der sich der Erde ständig näherte. Hoffentlich vermißten ihn „Schwester“ und die anderen nicht allzusehr, wenn er nicht mehr aufwachte.


* * *

Die Sonne wurde alt und heiß. Auf der Erde schmolzen die Polkappen, die Meere kühlten nicht mehr ab, und die ständig ansteigende Temperatur erhitzte die Gase, veränderte ihre molekulare Zusammensetzung, und Teile der Erdatmosphäre entwichen ganz allmählich in den Weltraum. Der Mond aber schraubte sich näher heran und verursachte Flutwellen, die das Seegras in die Tiefsee vertrieben. Endlich hatte der Erdtrabant die kritische Grenze erreicht und löste sich auf. Was der Krieg auf der Erde angerichtet hatte, war ein Nadelstich im Verhältnis zu dem, was nun geschah.

Nicht alle Fragmente des Mondes fielen auf die Erde. Aber die Brocken, die herunterkamen, genügten, um den Meeresspiegel hundert Meter anzuheben. Große Spalten öffneten sieh, aus denen glühende Lava floß, und riesige Dampffontänen stiegen gen Himmel. Die Erdoberfläche wurde bis zur völligen Unkenntlichkeit entstellt.

Die dicksten Brocken des Erdtrabanten blieben auf der Kreisbahn um den Planeten und schliffen sich im Laufe der Jahrtausende zu immer kleineren Weltkörpern ab, bis die Erde mit ihrem Ring dem Saturn Konkurrenz machte.

Ross erwachte und stellte fest, daß sein Turm fünfzig Meter unter dem Meeresspiegel lag. Das Gelände ringsum konnte er nicht erkennen, und die Nacht war fast so hell wie der Tag. Die Ringe erleuchteten den Nachthimmel, und nur die hellsten Sterne waren in diesem Gefunkel noch auszumachen. Die Wellen reflektierten das Licht der unzähligen winzigen Monde, so daß es aussah, als stehe der Kristallturm in einem Ozean flüssigen Silbers. Und in all dem Strahlen und Funkeln lösten sich noch Sternschnuppen und zogen feurige Schweife hinter sich her.

„Wieso blieben wir verschont?“

„Schwester“ erklärte es ihm, aber nach drei Worten kam er nicht mehr mit. Sinngemäß schien es um einen Energieschirm oder einen Reflektionsschirm zu gehen.

„…und leider muß ich Ihnen mitteilen, Sir“, endete „Schwester“, „daß die Gräser der Katastrophe zum Opfer gefallen sind.“

„Schade“, entgegnete Ross.

Es entstand eine lange Pause. Dann erbot sich „Schwester“, ihm den Palast zu zeigen. Ross folgte, mehr, um die Roboter zu befriedigen, die den Bau ausgeführt hatten, als aus Neugierde. Er fühlte sich niedergeschlagen.

Worte wie luxuriös, prächtig, ehrfurchteinflößend oder großartig drückten nur zum Teil aus, welch ein überragendes Werk die Roboter geschaffen hatten. Der Raum war groß, aber gemütlich, gewaltig, aber geschmackvoll. Wie ein Museum mit Hausbar, dachte Ross ironisch.

Aber er war beeindruckt — so stark beeindruckt, daß er „Schwester“ gegenüber nichts von dem Fehler sagte, der zwar nur geringfügig war, aber ihm bei jedem Gemälde störend auffiel.

Die berühmten Gemälde alter Meister waren bis auf den letzten Grashalm genau kopiert. Aber die Menschen auf diesen Gemälden — gleichgültig, wie sie der Meister gemalt hatte — waren sämtlich braungebrannt und auf dieser Sonnenbräune lag ein feiner grüner Schimmer.

Genau diesen Farbton hatten sie für das Gemälde von Alice verwandt. Und jetzt erinnerte er sich daran, daß er „Schwester“ gesagt hatte, es sei großartig. Bestimmt hatten die Roboter deshalb sowohl der „Mona Lisa“ als auch dem „Mann mit dem Goldhelm“ eine grünbraune Hautfarbe verpaßt. Schon nach ein paar Tagen jedoch gewöhnte er sich an diesen Anblick.

