BAND EINS. Meisterdetektiv Blomquist

ERSTES KAPITEL




»Blut! Daran ist nicht zu zweifeln!« Er starrte durch das Vergrößerungsglas auf den roten Fleck. Dann schob er die Pfeife in den anderen Mundwinkel und seufzte. Natürlich war es Blut.

Was war denn auch sonst schon zu sehen, wenn man sich in den Daumen geschnitten hatte?

Dieser Fleck da sollte der endgültige Beweis dafür sein, daß Sir Henry seine Frau durch den abscheulichsten Mord beiseite gebracht hatte, den jemals ein Detektiv aufklären mußte. Aber leider – es war anders! Das Messer war ausgerutscht, als er seinen Bleistift anspitzen wollte – das war die traurige Wahrheit.

Und das war wahrhaftig nicht Sir Henrys Schuld. Vor allen Dingen deswegen, weil Sir Henry, das Rindvieh, nicht einmal existierte. Traurig war das! Warum hatten so viele Menschen das Glück, in den Slumbezirken Londons oder in den Verbre-chervierteln von Chikago geboren zu werden, wo Mord und Schießerei an der Tagesordnung waren? Während er selbst …

Er hob widerstrebend seinen Blick von dem Blutfleck und schaute aus dem Fenster.

Die Hauptstraße lag träumend und im tiefsten Frieden in der Sommersonne. Die Kastanien blühten. Es war kein lebendes Wesen zu sehen außer der grauen Katze des Bäckers, die auf der Kante des Bürgersteiges saß und sich die Pfoten leckte. Nicht das allergeübteste Detektivauge konnte etwas entdecken, was darauf hindeutete, daß ein Verbrechen begangen worden war.

Es war wirklich ein hoffnungsloses Beginnen, in dieser Stadt Detektiv zu sein! Wenn er groß war, würde er, sobald sich eine Möglichkeit bot, in die Londoner Slumbezirke ziehen. Oder vielleicht besser nach Chikago?

Der Alte wollte, daß er im Geschäft anfangen sollte. Im Geschäft! Er! Ja, das könnte denen so gefallen, allen Mördern und Banditen in London und Chikago! Da konnten sie nach Her-zenslust morden, ohne daß jemand hinter ihnen her war, während er im Geschäft stand und Tüten drehte und grüne Seife oder Hefe abwog. Nein, wahrhaftig, er hatte nicht die Absicht, Rosineneinpacker zu werden! Detektiv oder gar nichts! Der Alte konnte wählen! Sherlock Holmes, Asbjörn Krag, Hercule Poirot, Lord Peter Wimsey, Karl Blomquist! Er schnalzte mit der Zunge. Und er, Kalle Blomquist, hatte die Absicht, der Beste von allen zu werden.

»Blut! Daran ist nicht zu zweifeln«, sagte er zufrieden.



Draußen auf der Treppe hörte man Gepolter, und eine Sekunde später wurde die Tür aufgerissen, und Anders kam erhitzt und keuchend herein. Kalle betrachtete Ihn kritisch und machte seine Beobachtungen.

»Du bist gerannt«, sagte er schließlich in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

»Klar bin ich gerannt«, sagte Anders gereizt. »Hast du gedacht, ich komme auf der Tragbahre?«

Kalle versteckte seine Pfeife. Nicht deswegen, weil es ihm etwas ausmachte, daß Anders ihn beim heimlichen Rauchen überraschte. Es war nur so, daß er keinen Tabak in der Pfeife hatte.

Aber ein Detektiv braucht seine Pfeife, wenn er sich mit Problemen herumschlägt. Wenn der Tabak auch gerade mal alle war.

»Wollen wir ein Stück bummeln?« fragte Anders und warf sich auf Kalles Bett.

Kalle nickte zustimmend. Natürlich wollte er mit. Er mußte ja unter allen Umständen noch einmal vor dem Abend durch die Straßen patrouillieren, falls etwas Verdächtiges aufgetaucht sein sollte. Natürlich gab es Polizisten, aber so viel hatte man ja gelesen, daß man wußte, was man von ihnen zu halten hatte. Sie erkannten keinen Mörder wieder, selbst wenn sie über ihn stolperten.

Kalle legte das Vergrößerungsglas in seine Schreibtischschublade. Dann stürmten sie beide die Treppe hinunter, so daß das Haus in seinen Grundfesten erzitterte.

»Kalle, vergiß nicht, daß du heute abend das Erdbeerbeet gießen sollst!«

Das war die Mutter, die ihren Kopf durch das Küchenfenster steckte. Kalle winkte beruhigend mit der Hand. Klar, er würde die Erdbeeren gießen. Später.

Später, nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß keine dunklen Gestalten, die Böses im Sinn hatten, im Weichbild der Stadt umherschlichen. Nicht daß – leider – viel Aussicht dafür gewesen wäre, aber man muß immer auf dem Posten sein. Das hatte man im »Fall Buxton« erlebt, wie es kommen kann. Da ging man friedlich in der Gegend umher, und – wups – kommt ein Schuß in der Nacht, und ehe man mit den Augen zwinkerte, waren vier Morde geschehen. Damit rechneten die Halunken, daß niemand in so einer kleinen Stadt an einem so schönen Sommertag einen Verdacht schöpfen würde. Aber da kannten sie Kalle Blomquist nicht!

Im Erdgeschoß lag das Geschäft. »Viktor Blomquists Lebensmittelgeschäft« stand auf dem Schild.

»Bitte deinen Alten um Bonbons«, schlug Anders vor.

Kalle hatte selbst schon die gleiche gute Idee gehabt. Er steckte den Kopf durch die Tür. Hinter dem Ladentisch stand

»Viktor Blomquists Lebensmittelgeschäft« in höchsteigener Person – das war der Vater.

»Vater, ich nehm’ ein paar von den gestreiften!«

»Viktor Blomquists Lebensmittelgeschäft« warf einen liebe-vollen Blick auf seinen blondhaarigen Sprößling und grunzte gutmütig. Kalle steckte die Hand in die Bonbonbüchse. Das Grunzen bedeutete, daß man nehmen durfte. Dann zog er sich schnell zu Anders zurück, der auf dem Schaukelbrett unter dem Birnbaum saß und wartete.

Aber Anders hatte im Augenblick kein Interesse für die »Gestreiften«. Er starrte mit einem einfältigen Ausdruck in den Augen auf etwas in Bäckermeisters Garten. Das Etwas war Bäckermeisters Eva-Lotte. Sie saß auf ihrer Schaukel in einem rotkarier-ten Baumwollkleid. Sie schaukelte und aß eine Schnecke. Sie sang auch, denn sie war eine Dame, die viele Künste beherrschte.

»Es war einmal ein Mädchen, und die hieß Josefin, Josefin-fin-fin, Jose-jose-josefin.« Sie hatte eine klare und hübsche Stimme, die man sehr gut bis zu Anders und Kalle hin hörenkonnte. Kalle starrte sehnsüchtig auf Eva-Lotte, während er abwesend Anders einen Bonbon anbot. Anders nahm einen, ebenso abwesend, und starrte ebenso sehnsüchtig Eva-Lotte an.

Kalle seufzte. Er liebte Eva-Lotte wild. Das tat Anders auch.



Kalle hatte es sich in den Kopf gesetzt, Eva-Lotte als seine Braut heimzuführen, sobald es ihm gelungen war, genug Geld zu beschaffen, um einen Hausstand zu gründen. Das hatte Anders auch. Aber Kalle zweifelte nicht daran, daß sie ihn, Kalle, vorziehen würde! Ein Detektiv mit vielleicht so ungefähr vierzehn aufgeklärten Morden – das würde wohl etwas lauter knallen als ein Lokomotivführer! Lokomotivführer! Das war das, was Anders werden wollte.

Eva-Lotte schaukelte und sang und sah aus, als ob sie überhaupt nicht wüßte, daß sie beobachtet wurde.

»Eva-Lotte!« rief Kalle.

»Das einz’ge, was sie hatte, das war ’ne Nähmaschin, Nähmaschin-schin-schin, Nähma-Nähma-Nähmaschin«, fuhr Eva-Lotte unbekümmert fort.

»Eva-Lotte!« schrien Kalle und Anders gleichzeitig.

»Ach, seid ihr es?« sagte Eva-Lotte sehr erstaunt. Sie stieg von der Schaukel und ging gnädig zum Zaun, der ihren Garten von Kalles trennte. Es fehlte ein Brett – es hatte schon immer gefehlt. Eine ausgezeichnete Einrichtung, die es möglich machte, sich unbehindert durch die Öffnung hindurch zu unterhalten und auch in Bäckermeisters Garten hineinzuschlüpfen, ohne sich mit Umwegen bemühen zu müssen.

Es war Anders’ heimlicher Kummer, daß Kalle so nahe bei Eva-Lotte wohnte. Das war auf irgendeine Weise ungerecht. Er selbst wohnte weit weg in einer Straße, wo er und seine Eltern und kleinen Geschwister zusammengedrängt in einem Zimmer mit Küche über Vaters Schuhmacherwerkstatt wohnten.

»Eva-Lotte, willst du ein bißchen mit uns in die Stadt gehen?« fragte Kalle.

Eva-Lotte schluckte mit Genuß den letzten Bissen ihrer Schnecke hinunter.

»Kann ich machen«, sagte sie. Sie fegte eine Krume von ihrem Kleid weg. Und dann gingen sie los.

Es war Samstag. Friedrich mit dem Fuß war bereits betrunken und stand wie gewöhnlich vor der Gerberei mit einem Kreis von Zuhörern um sich herum. Kalle und Anders und Eva-Lotte stellten sich dazu, um Friedrich von den Heldentaten berichten zu hören, die er ausgeführt hatte, als er als Bahnarbeiter in Nordschweden gewesen war.

Während Kalle zuhörte, irrten seine Augen umher. Er hatte nicht einen Augenblick lang seine Pflicht vergessen. Nichts Verdächtiges? Nein, mußte er zugeben, nichts Verdächtiges! Doch wie oft hatte man gelesen, daß vieles, was unschuldig aussah, genau das Gegenteil davon war. Auf alle Fälle muß man auf der Hut sein! Da kam z. B. ein Mann mit einem Sack auf dem Rük-ken die Straße herauf gestiefelt.

»Nimm mal an«, sagte Kalle und puffte Anders in die Seite,

»nimm mal an, daß er den ganzen Sack voll mit gestohlenem Silber hat!«

»Nimm mal an, daß er es nicht hat«, sagte Anders ungeduldig, denn er wollte Friedrich mit dem Fuß zuhören. »Nimm mal an, daß du eines schönen Tages überschnappst mit all deinen Detektivideen.«

Eva-Lotte lachte. Und Kalle schwieg. Er war daran gewöhnt, nicht verstanden zu werden.

Schließlich kam die Polizei, auf die man schon gewartet hatte, um Friedrich mit dem Fuß zu holen. Es war üblich geworden, daß er die Samstagnächte im Polizeigefängnis zubrachte.

»Was is das für ’ne Zeit, jetzt schon zu kommen!« sagte Friedrich vorwurfsvoll, als Schutzmann Björk ihn freundlich unter den Arm nahm. »Haltet ihr keine Ordnung hier in der Stadt mit euren Strolchen?«

Schutzmann Björk lachte und zeigte seine schönen weißen Zähne.

»Na, komm, jetzt wollen wir gehen«, sagte er.

Die Zuhörerschar verlief sich. Kalle und Anders und Eva-Lotte gingen mit zögernden Schritten davon. Sie hätten gern etwas mehr von Friedrichs Geschichten gehört.

»Wie schön die Kastanien sind«, sagte Eva-Lotte und betrachtete die lange Reihe der Kastanienbäume, die die Hauptstraße umsäumten.

»Ja, sie sind fein, wenn sie blühen«, sagte Anders. »Sie sehen aus wie Kerzen.«

Alles war ruhig und still. Man konnte beinahe fühlen, daß es Sonntag werden wollte. Hier und da in den Gärten sah man Leute sitzen und ihr Abendbrot essen. Sie hatten schon ihren Arbeitsstaub abgewaschen und sich sonntäglich gekleidet. Sie plauderten und lachten und sahen aus, als ob sie sich in ihren kleinen Gärtchen, wo die Obstbäume gerade in voller Blüte standen, sehr behaglich fühlten.

Anders und Kalle und Eva-Lotte warfen lange Blicke über jeden Gartenzaun, an dem sie vorbeigingen. Es konnte ja sein, daß irgendeine freundliche Seele sie zu einem Butterbrot oder zu etwas anderem Guten einladen wollte. Aber es sah nicht so aus.

»Wir müssen mal überlegen, was wir machen können«, sagte Eva-Lotte.

Gerade da hörte man irgendwo in der Ferne das grelle Pfeifen einer Lokomotive.

»Jetzt kommt der Sechsuhrzug«, sagte Anders.

»Ich weiß, was wir machen«, sagte Kalle. »Wir kriechen hinter die Fliederhecke in Eva-Lottes Garten und legen ein Paket mit einer Schnur dran auf die Straße raus. Wenn jemand kommt und das Paket sieht und es nehmen will, dann ziehen wir an der Schnur. Dann wollen wir sehen, was sie für Gesichter machen.«

»Ja, das scheint eine ganz passende Beschäftigung für einen Samstagabend zu sein«, sagte Anders.

Eva-Lotte sagte nichts. Aber sie nickte zustimmend.

Ein Paket war schnell zurechtgemacht. Alles, was man brauchte, gab es ja in Viktor Blomquists Lebensmittelgeschäft.

»Es sieht aus, als ob etwas Feines darin wäre«, sagte Eva-Lotte zufrieden.

»Ja, nun wollen wir sehen, wer nach dem Bissen schnappt«, sagte Anders.

Das Paket lag auf dem Pflaster und sah sehr inhaltsreich und verlockend aus. Daß eine Schnur daran festgebunden war und daß die Schnur hinter der Fliederhecke des Bäckermeisters verschwand, war auf den ersten Blick nicht leicht zu entdecken. Ein aufmerksamer Fußgänger hätte natürlich allerlei Kichern und Tuscheln hinter der Hecke hören können. Frau Petronella Apfelzweig, die Inhaberin des größten Fleischerladens der Stadt, die gerade die Straße heraufkam, war indessen nicht so aufmerksam, daß sie etwas Verdächtiges gesehen oder gehört hätte. Aber das Paket sah sie. Sie beugte sich mit großer Mühe nach vorn und streckte die Hand danach aus.

»Zieh!« flüsterte Anders Kalle zu, der die Schnur hielt.

Und Kalle zog. Mit rasender Fahrt verschwand das Paket hinter der Fliederhecke. Und jetzt konnte Frau Apfelzweig nicht umhin, ein unterdrücktes Gekicher zu hören Sie brach in einen Schwall von Worten aus. Die Kinder konnten nicht alles verstehen, was sie sagte, aber sie hörten, daß sie mehrere Male das Wort »Erziehungsanstalt« nannte als einen passenden Aufenthalt für mißratene Kinder.

Hinter der Hecke war es nun ganz still. Nachdem sie noch eine letzte Salve abgefeuert hatte, ging Frau Apfelzweig brummend davon.

»Das war fein«, sagte Eva-Lotte. »Ich bin gespannt, wer jetzt kommt. Hoffentlich jemand, der sich ebenso ärgert.«



Aber es schien so, als ob die Stadt plötzlich ausgestorben wäre. Es kam niemand, und die drei hinter der Hecke waren nahe daran, das ganze Unternehmen aufzugeben.

»Nein, wartet, da kommt wieder jemand«, flüsterte Anders schnell.

Und es kam jemand. Er bog gerade um die Straßenecke und ging mit raschen Schritten direkt auf Bäckermeisters Garten zaun zu, eine lange Gestalt in grauem Anzug, ohne Hut und mit einem großen Reisekoffer in der einen Hand.

»Aufgepaßt!« flüsterte Anders, als der Mann vor dem Paket anhielt.

Und Kalle paßte auf. Aber es half nichts. Man hörte den Mann einen leisen Pfiff ausstoßen, und im nächsten Augenblick hatte er den Fuß auf das Paket gesetzt.

ZWEITES KAPITEL

»Und wie heißt du, meine schöne junge Dame?« fragte der Mann eine Weile später Eva-Lotte, die mit ihren beiden Beglei-tern hinter der Hecke hervorgekrochen war.

»Eva-Lotte Lisander«, sagte Eva-Lotte furchtlos.

»Das habe ich mir doch gedacht«, sagte der Mann. »Wir sind alte Bekannte, will ich dir sagen. Ich habe dich gesehen, als du so klein warst, daß du noch in der Wiege gelegen und den ganzen Tag geschrien hast.«

Eva-Lotte warf den Kopf zurück. Sie konnte nicht glauben, daß sie jemals so klein gewesen war.

»Wie alt bist du jetzt?« fragte der Mann.

»Dreizehn Jahre«, sagte Eva-Lotte.

»Dreizehn Jahre! Und zwei Kavaliere hast du schon! Einen hellen und einen dunklen. Du scheinst die Abwechslung zu lieben«, sagte der Mann mit einem kleinen gewollt neckischen Lachen.

Eva-Lotte warf noch einmal den Kopf zurück. Sie hatte es nicht nötig, hier zu stehen und sich Bosheiten von jemand anzuhören, den sie nicht kannte.

»Wer sind Sie denn?« fragte sie.

»Wer ich bin? Ich bin Onkel Einar, ein Vetter deiner Mutter, meine schöne junge Dame!« Er zog Eva-Lotte an einer ihrer blonden Locken. »Und wie heißen deine Kavaliere?«

Eva-Lotte stellte Anders und Kalle vor, und ein dunkler und ein blonder Schopf Schossen mit einer tadellosen Verbeugung nach vorn.

»Nette Jungen«, sagte Onkel Einar billigend. »Aber heirate sie nicht! Heirate lieber mich«, fuhr er fort und stieß ein wieherndes Gelächter aus. »Ich werde ein Schloß für dich bauen, wo du den ganzen Tag umherlaufen und spielen kannst.«

»Sie sind ja viel zu alt für mich«, sagte Eva-Lotte recht naseweis.

Anders und Kalle fühlten sich etwas beiseite geschoben. Was war das nur für ein langes, klappriges Stück Unglück, das plötzlich hier auftauchte?

Personalbeschreibung – wollen mal sehen, sagte Kalle für sich.

Aus Prinzip merkte er sich das Aussehen aller unbekannten Personen, die ihm in den Weg kamen. Wer weiß, wie viele von ihnen wirklich anständige Menschen waren! Personalbeschreibung: braunes, hochgestrichenes Haar, braune Augen, zusammenge-wachsene Augenbrauen, gerade Nase, leicht vorstehende Zähne, kräftiges Kinn, grauer Anzug, braune Schuhe, kein Hut, brauner Reisekoffer, nennt sich Onkel Einar. Das war wohl alles. Nein –er hatte ja eine kleine rote Narbe auf der rechten Wange. Kalle merkte sich alle Einzelheiten.

»Ist deine Mutter zu Hause, Jungfer Naseweis?« fragte Onkel Einar.

»Ja, da kommt sie.«

Eva-Lotte zeigte auf eine Dame, die gerade durch den Garten kam. Sie hatte die gleichen lustigen blauen Augen und das gleiche blonde Haar wie Eva-Lotte.

»Habe ich das Vergnügen, wiedererkannt zu werden?« Onkel Einar verbeugte sich.

»Was in aller Welt – bist du es, Einar? Es ist, weiß Gott, eine Weile her, seit man dich gesehen hat. Wo kommst du her?«

Frau Lisanders Augen waren ganz groß vor Überraschung.

»Vom Mond«, sagte Onkel Einar. »Um euch in eurem ruhigen Winkel etwas aufzuheitern.«

»Er kommt gar nicht vom Mond«, sagte Eva-Lotte ärgerlich.

»Er ist mit dem Sechsuhrzug gekommen.«

»Der gleiche alte Spaßmacher«, sagte Frau Lisander. »Aber warum hast du nicht geschrieben, daß du kommen willst?«

»Nein, kleine Kusine, schreibe niemals etwas, was du persönlich ausrichten kannst, das ist mein Wahlspruch. Du weißt, ich bin einer von denen, die tun, was ihnen gerade einfällt. Gerade jetzt fand ich, daß es schön wäre, eine Zeitlang Ferien zu machen, und da fiel mir plötzlich ein, daß ich eine ungewöhnlich nette Kusine habe, die in einer ungewöhnlich netten kleinen Stadt wohnt. Willst du mich aufnehmen?«

Frau Lisander überlegte schnell. Es war nicht so leicht, stehenden Fußes Gäste aufzunehmen. Na ja, er konnte das Giebelzimmer haben.

»Mit einer ungewöhnlich netten kleinen Tochter«, sagte Onkel Einar und kniff Eva-Lotte in die Wange.

»Ach, laß doch das sein«, sagte Eva-Lotte, »das tut ja weh!«

»Das war auch beabsichtigt«, sagte Onkel Einar.

»Ja, natürlich bist du willkommen«, sagte Frau Lisander.

»Wie lange hast du Ferien?«

»Nja, das ist noch nicht bestimmt. Offen gesagt, ich habe die Absicht, mit meiner Firma Schluß zu machen. Ich denke beinahe daran, ins Ausland zu gehen. In diesem Land hier hat man keine Zukunft. Hier stehen alle und treten auf dem gleichen Fleck.«

»Das ist nicht wahr«, sagte Eva-Lotte hitzig. »Dieses Land ist das beste von allen.«

Onkel Einar legte den Kopf auf die Seite und schaute Eva-Lotte an.

»Wie du gewachsen bist, kleine Eva-Lotte«, sagte er und ließ gleich darauf wieder sein wieherndes Gelächter hören. Eva-Lotte fing bereits an, es herzlich zu verabscheuen.

»Die Jungen können dir damit helfen«, sagte Frau Lisander mit einem Nicken zum Reisekoffer hin.

»Nee, nee, den trage ich lieber selbst«, sagte Onkel Einar.

In dieser Nacht wurde Kalle durch eine Mücke geweckt, die ihn in die Stirn gestochen hatte. Und da er nun ohnehin wach war, hielt er es für klug, nachzusehen, ob vielleicht einige Schurken und Banditen ihr verbrecherisches Spiel in der Nähe trieben.

Zuerst sah er durch das Fenster auf die Hauptstraße hinaus. Da war alles öde und leer. Dann ging er ans andere Fenster und guckte durch die Gardine in Bäckermeisters Garten. Das Haus lag dunkel und schlafend zwischen blühenden Apfelbäumen.

Nur im Giebelzimmer war Licht. Und gegen die Rollgardine zeichnete sich der dunkle Schatten eines Mannes ab.

»Onkel Einar, ph, wie blöd der ist«, sagte Kalle für sich.

Der dunkle Schatten wanderte hin und her, hin und her ohne Unterbrechung. Er war sicher eine unruhige Natur, der Onkel Einar! »Warum trabt er bloß so herum?« dachte Kalle, und im nächsten Augenblick schoß er wieder in sein eigenes schönes Bett hinein.

Schon um acht Uhr am Montagmorgen hörte er Anders’

Pfeifen vor dem Fenster. Sie hatten ein gemeinsames Signal, Anders und er und Eva-Lotte. Kalle schlüpfte schnell in seine Sachen. Ein neuer, herrlicher Ferientag lag vor ihm, ohne Sorgen, ohne Schule und ohne andere Pflichten, als die Erdbeeren zu gießen und ein Auge auf eventuelle Mörder in der Umgebung zu haben. Nichts davon war besonders anstrengend.

Das Wetter war strahlend. Kalle trank ein Glas Milch und aß ein Butterbrot und stürzte zur Tür, bevor seine Mutter dazu kam, auch nur die Hälfte der Ermahnungen vorzubringen, die sie ihm gleichzeitig mit dem Frühstück zu servieren beabsichtigt hatte.



Jetzt galt es nur, Eva-Lotte herauszubekommen. Aus irgendeinem Anlaß fanden Kalle und Anders es nicht ganz passend, hineinzugehen und direkt nach ihr zu fragen. Strenggenommen war es ja nicht einmal passend, daß sie mit einem Mädchen spielten. Aber da war nichts zu machen. Alles war viel lustiger, wenn Eva-Lotte mit dabei war. Sie war übrigens nicht diejenige, die vor einem Spaß zurückscheute. Sie ging ebenso drauflos und war ebenso flink wie irgendein Junge. Als der Wasserturm um-gebaut wurde, war sie auf das Holzgerüst ebenso hoch raufge-klettert wie Anders und Kalle, und als Schutzmann Björk sie bei ihrem Unternehmen entdeckte und ihnen zurief, daß es wohl am sichersten wäre, augenblicklich herunterzukommen, setzte sie sich ruhig ganz vorn auf ein Brett, wo jeder andere schwind-lig geworden wäre, und sagte lachend:

»Kommen Sie rauf und holen Sie uns!«

Sie hatte wohl nicht gedacht, daß Schutzmann Björk sie beim Wort nehmen würde. Aber Schutzmann Björk war der Beste im Sportklub, und es kostete ihn nicht viele Sekunden, zu Eva-Lotte heraufzukommen.

»Bitte deinen Vater, daß er dir ein Trapez kauft, an dem du herumklettern kannst«, sagte er. »Denn wenn du von dem runterfällst, hast du wenigstens einigermaßen Aussicht, dir nicht den Hals zu brechen.«

Dann nahm er sie kräftig um den Leib und kletterte mit ihr hinunter. Anders und Kalle hatten sich schon mit bemerkenswerter Geschwindigkeit hinunterbegeben. Seitdem mochten sie Schutzmann Björk gern. Und – wie gesagt – sie mochten Eva-Lotte auch gern, ganz abgesehen davon, daß sie beide sich mit ihr verheiraten wollten.

»Denn das war ja wirklich mutig von ihr«, sagte Anders, »so etwas zu einem Polizisten zu sagen. Das hätten nicht viele Mädels getan. Viele Jungens übrigens auch nicht!«

Und an dem dunklen Herbstabend, als sie vor dem Haus des giftigen Kontorchefs, der immer so böse zu seinem Hund war, auf der Harzgeige spielten, da war Eva-Lotte vor seinem Fenster stehengeblieben und hatte mit ihrem Harzstück auf dem Draht gerieben, bis der Kontorchef herausgelaufen kam und sie beinahe auf frischer Tat ertappt hätte. Aber Eva-Lotte war schnell über den Zaun geschossen und in die Bootsgasse verschwunden, wo Anders und Kalle auf sie warteten. Nein, an Eva-Lotte war nichts auszusetzen, darüber waren sich Anders und Kalle einig.

Anders ließ einen neuen Pfiff ertönen in der Hoffnung, daß es Eva-Lotte drinnen hören würde. Das tat sie auch. Sie kam heraus. Aber zwei Schritte hinter ihr kam Onkel Einar.

»Darf der kleine artige Junge hier auch mitspielen?« fragte er.

Anders und Kalle schauten ihn etwas verlegen an.

»Ausreißer und Einfänger zum Beispiel«, wieherte Onkel Einar. »Ich will am liebsten Ausreißer sein.«

»Ph!« machte Eva-Lotte.

»Oder wollen wir zur Schloßruine gehen?« schlug Onkel Einar vor. »Die ist wohl immer noch da?«

Natürlich war die Schloßruine noch da. Das war ja die größte Sehenswürdigkeit der Stadt, die alle Touristen sich ansahen, sogar noch bevor sie die Deckenmalereien in der Kirche gesehen hatten. Wenn auch natürlich nicht so viele Touristen kamen. Die Ruine lag auf einer Höhe und schaute auf die kleine Stadt hinunter. Ein mächtiger Herr hatte einmal in früheren Zeiten dieses Schloß gebaut, und nach und nach war in dessen Nähe eine Stadt entstanden. Die kleine Stadt blühte und gedieh, aber von dem früheren Schloß war nur noch eine schöne Ruine übrig.

Kalle und Anders und Eva-Lotte hatten nichts dagegen, zur Ruine zu gehen. Sie war einer ihrer liebsten Aufenthaltsorte.

Man konnte in den alten Sälen Versteck spielen oder auch die Burg gegen anstürmende Feinde verteidigen.

Onkel Einar ging rasch den steilen Weg hinauf, der sich zur Ruine hinschlängelte. Kalle, Anders und Eva-Lotte trabten hinterher. Sie warfen sich hin und wieder verstohlene Blicke zu und blinzelten vielsagend.

»Ich hätte Lust, ihm eine Klapper zu geben, dann könnte er irgendwo für sich allein sitzen und damit spielen«, flüsterte Anders.