Eigenartigerweise erhob „Schwester“ keine Einwände, als er wieder einmal verlangte, in Tiefschlaf versetzt zu werden.


* * *

Die Jahrhunderte vergingen, und Ross erwachte in einer abermals veränderten Welt. Die Meere dampften nachts und brodelten tagsüber. Die Luft war neblig und heiß, es regnete ununterbrochen. Der Anblick vergrößerte die Einsamkeit und den Trübsinn des Mannes, und am zweiten Tag nach seinem Erwachen schaute er nicht mehr hinaus. Statt dessen wanderte er durch weite Hallen und Korridore, über Fußböden, die weich wie Teppiche und blank wie Spiegel waren, so daß man glauben konnte, durch sie hindurch zur Decke zu fallen, die sich in ihnen spiegelte. Seine Schritte verursachten kein Geräusch, und er kam sich vor wie sein eigener Geist. Er sprach sehr wenig, ab und zu mit dem Schneider-Robot, seltener mit „Schwester“. Seine Gedanken und Stimmungen drückten sich in seiner Kleidung aus.

Er ließ sich eine schwarze Uniform schneidern, die sparsam mit Silber verziert wurde. Dazu trug er ein wallendes schwarzes Cape, dessen einziger Schmuck, eine silberne Brosche, es über der Brust zusammenhielt.

Ross suchte „Schwester“. Er rief nach dem Pflegeroboter, schrie so laut, daß es durch die Hallen dröhnte und ein donnerndes Echo zurückwarf. Aber die Maschine ließ sich nicht sehen.

Drei Tage später fand er sie. Sie stand vor einer Tür zu den Energieversorgungs-Räumen und schien völlig leblos. Ross schrie sie an, hämmerte auf ihren Metallkörper ein, aber ohne Erfolg.

Jetzt erst wurde ihm wieder bewußt, daß sie kein menschenähnlicher Diener und Freund, sondern tote Materie war. Plötzlich fühlte er sich einsamer als je zuvor. Angst packte ihn.

Er bereute vieles. Warum hatte er den Robotern sinnlose Aufgaben gestellt, anstatt sie auf erfolgversprechendere Projekte anzusetzen? Hätte er sie nicht zur Venus schicken können? Vielleicht wäre es gelungen, venusische Pflanzen oder Tiere — falls es die gab — auf der Erde anzusiedeln.

Zu spät!

Ein häßliches Wort, wenn man Jahrtausende und unerschöpfliche Maschinenkräfte verschwendet hatte.

Ross beugte sich zu „Schwester“ hinunter und legte dem Roboter die Hand auf die Hülle. Seine Fotolinsen blieben unbeweglich. Er hatte nie Gefühle gezeigt — natürlich nicht, denn er hatte ja nie welche empfunden. Warum regte er sich also auf, nur weil eine Maschine, die äußerlich ein Metallei war, nicht mehr funktionierte? Ross wandte sich ab und suchte einen anderen Roboter, der ihn in Tiefschlaf versetzen sollte.

Der Palast schien seltsam leer. Es gab nicht mehr viele Roboter, wie es schien.


* * *

Als Ross erwachte, glaubte er, nur zu träumen, er erwache; denn „Schwester“ beugte sich über ihn.

„Aber du bist doch entzwei!“ schrie Ross.

„Nein, ich wurde repariert.“

„Das freut mich. Freut mich sehr“, strahlte Ross. „Und diesmal bleibe ich wach, Schwester. Egal, was kommt. Ich will nicht auch noch meine Freunde überleben.“

„Tut mir leid, Sir, Sie wurden nur geweckt, damit Sie zu einem sicheren Ort gebracht werden können. Die Kühlanlagen des Palastes sind zum Teil ausgefallen, und nur in wenigen Räumen kann man sich noch längere Zeit aufhalten. Deshalb ist Tiefschlaf Ihre einzige Zuflucht.“

„Aber ich will nicht…“

„Können Sie gehen, Sir?“

Ross lief ein paar Meter, begann aber schon bald zu hüpfen, denn der Plastikfußboden verbrannte ihm die Füße. Die Luft war so heiß, daß er kaum atmen konnte. Seine Augen tränten, der Schweiß brach ihm aus allen Poren.