»Und du glaubst, daß er das tun würde«, sagte Kalle. »Nee, du, wenn erwachsene Leute sich vornehmen, mit Kindern zu spielen, dann kann nichts sie daran hindern, merk dir das!«



»Sie sind vergnügungssüchtig, das ist das Ganze«, entschied Eva-Lotte. »Aber da er Mutters Vetter ist, müssen wir wohl versuchen, ein bißchen mit ihm zu spielen, sonst wird er bloß ärgerlich.« Eva-Lotte kicherte vergnügt.

»Aber das wird langweilig werden, wenn er furchtbar lange Ferien hat«, sagte Anders.

»Ach, er reist sicher bald ins Ausland«, meinte Eva-Lotte.

»Du hast ja gehört, was er gesagt hat – in diesem Land hier kann man es nicht aushalten.«

»Ja, ich für meinen Teil werde ihm keine Träne nachwei-nen«, sagte Kalle.

Es blühte in dichten Büschen rings um die ganze Ruine. Die Hummeln summten. Die Luft zitterte in der Wärme. Aber drinnen in der Ruine war es kühl. Onkel Einar blickte sich zufrieden um.

»Schade, daß man nicht runter in das Kellergeschoß gehen kann«, sagte Anders.

»Warum kann man das nicht?« fragte Onkel Einar.

»Nee, sie haben eine dicke Tür davorgesetzt«, sagte Kalle.

»Und die ist verschlossen. Da sind sicher viele Gänge und Kellerlöcher unten, und es ist kalt und feucht, und da wollen sie nicht, daß man runtergeht. Der Bürgermeister hat sicher den Schlüssel.«

»Früher sind die Leute da unten hingefallen und haben sich die Beine gebrochen«, sagte Anders. »Und ein Kind hätte sich beinahe verlaufen, so daß jetzt niemand mehr runter darf. Aber das ist verdammt schade.«

»Wollt ihr gern runtergehen?« fragte Onkel Einar. »Das lie-

ße sich vielleicht machen.«

»Wie soll denn das zugehen?« fragte Eva-Lotte.

»So!« sagte Onkel Einar und zog einen kleinen Gegenstand aus der Tasche. Er beschäftigte sich eine Weile mit dem Schloß, und gleich danach schwang die Tür knirschend in ihren Angeln.

Die Kinder starrten voll Erstaunen abwechselnd Onkel Einar und die Tür an. Das war ja die reine Zauberei.

»Wie hast du das gemacht, Onkel Einar? Darf ich mal sehen?« fragte Kalle eifrig.

Onkel Einar hielt den kleinen Metallgegenstand hin.

»Ist das – ist das ein Dietrich?« fragte Kalle.

»Richtig geraten«, sagte Onkel Einar.

Kalle war überglücklich. Er hatte so oft von Dietrichen gelesen, aber er hatte nie einen gesehen.

»Darf ich den mal haben?« fragte er.

Er bekam ihn, und er fühlte, daß dies ein großer Augenblick in seinem Leben war. Dann kam ihm ein Gedanke. Nach dem, was er gelesen hatte, waren es meist dunkle Gestalten, die Dietriche besaßen. Das erforderte eine Erklärung.

»Warum hast du einen Dietrich, Onkel Einar?« fragte er.

»Weil ich geschlossene Türen nicht liebe«, sagte Onkel Einar kurz.

»Wollen wir nicht runtergehen?« fragte Eva-Lotte. »Ein Dietrich ist ja nicht die Welt«, fügte sie hinzu, als ob sie niemals etwas anderes getan hätte, als Schlösser mit dem Dietrich auf-zumachen.

Anders war bereits die ausgetretene Treppe, die in den Keller führte, hinuntergelaufen. Seine braunen Augen leuchteten vor Abenteuerlust. Das war spannend! Nur Kalle fand, daß ein Dietrich etwas Merkwürdiges war. Nein, aber alte Gefängnishöhlen, das war etwas! Mit einem bißchen Phantasie konnte man beinahe das Rasseln der Ketten hören, mit denen die armen Gefangenen hier unten vor vielen hundert Jahren gefesselt waren.

»Hu, ich hoffe, daß es nicht spukt«, sagte Eva-Lotte und kletterte mit scheuen Seitenblicken die Treppe hinunter.

»Sei nicht allzu sicher«, sagte Onkel Einar. »Denk bloß, wenn ein altes bemoostes Gespenst kommt und dich kneift. So zum Beispiel!«

»Au!« schrie Eva-Lotte. »Kneif mich doch nicht! Jetzt bekomme ich einen blauen Fleck auf dem Arm, das weiß ich.« Sie rieb wütend ihren Arm.

Kalle und Anders schnüffelten überall herum wie zwei Spür-hunde.

»Denk bloß, wenn man hier so oft sein dürfte, wie man will«, sagte Anders begeistert. »Und alles kartographieren könnte!

Und sein Versteck hier haben könnte!« Er sah in die dunklen Gänge hinein, die sich nach allen Seiten hin verzweigten. »Hier könnten sie einen zwei Wochen lang suchen, ohne soviel wie eine Feder zu entdecken. Wenn man etwas ausgefressen hätte und sich verstecken müßte, dann wäre so eine Gefängnishöhle hier ein großartiges Versteck!«

»Meinst du wirklich?« fragte Onkel Einar.

Kalle ging umher und schnüffelte mit der Nase beinahe auf der Erde.

»Was machst du denn da?« fragte Onkel Einar.

Kalle wurde etwas rot.

»Ich wollte bloß mal sehen, ob noch Spuren von den Kerlen übrig sind, die hier im Gefängnis gesessen haben.«

»Ach, seitdem sind ja hier so viele Menschen gewesen, du Dummerjan«, sagte Eva-Lotte.

»Onkel Einar, du weißt vielleicht nicht, daß Kalle Detektiv ist?« Anders schien etwas belustigt und überlegen, als er das sagte.

»Du lieber Himmel, nein, das wußte ich nicht«, sagte Onkel Einar.

»Ja, wirklich, einer der besten, die es im Augenblick gibt.«

Kalle sah Anders wütend an.

»Das bin ich sicher nicht«, sagte er. »Aber ich finde, es macht Spaß, sich damit zu beschäftigen. Mit Schurken, die im Gefängnis landen. Da ist doch nichts dabei!«

»Absolut nicht, mein Junge! Ich hoffe, du fängst bald einen ganzen Haufen, den du zusammenbinden und zur Polizei schikken kannst.« Onkel Einar wieherte. Kalle war wütend. Niemand nahm ihn ernst.

»Bilde dir nichts ein«, sagte Anders. »In unserer Stadt hier ist nie ein anderer Schurkenstreich vorgekommen, als daß Friedrich mit dem Fuß eines Sonntags in der Sakristei die Kollekte geklaut hat. Mehr nicht. Im übrigen hat er sie am nächsten Tag zurückgebracht, als er wieder nüchtern war.«

»Und jetzt sitzt er immer über Samstag und Sonntag im Loch, so daß er es nicht noch mal machen kann«, sagte Eva-Lotte lachend.

»Sonst hättest du dich in den Hinterhalt legen und ihn das nächste Mal auf frischer Tat ertappen können, Kalle«, sagte Anders. »Dann hättest du zum mindesten einen Spitzbuben erwischt!«

»Jetzt wollen wir aber nicht boshaft sein zu dem Herrn Meisterdetektiv«, sagte Onkel Einar. »Ihr sollt mal sehen, eines Tages rafft er sich auf und setzt einen fest, der eine Tafel Schokolade in Vaters Laden geklaut hat.«

Kalle kochte vor Wut. Anders und Eva-Lotte konnten ihn vielleicht necken, aber kein anderer. Am allerwenigsten dieser grinsende Onkel Einar.

»Ja, Kalle«, sagte Onkel Einar, »du wirst sicher gut, wenn du fertig bist. – Nein, laß das doch sein!«

Das letzte war an Anders gerichtet, der einen Bleistift hervor-geholt hatte und seinen Namen auf eine glatte Steinwand schreiben wollte.

»Warum denn?« fragte Eva-Lotte. »Wir wollen unsere Namen und das Datum hinschreiben! Das wäre lustig. Vielleicht kommen wir noch mal hierher, wenn wir ganz, ganz alt geworden sind, fünfundzwanzig Jahre oder so. Wäre das nicht lustig, wenn wir dann unsere Namen hier finden würden?«

»Ja, das würde uns an unsere verflossene Jugend erinnern«, sagte Anders.

»Na ja, macht, was ihr wollt«, sagte Onkel Einar.

Kalle bockte ein bißchen. Er wollte erst nicht mitmachen, aber zuletzt besann er sich, und bald standen alle drei Namen in einer zierlichen Linie da: Eva-Lotte Lisander, Anders Bengtsson, Kalle Blomquist.

»Willst du nicht auch deinen Namen hinschreiben?« fragte Eva-Lotte.

»Du kannst vollkommen sicher sein, daß ich das nicht tue«, sagte Onkel Einar. »Im übrigen ist es hier kalt und feucht, und das ist nicht gut für meine alten Knochen. Jetzt gehen wir wieder raus in die Sonne!«

»Und nun noch etwas«, fuhr er fort, als die Tür wieder hinter ihnen zugefallen war. »Wir sind nicht hier gewesen, versteht ihr? Kein Gerede!«

»Was? Dürfen wir nicht davon reden?« fragte Eva-Lotte mißvergnügt.

»Nein, meine schöne junge Dame! Das ist ein Staatsgeheim-nis«, sagte Onkel Einar. »Und vergiß es nicht! Sonst kneife ich dich vielleicht wieder.«

»Das sollst du bloß wagen!« sagte Eva-Lotte.

Die Sonne blendete sie, als sie aus dem dunklen Ruinenge-wölbe heraustraten, und die Wärme erschien ihnen beinahe überwältigend.

»Ob ich versuche, mich ein bißchen beliebt zu machen?«

fragte Onkel Einar. »Soll ich euch zu Limonade und Kuchen in den Konditoreigarten einladen?«

Eva-Lotte nickte gnädig.

»Manchmal machst du ganz vernünftige Vorschläge!«

Sie bekamen einen Tisch ganz dicht am Geländer unten am Fluß. Man konnte den kleinen Fischen, die hungrig ange-schwommen kamen und sich bis an die Oberfläche stellten, Brotkrumen zuwerfen. Einige Linden gaben einen angenehmen Schatten. Und als Onkel Einar eine große Platte mit Kuchen und drei Flaschen Saft bestellte, fing sogar Kalle an, seine Anwesenheit in der Stadt ganz erträglich zu finden.

Onkel Einar schaukelte auf dem Stuhl, warf den Fischen einige Brotkrumen zu, trommelte mit den Fingern auf dem Tisch und pfiff ein bißchen. Und dann sagte er: »Eßt, soviel ihr reinkriegen könnt, aber beeilt euch! Wir können nicht den ganzen Tag hier sitzen.«

»Wie komisch er ist«, dachte Kalle. »Er will niemals lange bei einer Sache bleiben.«

Und er war immer mehr davon überzeugt, daß Onkel Einar eine unruhige Natur war. Er selbst hätte wer weiß wie lange hier im Konditoreigarten sitzen mögen und den Kuchen genießen und die lustigen Fische und die Sonne und die Musik. Er konnte nicht verstehen, daß ein Mensch es so eilig haben konnte, von hier wegzukommen.

Onkel Einar sah auf seine Uhr.

»Um diese Zeit muß wohl schon die ›Stockholmer Zeitung‹ gekommen sein«, sagte er. »Du, Kalle, du bist jung und gesund, lauf zum Kiosk und hole eine für mich!«

»Klar, daß gerade ich laufen soll«, dachte Kalle.

»Anders ist bedeutend jünger und gesünder«, sagte er.

»Wirklich?«

»Ja, er ist fünf Tage später als ich geboren. Wenn er auch natürlich nicht so dienstbereit ist wie ich«, sagte Kalle und fing die Krone auf, die Onkel Einar ihm zuwarf.

»Aber dann will ich wenigstens ein bißchen reingucken«, sagte er für sich, als er die Zeitung bekommen hatte. »Zum mindesten auf die Überschriften. Und die Bildgeschichten.« Es war ungefähr wie immer. Erst eine ganze Menge von den Atombomben und dann ein Haufen Politik, was keinen Menschen interessieren konnte. Und »Zusammenstoß zwischen Autobus und Zug«, »Roher Überfall auf einen alten Mann«, »Wütende Kuh verursacht Panik«, und »Großer Juwelendiebstahl«. Nichts besonders Spannendes, entschied Kalle.



Aber Onkel Einar griff eifrig nach der Zeitung. Er blätterte sie schnell durch, bis er zu der Seite kam, wo die letzten Neuigkeiten standen. Dort vertiefte er sich in einen Artikel, so daß er nicht hörte, als Eva-Lotte fragte, ob sie noch ein Stück Kuchen nehmen dürfe.

»Was kann das sein, was ihn so furchtbar interessiert?« dachte Kalle. Er hätte sich gern hinter ihn gestellt, aber er war nicht sicher, ob Onkel Einar das gefallen würde. Offenbar war es nur eine Sache, die er las, denn er ließ schnell die Zeitung fallen und ließ sie liegen, als sie bald danach die Konditorei verließen.

Auf der Hauptstraße ging Schutzmann Björk.

»Hallo, Onkel Björk!« rief Eva-Lotte.

»Hallo«, sagte der Schutzmann und legte die Hand an die Mütze. »Bist du noch nirgends runtergefallen und hast dir das Genick gebrochen?«

»Noch nicht ganz«, sagte Eva-Lotte. »Aber morgen will ich auf den Aussichtsturm im Stadtpark klettern, vielleicht wird es da was. Natürlich, wenn Sie nicht kommen und mich runterholen.«

»Ich will es versuchen«, sagte der Schutzmann.

Onkel Einar kniff Eva-Lotte ins Ohr.

»Soso, du bist mit der Polizeimacht liiert«, sagte er.

»Ach, laß das doch sein«, sagte Eva-Lotte. »Ist er übrigens nicht zum Sterben schick?«

»Wer? Ich?«

»Nein«, sagte Eva-Lotte. »Schutzmann Björk natürlich!«

Vor einem Eisenwarengeschäft blieb Onkel Einar stehen.

»Auf Wiedersehen so lange, Kinder«, sagte er. »Ich gehe mal hier rein.«

»Schön«, sagte Eva-Lotte, als er verschwunden war.

»Ja, denn wenn er uns auch mit Kuchen traktiert, was Richtiges wird es doch nicht, wenn er sich die ganze Zeit an uns hängt«, sagte Anders.

Dann vergnügten sich Anders und Eva-Lotte damit, sich auf die Brücke zu stellen und zu sehen, wer am weitesten in den Fluß spucken konnte. Kalle beteiligte sich nicht. Es fiel ihm plötzlich ein, ob er rauskriegen könnte, was Onkel Einar im Eisenwarengeschäft kaufen wollte.

»Die reine Routinearbeit«, sagte er sich. »Aber man kann eine ganze Menge über einen Menschen erfahren, wenn man weiß, was er in Eisenwarengeschäften kauft. Wenn er ein elek-trisches Bügeleisen kauft«, dachte Kalle, »dann ist er eine häusliche Natur, und wenn er einen Schlitten kauft – ja, wenn er einen Schlitten kauft, dann ist er nicht richtig bei Troste! Bei den augenblicklichen Schneeverhältnissen dürfte er wirklich wenig Nutzen davon haben. Aber ich könnte Gift drauf nehmen, daß es kein Schlitten ist, den er da kaufen will.«

Kalle stellte sich an das Schaufenster und sah in den Laden. Da drinnen stand Onkel Einar. Der Verkäufer war gerade dabei, etwas zu zeigen. Kalle legte die Hand über die Augen und versuchte zu sehen, was es war. Es war – es war eine Taschenlampe!

Kalle dachte nach, daß es nur so krachte. Wozu brauchte Onkel Einar eine Taschenlampe? Mitten im Sommer, wo es beinahe die ganze Nacht über hell war! Erst einen Dietrich und dann eine Taschenlampe! Was war es sonst, wenn nicht im höchsten Grade mystisch? Onkel Einar war eine im höchsten Grade mystische Person, entschied Kalle. Und er, Kalle Blomquist, war nicht der, der mystische Personen ohne Überwa-chung herumlaufen ließ. Onkel Einar würde sofort unter Kalle Blomquists besondere Aufsicht gestellt werden.

Plötzlich fiel ihm etwas ein. Die Zeitung! Wenn eine mystische Person so auffallend an etwas interessiert ist, was in der Zeitung steht, so ist auch das mystisch und bedarf näherer Untersuchung. Die reine Routinearbeit!

Er lief zurück in den Konditoreigarten. Die Zeitung lag noch auf dem Tisch. Kalle nahm sie und steckte sie unter sein Hemd.

Er wollte sie aufheben. Selbst wenn er jetzt nicht herauskriegen konnte, was Onkel Einar so eifrig gelesen hatte, dann konnte sie später vielleicht einen Hinweis geben.

Meisterdetektiv Blomquist ging nach Hause und goß die Erdbeeren, sehr zufrieden mit sich selbst.

DRITTES KAPITEL

»Etwas muß geschehen«, sagte Anders. »Wir können nicht den ganzen Sommer rumlaufen und die Beine hinter uns nachzie-hen. Was wollen wir anfangen?« Er fuhr mit den Fingern durch sein dickes schwarzes Haar und sah nachdenklich aus.

»Fünf Öre für den, der eine Idee ausheckt«, sagte Eva-Lotte.

»Zirkus«, sagte Kalle zögernd. »Wie wäre es, wenn wir einen Zirkus aufmachten?«

Eva-Lotte sprang vom Schaukelbrett runter.

»Die fünf Öre sind dein! Wir wollen sofort anfangen!«

»Aber wo soll er stattfinden?« fragte Anders.

»In unserem Garten – wo denn sonst!« entschied Eva-Lotte.

Ja, Bäckermeisters Garten war für alles zu gebrauchen, warum sollte man keinen Zirkus da aufmachen können? Der ge-pflegtere Teil des Gartens mit prunkenden Rabatten und ge-harkten Wegen breitete sich vor dem Wohnhaus aus. Aber hinter dem Hause, wo der Garten bis zum Fluß hinunterging, be-durfte er keiner Instandhaltung. Und hier war er ein idealer Platz für alle Arten von Spielen. Da war ein Rasenplatz mit kurzem Gras, der sich ausgezeichnet für Fußball und Krocket und alle möglichen anderen Sportübungen eignete.

Ganz in der Nähe lag die Bäckerei. Der wunderbare Duft von frisch gebackenem Brot schwebte daher beständig über diesem Teil des Gartens und mischte sich auf eine besonders angenehme Art mit dem Duft des Flieders. Wenn man sich beharrlich in der Nähe der Bäckerei aufhielt, konnte es passieren, daß Eva Lottes Vater seinen weißbemützten Kopf durch das offene Fenster steckte und fragte, ob man eine frische Schnecke oder ein Stück Wiener Brot haben wollte.

Weiter unter am Fluß wuchsen ein paar alte Ulmen, die vorzüglich zum Herumklettern geeignet waren. Man konnte sogar ohne Schwierigkeit bis in die Wipfel hinaufklettern, und von da aus hatte man eine wunderbare Aussicht über die ganze Stadt.

Man konnte den Fluß sehen, der sich wie ein silbernes Band zwischen alten Häusern schlängelte, man konnte die Gärten und die kleine, altertümliche Holzkirche sehen und ganz weit weg das Hochplateau mit der Schloßruine.

Der Fluß bildete eine natürliche Grenze für den Garten. Eine knorrige Weide streckte sich weit über das Wasser. Man konnte oben in der Weide sitzen und angeln. Eva-Lotte und Anders und Kalle taten das oft. Wenn auch Eva-Lotte natürlich immer den besten Sitzplatz hatte.

»Der Zirkus muß vor der Bäckerei sein«, sagte Eva-Lotte.

»Vor dem Giebel!«

Kalle und Anders nickten zustimmend.

»Wir müssen uns eine Persenning borgen«, sagte Anders.

»Wir müssen den Platz einzäunen und Bänke für die Zuschauer aufstellen. Dann ist alles fertig.«

»Wie wäre es, wenn wir auch ein paar Zirkusnummern ein-

üben würden?« fragte Kalle sarkastisch. »Du, Anders, brauchst dich natürlich nur zu zeigen, damit die Leute finden, sie hätten was für ihr Geld bekommen; du brauchst dir also keine besonderen Clownnummern einzuüben. Aber wir müssen wohl auch ein bißchen Akrobatenkunststücke zeigen oder so was Ähnliches.«

»Ich werde reiten«, sagte Eva-Lotte eifrig. »Ich werde mir unser Brotwagenpferd ausleihen. Das wird wunderbar!« Sie warf den noch nicht vorhandenen Zuschauern Kußhände zu.

»Kunstreiterin Eva-Charlotte, könnt ihr mich nicht sehen?«

fragte sie.

Kalle und Anders betrachteten sie mit anbetenden Blicken.

Ja, sie konnten sie sehr gut sehen.

Mit Leib und Seele gingen die Zirkuskünstler ans Werk. Der von Eva-Lotte vorgeschlagene Platz war ohne Zweifel der beste, der sich finden ließ. Der südliche Giebel der Bäckerei bildete einen geeigneten Hintergrund für die Künstlernummern. Der feste, grasbewachsene Platz davor reichte sowohl für eine Arena als auch für die Zuschauer. Das einzige, was man brauchte, war ein Zelttuch, das die Arena von den Zuschauern abschloß und das man zur Seite ziehen konnte, wenn die Vorstellung anfing.

Mehr Sorgen bereitete ihnen das Problem mit dem Umkleide-raum für die Künstler. Aber Eva-Lottes flinkes Gehirn hatte eine Lösung gefunden. Über der Bäckerei war ein Bodenraum.

Durch eine große Luke an dem südlichen Giebel konnte man Waren in diesen Bodenraum hineinbefördern, ohne daß man eine Treppe brauchte.

»Und wenn man etwas reinbefördern kann, dann kann man auch etwas rausbefördern«, sagte Eva-Lotte. »Und das, was rauskommt, das sind wir. Wir machen oben einen Strick fest, und jedesmal, wenn wir dran sind zum Auftreten, kommen wir in den Zirkus runtergerutscht. Wenn die Nummer zu Ende ist, schleichen wir uns vorsichtig raus, ohne daß die Zuschauer es merken, und laufen die Treppe rauf und bleiben auf dem Boden, bis es Zeit ist, wieder runterzurutschen. Das wird kolossal apart, findet ihr nicht?«

»Ja, das wird kolossal apart«, sagte Anders. »Wenn du dann das Pferd dazu kriegen könntest, auch am Strick runterzurutschen, dann wäre es noch kolossal aparter. Aber das scheint etwas schwieriger zu sein. Sicher ist es zahm und gutmütig, aber auch für ein Pferd gibt es Grenzen!«

»Wenn ich reiten soll, muß einer von euch Stallknecht sein und das Pferd durch die Zuschauer hindurch hereinführen und es unter die Luke hinstellen, und dann – bums – komme ich direkt auf seinen Rücken runtergesaust.«

Sie setzten sofort die Vorbereitungen in Gang. Kalle bekam von seinem Vater Persennings geborgt, Anders radelte zu einem Holzplatz etwas außerhalb der Stadt und kaufte einen Sack Sägespäne, die auf die Arena gestreut wurden. Der Strick wurde oben auf dem Boden festgemacht, und die drei Zirkuskünstler übten sich im Rutschen, so daß sie fast alles andere vergaßen.

Mittendrin kam Onkel Einar angeschlendert.

»Denkt bloß, daß er einen ganzen Nachmittag allein fertig werden konnte!« flüsterte Eva-Lotte den Jungen zu.

»Wer von euch läuft für mich mit einem Brief zur Post?« rief Onkel Einar.

Die drei sahen einander an. Niemand hatte eigentlich Lust.

Aber da erwachte Kalles Pflichtgefühl. Onkel Einar war eine mystische Person, und die Korrespondenz mystischer Personen mußte man überwachen.

»Ich gehe!« rief er.

Eva-Lotte und Anders sahen ihn erstaunt an.

»Genau wie ein Pfadfinder, immer bereit«, sagte Onkel Einar.

Kalle nahm den Brief und ging los. Sobald er außer Sehweite war, sah er auf die Adresse.

»Fräulein Lola Hellberg, Stockholm, p. r.«, stand da. »P. r.« bedeutete »poste restante«, das heißt: der Adressat sollte selbst den Brief von der Post holen, das wußte Kalle.

»Dunkel«, dachte er. »Warum kann er nicht an ihre richtige Adresse schreiben?«

Er holte ein Notizbuch aus seiner Hosentasche und schlug es auf. »Verzeichnis über verdächtige Personen« stand oben auf der einen Seite. Das Verzeichnis hatte früher eine ansehnliche Zahl von Personen umfaßt. Aber Kalle hatte sich trauernden Herzens genötigt gesehen, eine nach der anderen zu streichen, nachdem es ihm nicht gelungen war, etwas Verbrecherisches bei ihnen festzustellen. Im Augenblick gab es daher nur eine Person auf der Liste, und das war Onkel Einar. Sein Name war rot un-terstrichen, und darunter stand sehr genau seine Personalbeschreibung. Danach kam eine neue Rubrik: »Besonders verdächtige Umstände«. »Besitzt Dietrich und Taschenlampe«, stand da. Allerdings besaß Kalle selbst eine Taschenlampe, aber das war eine ganz andere Sache.

Mit einiger Mühe fischte er einen Bleistiftstummel aus seiner Tasche, und mit einem Brett als Unterlage schrieb er folgenden Zusatz in sein Notizbuch: »Korrespondiert mit Fräulein Lola Hellberg, Stockholm, p. r.« Dann lief er zum nächsten Briefkasten und war in wenigen Sekunden zurück beim Zirkus »Kalottan«, wie das Zirkusunternehmen nach reiflicher Überlegung getauft worden war.

»Was bedeutet das?« fragte Onkel Einar.

»Ka für Kalle, Lott für Eva-Lotte und An für Anders, das ist doch klar«, sagte Eva-Lotte. »Im übrigen darfst du nicht zusehen, wenn wir proben.«

»Das ist ein hartes Gebot«, sagte Onkel Einar. »Was soll ich den ganzen Tag anfangen?«

»Geh zum Fluß runter und angle«, schlug Eva-Lotte vor.

»Himmel! Willst du, daß ich einen Nervenzusammenbruch bekomme?«

»Eine sehr unruhige Natur«, dachte Kalle.

Eva-Lotte hatte jedoch kein Erbarmen. Sie jagte Onkel Einar mitleidlos fort. Und die Proben im Zirkus »Kalottan« wurden mit höchster Energie aufgenommen.

Anders war der Stärkste und Geschickteste, und daher war es nicht mehr als recht und billig, daß er Zirkusdirektor wurde.

»Aber etwas will ich auch bestimmen«, sagte Eva-Lotte.

»Du bestimmst, wo es hinpaßt«, sagte Anders. »Bin ich Direktor, dann bin ich es.«

Der Zirkusdirektor hatte es sich in den Kopf gesetzt, eine wirklich feine Akrobatentruppe zu zeigen, und er zwang Kalle und Eva-Lotte, viele Stunden zu trainieren.

»So!« sagte er schließlich zufrieden, als Eva-Lotte im blauen Gymnastikanzug lachend und aufrecht mit einem Fuß auf seiner und dem anderen Fuß auf Kalles Schulter stand. Die Jungen standen breitbeinig auf dem grünen Schaukelbrett, so daß Eva-Lotte etwas höher zu stehen kam, als sie es selbst gut fand. Aber es wäre ihr lieber gewesen, zu sterben, als zuzugeben, daß sie ein etwas unbehagliches Gefühl in der Magengegend hatte, wenn sie hinuntersah.

»Es wäre mächtig fein, wenn du dich eine Weile auf die Hände stellen könntest«, preßte Anders hervor, während er versuchte fest zu stehen. »Das würde Erfolg haben!«

»Es wäre mächtig fein, wenn du auf deinem eigenen Kopf sitzen könntest«, sagte Eva-Lotte kurz. »Das würde noch mehr Erfolg haben.«

Da ertönte durch den Garten ein furchtbares Geheul, ein unmenschlicher Laut wie von einem Wesen in höchster Not.

Eva-Lotte stieß einen Schrei aus und tat einen lebensgefährli-chen Sprung auf die Erde.

»Was ist das?« fragte Eva-Lotte.

Alle drei stürzten aus dem Zirkus. Einen Augenblick später kam ein graues Knäuel auf sie losgefahren. Es war das Knäuel, das die schrecklichen Töne ausstieß. Und das Knäuel war Tusse, Eva-Lottes Katze.

»Tusse, o Tusse, was ist denn?« keuchte Eva-Lotte. Sie nahm die Katze, ohne sich darum zu kümmern, daß sie kratzte und biß.

»Oh«, sagte Eva-Lotte, »jemand hat … Oh, das ist schändlich!

Jemand hat ihr das hier angebunden, um sie zu Tode zu erschrecken.«

An dem Schwanz der Katze war eine Schnur festgebunden, und an der Schnur hing eine Blechdose, die bei jedem Sprung furchtbar klapperte. Eva-Lotte strömten die Tränen herunter.

»Wenn ich wüßte, wer das gemacht hat, dem würde ich …«

Sie blickte auf. Zwei Schritte von ihr stand Onkel Einar. Er lachte vergnügt.

»Ach, ach«, sagte er, »das war das Komischste, was ich je in meinem Leben gesehen habe.«

Eva-Lotte stürzte auf ihn zu. »Hast du das getan?«

»Was getan? Du großer Gott, was für Sprünge die Katze machen konnte. Warum hast du die Dose abgemacht?«

Eva-Lotte stieß einen Schrei aus und stürzte sich auf ihn. Sie schlug ihn mit den Fäusten, wo sie nur hinkommen konnte, während die Tränen weiter über ihre Wangen herunterliefen.

»Das ist abscheulich, oh, das ist schändlich! Ich hasse dich!«

Da verstummte das lustige Gewieher. Das Gesicht Onkel Einars machte eine eigentümliche Verwandlung durch. Es bekam einen gehässigen Ausdruck, der Anders und Kalle, die als unbe-wegliche Zuschauer dabeistanden, erschreckte. Er faßte mit einem harten Griff Eva-Lottes Arm und stieß beinahe zischend hervor: »Hör auf, Mädel! Oder ich zerdrücke dir sämtliche Knochen im Leibe!«

Eva-Lotte holte tief und keuchend Atem. Ihre Arme fielen kraftlos unter Onkel Einars hartem Griff herunter. Sie starrte ihn erschrocken an. Er ließ sie los und strich sich etwas verlegen über sein Haar. Dann lachte er und sagte:

»Was fällt uns eigentlich ein? Sind wir in einen Boxkampf geraten, oder was ist sonst los? Ich glaube, du hast die erste Runde gewonnen, Eva-Lotte!«

Eva-Lotte gab keine Antwort. Sie nahm ihre Katze, drehte sich auf der Ferse herum und ging hoch aufgerichtet davon.

VIERTES KAPITEL

Es war Kalle ganz unmöglich zu schlafen, wenn Mücken im Zimmer waren. Jetzt hatte ihn wieder so ein Vieh geweckt.

»Biest«, murmelte er. Er kratzte sich am Kinn, wo die Mücke ihn gestochen hatte. Dann sah er auf die Uhr. Gleich eins. Eine Zeit, da alle anständigen Menschen schlafen sollten.

»Dabei fällt mir ein«, dachte er, »ob der Katzenquäler schläft?« Er tappte zum Fenster hin und schaute hinaus. Es war Licht im Giebelzimmer. »Wenn er etwas mehr schlafen würde, so wäre er vielleicht keine so unruhige Natur«, dachte Kalle.

»Und wenn er nicht eine so unruhige Natur wäre, würde er vielleicht etwas mehr schlafen.«

Es war, als ob Onkel Einar ihn gehört hätte, denn in diesem Augenblick ging das Licht im Giebelzimmer aus. Kalle wollte gerade wieder ins Bett kriechen, als plötzlich etwas eintrat, was ihn die Augen aufsperren ließ. Onkel Einar schaute vorsichtig aus dem offenen Fenster, und als er sich davon überzeugt hatte, daß niemand in der Nähe war, kletterte er auf die Feuerleiter hinaus und stand nach wenigen Augenblicken auf der Erde. Er hielt etwas unter dem einen Arm. Mit raschen Schritten ging er zum Geräteschuppen neben der Bäckerei.

Zuerst standen Kalles Gedanken ganz still, und er war so gelähmt vor Erstaunen, daß er untätig dastand. Aber dann stürzte eine Flut von Gedanken, Vermutungen und Fragen auf ihn ein.

Er zitterte vor Spannung und Glück. Endlich, endlich gab es jemand, der wirklich mystisch war, nicht nur auf den ersten Blick, sondern auch nach eingehenderem Studium. Denn wenn etwas mystisch war, so war es dies: ein erwachsener Mensch, der mitten in der Nacht aus dem Fenster kletterte! Wenn er nicht dunkle Geschäfte vorgehabt hätte, könnte er sich ja der gewöhnlichen Treppe bedient haben! »Schlußsatz Nummer eins«, sagte sich Kalle: »Er will nicht, daß jemand im Hause hören soll, daß er ausgeht. Schlußsatz Nummer zwei: Er hat etwas Unheimliches vor – ach, ach, hier stehe ich wie ein Schaf und tue nichts!«

Kalle sprang in seine Hosen in einer Fahrt, die einem Feuer-wehrmann Ehre gemacht hätte. Er schlich so schnell und so leise wie möglich die Treppe hinunter, während er ein stilles Gebet sprach: »Möchte bloß Mutter mich nicht hören!«

Der Geräteschuppen! Warum war Onkel Einar dahin gegangen? Himmel, wenn er die Absicht hatte, ein Werkzeug zu nehmen, um die Leute damit totzuschlagen! Kalle war sehr geneigt, Onkel Einar als den Mörder zu betrachten, den er so lange gesucht hatte, einen Mr. Hyde, der auf Missetaten ausging, sobald die Dunkelheit sich über die Stadt gesenkt hatte.

Die Tür zum Geräteschuppen war angelehnt. Aber Onkel Einar war verschwunden. Kalle schaute sich unschlüssig nach allen Seiten um. Da! In einiger Entfernung sah er eine dunkle Gestalt, die sich schnell entfernte. Aber dann bog die Gestalt um eine Straßenecke und war außer Sehweite.

Nun kam Fahrt in Kalle. Er galoppierte in der gleichen Richtung los. Hier galt es die größte Eile, wenn man ein schreckliches Verbrechen verhindern wollte! Während er rannte, fiel ihm plötzlich ein: Was konnte er eigentlich machen? Was wollte er zu Onkel Einar sagen, wenn er ihn eingeholt hatte? Oder –wenn nun er, Kalle, es war, der für Onkel Einars Missetat auser-sehen war?

Sollte er zur Polizei gehen? Aber man konnte nicht gut zur Polizei gehen und sagen: »Dieser Mann hier ist mitten in der Nacht aus dem Fenster geklettert! Verhaften Sie ihn!« Es gab kein Gesetz, das jemanden hinderte, die Nächte hindurch zum Fenster hinaus- und hineinzuklettern, wenn er Lust dazu hatte.

Es war nicht einmal verboten, einen Dietrich zu haben. Nein, die Polizei würde ihn bloß auslachen!

Im übrigen – wo war Onkel Einar? Kalle konnte ihn nirgends entdecken. Er war wie vom Erdboden verschluckt. Na, da brauchte er sich keine Sorgen mehr zu machen. Aber es ärgerte ihn furchtbar, daß er die Spur verloren hatte. Selbst wenn er sich mit Onkel Einar nicht in offenen Kampf begeben wollte, so gehörte es natürlich zu seinen Pflichten als Detektiv, ihm nach-zugehen und zu erkunden, was er vorhatte. Ein stiller, unbemerkter Zeuge, der später einmal vortreten und sagen konnte:

»Herr Richter! In der Nacht zum 20. Juni kletterte der Mann, den wir jetzt auf der Anklagebank sehen, durch ein Fenster im obersten Stockwerk des Hauses von Bäckermeister Lisander hier in der Stadt, stieg die Feuerleiter hinunter, ging zu einem im Garten des gleichen Bäckermeisters gelegenen Geräteschuppen, und danach …« Ja, das war es gerade! Was machte er danach? Darüber würde Kalle niemals etwas berichten können.

Onkel Einar blieb verschwunden.

Kalle machte sich mißmutig auf den Heimweg. An einer Straßenecke stand Schutzmann Björk.

»Was machst du denn hier draußen mitten in der Nacht?« fragte er.

»Haben Sie einen Mann hier vorbeigehen sehen, Onkel Björk?« unterbrach Kalle ihn eifrig.

»Einen Mann? Nein, hier war außer dir kein Mensch zu sehen. Geh eiligst nach Hause und ins Bett. Das würde ich auch tun, wenn ich dürfte!«

Kalle ging. Kein Mann war zu sehen gewesen! Nein, man wußte ja, wieviel die Polizisten sahen! Eine ganze Fußballmann-schaft konnte vorbeikommen, ohne daß sie es merkten! Obwohl Kalle ja gern bei Schutzmann Björk eine Ausnahme machen wollte. Er war sicher besser als andere Polizisten. Aber – »geh nach Hause und ins Bett« hatte er gesagt! Ja, das wäre gerade das richtige! Der einzige, der wirklich die Augen offen hatte, wurde öffentlich von der Polizei ermahnt, ins Bett zu gehen!

Kein Wunder, daß es so viele unaufgeklärte Verbrechen gab!

Aber es schien tatsächlich nichts anderes möglich zu sein, als nach Hause und ins Bett zu gehen. Und das tat Kalle dann auch.

Am nächsten Tag wurden die Proben im Zirkus Kalottan fortgesetzt.

»Ist Onkel Einar schon aufgestanden?« fragte Kalle Eva-Lotte.

»Weiß nicht. Und ich frage auch nicht danach. Aber ich hoffe, daß er den ganzen Vormittag schläft, damit Tusse ihre verhed-derten Nerven wieder aufwickeln kann.«

Es dauerte jedoch nicht lange, bis Onkel Einar erschien. Er hatte eine große Tüte Schokoladenkonfekt mit, die er Eva-Lotte zuwarf.

»Die Zirkusprimadonna braucht vielleicht etwas zur Stärkung!«

Eva-Lotte kämpfte einen harten Kampf mit sich. Sie liebte Schokoladenkonfekt, ganz gewiß, aber die Loyalität mit Tusse verlangte ja, die Tüte mit einem gemessenen »nein, danke« zurückzuwerfen. Sie wog die Tüte in der Hand, und dieses Gemessene wollte so schwer herauskommen. Wie wäre es, wenn sie ein Stück kostete und dann die Tüte zurückwarf? Und dann Tusse einen Fisch gab? Nein, das war kein guter Gedanke. Aber nun hatte sie so lange gezögert, daß die Gelegenheit, eine große Geste zu machen, bereits versäumt war. Onkel Einar ging auf den Händen, und einem Menschen in dieser Stellung eine Tüte Konfekt zurückzugeben, gehört nicht gerade zu den leichtesten Dingen.

Eva-Lotte behielt die Tüte – sie wußte wohl, daß sie als Versöhnungsversuch gedacht war. Sie beschloß, Tusse zwei Fische zu geben und in Zukunft Onkel Einar höflich, aber kalt zu be-handeln.

»Bin ich nicht tüchtig?« fragte Onkel Einar, als er wieder auf die Füße gekommen war. »Kann ich nicht auch eine Anstellung beim Zirkus Kalottan bekommen?«

»Nein, Erwachsene dürfen nicht dabeisein«, sagte Anders in seiner Eigenschaft als Zirkusdirektor.

»Nirgends finde ich Verständnis«, seufzte Onkel Einar.

»Was sagst du, Kalle, findest du nicht, daß ich hart behandelt werde?«

Aber Kalle hörte nicht, was er sagte. Er starrte wie fasziniert auf einen Gegenstand, der aus Onkel Einars Tasche gefallen war, als er auf den Händen lief. Der Dietrich! Da lag er im Gras

– Kalle hätte ihn nehmen können … Er nahm sich zusammen.

»Hart behandelt – wieso denn?« fragte er und setzte seinen Fuß auf den Dietrich.

»Ich darf ja nicht mitspielen«, klagte Onkel Einar.

»Ätsch«, sagte Eva-Lotte.

Kalle war froh, daß die Aufmerksamkeit von ihm abgelenkt wurde. Er fühlte den Dietrich unter seinem nackten Fuß. Jetzt müßte er ihn aufheben und zu Onkel Einar sagen: »Du hast das hier verloren!« Aber er konnte es nicht über sich bringen. Statt dessen steckte er den Dietrich unbemerkt in seine Tasche.

»Auf die Plätze!« rief der Zirkusdirektor. Und Kalle tat einen Sprung auf das Schaukelbrett.

Ein hartes Leben ist das der Zirkuskünstler! Training, immer nur Training! Die Junisonne brannte, und der Schweiß rann den »Drei Desperados, die beste Akrobatentruppe Skandinavi-ens« herunter. So bezeichnete Eva-Lotte sie auf den hübsch gemalten Plakaten, die überall an den Hausecken der Umgebung angeklebt waren.

»Wollen die drei Desperados nicht jeder eine Schnecke haben?« Bäckermeister Lisanders freundliches Gesicht kam im Fenster der Bäckerei zum Vorschein.



»Danke«, sagte der Zirkusdirektor. »Vielleicht später. Hungrige Hunde jagen am besten.«

»Das ist das Unglaublichste, was ich je erlebt habe«, sagte Eva-Lotte. Die Konfekttüte war schon lange leer, und sie hatte das Gefühl, als ob ihr Magen es auch wäre nach all der Turnerei.

»Ja, wir können doch mal eine kleine Pause machen«, sagte Kalle und trocknete sich den Schweiß von der Stirn.

»Es hat wohl keinen Zweck, daß ich Zirkusdirektor bin, wenn ihr bestimmen wollt.« Anders war unwirsch. »Das sind schöne Desperados, muß ich sagen! Schneckendesperados müßte eigentlich auf den Plakaten stehen.«

»Essen muß man, sonst stirbt man«, sagte Eva-Lotte und lief in die Küche nach Fruchtsaft.

Und als der Bäckermeister dann eine ganze Tüte voll mit frischen Schnecken durch das Fenster reichte, gab der Zirkusdirektor seinen Widerstand seufzend, aber im stillen ganz zufrieden auf. Er tauchte die Schnecken ein und aß mehr als die anderen. Es war selten, daß es bei ihnen zu Hause Schnecken gab, und es waren so viele, mit denen er teilen mußte. Allerdings sagte der Vater stets und ständig: »Jetzt sollst du mal Schnecken zu sehen bekommen!« Aber damit meinte er dann niemals Weißbrot, damit meinte er Prügel! Und da Anders fand, daß er genügend von dieser Ware bekommen hatte, hielt er sich soviel wie möglich von zu Hause weg. Ihm gefiel die Atmosphäre bei Kalle und Eva-Lotte besser.

»Dein Alter ist verdammt nett«, sagte Anders.

»Gibt’s nicht so bald wieder«, gab Eva-Lotte zu. »Und lustig ist er auch. Er ist so furchtbar ordentlich, daß Mutter sagt, sie wird ganz kaputt davon. Und das Schlimmste für ihn sind Kaffeetassen mit abgeschlagenen Ohren. Er sagt, daß Mutter und ich und Frida nichts anderes machen als die Ohren von den Kaffeetassen abschlagen. Gestern kaufte er zwei Dutzend neue, und als er damit nach Hause kam, nahm er einen Hammer und schlug alle Ohren ab. ›Damit ihr euch die Mühe spart‹, sagte er, als er sie in die Küche brachte. Mutter lachte dermaßen, daß sie Bauchschmerzen bekam.« Eva-Lotte nahm eine neue Schnecke.

»Aber den Onkel Einar kann Vater nicht leiden«, setzte sie hinzu.

»Vielleicht schlägt er ihm auch die Ohren ab«, schlug Anders vor und hieb seine Zähne in eine Schnecke.

»Das weiß man nicht«, sagte Eva-Lotte. »Vater sagt, daß er ganz gewiß verwandtschaftliche Gefühle habe, aber wenn er alle Kusinen und Vettern und Tanten und Onkel von Mutter im Hause herumlaufen hätte, dann möchte er wünschen, er säße in einer Einzelzelle in irgendeinem abseits gelegenen Gefängnis.«

»Ich glaube, da sollte Onkel Einar lieber sitzen«, sagte Kalle schnell.

»Haha, du hast natürlich herausbekommen, daß es Onkel Einar war, der den Mord in Stockholm begangen hat, was?«

»Spotte du nur«, sagte Kalle. »Ich weiß, was ich weiß.«

Anders und Eva-Lotte lachten.

»Ja, was weiß ich denn eigentlich«, dachte Kalle eine Weile später, als die Proben für heute zu Ende waren. »Ich weiß überhaupt nichts – das ist alles, was ich weiß.«

Er war mißgestimmt. Aber da fiel ihm plötzlich der Dietrich ein. Er wurde ganz zapplig vor Spannung und Erwartung. Er hatte einen Dietrich in der Tasche, und auf irgendeine Weise mußte er versuchen, ihn auszuprobieren. Alles, was er brauchte, war eine verschlossene Tür. Warum nicht mit der gleichen Tür versuchen, die Onkel Einar geöffnet hatte? Die Tür zum Kellergeschoß in der Schloßruine!

Kalle überlegte nicht lange. Er rannte durch die Straßen, aus Furcht, einen Bekannten zu treffen, der sich ihm anschließen wollte. Und als er am Hochplateau angekommen war, rannte er die gewundene Treppe mit einer solchen Fahrt hinauf, daß er erst eine Weile ausruhen mußte, als er endlich vor der verschlossenen Tür stand, ehe er wieder normal Atem holen konnte. Seine Hand zitterte etwas, als er den Dietrich in das Schloß steckte. Würde es ihm gelingen?

Zuerst sah es nicht so aus. Aber nachdem er eine Weile versucht hatte, merkte er, daß das Schloß nachgab. So einfach war das also! Er, Kalle Blomquist, hatte eine Tür mit einem Dietrich geöffnet! Die Tür kreischte, als sie sich in ihren Angeln bewegte. Kalle zögerte einen Augenblick. Es schien ihm sehr unheimlich, allein in die dunklen Kellerregionen hinunterzugehen.

Natürlich war er zu keinem anderen Zweck hergekommen, als den Dietrich auszuprobieren, aber da der Zugang nun frei war, wäre er wohl ein Dummkopf, wenn er nicht die Gelegenheit wahrnähme, noch einmal in den Keller zu gehen. Er stieg die Treppe hinunter, und er empfand eine große Genugtuung bei dem Gedanken, daß er der einzige Junge in der ganzen Stadt war, der die Möglichkeit dazu hatte. Er würde wahrhaftig zum zweitenmal seinen Namen an die Wand schreiben! Wenn er und Anders und Eva-Lotte wirklich noch einmal im Leben hier hinunterkommen sollten, dann würde er ihnen zeigen, daß sein Name an zwei Stellen auf der Wand stand. Was bedeutete, daß er zweimal hier gewesen war.

Nun sah er es! Es waren keine Namen an der Wand! Sie waren dick mit Bleistift überstrichen, so daß man nicht lesen konnte, was da gestanden hatte.

»Nein, jetzt schlägt’s dreizehn!« sagte Kalle laut vor sich hin.

Waren es die Gespenster der Vergangenheit, denen die Schrift an der Wand nicht gefiel und die alle Spuren ausgelöscht hatten?

Kalle schauderte. Aber konnte man sich ein Gespenst mit Bleistift vorstellen? Kalle mußte sich sagen, daß das wenig wahrscheinlich war. Aber jemand hatte es jedenfalls getan!

»Daß ich es nicht sofort begriffen habe!« flüsterte Kalle. Onkel Einar! Natürlich! Onkel Einar hatte versucht, sie daran zu hindern, überhaupt ihre Namen hinzuschreiben, und Onkel Einar hatte sie ausgestrichen! Er wollte nicht, daß jemand, der eventuell in den Keller hinunterkam, wissen sollte, daß sie da-gewesen waren, soviel verstand Kalle. Aber wann hatte Onkel Einar das gemacht? Die Namen hatten bestimmt unversehrt an der Wand gestanden, als sie die Ruine verlassen hatten.

»Oh, wie dumm ich bin«, sagte Kalle. Des Nachts natürlich!

Onkel Einar war in der Nacht in der Schloßruine gewesen.

Deswegen hatte er die Taschenlampe gekauft. Aber hatte er sich wirklich so viel Mühe gemacht, nur um ein paar Namen an der Wand auszustreichen? Kalle glaubte das nicht. Was hatte er im Geräteschuppen zu tun gehabt? Einen Bleistift holen, was? Kalle lachte höhnisch. Dann sah er sich um. Vielleicht entdeckte er noch andere Spuren von Onkel Einars Besuch.

Ein spärliches Licht fiel durch die Kellerlöcher, aber das reichte nicht aus, um in alle Winkel und Ecken zu leuchten.

Übrigens war es ja gar nicht sicher, daß Onkel Einar sich nur in dem Teil des Kellers aufgehalten hatte, der der Treppe am nächsten lag und wo die Kinder ihre Namen an die Wand geschrieben hatten. Das Kellergeschoß war groß. Dunkle Gänge verzweigten sich nach allen Seiten. Kalle hatte keine Lust, seine Entdek-kungsfahrt unter den dunklen Gewölben fortzusetzen. Das würde auch keinen Zweck haben, da er keine Taschenlampe bei sich hatte.

Aber eines war sicher: Onkel Einar würde niemals den Dietrich zurückbekommen, dafür entschied Kalle sich sofort. Natürlich widersetzte sich sein Gewissen ein wenig und meinte, daß man etwas, was einem nicht gehörte, nicht behalten dürfte, aber Kalle beschwichtigte bald diese Einwände. Wozu brauchte Onkel Einar einen Dietrich? Wer weiß, welche Türen er damit zu öffnen beabsichtigte? Wenn Kalle mit seiner Auffassung recht hatte, daß Onkel Einar eine dunkle Gestalt war, dann verübte er ja nur eine gute Tat, wenn er den Dietrich behielt. Und außerdem – es war allzu verlockend, ihn zu behalten. Anders und Eva-Lotte und er könnten ihr Hauptquartier im Kellergewölbe haben; sie würden alles untersuchen können, und vielleicht würden sie auch herauskriegen, was Onkel Einar hier gemacht hatte.

»Das letztere entscheidet die Sache«, sagte sich Kalle entschlossen. Er war im Begriff zu gehen. Da sah er am Fuße der Treppe einen kleinen weißen Gegenstand. Er beugte sich schnell hinunter und hob ihn auf. Eine Perle war es, eine weiße, schimmernde Perle!

FÜNFTES KAPITEL

Kalle lag auf dem Rücken unter dem Birnbaum. Er wollte denken, und das ging am besten in dieser Stellung.

»Natürlich ist es möglich, daß die Perle schon seit Gustav Vasas Zeiten dagelegen hat, weil irgendein nachlässiges adliges Huhn in den Keller gegangen ist, um eine Flasche Bier zu holen, und dabei seine Perlenkette verloren hat«, sagte Meisterdetektiv Blomquist. »Aber ist das anzunehmen? Wenn man ein kriminalistisches Rätsel lösen soll«, fuhr er fort und drehte sich zur Seite, um seinem eingebildeten Zuhörer in die Augen sehen zu können, »muß man immer mit dem Wahrscheinlichen rechnen. Und« – der Meisterdetektiv hieb mit der Faust hart auf die Erde – »das Wahrscheinliche ist, daß die Perle nicht seit Gustav Vasas Zeiten dagelegen hat, denn da hätte sich doch wohl vor mir schon einer gefunden, der die Augen offen gehabt und sie gesehen hätte. Im übrigen, wenn die Perle schon vorgestern bei unserem Besuch vorhanden gewesen wäre, so hätte wohl ein aufgeweckter junger Mann wie ich sie schon gleich entdeckt.

Besonders, da ich den Fußboden ganz genau untersucht habe.

Jaja« – er winkte abwehrend mit der Hand zu seinem eingebildeten Zuhörer hin, der offensichtlich seiner Bewunderung Ausdruck gab –, »es ist reine Routinearbeit, nichts weiter! Was können wir also für einen Schluß daraus ziehen? Mit der aller-größten Wahrscheinlichkeit hat der sogenannte Onkel Einar die Perle bei seinem nächtlichen Besuch in der Schloßruine verloren. Nun, junger Mann, habe ich recht?«

Der eingebildete Zuhörer machte anscheinend keine Einwendungen, denn Meisterdetektiv Blomquist fuhr fort: »Nun ist die Frage: Hat man Onkel Einar, mit einer Perlenkette geschmückt, gesehen? Läuft er, von Perlen und Edelsteinen glitzernd, herum?« Der Meisterdetektiv ließ seine Hand mit einem entscheidenden Schlag auf die Erde fallen. »Gewiß nicht! Deswegen« – er faßte seinen eingebildeten Zuhörer am Rockauf-schlag –, »wenn nun dieser Onkel Einar mit Perlen um sich wirft, so habe ich das Recht, dies als einen verdächtigen Um-stand zu betrachten, nicht wahr?« Man hörte keinen Protest.

»Doch«, fuhr der Meisterdetektiv fort, »gehöre ich nicht zu denen, die jemanden nur auf Grund von Indi… Indizien verurtei-len. Die Sache muß untersucht werden, und ich glaube, behaupten zu können, daß ich der richtige Mann dafür bin.«

Hier brach sein eingebildeter Zuhörer in eine solche Flut von schmeichelhaften Zusicherungen aus. betreffend Herrn Blomquists Fähigkeit, alles herauszukriegen, was immer es auch sein mochte, daß sogar Herr Blomquist fand, es ginge zu weit.

»Na, na, keine Übertreibungen«, sagte er mild. »Der beste Detektiv, den es jemals gegeben hat – das ist doch wohl etwas übertrieben. Lord Peter Wimsey ist ja auch nicht auf den Kopf gefallen.«

Er holte sein Notizbuch hervor. In der Rubrik »Besonders verdächtige Umstände« fügte er hinzu: »Stattet nächtlichen Besuch in der Schloßruine ab. Verliert Perlen.«

Er las, sehr zufrieden, alles durch, was er über Onkel Einar geschrieben hatte. Nun gab es nur noch etwas hier im Leben, was er sich wünschte: Onkel Einars Fingerabdruck! Er hatte es den ganzen Vormittag versucht, indem er stundenlang um sein Opfer herumgeschlichen war. Er hatte das kleine Stempelkissen, das zu seiner Druckerei gehörte, auf die durchtriebenste Weise hingestellt, in der Hoffnung, daß Onkel Einar aus Versehen seinen Daumen erst auf das Stempelkissen und dann auf ein geeignetes Papier setzen würde. Aber merkwürdigerweise war Onkel Einar nicht in die Falle gegangen.

»Raffiniert, natürlich!« schnaubte Kalle. »Es bleibt wahrscheinlich gar nichts anderes übrig, als ihn zu chloroformieren und seinen Fingerabdruck zu nehmen, während er bewußtlos ist.«

»Und hier liegst du, du Rindvieh, und die Vorstellung soll in einer Viertelstunde anfangen!«

Anders hing über dem Zaun und warf grimmige Blicke auf den voll Behagen ruhenden Kalle. Kalle fuhr in die Höhe. Es war nicht leicht, sowohl Detektiv als auch Zirkuskünstler zu sein. Er kroch durch die Zaunöffnung und fiel an Anders’ Seite in Laufschritt.

»Sind Leute gekommen?« keuchte er.

»Und ob! Jeder Sitzplatz ist besetzt!«

»Da sind wir wohl beinahe reich?«

»Achtfünfzig«, sagte Anders. »Aber du hättest Eva-Lotte beim Billettverkauf ablösen sollen, anstatt wie ein Pascha auf dem Rasen zu liegen.« Sie rannten die Treppe zum Bäckereiboden hinauf. Da stand Eva-Lotte und schaute durch den Spalt zwischen den geschlossenen Luken hindurch.

»Volles Haus«, sagte sie.

Kalle ging nach vorn und sah auch hinunter. Da saßen alle Kinder des Viertels und auch ein ganz Teil andere. Auf der ersten Bank thronte Onkel Einar. An seiner Seite saßen Bäckermeister Lisander und seine Frau, und auf der zweiten Bank sah Kalle seinen Vater und seine Mutter.