„Schwester“ führte ihn in einen runden Tunnel, an dessen Ende eine Tiefschlaf-Liege stand. Die schwere, hermetisch schließende Tür schwang zu.

„Bitte langsam umdrehen, Sir!“ forderte „Schwester“ ihn auf und richtete eine Flasche auf ihn, aus der ein geruchloser Nebel drang. „Dies wird Ihnen später helfen.“

„Es färbt meine Haut grün“, protestierte Ross. „Ich will nicht. Außerdem will ich wach bleiben!“

„Schwester“ half ihm auf die Tiefschlaf-Liege, genau genommen, zwang sie ihn darauf und hielt ihn fest, bis das Betäubungsmittel zu wirken begann.

„Warte, bitte!“ flehte Ross. Er glaubte zu wissen, was geschah, und er verging fast vor Angst.

Selbstsüchtig wollten ihn die Roboter so lange am Leben erhalten, wie es nur möglich war. Da man selbst einen kleinen Raum nicht mehr unterkühlen konnte, wollten sie nur einen winzigen Sarg einfrieren. So würde er weiterleben, Jahrtausende und Jahrmillionen, bis der letzte Roboter entzweiging. Dann mußte die Kühlanlage ausfallen, sein Sarg würde binnen weniger Sekunden glühend heiß werden…

Aber etwas stimmte nicht an dieser Theorie.

„Warum hast du mich geweckt?“ fragte er mit schwerer Zunge. „Warum hast du mich nicht im Tiefschlaf umgebettet? Und dann gabst du mir ein Betäubungsmittel. Aber es gibt keine Medikamente mehr seit…“

„Ich wollte mich verabschieden“, antwortete der Roboter. „Und viel Glück wünsche ich Ihnen!“


* * *

Als der Mensch in Tiefschlaf versetzt worden war, sprach „Schwester“ wieder. Es war eine ganz andere Sprache als die, mit deren Hilfe sich der Roboter dem Menschen Ross mitteilte. Diese Sprache hatten intelligente Maschinen geschaffen, und die Worte wurden nicht durch Schallwellen übertragen, sondern sie reisten mit Gedankenschnelle durch das Weltall, angetrieben von einer Kraft, die die Roboter entdeckt und entwickelt hatten.

Was der Roboter sagte, bedeutete: „Schwester 5 B hier. Mr. Ross in Tiefschlaf. Letzte Beobachtungen bestätigen unsere Voraussagen, daß die Sonne in den Zustand der Labilität eintreten wird. Die Detonation wird Sub-Nova-Charakter annehmen und die Wandlung zum Roten-Zwerg-Stadium einleiten. Das gesamte Sonnensystem wird unbewohnbar sein, sowohl für menschliches Leben als auch für Robot-Existenzen. Ist Fomalhaut IV bereit?“

„Anthropolog 885/AS/931“, antwortete eine Stimme im Innern der Maschine, die sich „Schwester“ nannte. „Alles bereit, 5 B. Es war nicht leicht für mich. Je ähnlicher die Eingeborenen unserem Meister wurden, um so mehr mußte ich den Wunsch unterdrücken,,Sir’ zu ihnen zu sagen. Und sein ausdrücklicher Befehl, eine Beschleunigung der Entwicklung nicht durch Kriege hervorzurufen, hat alles verzögert. Andererseits ist dadurch eine Zivilisation entstanden, die weitaus stabiler ist als die der Erde.“


* * *

Ross hatte den Robotern aufgetragen, Lebewesen zu suchen, Sie hatten gehorcht und die Erde erforscht. Als sie davon überzeugt waren, daß es keine Überlebenden gab, hatten sie sich den Sternen zugewandt, dem Menschen jedoch nichts davon mitgeteilt. Vor langer Zeit hatte Ross mit „Schwester“ über das Lügen gesprochen und darüber, wie wohltuend es sein konnte, wenn man eine unangenehme Wahrheit verschwieg. Die Roboter hatten sich alle Mühe gegeben, ihm sein Leben zu erleichtern.