»Ich bin so nervös, daß die Beine unter mir nachgeben«, wimmerte Eva-Lotte. »Bereitet euch darauf vor, daß ich euch bei der Akrobatennummer auf den Kopf falle. Und das Brotwagenpferd ist schlechter Laune, so daß ich auch für meine Pfer-dedressur das Schlimmste fürchte.«

»Blamier uns nicht, das sage ich dir«, sagte Anders.

»Das Spiel kann beginnen!« rief Onkel Einar ungeduldig.

»Das bestimmen wohl wir, denke ich«, sagte der Zirkusdirektor brummig zu seinen Mithelfern. Aber er setzte jedenfalls seinen hohen Hut oder vielmehr Bäckermeister Lisanders hohen Hut auf, öffnete die Luke, nahm das Seil und schwang sich in die Arena hinunter. Eva-Lotte stieß einen schrillen Trompeten-stoß aus, und das Publikum applaudierte wohlwollend.

Währenddessen hatte Kalle sich die Treppe hinuntergeschlichen und das Brotwagenpferd geholt, das an einem Baum angebunden war. Vor den angenehm überraschten Blicken des Publikums führte er das Tier zwischen den Zuschauerbänken herein. Der Zirkusdirektor nahm seinen Hut ab, verbeugte sich höflich, ergriff eine Peitsche, die an der Bäckereiwand gelehnt hatte, und knallte damit. Sowohl er wie das Publikum erwarteten, daß das Pferd nun einen raschen Trab um die Arena herum machen würde, aber es war nicht in der Stimmung dazu. Es glotzte nur einfältig das Publikum an. Der Zirkusdirektor knallte noch einmal mit der Peitsche und flüsterte, deutlich hörbar für das Publikum: »Los, du dummes Vieh!«

Da beugte sich das Pferd herunter und fraß einige Grashalme, die aus den Sägespänen hervorschauten. Vom Bäckereiboden hörte man ein lustiges Kichern. Es war die auf ihren Auftritt wartende Kunstreiterin, die ihre Fröhlichkeit nicht beherrschen konnte. Auch das Publikum amüsierte sich, besonders Onkel Einar und Eva-Lottes Mutter.

In diesem Augenblick griff der Stallknecht Kalle ein. Er nahm das Pferd am Zaum und führte es ganz einfach zur Luke hin. Eva-Lotte nahm das Seil und machte sich zu einem entscheidenden Sprung auf den Pferderücken bereit. Aber da kam das Pferd in Fahrt. Es machte einen Sprung, der einem richtigen Zirkuspferd Ehre gemacht hätte, und als Eva-Lotte am Seil heruntergerutscht war, war kein Pferderücken zum Landen da.

Sie blieb an der Leine hängen, kläglich mit den Beinen zap-pelnd, bis es Anders und Kalle gelungen war, das Pferd zurück-zuholen. Eva-Lotte glitt auf seinen Rücken hinunter, warf dem Publikum Handküsse zu und versuchte, so auszusehen, als ob ihr Beineschlenkern die einzig richtige Art aufzutreten für eine Zirkusprimadonna wäre. Anders knallte mit der Peitsche, und das Pferd trottete artig in der Arena herum. Eva-Lotte klemmte ihre beiden nackten Fersen in seine Seiten, um es etwas feuriger zu machen, aber vergebens.

»Schaf«, schnaubte Eva-Lotte.

Aber es war auch für mündliches überreden nicht empfänglich. Es war so gedacht gewesen, daß das Pferd in der Arena herumgaloppieren und durch seine lebhaften Sprünge das Urteil des Publikums irreführen sollte, so daß man nicht merkte, daß die Kunststücke, die Eva-Lotte auf dem Pferderücken ausführte, ziemlich einfach waren. Aber da das Pferd sich weigerte, einen wirklich herzhaften Einsatz zu machen, war es unvermeidlich, daß die ganze Nummer etwas lahm wirkte.

»Und dem hat man nun jahrelang Hafer gegeben«, dachte Eva-Lotte bitter.

Zuletzt knallte indessen der wütende Zirkusdirektor einen Peitschenhieb direkt unter die Nase des Brotwagenpferdes hin, so daß es sich vor Schreck auf die Hinterbeine stellte. Das gab der Nummer einen höchst dramatischen Abschluß und erhöhte den Gesamteindruck bedeutend.

»Aber wenn die Akrobatennummer auch mißlingt«, sagte Anders hinterher oben auf dem Boden, »dann müssen wir das Eintrittsgeld zurückzahlen. Ein Zirkuspferd, das sich hinstellt und zu weiden anfängt, das ist unanständig! Jetzt fehlt bloß noch, daß Eva-Lotte während der Akrobatennummer Schnecken ißt.«



Aber das tat Eva-Lotte nicht, und »Die drei Desperados« hatten einen strahlenden Erfolg. Onkel Einar brach einen weißen Fliederzweig ab und überreichte ihn mit einer tiefen Verbeugung Eva-Lotte. Der Rest des Programms stand nicht ganz auf dem gleichen hohen Niveau, aber die Clownnummer glückte sehr, ebenso Eva-Lottes Lied. Eigentlich wurden ja sonst in einem Zirkus keine Lieder vorgetragen, aber es war nötig, um das Programm auszufüllen, und Eva-Lotte hatte es selbst ge-dichtet. Es handelte meistens von Onkel Einar.

»Aber nein, Eva-Lotte«, sagte ihre Mutter, nachdem sie fertig war, »man darf doch nicht so anzüglich älteren Menschen gegenüber sein.«

»Doch, gegen Onkel Einar ja!«

Da lachte Onkel Einar sein wieherndes Lachen und brach einen neuen Fliederzweig für Eva-Lotte ab.

»Laß meinen Flieder in Ruhe!« brummte der Bäckermeister.

Nach Schluß der Vorstellung lud Frau Lisander zum Kaffee in der Laube ein. Lebensmittelhändler Blomquist und Bäckermeister Lisander saßen oft des Abends in der Laube und sprachen über Politik. Mitunter erzählten sie auch Geschichten, und dann setzten sich Eva-Lotte und Kalle und Anders mit hin und hörten zu.

»Wirklich, ich glaube wahrhaftig, daß heute alle Kaffeetassen Ohren haben«, sagte der Bäckermeister. »Da wird wohl bald die Welt untergehen. Wie ist das mit dir, Miachen«, fragte er mit einem freundlichen Blick auf seine Frau, »hast du heute so viel zu tun gehabt, daß du keine Zeit hattest, ein paar Kaffeetassen zu zerhauen?«

Frau Lisander lachte unbekümmert und bot Frau Blomquist Napfkuchen an. Der Bäckermeister ließ seine üppige Gestalt auf einen Gartenstuhl sinken und warf einen forschenden Blick auf den Vetter seiner Frau.

»Wird es nicht langweilig, so umherzugehen und nichts zu tun?« fragte er.

»Ich beklage mich nicht«, sagte Onkel Einar. »Ohne Arbeit kann ich es aushalten Ich möchte nur wünschen, ich könnte besser schlafen.«

»Du kannst ein Schlafpulver von mir bekommen«, sagte Frau Lisander. »Ich habe noch welche übrig von denen, die der Arzt mir gab, als ich Schmerzen im Arm hatte.«

»Ich möchte wissen, ob Arbeit nicht besser wäre als Schlafpulver«, sagte der Bäckermeister. »Steh morgen früh um vier auf und hilf mir, die Brote auszubacken, dann garantiere ich dir, daß du die nächste Nacht schläfst.«

»Danke, ich ziehe Schlafpulver vor«, sagte Onkel Einar.

Meisterdetektiv Blomquist, der neben seiner Mutter an der anderen Seite des Tisches saß, dachte für sich: »Eine gute Art, wenn man schlafen will, ist, ruhig in seinem Bett zu liegen.

Wenn man die ganze Nacht umherwandert, dann ist es ja wohl kein Wunder, daß man kein Auge zumachen kann. Aber wenn er ein Schlafpulver bekommt, dann wird er schon eindösen.«

Anders und Eva-Lotte waren fertig mit Kaffeetrinken. Sie setzten sich auf den Rasen vor der Laube und bliesen auf Gras-halmen, sehr zufrieden mit den fürchterlichen Tönen, die her-auskamen. Kalle wollte sich gerade zu ihnen setzen. Er wußte, daß die Töne, die er selbst mit Hilfe eines Grashalmes hervor-bringen konnte, das meiste in dieser Richtung übertrafen. Aber gerade da bekam er den Gedanken! Den strahlenden und genia-len Gedanken, eines Meisterdetektivs würdig!

Er nickte bestätigend. Ja, ja, gerade so mußte es geschehen!

Er sprang auf, riß einen Grashalm ab und blies eine gellende und triumphierende Fanfare.

SECHSTES KAPITEL

Natürlich war die Sache nicht ohne Risiko. Aber ein Detektiv muß etwas wagen. Will er das nicht, dann kann er sich ebensogut den Detektivberuf aus dem Sinn schlagen und sich als Wurstverkäufer oder sonstwas etablieren. Kalle hatte keine Furcht. Aber spannend war es, mächtig spannend.

Er hatte seinen Wecker auf zwei Uhr gestellt. Zwei Uhr war ein geeigneter Zeitpunkt. Wie lange dauerte es, bis ein Schlafpulver wirkte? Kalle wußte es nicht genau. Aber sicher würde Onkel Einar um zwei Uhr wie ein Murmeltier schlafen, Kalle konnte sich nichts anderes vorstellen. Und da sollte es passieren! Denn wenn man endlich eine »mystische Person« gefunden hat, muß man den Fingerabdruck der »Person« haben.

Personalbeschreibung und Muttermal und all das ist sicher gut, aber nichts kommt an einen ehrlichen Fingerabdruck heran.

Kalle warf einen letzten Blick aus dem Fenster, bevor er ins Bett kroch. Die weißen Gardinen des gegenüberliegenden Fensters blähten sich leise im Abendwind. Da drinnen war Onkel Einar. Vielleicht nahm er eben das Schlafpulver und legte sich ins Bett. Kalle rieb sich vor Spannung die Hände. Das würde keine schwere Sache werden. Viele, viele Male hatten Eva-Lotte und er und Anders diese Feuerleiter benutzt, zuletzt im Frühjahr, als sie eine Räuberhöhle auf Eva-Lottes Boden hatten. Und wenn Onkel Einar rausklettern konnte, dann konnte Kalle rein-klettern!

»Um zwei Uhr passiert es, so wahr ich lebe!«

Kalle kroch in sein Bett und schlief augenblicklich ein. Er schlief unruhig und träumte, daß Onkel Einar ihn rund um den Bäckereigarten jagte. Kalle rannte wie um sein Leben, aber Onkel Einar kriegte ihn schließlich. Er packte Kalle hart am Genick und sagte: »Weißt du nicht, daß alle Detektive eine Blechbüchse am Schwanz festgebunden haben müssen, so daß man hört, wenn sie kommen?«

»Ja, aber ich habe gar keinen Schwanz«, verteidigte sich Kalle unglücklich.

»Ach, Unsinn, natürlich hast du einen Schwanz! Wie nennst du denn das sonst?«

Und als Kalle hinschaute, hatte er genauso einen Schwanz wie Tusse.

»So«, sagte Onkel Einar und band die Blechbüchse fest. Kalle machte einige Sprünge, und die Blechbüchse klapperte ganz furchtbar.

Er war so unglücklich, daß er hätte weinen können. Was würden Anders und Eva-Lotte sagen, wenn er auf diese Weise angerasselt kam? Niemals mehr würde er mit ihnen spielen können. Niemand wollte wohl gern mit jemand zusammen sein, der so einen Lärm machte. Da standen ja übrigens Anders und Eva-Lotte! Sie lachten ihn aus.

»So geht es mit Detektiven«, sagte Anders.

»Ist es wirklich wahr, daß alle Detektive Blechbüchsen am Schwanz haben müssen?« fragte Kalle.

»Absolut«, sagte Anders. »Das steht im Gesetz.«

Eva-Lotte hielt sich die Ohren zu.

»Pfui Teufel, was für einen Krach du machst«, sagte sie. Kalle mußte zugeben, daß der Lärm schlimmer als je war. Das klapperte und schmetterte – ach, wie das schmetterte!

Kalle erwachte. Der Wecker! Donnerwetter, wie der läutete!

Kalle stellte ihn eiligst ab. Im Augenblick war er hellwach. Gott sei Dank, er hatte keinen Schwanz! Es gibt vieles hier auf der Welt, wofür man dankbar sein muß. Aber jetzt schnell ans Werk!

Er lief zur Schreibtischschublade. Da lag das Stempelkissen.

Er steckte es in die Tasche. Ein Stück Papier mußte er auch haben. Dann war er fertig. Nie war er so vorsichtig die Treppe hinuntergeschlichen, und er vermied die Stufen, von denen er aus Erfahrung wußte, daß sie knarrten.

»Alles ruhig, sagte der Dieb!«

Kalle fühlte sich richtig ausgelassen. Er preßte seinen kleinen, dünnen Jungenkörper durch die Zaunöffnung, und jetzt stand er im Bäckereigarten. Wie still alles war! Und wie der Flieder duf-tete! Und der Apfelbaum! Alles war ganz anders als am Tage. In allen Fenstern war es dunkel. Auch in Onkel Einars!

Es gab Kalle einen kleinen Stoß, als er den Fuß auf die Feuerleiter setzte. Zum ersten Male fühlte er ein bißchen Angst aufsteigen. War ein Fingerabdruck so viel Ungelegenheit wert? Er wußte eigentlich nicht, wozu er diesen Fingerabdruck haben wollte. Aber – so überlegte er – Onkel Einar ist sicher ein Schurke, und von allen Schurken nimmt man Fingerabdrücke.

Also los, Fingerabdruck genommen von Onkel Einar! Das ist reine Routinearbeit, redete sich der Meisterdetektiv aufmunternd zu und fing an, die Feuerleiter hinaufzuklettern.

»Wenn nun aber Onkel Einar hellwach im Bett sitzt und mich anstarrt, wenn ich den Kopf reinstecke, was sage ich dann?« Kalles Bewegungen wurden etwas zögernd, »’n Abend, Onkel Einar, schönes Wetter heute nacht! Ich mache nur einen kleinen Spaziergang die Leiter rauf und runter!« – Nein, das ging nicht!

»Ich hoffe, es war ein sehr starkes Schlafmittel, das Tante Mia ihm gegeben hat«, dachte Kalle und versuchte, sich überlegen zu fühlen.

Aber trotzdem empfand er es ungefähr so, als ob er seinen Kopf in eine Schlangengrabe steckte, als er sich über das Fensterbrett schob. Es war dunkel im Zimmer, aber nicht so, daß man sich nicht hätte orientieren können. Kalle glich in diesem Augenblick einem kleinen ängstlichen und neugieri-gen Wiesel, das bereit war, beim ersten Anzeichen von Gefahr zu entwischen Da stand das Bett. Man hörte tiefe Atemzüge aus der Richtung. Gott sei Dank, Onkel Einar schlief!

Unwahrscheinlich leise kroch Kalle über das Fensterbrett.

Hin und wieder hielt er an, um zu lauschen. Aber alles war ruhig.

»Vielleicht hat sie ihm Rattengift gegeben, da er so fest schläft«, dachte Kalle. Er legte sich platt auf den Bauch und schlängelte sich vorsichtig zu seinem Opfer hin. Reine Routinearbeit!

Was für ein Glück! Onkel Einars rechte Hand hing schlaff an der Bettkante herunter. Man brauchte sie nur zu nehmen und dann … Gerade da murmelte Onkel Einar etwas im Schlaf und warf seine Hand über das Gesicht.

Bum, bum, bum – Kalle fragte sich, ob eine Dampfmaschine im Zimmer versteckt sei. Aber es war nur sein Herz, das klopfte, als ob es Lust hätte herauszuspringen.

Indessen schlief Onkel Einar weiter. Jetzt lag die Hand auf der Bettdecke. Kalle öffnete den Deckel des Stempelkissens, und vorsichtig, als ob er glühende Kohlen anfassen wollte, nahm er Onkel Einars Daumen und drückte ihn gegen das Stempelkissen.

»Äh – puh«, sagte Onkel Einar.

Jetzt ging es nur darum, das Stück Papier hervorzuholen. Wo in aller Welt hatte er es gelassen? Das war ja reizend! Da lag sein Schurke mit Stempelfarbe am Daumen, alles war wie zu-rechtgelegt, und jetzt fand er das Papier nicht – ja, jetzt hatte er es! Es war da! In der Hosentasche! Mit großer Vorsicht drückte er Onkel Einars Daumen gegen das Papier.

Die Sache war in Ordnung. Er hatte den Fingerabdruck, und er hätte nicht zufriedener sein können, wenn er eine weiße Maus bekommen hätte, was sonst das war, was sein Herz am meisten begehrte.

Jetzt langsam zurückkriechen und sich über das Fensterbrett schwingen! Das war ja so einfach.

Ja, alles wäre sicher nach Berechnung gegangen, wenn Tante Mia nicht so ein Blumenfreund gewesen wäre. In der anderen Hälfte des Fensters, in der, die nicht offen war, stand eine kleine bescheidene Geranie. Kalle erhob sich vorsichtig aus seiner liegenden Stellung und … Einen Augenblick lang glaubte er, daß es ein Erdbeben oder eine andere Naturkatastrophe war, was diesen schrecklichen Lärm zustande brachte. Und es war doch nur ein armer kleiner Blumentopf.

Kalle stand aufrecht am Fenster mit dem Rücken zu Onkel Einars Bett. »Jetzt sterbe ich«, dachte er, »und das ist ganz gut.« Mit jeder Fiber seines Wesens hörte und fühlte und begriff er, daß Onkel Einar aufgewacht war. Kein Wunder übrigens, dieser Blumentopf hatte wahrhaftig ein Leben geführt, als ob er ein ganzer Blumenladen wäre.

»Hände hoch!«

Es war Onkel Einars Stimme, aber doch nicht die seine. Sie klang, ja – sie klang wie Stahl.

Es ist immer am besten, einer Gefahr gerade ins Auge zu sehen. Kalle drehte sich um und blickte direkt in eine Revolver mündung. Ach, in der Phantasie hatte er es so viele, viele Male getan, und es hatte ihm niemals etwas angehabt. Mit einem schnellen Schlag hatte er den Kerl überrumpelt, der auf ihn gezielt hatte, und mit einem »Nicht so eilig, mein bester Herr« hatte er ihm geschickt den Revolver entwunden.



In der Wirklichkeit ging es etwas anders zu. Kalle hatte wohl viele Male in seinem Leben Angst gehabt. Er hatte Angst gehabt, als der Hund des Bankdirektors ihn einmal auf dem Marktplatz angefallen hatte und als er im Winter einmal in ein Eisloch gefallen war, aber niemals, niemals hatte er eine so lähmende, quälende Angst gefühlt wie in dieser Minute.

»Mutter«, dachte er.

»Komm näher!« sagte die Stahlstimme.

Wie kann man gehen, wenn man nur ein paar weiche Makka-roni hat, wo sonst die Beine sind? Er machte jedenfalls einen Versuch.

»Was in aller Welt – bist du es, Kalle?«

Der Stahl war aus Onkel Einars Stimme weg, aber er fuhr streng fort: »Was machst du eigentlich hier mitten in der Nacht? Antworte!«

»Hilfe«, wimmerte Karl innerlich. »Wie soll ich es erklären?«

In Stunden der höchsten Not bekommt man mitunter eine Eingebung, die einen retten kann. Kalle erinnerte sich, daß er vor einigen Jahren zu schlafwandeln pflegte. Er war des Nachts irgendwo umherspaziert, bis seine Mutter mit ihm zum Doktor ging und er Beruhigungsmittel bekam.

»Na, Kalle?« sagte Onkel Einar.

» Wie bin ich hierhergekommen?« sagte Kalle. »Wie bin ich hergekommen? Ich habe doch wohl nicht wieder angefangen, im Schlaf umherzugehen? Ach, jetzt fällt mir ein, ich habe ja von dir geträumt, Onkel Einar (das war ja wahr, dachte Kalle).

Entschuldige vielmals, daß ich dich gestört habe.«

Onkel Einar hatte den Revolver weggesteckt. Er klopfte Kalle auf die Schulter.

»Jaja, mein lieber Meisterdetektiv«, sagte er. »Ich glaube, es sind alle deine Detektivideen, die dich im Schlaf umherwandern lassen. Bitte deine Mutter, daß sie dir etwas Brom gibt, bevor du schlafen gehst. Du wirst sehen, das hilft. Jetzt ist es wohl am besten, ich begleite dich hinaus.«

Onkel Einar ging mit ihm die Treppe hinunter und öffnete die Haustür. Kalle verbeugte sich. Eine Sekunde später schlüpfte er durch den Zaun in einer Fahrt wie ein eingeseiftes Kaninchen.

»Ich bin klein, mein Herz ist rein …« flüsterte er. Er fühlte sich wie ein Mensch, der eben aus schwerer Seenot gerettet worden ist. Seine Beine zitterten so merkwürdig. Er konnte sich gerade eben die Treppe hinaufschleppen, und als er in sein Zimmer kam, sank er aufs Bett. »Ich bin klein, mein Herz ist rein …« flüsterte er wieder. So saß er lange.

Ein gefährlicher Beruf, der Detektivberuf! Manche glauben, das sei reine Routinearbeit – so einfach ist das nicht! Stets und ständig wird man vor offene Revolvermündungen gestellt, ja, wahrhaftig!

Kalles Beine fingen langsam an, sich wieder normal zu fühlen.

Der lähmende Schreck war fort. Er steckte die Hand in die Hosentasche. Da lag das kostbare Papier. Kalle hatte keine Angst mehr. Er war glücklich. Ganz vorsichtig nahm er das kleine Stück Papier und legte es in den linken Schreibtischkasten. Da lagen schon der Dietrich und die Zeitung und die Perle. Eine Mutter, die ihre Kinder betrachtet, konnte keinen wärmeren Augenaus-druck haben als Kalle, wenn er auf den Inhalt des Kastens blicke.

Er verschloß ihn sorgfältig und steckte den Schlüssel ein. Dann nahm er sein Notizbuch hervor und schlug Onkel Einars Seite auf. Da war wieder ein kleiner Nachtrag nötig. »Besitzt Revolver«, schrieb Kalle. »Schläft mit ihm unter dem Kopfkissen.«

Um diese Zeit des Jahres frühstückte Familie Lisander auf der Veranda. Sie hatten gerade angefangen, als Anders und Kalle in der Nähe auftauchten, um Eva-Lottes Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Kalle hätte gern gewußt, ob Onkel Einar etwas von seinem nächtlichen Besuch erwähnen würde. Aber Onkel Einar aß seine Hafergrütze, als ob nichts geschehen wäre.

»Nein aber, Einar, wie ärgerlich!« sagte Frau Lisander plötzlich. »Ich habe ja vergessen, dir gestern abend das Schlafmittel zu geben!«


SIEBTES KAPITEL

»Das Spaßigste bei einer Sache sind die Vorbereitungen«, hatte Anders unmittelbar nach der Zirkuspremiere konstatiert. Die Vorstellung selbst war sicher sehr spannend und lustig gewesen, aber es waren jedenfalls die Tage vorher, angefüllt mit Proben und intensiven Vorbereitungen, die im Gedächtnis zurückblie-ben. Die gewesenen Zirkuskünstler gingen umher und wußten nicht richtig, was sie anfangen sollten.

Kalle war derjenige, der am wenigsten eine Beschäftigung vermißte. Die Detektivwirksamkeit gab seinen Tagen, und mitunter auch seinen Nächten, Inhalt. Seine Fahndungstätigkeit, die sich bis jetzt nur auf das Allgemeine gerichtet hatte, konzen-trierte sich nun ganz auf Onkel Einar.

Anders und Eva-Lotte sagten oft, sie wünschten, daß Onkel Einar wieder abreisen möchte, aber Kalle sah mit Schrecken dem Tag entgegen, da der Schurke, »sein« Schurke, den Koffer packen und ihn ohne »mystische Person« zurücklassen würde, um die seine Gedanken kreisen konnten. Und es wäre doch sehr ärgerlich, wenn Onkel Einar verschwinden würde, ohne daß Kalle dahintergekommen war, was für eine Art Verbrecher er eigentlich war. Daß er ein Verbrecher war, daran zweifelte Kalle nicht einen Augenblick. Ganz gewiß hatten Kalles frühere Verbrecher sich nach und nach als durchaus eh-renhafte Menschen erwiesen, oder man konnte ihnen jedenfalls keine Missetat nachweisen, aber diesmal war Kalle seiner Sache sicher.

»So viele Indizien – es muß stimmen, etwas anderes ist nicht möglich!« versuchte er sich selbst zu überzeugen, wenn ihn hin und wieder Zweifel packten.

Aber Anders und Eva-Lotte interessierten sich nicht eine Spur für die Bekämpfung von Verbrechen. Sie gingen umher und langweilten sich. Aber glücklicherweise passierte es doch, daß Postdirektors Sixtus eines Tages Anders »Poussierstengel«

nachrief, als Anders mit Eva-Lotte die Hauptstraße entlangkam, und das, obwohl im Augenblick Friedenszustand zwischen Sixtus’ Bande und der von Anders herrschte. Offenbar langweilte sich Sixtus auch, und er wollte wohl aus diesem Grunde die Streitaxt wieder ausgraben.

Anders blieb stehen. Eva-Lotte auch.

»Was hast du gesagt?« fragte Anders.

»Poussierstengel!« Sixtus spuckte das Wort gleichsam aus.

»Ach so«, sagte Anders. »Ich hatte gehofft, ich hätte falsch gehört. Schade, daß ich dich bei dieser Hitze verprügeln muß!«

»Ach, das macht nichts«, sagte Sixtus. »Ich kann ja hinterher ein Stück Eis auf deine Stirn legen. Wenn du dann noch lebst!«

»Wir treffen uns heute abend auf der Prärie«, sagte Anders.

»Geh nach Hause und bereite deine Mutter so schonend wie möglich vor.«

Sie trennten sich, und Anders und Eva-Lotte gingen nach Hause und alarmierten, äußerst aufgelebt, Kalle. Es zog sich zu einer Fehde zusammen, die sicher einen guten Teil ihrer Sommerferien vergolden würde.

Kalle war vollauf damit beschäftigt, durch den Zaun Onkel Einar zu beobachten, wie er im Garten wie ein unseliger Geist umherwankte.

Kalle wollte eigentlich nicht gestört werden. Aber trotzdem gefiel ihm die Mitteilung, daß Sixtus die Streitaxt ausgegraben hatte. Sie setzten sich alle drei in Eva-Lottes Laube und disku-tierten die Sache. Aber da tauchte Onkel Einar auf.

»Keiner spielt mit mir!« jammerte er. »Was geht hier eigentlich vor?«

»Wir haben eine Schlägerei vor«, sagte Eva-Lotte kurz. »Anders soll sich mit Sixtus schlagen.«

»Und wer ist Sixtus?«

»Einer der stärksten Jungen der Stadt«, sagte Kalle. »Anders bekommt sicher Prügel.«

»Die kriege ich bestimmt«, gab Anders vergnügt zu.

»Soll ich mitkommen und dir helfen?« schlug Onkel Einar vor.

Anders und Kalle und Eva-Lotte starrten ihn an. Glaubte er wirklich, sie würden einen Erwachsenen sich in ihre Schlägerei-en einmischen lassen? Und alles verderben!

»Na, Anders, was sagst du zu meinem Vorschlag?« fragte Onkel Einar. »Soll ich mitkommen?«

»Nee«, sagte Anders, unangenehm berührt davon, auf so etwas Dummes antworten zu müssen. »Nee, das wäre nicht anständig.«

»Nein, vielleicht nicht«, gab Onkel Einar zu und sah etwas beleidigt aus. »Obwohl es zweckmäßig wäre. Aber du bist wohl noch etwas zu jung, um zu verstehen, was zweckmäßig ist. Das ist etwas, was man so nach und nach lernt.«

»Ich hoffe, daß er niemals so etwas Albernes lernt«, sagte Eva-Lotte.

Da drehte sich Onkel Einar auf dem Absatz um und ging.

»Ich glaube wahrhaftig, er ist böse«, sagte Eva-Lotte.

»Ja, sicher sind Erwachsene manchmal komisch, aber der da ist noch komischer als die meisten anderen«, sagte Anders kopf-schüttelnd. »Er wird ja mit jedem Tag nörgliger und nörgliger.«

»Jaja, wenn ihr wüßtet!« dachte Kalle.



Die Prärie war eine große Gemeindewiese außerhalb der Stadt.

Sie war mit einer üppigen Buschvegetation bewachsen. Die Prärie gehörte der Jugend der Stadt. Hier lebte man Goldgräberle-ben in Alaska, streitbare Musketiere kämpften heftige Duelle aus, Lagerfeuer wurden in den felsigen Bergen entzündet, im afrikanischen Busch wurden Löwen geschossen, edle Ritter sprengten auf ihren stolzen Rossen heran, wüste Chikagogang-ster erhoben ohne Erbarmen ihre Maschinenpistolen – alles hing davon ab, welcher Film gerade im Kino der Stadt zu sehen war. Während des Sommers war das Kino natürlich geschlossen, aber man war trotzdem nicht in Verlegenheit. Es gab meistens eine ganze Reihe privater Keilereien, die ausgetragen werden sollten, und auch friedliche Spiele konnte man vorteilhafterwei-se nach der Prärie verlegen.

Dahin lenkten Anders, Kalle und Eva-Lotte in einem Zustand gespannter Erwartung ihre Schritte. Sixtus war mit seiner Bande schon da. Die Mitglieder der Bande hießen Benka und Jonte.

»Hier kommt einer, dessen Herzblut ich sehen will!« schrie Sixtus und fuchtelte lebhaft mit den Armen.

»Was hast du für Sekundanten?« fragte Anders, ohne sich um die furchtbare Drohung zu kümmern. Seine Frage war mehr eine Formsache; er wußte ganz gut, welches die Sekundanten waren.

»Jonte und Benka!«

»Hier sind meine«, sagte Anders und zeigte auf Kalle und Eva-Lotte.

»Welche Waffen ziehst du vor?« fragte Sixtus ganz regle-mentmäßig. Alle waren sich darüber klar, daß keine anderen Waffen als die Fäuste vorhanden waren, aber es machte immer einen guten Eindruck, auf Formen zu halten.

»Die Handkoffer«, antwortete Anders ganz richtig, genau wie man es erwartet hatte.

Und nun brach es los. Die vier Sekundanten standen in gebührendem Abstand und folgten dem Kampf mit so intensivem Einlebungsvermögen, daß ihnen der Schweiß herunterlief.

Von den Kämpfern sah man nur ein Gewirr von Armen und Beinen und zerwühlten Haarschöpfen. Sixtus war der Stärkere, aber Anders war flink und geschmeidig wie ein Eichhörnchen.

Es gelang ihm schon zu Anfang, ein paar ordentliche Volltreffer auf seinen Gegner loszulassen. Das hatte indessen nur den Erfolg, Sixtus zu unerhörter Kampflust anzufeuern. Es sah schlimm aus für Anders. Eva-Lotte biß sich in die Lippen. Kalle warf ihr einen schnellen Seitenblick zu. Er hätte sich selbst so furchtbar gern für sie in den Kampf geworfen. Aber es war leider Anders, der den Vorzug gehabt hatte, von Sixtus Poussierstengel genannt zu werden.

»Hej, Anders!« schrie Eva-Lotte aus vollem Herzen. Aber jetzt war auch Anders so weit gekommen, wütend zu werden, und er warf sich in einen rasenden Nahkampf, der Sixtus zum Rückzug zwang.

Nach den Vorschriften sollte ein Duell dieser Art nicht mehr als zehn Minuten dauern. Benka stand mit der Uhr in der Hand, und die beiden Duellanten, die wußten, daß die Zeit kostbar war, taten ihr Alleräußerstes, um den Kampf zu gewinnen. Aber jetzt schrie Benka »Abbrechen!«, und mit Aufwand aller ihrer Selbstbeherrschung kamen Sixtus und Anders seinem Befehl nach.

»Unentschieden«, sagte Benka.

Sixtus und Anders schüttelten einander die Hände.

»Die Beleidigung ist abgewaschen«, sagte Anders. »Aber ich habe die Absicht, dich morgen zu beleidigen, und dann können wir weitermachen.«

Sixtus nickte zustimmend. Das bedeutete Kampf zwischen der Weißen und der Roten Rose.

Sixtus und Anders hatten ihre Banden nach einem hohen Vorbild aus der Geschichte Englands getauft.

»Ja«, sagte Anders feierlich, »nun herrscht Kampf zwischen der Weißen und der Roten Rose, und tausend und aber tausend Seelen werden in den Tod gehen – hinein in die Nacht des Todes.« Diesen Ausdruck hatte er auch der Geschichte entnommen, und er fand, daß es seltsam schön klang, wie es hier so, nach beendetem Streit, herausgeschleudert wurde, während sich die Dämmerung auf die Prärie senkte.

Die Weißen Rosen – Anders, Kalle und Eva-Lotte – tauschten ernsthaft Händeschütteln mit den Roten Rosen aus – Sixtus, Benka und Jonte –, und man trennte sich. Das Merkwürdige war, daß Sixtus Eva-Lotte, obwohl er glaubte, begründeten Anlaß zu haben, Anders Poussierstengel nachzurufen, als er mit Eva-Lotte die Straße entlanggekommen war, voll und ganz als würdigen Gegner und Repräsentanten für die Weiße Rose akzeptierte.

Die drei Weißen Rosen gingen heimwärts. Besonders die Weiße Rose Kalle hatte es sehr eilig. Er fühlte sich niemals richtig ruhig, wenn er nicht jederzeit Onkel Einar unter Aufsicht hatte. »Es ist genauso, als ob man ein Hausschwein zu hüten hätte«, dachte Kalle.

Anders hatte Nasenbluten. Gewiß hatte Sixtus gesagt, daß er sein »Herzblut« sehen wolle, aber ganz so gefährlich war es also nicht geworden.

»Du hast diesmal einen feinen Match gehabt«, sagte Eva-Lotte bewundernd.

»Na ja«, sagte Anders bescheiden und sah auf sein blutbe-flecktes Hemd. Es gab sicher Krach deswegen, wenn er nach Hause kam. Am besten war, es so schnell wie möglich überstan-den zu haben. »Wir treffen uns morgen«, sagte er abschließend und lief davon.

Kalle und Eva-Lotte gingen zusammen. Aber da fiel es Kalle ein, daß seine Mutter ihn gebeten hatte, eine Abendzeitung zu kaufen. Er nickte Eva-Lotte zu und ging allein zum Zeitungskiosk.

»Alle Abendzeitungen sind ausverkauft«, sagte die Dame im Kiosk. »Versuch es beim Hotelportier!«

Na ja, da war nichts anderes zu machen. Vor dem Hotel traf Kalle Schutzmann Björk. Kalle fühlte eine Welle kollegialer Sympathie für ihn. Ganz gewiß war Kalle Privatdetektiv, und Privatdetektive standen ja immer ein paar Stufen über den gewöhnlichen Polizisten, die sich meistens merkwürdig ungeschickt bei der Lösung selbst des einfachsten kriminalistischen Rätsels erwiesen, aber Kalle fühlte jedenfalls, daß es Bande der Gemeinsamkeit zwischen ihm und Schutzmann Björk gab. Sie wirkten beide für die Bekämpfung von Verbrechen in der Gesellschaft.

Kalle hatte große Lust, Schutzmann Björk über das eine oder andere um Rat zu fragen. Sicher gab es keinen Zweifel darüber, daß Kalle ein für sein Alter besonders hervorragender Kriminalist war, aber er war doch trotz allem nicht älter als dreizehn Jahre.

Meistens gelang es ihm, vor dieser Tatsache die Augen zu schließen, und unter seiner Detektivwirksamkeit stellte er sich immer sich selbst als einen reifen Mann mit scharfem durch-dringendem Blick vor, die Pfeife nachlässig im Mundwinkel, einen Mann, der mit »Herr Blomquist« angeredet und mit großer Ehrfurcht von den Mitgliedern der Gesellschaft behandelt wurde, während dagegen deren verbrecherische Elemente ihn mit tiefstem Schreck betrachteten. Aber gerade jetzt fühlte er sich nur als Dreizehnjähriger, und er war geneigt zuzugeben, daß Schutzmann Björk eine ganze Menge Erfahrung besaß, die ihm selbst abging.

»’n Abend«, sagte Kalle.

»’n Abend«, sagte Schutzmann Björk.

Der Schutzmann warf einen forschenden Blick auf einen schwarzlackierten Ford, der vor dem Hotelportal parkte.

»Ein Stockholmer Auto«, sagte er.

Kalle stellte sich an seine Seite, die Hände auf dem Rücken.

Eine ganze Weile standen sie still und betrachteten gedankenvoll die vereinzelten Abendwanderer, die über den Marktplatz gingen.

»Onkel Björk«, sagte Kalle plötzlich, »wenn man glaubt, daß ein Mensch ein Schurke ist, was macht man da?«

»Ihm eins aufs Maul geben«, sagte Schutzmann Björk vergnügt.

»Ja, aber ich meine, wenn er ein Verbrechen begangen hat«, sagte Kalle.

»Ihn festnehmen natürlich«, sagte der Schutzmann.

»Ja, aber wenn man es nur glaubt, es aber nicht beweisen kann«, beharrte Kalle.

»Ihn überwachen, was das Zeug hält!« Schutzmann Björk lachte ein breites Lachen. »Aha, du pfuschst mir ins Hand-werk!« sagte er freundlich.

»Ich pfusche gar nicht«, dachte Kalle beleidigt. Niemand nahm ihn ernst.

»Hallo, Kalle, jetzt muß ich mal zum Bahnhof runter. Mach inzwischen die Arbeit für mich!« Und damit ging Schutzmann Björk.

Ihn überwachen, hatte er gesagt! Man kann doch nicht einen Menschen überwachen, der die ganze Zeit nur in einem Garten sitzt und sich selbst überwacht! Onkel Einar hatte überhaupt nichts vor. Er lag oder saß oder ging in Bäckermeisters Garten herum wie ein Tier in einem Käfig und wollte, daß Eva-Lotte und Anders und Kalle ihn unterhielten und ihm halfen, die Zeit totzuschlagen. Ja, gerade eben das – die Zeit totzuschlagen! Es sah nicht so aus, als ob Onkel Einar Ferien hatte, es sah aus, als ob er wartete.

»Aber auf was? Das kriege ich nicht raus!« dachte Kalle und stieg die Treppe zum Hotel hinauf.

Der Portier war im Augenblick beschäftigt, so daß Kalle warten mußte. In der Portierloge standen zwei Herren.

»Können Sie mir sagen, ob ein Herr Brane hier im Hotel wohnt?« fragte der eine von ihnen. »Einar Brane?«

Der Portier schüttelte den Kopf »Sind Sie ganz sicher?«

»Ja, natürlich.«

Die zwei Männer sprachen leise miteinander. »Und auch keiner, der Einar Lindeberg heißt?« fragte der eine.

Kalle stutzte. Einar Lindeberg, das war ja, weiß Gott, Onkel Einar! Es ist immer angenehm, den Leuten mit Auskünften dienen zu können, und Kalle beabsichtigte gerade, den Mund auf-zumachen und zu erzählen, daß Einar Lindeberg bei Bäckermeister Lisander wohnte, aber im letzten Augenblick schluckte er es hinunter, und es kam nur ein zögerndes »Äh – hm« heraus.

»Jetzt bist du nahe daran gewesen, eine Dummheit zu machen, mein lieber Kalle«, sagte er sich mit leisem Vorwurf.

»Wir wollen erst mal warten und zusehen, wie das sich hier entwickelt.«

»Nein, wir haben auch keinen Gast mit diesem Namen hier«, sagte der Portier bestimmt.

»Nicht? Ja, Sie wissen natürlich auch nicht, ob jemand, der Brane oder Lindeberg heißt, sich hier in der Stadt in letzter Zeit aufgehalten hat? Und irgendwo anders als hier im Hotel gewohnt hat, meine ich.«

Der Portier schüttelte wieder den Kopf.

»All right! Können wir ein Doppelzimmer bekommen?«

»Bitte sehr! Nummer 34 wird sicher gut passen«, sagte der Portier höflich. »Es kann in zehn Minuten in Ordnung sein.

Wie lange bleiben die Herren?«

»Das kommt darauf an! Ein paar Tage, nehme ich an.«

Der Portier legte den Herren das Fremdenbuch vor, damit sie ihre Namen hineinschreiben konnten.

Und Kalle kaufte seine Abendzeitung. Er war merkwürdig aufgeregt. »Es brennt, es brennt absolut!« flüsterte er für sich selbst.

Es war ganz undenkbar, von hier fortzugehen, bevor er ein klares Bild von den Herren bekommen hatte, die nach Onkel Einar gefragt hatten. Er begriff sehr wohl, daß der Portier etwas erstaunt sein würde, wenn er, Kalle Blomquist, sich in die Hotelhalle setzte und die Zeitung läse, aber das war die einzige Möglichkeit. Kalle warf sich in einen der Ledersessel mit der Miene eines Engroshändlers auf Geschäftsreisen und hoffte von ganzem Herzen, daß der Portier ihn nicht hinauswerfen würde. Aber glücklicherweise mußte der Portier Telefonanrufe beantworten und hatte keine Zeit, Kalle seine Aufmerksamkeit zu widmen.

Kalle bohrte mit dem Zeigefinger zwei Löcher in die Zeitung und überlegte sich gleichzeitig, wie er seiner Mutter diesen merkwürdigen Eingriff in ihre Abendlektüre erklären sollte. Dann dachte er darüber nach, was das für zwei Männer sein konnten.

Vielleicht Detektive? Detektive traten ja oft paarweise auf, wenigstens in Filmen. Wie wäre es, wenn er zu einem der beiden hinginge und ihn anredete: »Guten Abend, lieber Kollege!«

»Das wäre dumm, um nicht zu sagen idiotisch!« beantwortete sich Kalle selbst seine Frage. Man soll niemals den Ereignis-sen vorgreifen.

Oh, was für ein Glück man mitunter hat! Hier kamen die beiden und setzten sich in die Sessel direkt Kalle gegenüber. Er konnte hier sitzen und sie durch die Zeitung anstarren, soviel er wollte.

»Personalbeschreibung!« sagte sich der Meisterdetektiv.

»Reine Routinearbeit! Erst der eine … nee, wahrhaftig, es müßte verboten sein, so auszusehen!«

Etwas so Unangenehmes hatte Kalle noch nie gesehen, und er dachte im stillen, daß der Verschönerungsverein der Stadt gern bereit sein würde, eine runde Summe zu bezahlen, wenn dieser Kerl da sich außerhalb der Stadtmauern verflüchtigte. Es war schwer zu entscheiden, was es war, was sein Gesicht so unangenehm machte, ob es die niedrige Stirn war, die allzu eng beieinander stehenden Augen, die dicke Nase oder der Mund, den ein eigentümliches Lächeln verunstaltete.



»Wenn das kein Schurke ist, dann bin ich der Erzengel Ga-briel in Lebensgröße«, dachte Kalle.

Der andere hatte nichts Aufsehenerregendes in seinem Aussehen, wenn man von einer fast krankhaften Blässe absah. Er war klein und blondhaarig. Er hatte sehr helle blaue Augen und einen unsteten Blick.

Kalle starrte sie so an, daß es schon verwunderlich war, wenn seine Augen nicht aus den Gucklöchern hervortraten. Auch seine Ohren lauschten gespannt. Die beiden sprachen eifrig miteinander, aber leider konnte Kalle nicht viel davon auffassen.

Doch plötzlich sagte der Blasse mit etwas lauterer Stimme:

»Davon kann keine Rede sein! Er muß hier in der Stadt wohnen. Ich habe selbst den Brief an Lola gesehen. Auf dem Poststempel stand ganz deutlich Kleinköping.«

Lolas Brief! Lola! Lola Hellberg, wer denn sonst? »Es bewegt sich in meinen kleinen grauen Gehirnzellen«, konstatierte Kalle mit Genugtuung. Er selbst hatte den Brief an Lola Hellberg in den Briefkasten gesteckt – wer auch immer diese ehren-werte Dame sein mochte. Und er hatte sie in seinem Notizbuch stehen.

Kalle versuchte beharrlich, etwas mehr von dem Gespräch der beiden Männer aufzufassen, aber es gelang ihm nicht. Gleich darauf kam der Portier und meldete, daß das Zimmer für die Herren bereit sei. Der Unangenehme und der Blasse erhoben sich und gingen. Und Kalle beabsichtigte, das gleiche zu tun.

Da sah er, daß die Portierloge leer war. Es war im Augenblick niemand außer ihm in der Hotelhalle. Ohne langes Bedenken schlug er das Fremdenbuch auf und schaute hinein. Der Unangenehme hatte sich zuerst eingeschrieben, das hatte er beobachtet. »Tore Krok, Stockholm« – das mußte er sein! Und wie hieß der Blasse? »Ivar Redig, Stockholm.«

Kalle zog sein kleines Notizbuch hervor und trug sorgfältig Namen und Personalbeschreibung seiner neuen Bekannten ein.

Er schlug auch Onkel Einars Seite auf und notierte: »Nennt sich wahrscheinlich mitunter Brane.«

Dann steckte er die Zeitung unter den Arm und verließ das Hotel, vergnügt einen Schlager pfeifend.

Und dann war da noch eine Sache – das Auto! Das mußte ihnen gehören, man sah so selten Stockholmer Autos hier in der Stadt. Und wenn sie mit dem Sechsuhrzug gekommen wären, so hätten sie sich schon vor mehreren Stunden ein Hotelzimmer besorgt gehabt. Er notierte die Nummer und die übrigen Kenn-zeichen.

Dann besah er die Reifen. Sie waren sehr abgenutzt, außer dem rechten Hinterreifen. Das war ein funkelnagelneuer von der Gummifabrik Gislaved. Kalle machte eine kleine Skizze des Reifenmusters. »Reine Routinearbeit«, sagte er und steckte das Notizbuch in seine Hosentasche.

ACHTES KAPITEL

Wie verabredet, brach der Krieg der Rosen am nächsten Tage aus. Sixtus fand in seinem Briefkasten einen Zettel, vollge-schrieben mit den furchtbarsten Beleidigungen. »Die Richtig-keit des Obenstehenden wird von Anders Bengtsson bezeugt, dem Chef der Weißen Rose, dessen Schuhband zu lösen du nicht würdig bist«, stand darunter, und unter lebhaftem Zähne-knirschen rückte Sixtus aus und suchte Benka und Jonte auf.

Die Weißen Rosen lagen in höchster Bereitschaft in Bäckermeisters Garten, den Anfall der Roten erwartend. Kalle saß hoch oben im Ahornbaum, von wo aus man Aussicht über die ganze Straße bis hinunter zur Villa des Postdirektors hatte. Er hatte das Auskundschaften übernommen, sowohl sein privates wie das der Weißen Rose.

»Ich habe eigentlich keine Zeit, Krieg zu führen«, hatte er zu Anders gesagt. »Ich bin beschäftigt.«

»Nanu«, sagte Anders. »Ist wieder ein Kriminaldrama im Gang wie gewöhnlich? Ist Friedrich mit dem Fuß wieder dabei, sich die Kollekte anzueignen?«

»Ach, rutsch mir den Buckel runter!« sagte Kalle. Er sah ein, daß es zwecklos war, Verständnis zu erwarten. Und er kletterte folgsam auf den Baum, wie es ihm befohlen worden war. Unbedingter Gehorsam gegen den Chef gehörte zu den Geboten der Weißen Rose.

Daß Kalle zum Kundschafter bestimmt worden war, hatte indessen den Vorteil, daß er? indem er Ausschau nach den Roten Rosen hielt, zugleich Onkel Einar überwachen konnte. Der saß im Augenblick auf der Veranda und half Tante Mia, Erdbeeren abzuzupfen. Das heißt, nachdem er zehn Stück geputzt hatte, steckte er sich eine Zigarette an, setzte sich auf das Geländer und baumelte mit den Beinen, neckte ein bißchen Eva-Lotte, wenn sie, auf dem Weg zum Hauptquartier der Weißen Rose, vorbei-lief, und sah im übrigen aus, als ob er sich langweile.

»Wirst du dessen nicht überdrüssig, so herumzusitzen?« hörte Kalle Tante Mia fragen. »Ich finde, du solltest einen Spaziergang in die Stadt machen oder mit dem Rad zum Baden fahren oder irgend etwas Derartiges. Im übrigen ist ja an den Abenden Tanz im Hotel – daß du da nicht hingehst!«

»Danke für deine Fürsorge, Miachen«, sagte Onkel Einar.

»Aber ich finde es hier im Garten so schön, daß ich nicht das geringste Bedürfnis nach einer Beschäftigung habe. Hier kann ich mich richtig erholen und meine Nerven ausruhen. Ich fühle mich ruhig und harmonisch, seitdem ich hier bin.«

»Ruhig und harmonisch – ja, ph!« dachte Kalle. »Er ist ungefähr so harmonisch wie eine Schlange im Ameisenhaufen. Er kann wohl deswegen nachts nicht schlafen und hat einen Revolver unter dem Kopfkissen, weil er so furchtbar ruhig und harmonisch ist.«

»Wie lange bin ich eigentlich schon hier?« fragte Onkel Einar.

»Die Tage vergehen so schnell, daß man ganz aus der Rechnung kommt.«

»Am Samstag werden es vierzehn Tage.«

»Du lieber Himmel, nicht länger? Mir kommt es vor, als ob ich schon einen Monat hier wäre. Jaja, ich muß wohl bald daran denken abzureisen.«

»Noch nicht, noch nicht«, wimmerte Kalle leise oben im Ahornbaum. »Erst muß ich herauskriegen, warum du hier her-umsitzt und dich wie ein Hase im Gebüsch verkriechst.«

Kalle war so gefesselt von dem Gespräch auf der Veranda, daß er ganz vergaß, daß er als Kundschafter für die Weiße Rose Dienst tat. Er wurde von einer flüsternden Beratung auf der Straße draußen in die Wirklichkeit zurückgerufen. Da standen Sixtus und Benka und Jonte und versuchten, durch den Zaun zu gucken. Sie sahen Kalle oben im Ahornbaum nicht.

»Eva-Lottes Mutter und irgend so ein Vogel sitzen auf der Veranda«, rapportierte Sixtus. »Wir können also nicht durch die große Gartentür gehen. Wir machen eine Umgehung über die Flußbrücke und überrumpeln sie von der Flußseite her. Sie sind sicher in ihrem Hauptquartier auf dem Boden.«

Die Roten verschwanden wieder. Kalle stieg eiligst vom Baum herunter und rannte zur Bäckerei, wo Anders und Eva-Lotte sich die Wartezeit damit vertrieben, an dem Seil hinun-terzurutschen, das noch seit der Zirkuszeit da hing.

»Die Roten kommen!« schrie Kalle. »Sie kommen in einer Sekunde über den Fluß!«

Dort, wo der Fluß durch den Bäckereigarten floß, war er nicht mehr als zwei Meter breit. Eva-Lotte hatte ein Brett da unten liegen, das man bei Bedarf als »Zugbrücke« benutzen konnte. Das war eine ganz unsichere Brückenverbindung, aber wenn man schnell und gleichmäßig lief, geschah es nur selten, daß man ins Wasser fiel. Und selbst wenn es passierte, beschränkte sich das Unglück meistens nur auf ein Paar nasse Hosen, da das Wasser hier nicht sehr tief war.

Die Weißen beeilten sich, bereitwillig die Zugbrücke auszu-legen, und dann krochen sie ruhig hinter das Erlengebüsch am Flußufer.

Sie brauchten nicht lange zu warten. Mit wachsender Begeisterung beobachteten sie, wie die Roten auf der entgegengesetzten Seite auftauchten, vorsichtig nach ihren verborgenen Feinden spähend.

»Ha, die Zugbrücke ist heruntergelassen!« schrie Sixtus. »Zum Kampf! Der Sieg ist unser!«

Er stürzte auf den Steg, Benka folgte ihm auf dem Fuße. Das war der Augenblick, auf den Anders gewartet hatte. Wie ein Blitz schoß er hervor, und gerade bevor Sixtus auf dem trocke-nen Land Fuß gefaßt hatte, tippte er ein kleines bißchen an das Brett. Mehr war nicht nötig.

»So ging es Pharao, als er durch das Rote Meer wollte!« schrie Eva-Lotte dem planschenden Sixtus aufmunternd zu.

Dann rannten die Weißen, so schnell ihre Füße sie tragen konnten, zur Bäckerei hinauf, während Sixtus und Benka unter lautem Rachegeschrei ans Land krochen. Anders, Kalle und Eva-Lotte nutzten die kostbaren Sekunden aus, um sich auf dem Boden zu verbarrikadieren. Die Tür zur Treppe wurde sorgfältig geschlossen und das Seil hochgezogen. Dann stellten sie sich vor die offene Bodenluke und warteten auf ihre Feinde. Feldge-schrei kündigte ihre Ankunft an.

»Bist du sehr naß geworden?« fragte Kalle teilnahmsvoll, als Sixtus auftauchte.

»Ungefähr so, wie du immer hinter den Ohren bist«, sagte Sixtus.

»Kommt ihr freiwillig raus oder sollen wir euch ausräu-chern?« schrie Jonte.

»Ach, ihr werdet wohl rauf klettern und uns holen können«, sagte Eva-Lotte. »Macht es euch was aus, wenn wir euch dabei etwas siedendes Pech hinter die Hemdenkragen gießen?«

Im Laufe der Jahre hatte es viele Kämpfe zwischen den Weißen und den Roten Rosen gegeben. Es herrschte aber nicht die geringste Feindschaft zwischen den Mitgliedern der beiden Banden. Im Gegenteil, sie waren die allerbesten Freunde, und ihre Kämpfe waren für sie alle nichts anderes als ein lustiges Spiel.



Es gab keine bestimmten Regeln, wie die Kriegführung ge-handhabt werden sollte. Man hatte nur ein Ziel: die gegnerische Seite soviel wie möglich zu ärgern, und dafür waren fast alle Mittel erlaubt, außer natürlich Eltern und andere außenstehen-de Personen hineinzuziehen. Sich des Hauptquartiers des Gegners zu bemächtigen, zu spionieren und zu überraschen, Gei-seln zu nehmen, gräßliche Drohungen auszustoßen und ehren-kränkende Briefe zu schreiben, die »heimlichen Papiere« des Gegners zu stehlen und selbst eine große Menge davon herzustellen, so daß es für den Gegner etwas zu klauen gab, kostbare Aktenstücke quer durch die Linien des Feindes zu schmuggeln –all das waren wichtige Bestandteile, die zum Krieg der Rosen gehörten.

Im Augenblick fühlten die Weißen sich grenzenlos überlegen.

»Rückt ein bißchen weiter«, sagte Anders höflich. »Ich will gerade mal spucken!«

Die Roten zogen sich knurrend hinter die Hausecke zurück und versuchten vergebens, die Tür zur Treppe zu öffnen.

Aber das Kriegsglück hatte den Chef der Weißen übermütig gemacht.

»Grüßt die Roten und sagt ihnen, daß ich fünf Minuten Urlaub für ein Naturbedürfnis genommen habe«, sagte er und rutschte am Seil hinunter. Er berechnete, daß er das kleine Haus mit dem Herzen in der Holztür erreichen würde, bevor die Roten entdeckten, daß er den Boden verlassen hatte. Seine Berechnung schlug nicht fehl. Er verschwand im Häuschen und riegel-te sich ordentlich ein. Aber er hatte nicht an den Rückzug gedacht. Hinter der Hausecke stand Sixtus, und sein Gesicht bekam beinahe einen verklärten Schimmer, als er dahinterkam, wo er seinen Feind hatte. Er brauchte ungefähr zwei Sekunden, um hinzurennen und den Haspen an der Außenseite der Tür vorzu-schieben, und das triumphierende Gelächter, das er danach an-hob, war das unheilverkündendste, das Eva-Lotte und Kalle je gehört hatten.

»Unser Chef muß aus seiner schrecklichen Gefangenschaft befreit werden«, sagte Eva-Lotte bestimmt.

Die Roten tanzten im Freudenrausch einen Kriegstanz.

»Die Weiße Rose hat sich ein neues Hauptquartier be-schafft«, grinste Sixtus. »Da werden die Rosen dann schöner duften als je.«

»Bleib hier und beschimpfe sie«, sagte Eva-Lotte zu Kalle.