Zwar begann es in ihrem Innern zu ticken, wenn sie logen, aber das war auch der einzige Anhaltspunkt.

Als sie aus militärischen Unterlagen und eigenen Weiterentwicklungen Raumschiffsantriebe herstellten, schwiegen sie auch darüber, genau wie sie Ross vorenthielten, daß sie sich aus ihren Metallhüllen lösen und als reine Energie den Weltraum durchdringen konnten. Einige Roboter mußten jedoch in ihren Hüllen bleiben, um den „Meister“ nicht zu beunruhigen. Einmal hatte Ross die Hülle von „Schwester“ gefunden, als sie leer war.


* * *

Ross erwachte und kroch mühsam über den Boden. Dies erinnerte ihn an sein erstes Erwachen vor drei Jahren und einer Ewigkeit. Die Luft roch frisch, es war kühl, und „Schwester“ ließ sich nicht sehen. Ross aß, bewegte seine steifen Glieder und aß wieder.

Und dann entdeckte er die Schiebetür, die in einen Raum führte, in dem das Bild eines Astes hing. Das Bild wirkte erstaunlich plastisch, und als Ross näher kam, um es zu betrachten, sah er, daß es gar kein Bild war.

Er verließ das winzige Schiff und stolperte über einen Teppich aus grünem Gras. Rings um ihn herum wuchsen Büsche und Pflanzen, die er auf der Erde nie gesehen hatte. Er sog die Luft durch die Nase ein, um den würzigen Geruch lebendiger Pflanzen so lange wie möglich zu genießen. Sein Pulsschlag dröhnte so laut in seinen Ohren, daß er glaubte, vor lauter Freude an Herzschlag sterben zu müssen.

Langsam nur drangen Geräusche in sein Bewußtsein. Blätter raschelten im Wind, Wagen fuhren vorüber, und Wellen rollten an die Küste.

Ross brauchte nur fünf Minuten bis zum Strand.

Der Sand, die Wellen und der Himmel wirkten nicht fremdartig. Nur hatte er nicht gehofft, je wieder solch einen Anblick zu erleben. Die Menschen jedoch, die dort im Sand lagen, sahen fremdartig aus.

Jetzt erkannte Ross, daß er seit langem auf diesen Anblick vorbereitet worden war.

Die Haut dieser Menschen war braun — und sie hatte einen schwachen grünen Schimmer. Sie ähnelten dem Porträt von Alice und den Kopien alter Meisterwerke in seinem Palast.

Noch begriff Ross nicht alles, was hier vorging. Er schluckte ein paarmal, dann sagte er: „Danke, ‚Schwester’!“

Ein stummer, unsichtbarer Energieball, der schützend über ihm schwebte, wippte zweimal als Antwort.

Vor undenklichen Zeiten schon hatte „Schwester“ berechnet, daß es am besten für den Meister sei, wenn man ihn glauben ließ, es gäbe keine Roboter mehr.

Ross ging langsam auf. die Badenden zu. Er wußte, daß er von ihnen nichts zu fürchten hatte. Vielleicht gab es Sprachschwierigkeiten am Anfang, Mißverständnisse, unter Umständen sogar unerfreuliche Zwischenfälle.

Aber diese Wesen sahen nicht aus, als würden sie jemandem ein Haar krümmen, nur weil er fremd war. Sie sahen nicht kämpferisch aus.

Natürlich waren sie anders als er, aber nicht wesentlich.

Wenn er sich die Frauen eine Zeitlang betrachtete, dann wirkten sie sogar anziehend. Sehr anziehend sogar, dachte Ross.

So anziehend, daß er eine von ihnen würde heiraten können.

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