»Dann will ich sehen, was ich machen kann.«

Es gab noch eine Treppe vom Boden, aber sie führte nicht ins Freie. Sie führte direkt in die Bäckerei hinunter. Hier hatte Eva-Lotte nun eine gute Möglichkeit, hinauszukommen, ohne daß die Gegner es merkten. Sie lief durch die Bäckerei, nahm sich im Vorbeigehen ein paar Kuchen und verschwand durch die Tür am anderen Ende des Gebäudes. Dann machte sie eine Umgehung, und es gelang ihr nach langen Umwegen, sich auf den Zaun hinter das Wirtschaftsgebäude hinauf zu praktizieren, ohne von den Roten beobachtet zu werden. Mit einem langen Stock bewaffnet, kletterte sie auf das Dach des Wirtschaftsgebäudes. Anders hörte, daß über seinem Kopf etwas vorging, und das gab ihm einen Hoffnungsstrahl in seiner kläglichen Lage.



In der Zwischenzeit war Kalle voll damit beschäftigt, Beschimpfungen gegen Sixtus und seine Kumpane hinunterzu-schleudern, um ihre Aufmerksamkeit auf den Boden zu lenken.

Nun kam ein unendlich spannender Augenblick, als Eva-Lotte den Stock hinunterstreckte, um den Haspen zurückzuschieben.

Wenn die Roten sich in diesem Augenblick umdrehten, war alles verloren. Kalle beobachtete mit Spannung jede von Eva-Lottes Bewegungen, und er brauchte seine ganze Selbstbeherrschung, um mit den Beschimpfungen fortzufahren.

»Lausehunde seid ihr!« sagte er gerade, als Eva-Lottes Versuche mit Erfolg gekrönt wurden. Anders fühlte, daß die Tür nachgab, und er machte einen Sturmlauf von hundert Metern zu einer der alten Ulmen hin. Auf Grund vieljähriger Übung brauchte er nur einen Augenblick, um sich auf den Baum zu schwingen, und als die Roten, über die Flucht erbittert, sich wie eine Koppel Bluthunde unter dem Baum drängten, schrie er, er wolle den ersten, der sich in den Baum hinaufwagte, so zusam-menschlagen, daß seine eigene Mutter ihn nicht wiedererkennen würde.

Im letzten Augenblick erinnerte sich Sixtus an Eva-Lotte. Sie war gerade dabei sich in Sicherheit zu bringen. Aber es sollte sich bald zeigen, daß sie die Freiheit ihres Chefs auf Kosten ihrer eigenen erkauft hatte. Die Roten umringten das Wirtschaftsgebäude, und Eva-Lotte fiel wie eine reife Frucht in ihre ausgestreckten Hände, als sie auf den Zaun hinunterklettern wollte.

»Schnell, bringt sie hinüber in unser Hauptquartier!« schrie Sixtus.

Eva-Lotte wehrte sich mit dem Mut einer Löwin, aber Benkas und Jontes harte Fäuste zwangen sie bald dazu, sich zu un-terwerfen. Die Weißen beeilten sich, ihr zu Hilfe zu kommen.

Kalle rutschte die Leine hinunter, und Anders tat einen lebensgefährlichen Sprung von der Ulme. Aber während Jonte und Benka Eva-Lotte zum Fluß hin knufften und stießen, hielt Sixtus die Verfolger mit Abwehrkämpfen auf, so daß die Roten mit ihrer Kriegsgefangenen ungestört den »Wallgraben« erreichten. Die sich wild sträubende Eva-Lotte über die »Zugbrücke« zu befördern, war natürlich eine Unmöglichkeit. Deswegen knuffte Benka sie ohne weiteres ins Wasser, wobei er selbst und Jonte hinterherplumpsten.

»Keinen Widerstand, denn dann müßten wir dich erträn-ken«, sagte Jonte. Die Drohung hinderte jedoch Eva-Lotte nicht im mindesten, sich mit allen Kräften zu sträuben, und es bereitete ihr große Genugtuung, daß es ihr gelang, Benka und Jonte ein paarmal unterzutauchen. Ja, natürlich wurde sie auch mit untergetaucht, aber das verringerte nicht die Spur ihre Befriedigung.

Oben auf der Böschung ging der Kampf mit unverminderter Stärke weiter. Der Lärm war so groß, daß Bäckermeister Lisander sich veranlaßt sah, seine Teige zu verlassen, um nachzusehen, was vorging. Er wanderte gemächlich zum Fluß hinunter, gerade als seine Tochter ihren wassertriefenden Kopf nach einem Besuch unter der Oberfläche hervorstreckte. Benka und Jonte ließen Eva-Lotte los und warfen einen schuldbewußten Blick auf den Bäckermeister. Auch der Kampf oben auf der Böschung endete. Der Bäckermeister schaute sein Kind nachdenklich an und stand eine Weile still.

»Wie ist es, Eva-Lotte, kannst du Hundeschwimmen?«

»Klar«, sagte Eva-Lotte, »ich kann alle Schwimmarten.«

»Aha! Ja, das wollte ich bloß wissen«, sagte der Bäckermeister und ging gelassen wieder zur Bäckerei zurück.

Die Rote Rose hatte ihr Hauptquartier in der Garage, die zur Villa des Postdirektors gehörte. Es stand gerade kein Auto darin, weshalb Sixtus den Raum für sich selbst mit Beschlag belegt hatte. Hier hatte er seine Angelrute und seinen Fußball, sein Fahrrad, Pfeil und Bogen, seine Schießscheibe und alle Geheimpapiere und Akten der Roten Rose. Hier wurde die durch-weichte Eva-Lotte eingesperrt, aber Sixtus bot ihr ritterlich an, ihr seinen Trainingsoverall zu leihen.

»Edelmut den Besiegten gegenüber, das ist mein Wahlspruch«, sagte er.

»Äh, ich bin nicht eine Spur besiegt«, sagte Eva-Lotte. »Ich werde bald befreit. In der Zwischenzeit können wir nach der Scheibe schießen.« Dagegen hatten die Gefangenenwärter nichts einzuwenden.

Anders und Kalle standen noch am Fluß und hielten düsteren Kriegsrat. Es kränkte sie, daß es ihnen nicht gelungen war, Sixtus zu übermannen, so daß man die Gefangenen hätte austau-schen können.

»Ich schleich’ mich hin und rekognosziere«, sagte Anders.

»Du setzt dich in den Ahorn und hältst Ausschau für den Fall, daß sie auf die Idee kommen sollten, wieder hierher zurückzu-kehren. Verteidige das Hauptquartier bis zum letzten Mann!

Und solltest du übermannt werden, so verbrenne erst alle Geheimpapiere!«

Kalle sah ein, daß es schwer sein würde, allen Befehlen in ihrem ganzen Ausmaß nachzukommen, aber er machte keine Einwendungen.

Ein vortrefflicher Aussichtspunkt, der Ahornbaum! Man saß da richtig bequem in einer Astgabelung, gut versteckt durch das Laub, und hatte einen Überblick über den vorderen Teil von Bäckermeisters Garten und über die Straße in ihrer ganzen Ausdehnung bis zu der Ecke, wo sie auf die Kleine Straße traf.

Kalle fühlte sich ganz erfrischt durch die ausgefochtenen Kämpfe, aber gleichzeitig hatte er ein schlechtes Gewissen. Er wußte, daß er seine Pflicht gegen die Gesellschaft vernachlässigt hatte. Wenn nicht der Krieg der Rosen dazwischengekommen wäre, dann hätte er schon am frühen Morgen vor dem Hotel gestanden und die beiden Herren überwacht, die gestern abend angekommen waren. Das würde ihn vielleicht der Lösung des Rätsels einen Schritt nähergebracht haben.

Onkel Einar wanderte auf dem Gartenweg unten hin und her, hin und her … Er sah nicht den Beobachter im Ahornbaum, so daß Kalle ihn in aller Ruhe betrachten konnte. Jede Bewegung, die er machte, verriet Ungeduld und Mißvergnügen.

Sein Gesicht hatte einen solchen Ausdruck von Rastlosigkeit und Unlust, daß er Kalle beinahe leid tat.

»Man sollte doch etwas mehr mit ihm spielen«, dachte Kalle plötzlich teilnahmsvoll.

Vor dem Zaun war die Straße menschenleer. Kalle sah auch zum Postdirektorhaus hinunter. Von daher konnte er den Angriff erwarten. Aber keine Roten Rosen waren zu sehen. Kalle warf einen Blick nach der anderen Seite. Da kam jemand. Das waren – ja wahrhaftig, sie waren es! Da waren die Kerle – wie hießen sie doch gleich? Krok und Redig! Kalle wurde sofort gespannt wie eine Stahlfeder. Sie kamen immer näher. Gerade als sie an der Gartentür vorbeigingen, erblickten sie Onkel Einar.

Und er erblickte sie!

Es war abscheulich, das mit anzusehen! fand Kalle. Wie in diesem Augenblick alle Farbe aus Onkel Einars Gesicht verschwand! Wenn er tot gewesen wäre, hätte er nicht weißer sein können. Und eine Ratte, die plötzlich sieht, daß sie in einer Falle gefangen ist, konnte nicht einen solchen Ausdruck von Todesangst im Gesicht haben wie Onkel Einar, als er an der Gartentür stand. Einer der beiden Männer fing an zu sprechen. Es war der kleine Blasse, Redig. Seine Stimme klang unbeschreiblich weich und zart. »Sieh, sieh, hier haben wir Einar«, sagte er.

»Unseren lieben alten Einar!«



NEUNTES KAPITEL

Kalle fühlte, wie es ihm kalt über den Rücken lief. Es war diese Stimme, die das verursachte. Äußerlich klang sie so weich, aber es war, als ob etwas sehr Unangenehmes und Gefährliches sich dahinter verberge.

»Es scheint nicht so, als ob du dich besonders freust, uns zu sehen, alter Freund«, flötete die weiche Stimme.

Onkel Einar griff mit beiden Händen um die Gartentür.

»Doch«, sagte er, »ja, natürlich freue ich mich. Aber ihr kommt so unerwartet.«

»Wirklich?« Der Blasse lachte. »Ja, du hast vergessen, uns deine Adresse zu hinterlassen, als du verschwandest. Zer-streutheit natürlich! Glücklicherweise hast du einen Brief an Lola mit einem einigermaßen deutlichen Poststempel geschrieben. Und Lola ist ein verständiges Mädchen. Wenn man ernsthaft mit ihr spricht, so ist sie nicht diejenige, die einem etwas vorenthält.«

Onkel Einar atmete heftig. Er beugte sich über die Gartentür zu dem Blassen vor.

»Was hast du mit Lola gemacht, du …?«

»Ruhe, Ruhe!« Die weiche Stimme unterbrach ihn. »Reg dich nicht auf! Ruhe, Erholung und Ausspannung soll man in seinen Ferien haben. Denn das hier ist wohl ein kleiner Ferien-ausflug, soweit ich verstehe?«

»Ja, ja«, sagte Onkel Einar. »Ich bin hierhergefahren, um mich ein bißchen auszuruhen.«

»Das verstehe ich! Du hast in der letzten Zeit hart gearbeitet, was?«

Es war die ganze Zeit über der blasse Ivar Redig, der das Wort führte. Der, den Kalle den Unangenehmen nannte, stand nur still da und lächelte, aber es war nicht das, was Kalle unter einem freundlichen Lächeln verstand.

»Wenn ich dem in einer einsamen Straße begegnete, würde ich Angst bekommen«, dachte Kalle. »Obgleich es fraglich ist, ob es nicht noch schlimmer wäre, dem Blassen – Ivar Redig – zu begegnen.«

»Was willst du eigentlich, Artur?« fragte Onkel Einar.

»Artur – er heißt ja Ivar«, dachte Kalle. »Aber Schurken und Banditen – die haben ja wohl immer mehrere Namen.«

»Du weißt verdammt gut, was ich will«, sagte der Blasse, und seine Stimme klang jetzt etwas härter. »Komm mit auf eine kleine Autofahrt, dann können wir die Sache besprechen.«

»Ich habe nichts mit euch zu besprechen«, sagte Onkel Einar heftig. Der Blasse kam einen Schritt näher.

»Nicht?« fragte er mild.

Was war das, was er in der Hand hielt? Kalle mußte sich hin-unterbeugen, um besser sehen zu können. »Nee, nu schlägt’s ein«, flüsterte Kalle. Diesmal war es Onkel Einar, der vor einer Revolvermündung stand. Eigentümliche Gewohnheiten haben diese Leute! Laufen wochentags mit einem Revolver herum!

Der Blasse ließ seine Hand zärtlich über das glänzende Metall gleiten, bevor er weitersprach: »Wenn du es dir etwas besser überlegt hast, so kommst du doch wohl mit?«

»Nein«, rief Onkel Einar. »Nein! Ich habe nichts mit euch zu besprechen. Macht, daß ihr fortkommt, sonst …«

»Sonst rufst du die Polizei, was?« Die beiden Männer vor der Gartentür lachten. »Ach nein, Einarchen, das läßt du wohl sein! Dir ist wohl ungefähr ebensowenig wie uns daran gelegen, die Polizei hineinzuziehen.«



Der Blasse lachte wieder, ein merkwürdig unheimliches Lachen. »Denk mal an, wie gut du dir das ausgedacht hast, Einarchen! Eine kurze Zeit Ferien im tiefsten Inkognito hier, bis sich die schlimmste Aufregung gelegt hat. Viel schlauer, als zu versuchen, sofort ins Ausland zu kommen. Verständiger Bursche!« Er schwieg einen Augenblick. »Aber du bist doch etwas zu pfiffig gewesen«, fuhr er fort, und jetzt war die Stimme nicht mehr weich. »Es lohnt sich niemals, seine Teilhaber hintergehen zu wollen. Viele haben in jungen Jahren dran glauben müssen, die das versucht haben. So war es nicht gemeint, daß drei die Arbeit machen und einer die ganze Pinke für sich behält!«

Der Blasse beugte sich über die Gartentür und betrachtete Onkel Einar mit einem so haßerfüllten Gesichtsausdruck, daß Kalle oben in seinem Baum zu schwitzen begann. »Weißt du, wozu ich Lust hätte?« sagte er. »Ich hätte Lust, dir eine Kugel durch den Leib zu jagen, so wie du hier gehst und stehst, du langes, feiges Reff!«

Es schien, als ob Onkel Einar anfing, die Fassung wiederzu-gewinnen. »Und welchen Zweck soll das haben?« sagte er.

»Willst du so gern wieder ins Kittchen zurück? Schieß mich nieder, und in fünf Minuten hast du die Polizei hier. Was ge-winnst du damit? Du glaubst wohl nicht, daß ich alles mit mir herumtrage? Nein, tu das kleine Spielzeug da weg« – er zeigte auf den Revolver –, »und laß uns vernünftig miteinander reden.

Wenn ihr euch anständig benehmt, bin ich vielleicht bereit zu teilen.«

»Dein Edelmut übersteigt alle Grenzen«, höhnte der Blasse.

»Du bist bereit zu teilen! Schade, daß du etwas zu spät auf diese glänzende Idee gekommen bist! Ganz und gar zu spät! Denn siehst du, Einarchen, jetzt sind wir es, die nicht teilen wollen!

Du bekommst eine kleine Weile Bedenkzeit – seien wir großzügig und sagen wir fünf Minuten –, und dann übergibst du uns den ganzen Rummel. Ich hoffe in deinem eigenen Interesse, daß du verstanden hast, was ich gesagt habe.«

»Und wenn ich es nicht verstanden habe? Ich habe es nicht hier, und wenn du mich ins Jenseits beförderst, wird ganz bestimmt niemand dasein, der dir helfen kann, es zu finden.«

»Einar, alter Freund, du glaubst wohl nicht, daß ich von gestern bin? Es gibt Mittel, Leute, die keine Vernunft annehmen wollen, zu zwingen, feine Mittel! Ich weiß, was du jetzt denkst.

Ich weiß das ebensogut, als ob ich direkt in deinen verfaulten Schädel reingucken könnte. Du glaubst, du kannst uns noch einmal betrügen! Du glaubst, du kannst uns mit deinem Geschwätz von Teilung aufhalten, und dann haust du in aller Stille ab und schüttelst den Staub der Heimaterde von deinen Füßen, bevor wir es verhindern können! Aber ich will dir etwas sagen!

Wir werden dich daran hindern, und zwar auf eine Weise, die du niemals vergessen wirst! Wir bleiben hier in der Stadt, Tjomme und ich. Und du sollst mal sehen, wie oft du uns treffen wirst. Jedesmal, wenn du versuchst, vor diese Gartentür zu gehen, wirst du deine lieben alten Freunde treffen. Und irgendwann werden wir wohl mal Gelegenheit haben, ungestört miteinander zu reden – meinst du nicht?«

»Das ist richtig so, wie es immer in Büchern steht – ein unheilverkündendes Lächeln«, dachte Kalle und betrachtete nachdenklich das Gesicht des Blassen. Er beugte sich vor, um besser zu sehen, und im selben Augenblick knackte ein kleiner Zweig.

Onkel Einar blickte hastig umher, um zu sehen, woher der Laut gekommen war, und Kalle wurde es eiskalt vor Schreck, und der Atem stockte ihm.

»Wenn sie mich bloß nicht entdecken! Bloß nicht! Denn dann werde ich bestimmt liquidiert.«

Er begriff, daß seine Situation äußerst gefährlich werden konnte, wenn man ihn entdeckte. Es war nicht anzunehmen, daß ein Mann vom Kaliber des Blassen viel Mitleid mit einem Zeugen haben würde, der das Gespräch der letzten zehn Minuten mit angehört hatte. Zum Glück schien keinem der drei Männer viel daran gelegen zu sein, näher zu untersuchen, wer die kleine Unterbrechung verursacht hatte.

Kalle atmete erleichtert auf. Sein Herz war wieder an seinen normalen Platz zurückgesunken, als er plötzlich etwas zu sehen bekam, was es ihm wieder in den Hals Fahren ließ.

Unten auf der Straße kam jemand. Eine kleine Gestalt in einem knallroten, viel zu großen Trainingsoverall. Es war Eva-Lotte. Sie schwenkte lustig ein nasses Kleid in der Hand und pfiff ihr Lieblingslied: »Es war einmal ein Mädchen, und die hieß Josefin.«

»Wenn sie mich bloß nicht entdeckt«, wimmerte Kalle.

»Nur nicht! Denn wenn sie ›Hallo, Kalle!‹ ruft, dann bin ich erledigt.«

Eva-Lotte kam näher.

»Klar, daß sie mich entdeckt. Klar, daß sie zu unserm Kundschafterplatz raufguckt! Ach, ach, warum hab’ ich mich bloß hier raufgesetzt!«

»Hallo, Onkel Einar«, sagte Eva-Lotte.

Onkel Einar freute sich immer, wenn er Eva-Lotte sah. Aber jetzt sah er nahezu verklärt aus.

»Gut, daß du kommst, Eva-Lottchen«, sagte er. »Ich wollte gerade reingehen und sehen, ob Mutter das Mittagessen fertig hat. Komm, wir gehen zusammen.« Er winkte den beiden vor der Gartentür zu. »Auf Wiedersehen, Jungens«, sagte er. »Ich muß jetzt leider gehen.«

»Auf Wiedersehen, lieber alter Einar«, sagte der Blasse.

»Wir treffen uns wieder, da kannst du sicher sein.«

Eva-Lotte sah Onkel Einar fragend an. »Willst du nicht deine Freunde bitten, mit reinzukommen und mit uns zu essen?«

»Nein, weißt du, ich glaube nicht, daß sie Zeit haben.«

Onkel Einar nahm Eva-Lottes Hand.

»Ein andermal, kleines Fräulein«, sagte der Unangenehme.

»Jetzt … jetzt kommt es drauf an«, dachte Kalle, als Eva-Lotte am Ahorn vorbeiging. »O Gott!«

»Es war einmal ein Mädchen, und die hieß Josefin.« Eva-Lotte sang und warf gewohnheitsgemäß einen Blick zur Gabelung im Ahornbaum hinauf, dem Kundschafterplatz der Weißen Rose. Kalle blickte direkt in ihre lustigen blauen Augen.

Während vieler Jahre hatte man den Krieg der Rosen mitgemacht. Man hatte auch an einer Menge furchtbarer Fehden zwischen Indianern und Bleichgesichtern teilgenommen. Man hatte als alliierter Spion während des Weltkrieges Dienst getan. Und man hat zwei Sachen gelernt: sich nicht überraschen lassen und den Mund halten, wenn es notwendig ist. Da sitzt ein Verbün-deter im Ahornbaum, aber er hält warnend den Finger vor den Mund, und seine ganze Miene ist ein einziges: »Sei still!«

Eva-Lotte geht mit Onkel Einar weiter.

»Das einz’ge, was sie hatte, das war ’ne Nähmaschin, Nähmaschin-schin-schin, Nähma-Nähma-Nähmaschin.«

ZEHNTES KAPITEL

»Was halten Sie von dieser bemerkenswerten Unterhaltung, Herr Blomquist?«

Kalle lag auf dem Rücken unter dem Birnbaum in seinem eigenen Garten, und es war sein eingebildeter Zuhörer, der ihn wieder interviewte.

»Tja«, sagte Herr Blomquist. »Vor allen Dingen ist es klar, daß wir in diesem Kriminaldrama nicht nur einen Schurken haben, sondern drei. Und ich warne Sie, junger Mann (der eingebildete Zuhörer war besonders jung und unerfahren), ich warne Sie! Es wird sich viel in der nächsten Zukunft ereignen. Es wäre am klügsten, sich an den Abenden zu Hause aufzuhalten. Das hier wird sicher ein Kampf auf Leben und Tod, und jemand, der es nicht gewohnt ist, mit der Hefe und dem Abschaum der Menschheit umzugehen, der kann sich dabei leicht seine Nerven vollständig ruinieren.«

Herr Blomquist selbst war ja so daran gewöhnt, mit der Hefe und dem Abschaum der Menschheit umzugehen, daß sein Ner-vensystem widerstandsfähig genug war. Er nahm die Pfeife aus dem Mund und fuhr fort: »Sie verstehen: Diese beiden Herren hier, Krok und Redig – ja, ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß das natürlich nicht ihre richtigen Namen sind –, also diese beiden feinen Burschen werden Onkel Einar, hm, Einar Lindeberg oder Brane, wie er sich auch mitunter nennt, ordentlich den Kopf heiß machen. Offen gesagt – sein Leben ist in Gefahr!«

»Und welchen Standpunkt werden Sie, Herr Blomquist, in diesem Streit einnehmen?« fragte der Zuhörer achtungsvoll.

»Den Standpunkt der menschlichen Gesellschaft, junger Mann! Wie immer! Selbst wenn es um mein Leben gehen sollte!« Der Meisterdetektiv lächelte wehmütig. Im Interesse der menschlichen Gesellschaft hatte er sich schon tausend Toden ausgesetzt, so daß einmal mehr oder weniger keine Rolle spielte.

Seine Gedanken gingen weiter.

»Aber ich möchte zu gern wissen, was es ist, was sie von Onkel Einar haben wollen«, sagte er zu sich selbst. Und jetzt war er nicht mehr Herr Blomquist, sondern nur Kalle, ein sehr verwirrter kleiner Kalle, der fand, daß das alles ganz unheimlich war.

Da fiel ihm plötzlich die Zeitung ein! Diese Zeitung, die Onkel Einar gleich nach seiner Ankunft gekauft hatte, als sie im Garten der Konditorei saßen! Sie lag in sicherem Verwahr in Kalles linker Schreibtischschublade. Aber Kalle hatte sie damals nicht näher studiert. »Ein unverzeihlicher Fehler«, wies er sich selbst zurecht und sprang auf. Er erinnerte sich, daß Onkel Einar sich über die Seite mit den »Letzten Neuigkeiten« gestürzt hatte. Jetzt kam es nur darauf an, herauszukriegen, was es war, was ihn speziell interessiert hatte.

»Neuer Atombombenversuch« – kaum! »Roher Überfall auf einen alten Mann« – kann es vielleicht das sein? Nein, hier stand ja, daß es zwei junge zwanzigjährige Männer gewesen waren, die einen älteren Herrn überfallen hatten, da er ihnen keine Zigaretten geben wollte. Da konnte Onkel Einar doch nicht gut mit dabeigewesen sein. »Großer Juwelendiebstahl auf Östermalm« – Kalle stieß einen Pfiff aus und las in rasender Eile die Notiz durch.

»Ein großer Juwelendiebstahl fand in der Nacht zum Sonnabend in einer Wohnung in der Banérstraße statt. Die Wohnung, die von einem bekannten Stockholmer Bankier bewohnt wird, stand während der Nacht leer, weshalb die Diebe ganz ungestört operieren konnten. Es wird vermutet, daß sie sich Zutritt verschafft haben, indem sie mit einem Dietrich die Küchentür öffneten. Die Juwelen, die einen Wert von ungefähr hunderttausend Kronen repräsentieren, waren in einem Geldschrank verwahrt, der im Laufe der Nacht, wahrscheinlich zwischen zwei und vier Uhr, aus der Wohnung entfernt wurde. Er wurde am Sonnabendnachmittag in einem Wald, dreißig Kilometer nördlich der Stadt, gesprengt und seines Inhaltes beraubt, wiedergefunden.

Die Einbruchskommission der Kriminalpolizei, die am Sonn-abendmorgen alarmiert wurde, hat noch keine Spur von den Tätern. Man nimmt an, daß mindestens zwei oder noch mehr Personen an dem Coup beteiligt sind, den man als einen der frechsten Diebstähle bezeichnet, die bis jetzt in unserem Land verübt worden sind. Die Kriminalpolizei hat alle Polizeistationen im Lande benachrichtigt, und an allen Häfen und Grenz-

übergängen ist Extrabewachung angeordnet worden, da man vermutet, daß die Täter, um das gestohlene Gut veräußern zu können, genötigt sein werden, sich ins Ausland zu begeben. Unter den gestohlenen Gegenständen befindet sich ein außerordentlich kostbares Platinarmband mit Brillanten, eine große Anzahl Brillantringe, eine Brosche, bestehend aus vier großen Diamanten in Goldeinfassung, ein Perlenkollier aus orientali-schen Perlen und ein schwerer antiker Hängeschmuck aus Gold mit Smaragden.«

»Ich Rindvieh, ich großes, siebenfaches Rindvieh«, sagte Kalle. »Daß ich das nicht begriffen habe! Lord Peter Wimsey und Hercule Poirot hätten das schon längst herausgehabt! Das braucht man weiß Gott ja nur mit Verstand zu lesen!« Er nahm die Perle in die Hand. Wie konnte man wissen, ob eine Perle orientalisch war?

Ein Gedanke schlug plötzlich wie ein Keulenschlag in seinem Kopf ein. »Ich trage es nicht mit mir herum«, hatte Onkel Einar gesagt. Nein, natürlich nicht! Und er, Kalle Blomquist, wußte, wo das alles war, das Armband und die Brillanten und Smaragden und das Platin und wie es sonst noch hieß. In der Schloßruine natürlich! Natürlich in der Schloßruine! Onkel Einar wagte nicht, es bei sich in seinem Zimmer zu haben. Er mußte es an einer sicheren Stelle verstecken. Und der Keller in der Schloßruine war ein guter Platz, da kam niemals ein Mensch hin.

Die Gedanken brausten durch Kalles Kopf. Er mußte zur Ruine gehen und versuchen, alle die Kostbarkeiten zu finden, bevor Onkel Einar dazu kam, sie von dort wegzuholen! O Gott, er mußte ja auch Onkel Einar und die beiden anderen überwachen, so daß er sie im geeigneten Augenblick verhaften konnte!

Wo sollte er die Zeit für das alles hernehmen? Noch dazu mitten im Krieg der Rosen!

Nein, er konnte ohne Mithelfer die Sache nicht bewältigen.

Nicht einmal Lord Peter Wimsey könnte allein damit fertig werden. Er mußte Anders und Eva-Lotte einweihen und sie um ihre Hilfe bitten. Ganz gewiß taten sie ja niemals etwas anderes, als ihn wegen seiner Detektivtätigkeit zu verhöhnen, aber diesmal war es etwas anderes.

Eine kleine innere Stimme sagte Kalle, daß er in diesem Falle seine Mithelfer bei der Polizei suchen sollte, und er wußte, daß die Stimme recht hatte. Aber wenn er nun zur Polizei ging und alles erzählte – würden sie ihm glauben? Würden sie ihn nicht auslachen, wie es erwachsene Menschen zu tun pflegen? Kalle hatte nur traurige Erfahrungen von früheren Versuchen in der Detektivbranche. Keiner wollte glauben, daß man etwas ausrichten konnte, wenn man erst dreizehn Jahre alt war. Nein, er wollte lieber warten, bis er noch mehr Indizien beisammen hatte.

Kalle legte vorsichtig die Perle in den Schubkasten zurück.

Schau, da hatte er ja auch Onkel Einars Fingerabdruck! Wer weiß, wann er ihm zustatten kommen würde. Er war froh, daß er so vorsorglich gewesen war, sich den zu verschaffen.

»Die Polizei hat noch keine Spur von den Tätern«, hatte in der Zeitung gestanden Na ja, das war ja das übliche! Aber vielleicht war es ihr gelungen, sich einige Fingerabdrücke am Tatort zu sichern! Fingerabdrücke! Wenn ein Einbrecher schon früher mit der Polizei in Konflikt gekommen war, dann befanden sich seine Fingerabdrücke im Polizeiregister, und dann brauchte man sie nur mit denen zu vergleichen, die man am Tatort gefunden hatte, und die Sache war klar! Da konnte man im Handumdrehen sagen: »Diesen Einbruch hat Friedrich mit dem Fuß begangen!« Ja natürlich nur, wenn es Friedrichs Fingerabdrücke waren, die man fand. Aber es konnte auch sein, daß von dem, der den Einbruch verübt hatte, keine Fingerabdrücke im Polizeiregister waren, und dann machte die Sache schon weniger Spaß.

Aber hier saß nun Kalle mit dem Abdruck von Onkel Einars Daumen auf einem Stück Papier, einem sehr deutlichen und guten Abdruck. Und langsam entwickelte sich ein Gedanke in ihm.

Man könnte ja der armen Polizei etwas auf die Sprünge helfen, da sie »jede Spur der Täter vermißte«. Wenn es sich nun wirklich um den Einbruch in der Banérstraße handelte, an dem Onkel Einar mit beteiligt war – seiner Sache absolut sicher war Kalle natürlich nicht, aber die Indizien wiesen darauf hin –, dann würde die Stockholmer Polizei vielleicht gern das kleine Stück Papier mit Onkel Einars Daumenabdruck haben wollen.

Kalle holte Papier und Federhalter hervor. Und dann schrieb er: »An die Kriminalpolizei Stockholm.«

Er kaute eine Weile am Federhalter. Jetzt kam es darauf an, so zu schreiben, daß sie glaubten, es sei ein Erwachsener, der den Brief geschrieben hatte. Sonst warfen sie wahrscheinlich den Brief in den Papierkorb, die Dummköpfe! Kalle schrieb weiter:

»Wie aus den Zeitungen hervorgeht, scheint ein Einbruch dort in der Banérstraße gewesen zu sein. Nachdem Sie sich vielleicht ein paar Fingerabdrücke gesichert haben, schicke ich hiermit einen dito in der Hoffnung, daß er mit einem von Ihren übereinstimmt. Weitere Aufklärungen liefert gratis und franko

Karl Blomquist, Privatdetektiv

Adr.: Hauptstraße 14, Kleinköping.«

Er zögerte etwas, bevor er »Privatdetektiv« hinschrieb. Aber dann dachte er, daß die Stockholmer Polizei ihn ja niemals zu sehen bekommen würde, und da konnte sie ebensogut glauben, daß der Brief von Herrn Blomquist, Privatdetektiv, geschrieben worden war und nicht von Kalle, dreizehn Jahre alt.

»So«, sagte Kalle und klebte den Briefumschlag zu.

Und jetzt schnell zu Anders und Eva-Lotte.

ELFTES KAPITEL

Anders und Eva-Lotte saßen auf dem Dachboden der Bäckerei, dem Hauptquartier der Weißen Rose. Das war ein wunderbar gemütlicher Aufenthaltsort. Außer als Hauptquartier diente die alte Bodenkammer auch als Warenlager und als Sammelstelle für allerlei ausgediente Möbel. Da stand eine weiße Kommode, die kürzlich aus Eva-Lottes Zimmer verwiesen worden war, alte Stühle standen zusammengedrängt in einer Ecke, auch ein übel zugerichteter Eßtisch war da, auf dem man bei Regenwetter Ping-Pong spielen konnte. Aber jetzt gerade hatten Anders und Eva-Lotte keine Zeit für Ping-Pong. Sie waren eifrig damit beschäftigt, »heimliche Urkunden« herzustellen. Als sie fertig waren, legte Anders sie in einen Blechkasten, der das kostbarste Eigentum der Weißen Rose war. Da waren Erinnerungen von früheren Kriegen der Rose verwahrt, Friedensverträge, heimliche Karten, Steine mit merkwürdigen Zeichen und eine ganze Menge anderer Sachen, die für den Uneingeweihten wie Plunder aussahen. Aber für die Mitglieder der Weißen Rose bestand der Inhalt des Kastens aus lauter Kleinodien, für die man bereit war, Leben und Blut zu opfern. Der Chef trug Tag und Nacht den Schlüssel des Kästchens an einer Schnur um den Hals.

»Wo steckt eigentlich Kalle?« fragte Anders und legte ein neu angefertigtes Dokument in den Kasten.

»Er saß vor einer Weile noch im Ahorn«, sagte Eva-Lotte.

Im selben Augenblick kam Kalle angerannt.

»Hört auf damit«, keuchte er. »Wir müssen sofort mit den Roten Frieden schließen. Im schlimmsten Fall müssen wir bedingungslos kapitulieren.«

»Bist du verrückt geworden?« sagte Anders. »Wir haben ja eben erst angefangen.«

»Das hilft nichts. Wir haben uns wichtigeren Sachen zu widmen. Eva-Lotte, hast du Onkel Einar furchtbar gern?«

»Gern haben?« sagte Eva-Lotte. »Warum sollte ich ihn denn so furchtbar gern haben?«

»Ja, er ist ja doch der Vetter deiner Mutter!«

»Was das betrifft – ich glaube nicht, daß meine Mutter ihn selbst gern hat«, sagte Eva-Lotte. »Und da brauche ich ja auch nicht so besonders entzückt von ihm zu sein. Aber warum fragst du?«

»Da wirst du nicht böse sein, wenn ich dir sage, daß Onkel Einar ein Verbrecher ist?«

»Na, nu hör auf, Kalle«, sagte Anders. »Es war Friedrich mit dem Fuß, der die Kollekte geklaut hat, nicht Onkel Einar!«

»Halt’s Maul! Lies das hier, bevor du dich äußerst«, sagte Kalle und gab ihm die Zeitung. Anders und Eva-Lotte lasen die Notiz »Großer Juwelendiebstahl auf Östermalm«.

»Und jetzt hört mal zu«, sagte Kalle.

»Fühlst du dich sonst ganz gesund?« fragte Anders teilnahmsvoll. Er wies mit dem schmutzigen Zeigefinger auf eine andere Notiz: »›Wütende Kuh verursacht Panik.‹ Glaubst du nicht, daß das auch Onkel Einar gewesen sein kann?«

»Halt’s Maul, sage ich. Eva-Lotte, du hast die beiden Kerle gesehen, die vor der Gartentür standen und eben mit Onkel Einar sprachen? Das waren seine Mittäter, und Onkel Einar hat sie auf irgendeine Weise betrogen. Sie nennen sich Krok und Redig, und sie wohnen im Hotel. Und die Juwelen sind in der Schloßruine.«

Die Worte sprudelten nur so aus Kalles Mund heraus.

»In der Schloßruine? Du hast ja gesagt, daß sie im Hotel wohnen?« sagte Anders.

»Krok und Redig, ja! Aber die Juwelen, du Rindvieh, das sind ja Smaragden und Platin und Diamanten! Himmel, wenn ich daran denke, Juwelen für beinahe hunderttausend Kronen da unten im Keller!«

»Woher weißt du das?« fragte Anders äußerst zweifelnd.

»Hat Onkel Einar es gesagt?«

»Etwas kann man sich auch selbst zusammenreimen«, sagte Kalle. »Wenn man ein Kriminalrätsel lösen will, muß man immer mit dem Wahrscheinlichen rechnen.«

Das war Meisterdetektiv Blomquist, der eben mal seine Nase reingesteckt hatte, aber er verschwand bald wieder, und zurück blieb Kalle, eifrig gestikulierend und fürchtend, daß er die anderen beiden nicht würde überzeugen können. Es dauerte eine ganze Weile. Aber schließlich gelang es ihm. Nachdem er alles erzählt und über seine Beobachtungen Bericht erstattet hatte, über seinen nächtlichen Besuch bei Onkel Einar, den Perlen-fund in der Ruine und das Gespräch, das er oben im Ahornbaum belauscht hatte, war sogar Anders beeindruckt.

»Wahrhaftig, der Junge wird Detektiv, wenn er groß ist«, sagte er billigend. »Zum Krieg der Rosen haben wir jetzt keine Zeit.«

»Naa, jetzt weiß ich es«, sagte Eva-Lotte. »Das ist der Grund, weshalb ich die Kuchenbüchsen nicht in Ruhe lassen kann. Ich bin ein Langfinger, genau wie Onkel Einar. So ist das, wenn man mit einem Verbrecher verwandt ist. Aber aus dem Hause soll er, und das sofort! Denkt bloß, wenn er das Silber-zeug klaut!«

»Du mußt dich noch eine Weile gedulden«, sagte Kalle. »Im übrigen hat er an wichtigere Sachen zu denken als an Silberzeug, das kannst du mir glauben. Er ist in einer verdammten Klemme, denn Krok und Redig bewachen ihn wie ihren Augen-stern.«

»Also deswegen hat er sich nach dem Essen hingelegt! Er sagte, daß er krank sei.«

»Du kannst dich darauf verlassen, er hat sich wirklich krank gefühlt«, sagte Anders. »Aber jetzt müssen wir vor allen Dingen mit den Roten Frieden schließen. Du, Eva-Lotte, kannst die Parlamentärfahne hissen und hingehen und die Sache ordnen.

Die werden natürlich glauben, daß wir verrückt geworden sind.«

Eva-Lotte band gehorsam ein weißes Taschentuch an einen Stock und marschierte zu Sixtus’ Garage hin, wo ihr Angebot bedingungsloser Kapitulation sowohl mit Verwunderung als auch mit Mißvergnügen entgegengenommen wurde.

»Seid ihr nicht gesund?« fragte Sixtus. »Jetzt, wo wir gerade so schön in Gang gekommen sind!«

»Wir übergeben uns bedingungslos«, sagte Eva-Lotte. »Ihr habt gewonnen. Aber wir werden euch bald wieder beleidigen, und dann sollt ihr mal sehen, wie die Funken fliegen!«

Sixtus setzte widerwillig einen Friedensvertrag mit äußerst harten Bedingungen für die Weißen auf: Sie sollten bei Ausbe-zahlung des wöchentlichen Taschengeldes auf die Hälfte verzichten, zwecks Einkaufs von gemischten Bonbons für die Roten. Wenn sie einem der Roten auf der Straße begegneten, sollten sich außerdem die Weißen dreimal tief verbeugen und sagen: »Ich weiß, daß ich nicht würdig bin, den gleichen Boden zu betreten wie du, o Herr!«

Eva-Lotte unterzeichnete den Vertrag im Auftrag der Wei-

ßen, drückte feierlich dem Chef der Roten die Hand und rannte zum Bäckereiboden zurück. Als sie durch die Gartentür lief, konnte sie nicht vermeiden, einen von Onkel Einars »Freun-den« zu sehen, der gegenüber auf dem Bürgersteig stand.

»Der Wachtdienst ist in vollem Gang«, rapportierte sie.

»Das hier wird sicher ein Krieg, der besser ist als der der Rosen«, sagte Anders zufrieden. »Du, Kalle, was wollen wir jetzt machen?«

Obwohl Anders sonst der Chef war, sah er ein, daß er sich in diesem speziellen Fall Kalle unterordnen mußte.

»Vor allen Dingen die Juwelen ausfindig machen! Wir müssen zur Schloßruine. Aber einer muß zu Hause bleiben und Onkel Einar und die andern beiden überwachen.«

Kalle und Anders sahen Eva-Lotte auffordernd an.

»Niemals!« sagte Eva-Lotte bestimmt. »Ich will mitgehen und die Juwelen suchen. Im übrigen liegt Onkel Einar im Bett und tut so, als ob er krank wäre. Es wird also wohl nichts passieren, während wir weg sind.«

»Wir wollen eine Streichholzschachtel vor seine Tür legen«, schlug Kalle vor. »Wenn sie noch genauso daliegt, wenn wir nach Hause kommen, dann wissen wir, daß er nicht fort gewesen ist.«

»Mit Hacke und mit Spaten, so ziehn wir fröhlich aus«, sang Anders, als sie eine Weile später die schmale Treppe zur Ruine hinaufeilten.

»Wenn wir jemand treffen, dann sagen wir, daß wir nach Regenwürmern graben wollen«, sagte Kalle.

Aber sie trafen niemand, und die Ruine lag einsam und verlassen da wie immer. Es war kein anderer Laut zu hören als das Summen der Hummeln.

Plötzlich fiel Anders etwas ein. »Wie in aller Welt sollen wir in den Keller runterkommen? Du hast ja gesagt, daß dort die Juwelen sein müssen, Kalle. Wie bist du damals reingekommen, als du die Perle gefunden hast?«

Das war Kalles großer Augenblick. »Ja, wie pflegt man durch geschlossene Türen zu kommen?« sagte er überlegen und holte den Dietrich hervor.

Das imponierte Anders mehr, als er eigentlich zugeben wollte.

»Kreuzdonnerwetter!« sagte er, und Kalle faßte das als Kompliment auf.

Die Tür drehte sich in ihren Angeln – der Durchgang war frei. Und wie eine Koppel Jagdhunde stürzten Kalle, Anders und Eva-Lotte die Treppe hinunter.

Nachdem sie zwei Stunden gegraben hatten, legte Anders den Spaten fort.

»Ja, jetzt sieht der Fußboden hier wie ein besseres Kartoffel-feld aus. Aber ich habe niemals irgendwo so wenig Diamanten gesehen wie hier. Woran das nun liegen mag!«

»Du kannst doch wohl nicht erwarten, daß wir sie sofort finden!« sagte Kalle. Aber auch er war entmutigt. Sie hatten jeden Zoll des Fußbodens in dem großen Kellerraum, der unter der Treppe lag, umgegraben. Dies war der eigentliche Keller. Aber von da aus zweigten lange, dunkle, zum Teil eingefallene Gänge ab, die in Krypten, Gewölbe und Gefängnishöhlen führten. Diese Gänge sahen nicht so besonders verlockend aus, aber es war natürlich möglich, daß Onkel Einar aus reiner Vorsicht seinen Schatz irgendwo weiter hinten im Keller vergraben hatte. Und da konnten sie ein ganzes Jahr danach suchen. Wenn er ihn überhaupt in der Schloßruine versteckt hatte. In Kalle fing leiser Zweifel an zu keimen.

»An welcher Stelle hast du die Perle gefunden?« fragte Eva-Lotte.

»Dort, bei der Treppe«, sagte Kalle. »Aber da haben wir ja alles umgegraben.«

Eva-Lotte sank gedankenvoll auf die unterste Treppenstufe nieder. Die Steinplatte, die die unterste Treppenstufe bildete, war offenbar nicht befestigt, denn sie wackelte etwas, als sie sich darauf setzte. Eva-Lotte flog wieder hoch.

»Man kann wohl nicht annehmen …« fing sie an und griff mit eifrigen Händen um die Steinplatte. »Sie ist lose, seht doch bloß!«

Zwei Paar Arme kamen ihr zu Hilfe. Die Steinplatte wurde zur Seite geschoben, und eine Menge Mauerasseln krochen schnell nach allen Seiten hin fort.

»Grab hier!« sagte Kalle aufgeregt zu Anders. Anders nahm den Spaten und stieß ihn mit aller Kraft da nieder, wo die Steinplatte gelegen hatte. Etwas leistete Widerstand.

»Das ist natürlich ein Stein«, sagte Anders, und er zitterte etwas, als er seinen Finger hinunterstreckte, um nachzufühlen.

Aber es war kein Stein. Es war … Anders betastete mit erdigen Händen den Gegenstand – es war ein Blechkasten. Er hob ihn auf – es war genau der gleiche wie der Reliquienschrein der Weißen Rose.

Kalle brach das atemlose Schweigen.

»Nu schlägt’s dreizehn«, sagte er. »Er hat unsern Kasten geklaut, der Dieb!«

Anders schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht unsrer. Den habe ich vor einer Weile mit meinen eigenen Händen verschlossen.«

»Aber es ist genau der gleiche«, sagte Eva-Lotte.

»Dann – hat er ihn im Eisengeschäft gekauft, gleichzeitig mit der Taschenlampe«, sagte Kalle. »Sie haben solche Kästen im Eisenwarengeschäft.«

»Ja, da haben wir auch unseren gekauft«, sagte Eva-Lotte.

»Mach ihn auf, bevor ich einen Anfall bekomme«, sagte Kalle.

Anders befühlte den Kasten. Er war verschlossen. »Ob der gleiche Schlüssel für alle diese Blechkästen paßt?« Er riß den Schlüssel hoch, der an einer Schnur um seinen Hals hing.

»Oh«, sagte Eva-Lotte. »Oh!«

Kalle atmete, als ob er zerspringen wollte. Anders steckte den Schlüssel hinein und drehte um. Er paßte.

»Oh«, sagte Eva-Lotte. Und als Anders den Deckel hob: »Nein, nein – das ist ja … das ist ja wie in Tausendundeiner Nacht!«

»Ja, also so sieht das aus – Smaragden und Platin«, sagte Kalle andächtig. Da lag alles genauso, wie es in der Zeitung gestanden hatte. Broschen und Ringe und Armbänder und ein zerris-senes Perlenkollier mit Perlen, ganz genau wie die, die Kalle gefunden hatte.

»Hunderttausend Kronen!« flüsterte Anders. »Junge, das ist beinahe unheimlich!«

Eva-Lotte ließ die Juwelen zwischen ihren Fingern durch-gleiten. Sie nahm ein Armband und zog es über ihren Arm, und sie steckte eine Diamantbrosche an ihr blaues Baumwollkleid.

Sie zog einen Ring über jeden ihrer zehn Finger, und so geschmückt stellte sie sich vor die kleine Luke, durch die die Sonne hereinströmte. Es glänzte und funkelte um sie herum.

»Oh, wie wunderbar! Bin ich nicht wie die Königin von Saba?«

»Wir haben jetzt keine Zeit mehr für so was«, sagte Kalle.

»Wir müssen eiligst von hier weg. Nehmt mal an, Onkel Einar kommt plötzlich auf die Idee, sich hierherzuschleichen und den Schrein auszugraben! Nehmt an, er kommt jetzt gleich! Das wäre ungefähr ebenso angenehm, wie einem bengalischen Tiger zu begegnen, was?«

»Ich würde den Tiger vorziehen«, sagte Anders. »Aber Onkel Einar wagt nicht auszugehen, wie du weißt. Denn Krok und Redig stehen da und lauern ihm auf.«

»Für alle Fälle«, sagte Kalle, »müssen wir sofort zur Polizei.«

»Polizei!« Anders’ Stimme drückte höchstes Mißvergnügen aus. »Du denkst wohl nicht, daß wir die Polizei einmischen wollen, jetzt, wo es gerade interessant wird!«

»Das hier ist kein Krieg der Rosen«, sagte Kalle nüchtern.

»Wir müssen augenblicklich zur Polizei gehen. Die Schurken müssen verhaftet werden, das mußt du doch begreifen!«

Anders kraulte sich hinterm Ohr. »Könnten wir sie nicht in eine Falle locken und dann zur Polizei sagen: Hier, bitte, habt ihr drei prima Banditen, die wir für euch gefangen haben!«



Kalle schüttelte den Kopf. Ach, wie viele Male hatte nicht der Meisterdetektiv Blomquist auf eigene Faust Dutzende von groben Verbrechern unschädlich gemacht! Aber Meisterdetektiv Blomquist war die eine Person und Kalle die andere. Und mitunter war Kalle ein praktischer und verständiger junger Mann.

»Wie du willst!« Anders beugte sich widerwillig der Sach-kenntnis, die Kalle immerhin auf kriminalistischem Gebiet repräsentierte.

»Aber dann«, sagte Eva-Lotte, »wollen wir mit Björk sprechen. Er und niemand anders soll uns helfen. Dann wird er danach vielleicht Wachtmeister!«

Anders betrachtete das Resultat der Ausgrabungen. »Was wollen wir damit machen? Kartoffeln setzen oder alles wieder zuschaufeln?«

Kalle meinte, daß es wohl am klügsten wäre, die Spuren ihres Besuches im Keller notdürftig zu verwischen.

»Aber beeile dich«, sagte er. »Es macht einen ganz nervös, hier zu stehen und einen Blechkasten mit hunderttausend Kronen in den Händen zu halten. Ich will so schnell wie möglich fort von hier.«

»Wie wollen wir es mit dem Kasten machen?« fragte Eva-Lotte.

»Wir können doch nicht ohne weiteres mit ihm angeschleppt kommen. Wo wollen wir ihn verstecken, bis wir mit Björk gesprochen haben?«

Nachdem man eine Weile beratschlagt hatte, wurde bestimmt, daß Anders den kostbaren Kasten ins Hauptquartier der Weißen Rose auf dem Bäckereiboden bringen sollte, während Kalle und Eva-Lotte losgingen, um Schutzmann Björk aufzusuchen.

Anders zog sein Hemd aus und wickelte es um den Kasten.

Nur in Hosen, mit dem Spaten in der Hand und dem in das Hemd eingewickelten Kasten in der anderen, trat er den Rückzug an. »Die glauben sicher, daß ich Regenwürmer ausgegraben habe, wenn ich jemand treffe«, sagte er hoffnungsvoll.

Kalle schlug die Tür zu. »Etwas ist schade«, sagte er.

»Was denn?« fragte Eva-Lotte.

»Daß man nicht sehen kann, was Onkel Einar für ein Gesicht macht, wenn er kommt, um den Kasten zu holen.«

»Ja, das wäre fünfundzwanzig Öre wert!«

Auf der Polizeiwache herrschte Ruhe und Frieden. Ein Schutzmann saß da und löste Kreuzworträtsel, als ob es keine Verbrechen in der Welt gäbe. Aber es war nicht Björk.

»Ist Schutzmann Björk zu sprechen?« Kalle verbeugte sich höflich.

»Er ist auf Dienstreise und kommt morgen zurück. Aber weißt du ein mythologisches Wunder mit acht Buchstaben?«

Der Schutzmann biß in den Bleistift und sah Kalle an.

»Nein, ich komme in einer ganz anderen Angelegenheit«, sagte Kalle.

»Ja, wie gesagt, Björk kommt morgen wieder. Aber einen weiblichen Krieger mit sieben Buchstaben?«

»Eva-Lotte«, sagte Kalle. »Natürlich, das sind acht Buchstaben! Danke, wir kommen morgen wieder!«

Kalle zog Eva-Lotte mit sich hinaus. »Man kann über solche Sachen nicht mit einem Hanswurst reden, der sich nur für mythologische Wunder interessiert«, sagte er.

Eva-Lotte war derselben Meinung. Sie einigten sich dahin, daß es wohl kein Risiko wäre, mit der polizeilichen Anzeige bis zum nächsten Tag zu warten. Onkel Einar lag ja in sicherem Gewahrsam in seinem Bett.

»Und da steht Krok vor dem Uhrengeschäft«, flüsterte Kalle Eva-Lotte zu. »Hast du je im Leben so eine Visage gesehen?«

»Das ist fein, daß die Schurken sich gegenseitig bewachen«, sagte Eva-Lotte. »Das ist genauso, wie das Sprichwort sagt: Wenn die Unschuld schläft, halten Engel Wache!«

Kalle befühlte seine Armmuskeln. »Aber morgen, Eva-Lotte!

Da gibt es Kampf auf Leben und Tod!«



ZWÖLFTES KAPITEL

Der Tag versprach, ungewöhnlich heiß zu werden. Die Levkojen auf dem Beet in Bäckers Garten ließen schon am Morgen die Köpfe hängen. Nicht ein Lüftchen bewegte sich, und sogar Tusse zog es vor, im Schatten auf der Veranda zu bleiben, wo Frida vollauf damit beschäftigt war, den Frühstückstisch zu dek-ken. Eva-Lotte kam, nur mit dem Nachthemd bekleidet, angelaufen, noch mit dem Muster des Kopfkissens auf der Wange.

»Wissen Sie, Frida, ob Onkel Einar schon wach ist?«

Frida sah geheimnisvoll aus.

»Frag lieber, ob er geschlafen hat! Gerade das hat er eben nicht! Ich will dir was sagen, Eva-Lotte: Herr Lindeberg hat heute nacht gar nicht in seinem Bett gelegen.«

Eva-Lotte sperrte die Augen auf. »Wie meinen Sie das, Frida? Wie können Sie das denn wissen?«

»Ja, ich war drin und wollte ihm Rasierwasser bringen. Und da war das Zimmer leer, und das Bett war genauso, wie ich es gestern abend zurechtgemacht hatte, nachdem er fortgegangen war. Denn gegen Abend, da wurde er wieder gesund.«

»Ist er gestern abend ausgegangen? Als ich schon im Bett war?« Eva-Lotte wurde so eifrig, daß sie Fridas Arm ergriff.

»Ja, ja doch! Wahrscheinlich wegen des Briefes, den er bekommen hat. Himmel, ich hab’ ja Salz und Zucker vergessen!«

»Was für ein Brief, Frida? Nein, gehen Sie nicht! Was war das für ein Brief?« Eva-Lotte schüttelte Fridas Arm.

»Schrecklich, wie neugierig du bist, Eva-Lotte! Ich weiß nicht, was das für ein Brief war, denn ich lese nicht andrer Leute Briefe. Aber vor der Gartentür standen zwei Männer, als ich gestern abend vom Milchholen kam. Und die haben mich gebeten, Herrn Lindeberg einen Brief zu geben, und das hab’ ich natürlich getan, und da war er auf einmal gesund. So war die Sache!«

Eva-Lotte brauchte eine Minute, um sich anzuziehen, und ungefähr ebensoviel Zeit, um zu Kalle rüberzurennen. Anders war schon da.

»Was sollen wir anfangen? Onkel Einar ist verschwunden!

Und wir haben ihn noch nicht verhaftet!«

Die Nachricht schlug ein wie ein Blitz.

»Habe ich mir das nicht gleich gedacht?« sagte Anders wütend. »Das ist geradeso wie damals im Frühjahr, als ich den Hecht am Haken hatte und er sich im letzten Augenblick los-riß!«

»Ruhe! Besinnung!« mahnte Kalle – ja, das war eigentlich Meisterdetektiv Blomquist, der ein kleines Gastspiel gab. »Me-thodische Arbeit, das ist das einzig Vernünftige! Wir wollen erst mal eine Haussuchung bei Lindeberg – ich meine Onkel Einar –vornehmen!«

Der Ordnung halber kontrollierte Kalle, ob keiner der Herren Krok und Redig auf dem Bürgersteig Posten stand. Der Wachtdienst hatte offenbar aufgehört.

»Das Bett unberührt, der Reisekoffer noch hier«, summierte Kalle, nachdem sie sich in Onkel Einars Zimmer hineingeschli-chen hatten. »Es sieht so aus, als ob er die Absicht hat zurückzukommen. Aber das kann natürlich auch eine Finte sein.«

Anders und Eva-Lotte setzten sich auf die Bettkante und blickten düster vor sich hin.

»Nein, er kommt sicher niemals wieder«, sagte Eva-Lotte.

»Aber die Juwelen haben wir wenigstens gerettet.«

Kalle schnüffelte mit Stielaugen im Zimmer herum. Der Papierkorb natürlich! Reine Routinearbeit! Da lagen ein paar leere Zigarettenschachteln, einige abgebrannte Streichhölzer und eine alte Zeitung. Und dann ein ganzer Haufen kleine, kleine Papierstückchen!

Kalle stieß einen Pfiff aus. »Jetzt wollen wir Puzzle spielen«, sagte er. Er sammelte die kleinen Papierstückchen und legte sie vor sich auf den Schreibtisch. Anders und Eva-Lotte rückten interessiert näher.

»Glaubst du, daß das der Brief sein kann?« fragte Eva-Lotte.

»Das werden wir gleich sehen!« Kalle hantierte mit den Papierstückchen – er bekam hier ein Wort und da ein Wort zusammen.

Es war der Brief. Bald hatte er sein Puzzlespiel fertig. Drei Köpfe beugten sich eifrig darüber und lasen:

»Einar, alter Freund!

Wir haben uns die Sache überlegt, Tjomme und ich. Wir wollen teilen! Allerdings hast du dich wie ein Schwein benommen, und wenn wir nur ein bißchen mehr Zeit hätten, dann würden wir bestimmt das Ganze aus dir rausquetschen. Aber, wie gesagt, wir teilen! Das ist für uns alle das beste, besonders für dich. Ich hoffe, daß du das begreifst. Aber merke dir: keine Tricks! Versuchst du noch einmal, uns zu begaunern, dann bist du fertig mit diesem Erdenleben, darauf geb’ ich dir mein Wort! Reines Spiel diesmal! Wir warten auf dich vor der Gartentür. Beeil dich und bring den Kram mit, dann verschwinden wir sofort.

Artur.«

»Aha, die Schurken haben sich wieder zusammengetan«, sagte Kalle. »Aber nach dem Kram können sie jetzt lange suchen!«

»Ich möchte wissen, wo sie jetzt sind«, sagte Anders. »Ob sie vielleicht schon aus der Stadt abgehauen sind? Ich kann mir denken, daß sie wütend sind wie Hornissen.«

»Und wie die sich den Kopf darüber zerbrechen werden, wer die Juwelen weggeholt hat!« Eva-Lotte sah ordentlich aufgelebt aus bei dem Gedanken.

»Ob wir uns zur Ruine raufschleichen und nachsehen, ob sie noch hier sind und suchen? Wenn ja, dann hetzen wir augenblicklich die Polizei auf sie«, sagte Anders. Doch jetzt fiel ihm etwas ein. »Aber wie können sie in den Keller kommen, wenn Onkel Einar seinen Dietrich nicht mehr hat?«

»Ach, solche Kerle wie Krok und Redig sind sicher von Kopf bis Fuß mit Dietrichen behängt, das kannst du dir doch denken«, sagte Kalle.

Er sammelte sorgfältig alle Papierstückchen zusammen und legte sie in eine Zigarettenschachtel, die er in seine Tasche steckte. »Das ist ein Indizium – versteht ihr?« sagte er erklärend zu Anders und Eva-Lotte.

Es war drückend heiß in der Sonne. Anders, Kalle und Eva-Lotte keuchten. Sie wagten nicht, die gewöhnliche Treppe wie sonst zu benutzen, um zur Ruine hinaufzugehen, weil sie nicht riskieren wollten, die drei Juwelendiebe zu treffen.

»Das wäre wirklich unangenehm«, sagte Kalle. »Sie könnten uns verdächtigen, und das wäre das Schlimmste, was uns passieren könnte. Denn der Redig sieht nicht so aus, als ob er dulden würde, daß jemand sich in seine Angelegenheit mischt.«

»Nee, ich glaube nicht, daß sie noch da sind«, sagte Anders.

»Ich glaube, die kriegten’s mit der Angst zu tun, als sie sahen, daß die Juwelen fort waren. Wenn Onkel Einar sie nicht auf eine falsche Spur geführt hat!«



Es war mühsam, den steilen Abhang hinaufzuklettern. Aber es war notwendig, wenn man nicht die Treppe benutzen wollte.

Man mußte klettern und kriechen und sich am Gebüsch festhal-ten und sich gegen Steine stemmen. Und warm war es, schrecklich warm! Eva-Lotte begann hungrig zu werden. Sie hatte keine Zeit gehabt, etwas zu essen, bevor sie von zu Hause fortging, sie hatte nur ein paar Brötchen in ihre Kleidertasche gesteckt.

Da lag die Ruine. Es war einer der Vorteile, wenn man nicht die Treppe benutzte, daß man oben hinter der Ruine ankam und sich vorwärts schleichen und vorsichtig um die Ecke sehen konnte, falls sich etwas Gefährliches zeigte. Aber alles war ruhig. Die Hummeln summten wie immer, die Heckenrosen duf-teten wie immer, die Tür zum Keller war verschlossen wie immer.

»Was ich gesagt habe! Sie sind weg! Daß wir sie nicht gestern abend verhaftet haben, wird mich bis an mein Lebensende ärgern«, sagte Anders.

»Wir müssen in den Keller runtergehen und sehen, ob wir Spuren von ihnen finden«, sagte Kalle und holte den Dietrich hervor.

»Du gehst mit dem Dietrich um wie der schlimmste Einbrecher«, sagte Anders voller Bewunderung, als die Tür aufging.

Alle drei drängten sich auf einmal die Treppe hinunter. Im selben Augenblick hörte man einen gellenden Schrei, der die ganze Ruine erfüllte. Wer schrie, das war Eva-Lotte. Und weshalb schrie sie? Da lag jemand auf dem Fußboden. Onkel Einar lag dort. Seine Hände waren nach hinten gebunden und fest zu-sammengeschnürt. Seine Beine waren mit starken Stricken gefesselt. Und in den Mund war ein Taschentuch hineingepreßt.

Der erste Impuls der Kinder war, die Flucht zu ergreifen.

Onkel Einar war ja jetzt ihr Feind, das war ihnen klar. Aber ihr Feind war in seinem jetzigen Zustand vollständig wehrlos. Er starrte sie mit blutunterlaufenen Augen an. Kalle ging hin und befreite ihn von dem Taschentuch.

Onkel Einar stöhnte. »Oh, diese Lumpen, was die mit mir gemacht haben! Himmel, meine Arme! Nehmt mir die Stricke ab!«

Eva-Lotte wollte zu ihm hin. Aber Kalle hielt sie auf. »Einen Augenblick«, sagte er. Er sah äußerst verlegen aus. »Entschuldige, Onkel Einar, aber wir müssen wohl erst die Polizei holen.«

Er fand, daß es etwas ganz Unerhörtes war, daß er es wagte, so etwas zu einem Erwachsenen zu sagen.

Onkel Einar fluchte einen langen Fluch. Dann stöhnte er wieder. »Ach so, das seid ihr, denen ich das kleine Vergnügen hier zu verdanken habe! Das hätte ich mir denken können. Meisterdetektiv Blomquist!« Es war unangenehm, sein Stöhnen mit anzuhören. »Zum Teufel, steht nicht da und glotzt!« schrie er.

»Holt doch die Polizei, ihr Schnüffler! Aber ihr könnt mir wenigstens etwas Wasser geben!«

Anders lief, so schnell ihn seine Beine trugen, hinauf zu dem alten Brunnen auf dem Burghof. Da gab es klares, frisches Wasser und eine große eiserne Kelle, aus der man trinken konnte.

Onkel Einar trank, als ob er niemals vorher in seinem Leben Wasser gesehen hätte, als Anders die Kelle an seinen Mund führte. Aber dann fing er wieder an zu jammern.

»Oh, meine Arme!«

Das war mehr, als Kalle aushalten konnte. »Wenn du bestimmt versprichst, daß du nicht versuchst, dich zu drücken, dann können wir vielleicht den Strick von deinen Armen losmachen.«

»Ich verspreche, was ihr wollt«, sagte Onkel Einar.

»Und im übrigen hat es keinen Zweck, es zu versuchen, denn wenn einer von uns nach der Polizei geht, dann sind wir immer noch zwei, die Wache halten. Und deine Beine sind ja gebunden.«



»Dein Beobachtungsvermögen verdient alles Lob«, sagte Onkel Einar.

Es gelang Anders, wenn auch mit etwas Mühe, den Strick aufzubinden, mit dem Onkel Einars Arme festgeschnürt waren.

Als der Strick gelockert war, schienen die Schmerzen noch stärker zu sein als vorher, denn Onkel Einar saß eine ganze Weile da und wiegte seinen Oberkörper hin und her, indem er laut jammerte.

»Wie lange hast du hier so gelegen?« fragte Eva-Lotte, und ihre Stimme zitterte.

»Seit gestern abend, meine schöne junge Dame«, sagte Onkel Einar. »Und das dank eurer Einmischung.«

»Ja, das ist unangenehm«, sagte Kalle. »Entschuldige, bitte, aber jetzt müssen wir die Polizei holen!«

»Könnten wir nicht über die Sache reden?« fragte Onkel Einar. »Wie zum Teufel habt ihr es übrigens fertiggebracht, die Sache hier herauszuschnüffeln? Ganz gleich, wie, aber es ist klar, daß ihr es seid, die die Juwelen genommen haben, und es ist vor allen Dingen das wichtigste, daß sie wieder zum Vorschein kommen. Herr Meisterdetektiv, könnten Sie nicht einen armen Sünder um unserer alten Freundschaft willen loslassen?«



Die Kinder standen stumm da.

Onkel Einar wandte sich an Eva-Lotte. »Du willst doch nicht, daß einer aus der Familie im Gefängnis landet?«

»Wenn man etwas verbrochen hat, dann muß man auch seine Strafe haben«, sagte Eva-Lotte.

»Das einzige, was wir machen können, ist, die Polizei zu holen. Willst du gehen, Anders?«

»Ja«, sagte Anders.

»Verdammte Gören!« schrie Onkel Einar. »Hätte ich euch bloß die Hälse umgedreht, solange noch Zeit war!«

Anders nahm die Treppe in ein paar Sprüngen. Und jetzt schnell durch die Tür! Aber da stand jemand im Wege. Zwei waren es, die da standen und den Türeingang versperrten. Der eine, der mit dem blassen Gesicht, hielt einen Revolver in der Hand.

DREIZEHNTES KAPITEL

»Ich glaube, wir kommen mitten in eine Familienfestlichkeit rein!« Der Blasse lachte. »Der Kinderfreund Einar im Kreise seiner Lieben! Das ist so reizend, daß man es fotografieren und in die Zeitung setzen sollte. Mißversteh mich nicht, lieber Einar, ich meine nicht unter Polizeinachrichten. Es gibt ja andere Veröffentlichungen!«

Er machte eine Pause und betrachtete seinen Revolver.

»Wie schade, daß wir gestört haben«, fuhr er fort. »Wenn wir noch etwas gewartet hätten, so wärst du bald durch deine kleinen Freunde befreit worden, und dann wäre es dir vielleicht etwas leichter als gestern abend gefallen, den Kram zu finden.«

»Artur, hör mich an!« sagte Onkel Einar. »Ich schwöre, daß …«

»Das hast du gestern abend genügend getan«, unterbrach ihn der Blasse. »Wenn du Lust bekommst, zu sagen, wo du das Zeug versteckt hast, dann kannst du den Mund aufmachen. Bis dahin – halt’s Maul. Und bis dahin wirst du wie eine Weinfla-sche liegend aufbewahrt. Ich hoffe, deine kleinen Freunde haben nichts dagegen, daß ich dir die Arme wieder festbinde? Und du bist wohl nicht allzu hungrig und durstig, alter Junge? Denn ich kann dir leider nichts anderes geben als dieses Taschentuch, an dem du bis auf weiteres kauen kannst. Bis du Vernunft angenommen hast!«

»Artur«, rief Onkel Einar ganz verzweifelt, »du mußt mich anhören! Weißt du, wer es an sich genommen hat? Ja, diese Brut hier hat es!« Er zeigte auf die Kinder. »Und sie waren gerade dabei, die Polizei zu holen, als ihr reinkamt. Himmel, ich hab’ niemals gedacht, daß ich mich mal freuen würde, dich und Tjomme zu sehen! Aber gerade jetzt kommt ihr wie gerufen.«

Es blieb eine Weile still. Das blasse Gesicht mit den unsteten Augen wandte sich den Kindern zu. Kalle bekam das Gefühl einer bevorstehenden unerhörten Gefahr. Das war etwas anderes und viel Unheimlicheres als das damals, da er vor Onkel Einars Revolver stand.

Der Unangenehme, der, der Tjomme genannt wurde, brach das Schweigen. »Vielleicht sagt er ausnahmsweise doch mal die Wahrheit, Artur!«

»Das ist möglich«, antwortete Artur »Das werden wir bald heraushaben.«

»Laß mich mit den Bälgern reden«, sagte Onkel Einar. »Ich werde schon aus ihnen rauspressen, was wir wissen wollen.«

Anders, Kalle und Eva-Lotte wurden eine Spur blasser. Kalle hatte recht gehabt, das hier war etwas anderes als der Krieg der Rosen.

»Artur«, sagte Onkel Einar, »wenn du endlich eingesehen hast, daß ich nicht mehr versuche, euch hinters Licht zu führen, dann siehst du wohl auch ein, daß wir jetzt mehr als je zusam-menhalten müssen. Schneide das hier auf« – er zeigte auf den Strick um seine Beine –, »und laß uns die Sache in Ordnung bringen. Ich habe das Gefühl, daß es höchste Zeit für uns ist, von hier wegzukommen!«

Artur ging ohne ein Wort zu ihm hin und schnitt den Strick durch. Onkel Einar erhob sich mit Mühe und rieb seine schmerzenden Glieder. »Das war die längste Nacht, die ich jemals erlebt habe«, sagte er.

Sein Freund Artur lachte – ein boshaftes Lachen! –, und Tjomme ließ ein glucksendes Gelächter hören.



Onkel Einar ging zu Kalle und faßte ihn unters Kinn. »Wie war das, Herr Meisterdetektiv, wolltest du nicht die Polizei holen lassen?«

Kalle antwortete nicht. Das Spiel war verloren, und er wußte es.

»Ich will dir sagen, Artur«, fuhr Onkel Einar fort, »diese Kinder hier sind unglaublich verständig. Es sollte mich sehr wundern, wenn sie nicht nett und bescheiden dem Onkel Einar erzählen würden, wo die Juwelen sind, deren Versteck sie tatsächlich herausgeschnüffelt haben.«

»Wir haben sie nicht hier, und wir sagen nicht, wo sie sind«, sagte Anders trotzig.

»Hört mich mal an, Kinderchen«, sagte Onkel Einar. »Diese beiden netten Onkels, die ihr hier seht, haben sich gestern abend geirrt. Sie haben geglaubt, daß ich weiß, wo die Juwelen sind, und nicht sagen wollte, wo ich sie versteckt habe. Und deshalb haben sie mir eine Nacht lang Zeit gegeben, darüber nachzudenken. Und, wie gesagt, das war die längste Nacht, die ich je in meinem Leben verbracht habe. In den Nächten ist es hier im Keller ganz dunkel, kohlschwarz und auch kalt. Und man schläft so schlecht, wenn Arme und Beine festgebunden sind. Und dann wird man hungrig und durstig, das kann ich euch versichern. Sicher ist es angenehmer, zu Hause bei der Mutter zu schlafen, was, Eva-Lotte?«

Eva-Lotte sah Onkel Einar an, und sie hatte genau den gleichen Ausdruck in ihren Augen wie damals, als er ihre geliebte Tusse gequält hatte.

»Herr Meisterdetektiv«, fuhr Onkel Einar fort, »wie würde es dir gefallen, eine Nacht – oder sagen wir: zwei Nächte hier in der Ruine zu verbringen? Oder vielleicht sogar all deine zukünf-tigen Nächte?«

Kalle fühlte einen kleinen, unheimlichen Schreck über seinen Rücken kriechen.

»Wir haben es eilig«, unterbrach Artur Redig. »Diese ganze Geschichte hier ist schon allzusehr in die Länge gezogen worden. Hört zu, Kinder! Ich bin kinderlieb, das bin ich bestimmt; aber Kinderchen, die es sich in den Kopf gesetzt haben, gleich zur Polizei zu laufen, für die habe ich nichts übrig. Wir werden gezwungen sein, euch hier in den Keller einzuschließen. Aber es hängt von euch ab, ob ihr wieder lebendig hier rauskommt oder nicht. Entweder rückt ihr mit den Juwelen raus, und dann braucht ihr hier nicht länger als eine oder vielleicht zwei Nächte zu bleiben. Sobald wir in Sicherheit sind, schreibt euer lieber Onkel Einar und berichtet, wo ihr seid.« Er machte eine Pause.

»Oder aber ihr wollt nicht sagen, wo ihr die Juwelen versteckt habt. Und da würden mir eure lieben Mütter so leid tun, daß ich gar nicht wage, daran zu denken.«

Anders und Kalle und Eva-Lotte wagten auch nicht, daran zu denken. Kalle sah die beiden anderen fragend an. Anders und Eva-Lotte nickten zustimmend. Da war nichts anderes zu machen. Sie mußten erzählen, wo der Blechkasten war.

»Na, Herr Meisterdetektiv«, sagte Onkel Einar aufmunternd.

»Werden wir bestimmt herausgelassen, wenn wir es sagen?«

fragte Kalle.

»Selbstverständlich«, sagte Onkel Einar. »Verläßt du dich nicht auf Onkel Einar, mein Junge? Ihr braucht nur so lange zu bleiben, bis wir einen etwas gemütlicheren Ort als diese Stadt hier gefunden haben. Ich werde sogar Onkel Artur bitten, euch nicht festzubinden, und da könnt ihr es richtig nett hier haben.«

»Der Blechkasten steht in der weißen Kommode auf dem Bäckereiboden«, sagte Kalle, und es sah aus, als ob es ihn eine unerhörte Anstrengung kostete, die Worte herauszukriegen.

»Da, wo der Zirkus Kalottan war.«

»Ausgezeichnet«, sagte Onkel Einar.

»Bist du sicher, daß du weißt, wo das ist, Einar?« fragte Artur Redig.

»Absolut! Und da kannst du sehen, Artur, daß es am klügsten für uns alle ist, zusammenzuhalten. Keiner von euch kann auf den Bäckereiboden gehen, ohne Mißtrauen zu erwecken, aber ich kann es!«

»All right!« sagte Artur. »Wir wollen jetzt gehen.« Er betrachtete die Kinder, die stumm nebeneinander dastanden. »Ich hoffe, ihr habt die Wahrheit gesagt! Ehrlich währt am längsten, meine jungen Freunde, das ist ein guter Wahlspruch hier im Leben. Habt ihr gelogen, dann kommen wir nach einer Weile wieder, und dann wird es unangenehm, sehr unangenehm!«

»Wir haben nicht gelogen«, sagte Kalle und blickte ihn wütend von der Seite an.

Jetzt kam Onkel Einar zu ihm hin. Kalle weigerte sich, seine ausgestreckte Hand zu sehen.

»Lebwohl, Herr Meisterdetektiv«, sagte er. »Ich glaube, es wäre am klügsten, die Kriminalistik in Zukunft an den Nagel zu hängen. Übrigens: Kann ich meinen Dietrich wiederbekommen? Denn das warst doch du, der ihn mir weggenommen hat?«

Kalle steckte die Hand in die Hosentasche und holte den Dietrich hervor. »Es gibt wohl allerlei, was du auch besser an den Nagel hängen solltest, Onkel Einar«, sagte er mürrisch.

Onkel Einar lachte. »Lebwohl, Anders, und danke für die schöne Zeit hier. Lebwohl, Eva-Lotte! Du bist ein liebes Kind, das habe ich immer gefunden. Grüß deine Mutter, falls ich keine Zeit mehr haben sollte, mich von ihr zu verabschieden.« Er ging mit seinen zwei Kumpanen die Treppe hinauf. An der Tür drehte er sich um und winkte. »Ich verspreche euch, daß ich bestimmt schreiben und berichten werde, wo ihr seid. Wenn ich es nur nicht vergesse!« Die schwere Tür schlug mit einem Krach zu.

VIERZEHNTES KAPITEL

»Es ist meine Schuld«, sagte Kalle nach einem, wie es schien, endlosen Schweigen. »Es ist absolut meine Schuld. Ich hätte euch nicht in diese Geschichte mit hineinziehen sollen. Und vielleicht auch nicht mich selbst.«

»Ach was, Schuld«, sagte Eva-Lotte. »Du konntest doch nicht ahnen, daß die Sache so laufen würde.«

Es wurde wieder still – unheimlich still. Es war, als ob die Außenwelt nicht mehr existierte. Es gab nur diesen Keller hier mit der unerbittlich verschlossenen Tür.

»Es ist ein Jammer, daß Björk gestern nicht da war«, sagte Anders schließlich.

»Sprich nicht davon«, sagte Kalle.

Dann sagte eine Zeitlang niemand mehr etwas. Man dachte.

Und alle dachten wohl ungefähr das gleiche. Alles war fehlge-schlagen. Die Juwelen waren verloren, die Diebe würden ins Ausland entkommen.

Aber in diesem Augenblick wog alles das leicht gegen die Tatsache, daß sie hier eingesperrt waren und nicht herauskommen konnten und daß sie nicht wußten, ob sie überhaupt jemals wieder herauskommen würden. Dieser furchtbare Gedanke war nicht zu Ende zu denken. Wenn nun Onkel Einar nichts daran gelegen war zu schreiben? Im übrigen – wie lange braucht ein Brief vom Ausland? Und wie lange kann man ohne Essen und Trinken leben? Und war es nicht so, daß es für diese Banditen am besten war, wenn die Kinder für immer hier unten im Keller blieben? Es gab ja auch im Ausland Polizei, und wenn die Kinder erzählten, wer die Diebe waren, konnten Onkel Einar und seine Kumpane sich nicht so sicher fühlen, wie es der Fall wäre, wenn Kalle und Anders und Eva-Lotte niemals Gelegenheit haben würden, ihre Namen zu verraten.

»Ich werde schreiben, wenn ich es nur nicht vergesse« – das war das letzte, was Onkel Einar gesagt hatte, und das klang unheilverkündend.

»Ich habe drei Brötchen«, sagte Eva-Lotte und steckte die Hand in ihre Kleidertasche. Das war immerhin ein kleiner Trost.

»Dann werden wir bis zum Nachmittag nicht den Hungertod erleiden«, sagte Anders. »Wir haben auch noch eine halbe Kelle Wasser übrig.«

Drei Brötchen und eine halbe Kelle Wasser! Und dann?

»Wir müssen um Hilfe schreien«, sagte Kalle. »Vielleicht kommt ein Tourist, um sich die Ruine anzusehen.«

»Ich erinnere mich, daß im vorigen Sommer zwei Touristen hier waren«, sagte Anders. »Warum sollte da nicht heute einer kommen?«

Sie stellten sich an die kleine Luke, durch die ein Sonnenstrahl hereinfiel.

»Eins, zwei drei – jetzt!« kommandierte Anders.

»Hilfe – – H-i-l-f-e!«

Die Stille hinterher war fühlbarer als vorher.

»Nach Gripsholm und Alvastra und wer weiß wohin, da können sie fahren«, sagte Anders bitter. »Aber um die Ruine hier kümmert sich kein Mensch.«

Nein, kein Tourist hörte ihren Notruf und auch sonst niemand. Die Minuten gingen und wurden zu Stunden.

»Wenn ich wenigstens zu Hause gesagt hätte, daß ich zur Ruine gehe«, sagte Eva-Lotte. »Dann wären sie wohl schließlich hergekommen, um uns zu suchen.«

Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen. Kalle schluckte ein paarmal und stand vom Fußboden auf. Es war nicht auszuhalten, still dazusitzen und Eva-Lotte anzusehen. Die Tür – gab es keine Möglichkeit, sie kaputtzuschlagen? Man brauchte sie nur anzusehen, um festzustellen, wie zwecklos ein Versuch sein würde.

Kalle beugte sich hinunter, um etwas aufzuheben, was neben der Treppe lag. Es war Onkel Einars Taschenlampe. Die hatte er vergessen – was für ein Glück! Bald würde es Nacht werden, dunkle, kalte Nacht – es war ein Trost, zu wissen, daß man die Dunkelheit für ein paar Augenblicke vertreiben konnte, wenn man wollte. Eine Batterie reichte ja nicht ewig, aber man konnte wenigstens leuchten, um zu sehen, wie spät es schon war.

Nicht, daß es irgendeine Bedeutung hatte, ob es drei oder vier oder fünf war – bald würde nichts mehr etwas bedeuten. Kalle fühlte eine dumpfe Verzweiflung in sich aufsteigen. Er wanderte umher, »ein Raub düsterer Gedanken«, wie es immer in Büchern steht. Alles war besser, als dazusitzen und zu warten. Alles war besser. Es wäre sogar besser, zu versuchen, die dunklen Irrgänge zu erforschen, die in die inneren Regionen des Kellers führten.

»Anders, du hast einmal gesagt, du wolltest den ganzen Keller durchforschen und kartographieren und wir könnten ihn zu unserem Hauptquartier machen. Warum nicht jetzt die Gelegenheit wahrnehmen?«

»Habe ich wirklich so was Dummes gesagt? Ich muß wohl an dem Tag einen Sonnenstich gehabt haben. Wenn ich hier bloß rauskommen könnte, dann weiß ich einen, der niemals mehr seinen Fuß in die Nähe dieser alten Bruchruine setzt!«

»Ich möchte aber doch wissen, wo diese Gänge hier hinführen«, sagte Kalle. »Vielleicht ist es nicht ausgeschlossen, daß es noch einen anderen Ausgang gibt, den niemand kennt!«

»Ja, und es ist nicht ausgeschlossen, daß eine Versammlung von Archäologen heute nachmittag kommt und uns ausgräbt!

Das ist genauso wahrscheinlich.«

Eva-Lotte sprang auf. »Ja, aber wenn wir hier stillsitzen, dann werden wir bald verrückt«, sagte sie. »Ich finde, wir sollten tun, was Kalle sagt. Die Taschenlampe haben wir ja, mit der wir uns vorwärts leuchten können.«

»Meinetwegen gern«, sagte Anders. »Aber wollen wir nicht erst essen? Drei Brötchen sind in jedem Fall nur drei Brötchen, ganz gleich, wie wir es machen.«

Eva-Lotte gab jedem ein Brötchen, und alle drei aßen schweigend. Es war ein eigentümliches und unheimliches Gefühl, zu denken, daß es vielleicht das letzte Mal in ihrem Leben war, daß sie etwas aßen. Sie spülten die Brötchen mit dem Wasser hinunter, das noch in der Kelle war. Dann faßten sie einander an den Händen und traten den Weg ins Dunkel an. Kalle ging voran und leuchtete mit der Taschenlampe.

Genau im selben Augenblick bremste ein Auto vor der Polizeiwache der kleinen Stadt. Zwei Männer sprangen heraus, zwei Polizisten. Sie gingen eilig hinein, wo sie von Schutzmann Björk empfangen wurden. Er sah etwas erstaunt aus über den unerwarteten Besuch. Die zwei Männer stellten sich vor: »Kriminal-kommissar Stenberg, Kriminalpolizist Santesson von der Stockholmer Kriminalpolizei.«

Dann sagte der Kriminalkommissar schnell: »Kennen Sie hier in der Stadt einen Privatdetektiv mit Namen Blomquist?«

»Privatdetektiv Blomquist?« Schutzmann Björk schüttelt den Kopf. »Habe ich nie gehört!«

»Das ist merkwürdig«, fuhr der Kriminalkommissar fort. »Er wohnt Hauptstraße 14. Sehen Sie selbst!«

Der Kriminalkommissar zog einen Brief hervor, den er Björk reichte. Wenn Kalle dabeigewesen wäre, hätte er den Brief wiedererkannt. »An die Kriminalpolizei Stockholm« stand zuoberst. Und die Unterschrift war ganz richtig »Karl Blomquist, Privatdetektiv«.

Schutzmann Björk fing an zu lachen. »Das kann niemand anderes sein als mein Freund Kalle Blomquist. Privatdetektiv, ja, ich danke! Er ist ungefähr zwölf oder dreizehn Jahre alt, der Privatdetektiv!«

»Aber Menschenskind, wie können Sie es erklären, daß er uns einen Fingerabdruck schicken konnte, der genau mit dem übereinstimmt, den wir nach dem Einbruch in der Banérstraße Anfang Juni festgestellt haben? Der große Juwelendiebstahl, Sie wissen doch! Und wem gehört dieser Fingerabdruck? Das ist das, was die Stockholmer Kriminalpolizei vor allen Dingen gerade jetzt wissen möchte. Das ist nämlich der einzige Anhaltspunkt, den wir haben.

Wir sind uns vollkommen darüber klar, daß es mehrere Personen gewesen sein müssen, die den schweren Geldschrank fortrücken konnten, aber nur einer hat Fingerabdrücke hinterlassen. Die anderen haben offenbar Handschuhe angehabt.«

Schutzmann Björk fing an nachzudenken. Er erinnerte sich an Kalles vorsichtige Fragen, als sie sich kürzlich auf dem Marktplatz getroffen hatten. »Was macht man, wenn man weiß, daß ein Mensch ein Verbrecher ist, es aber nicht beweisen kann?« Wie es nun auch zugegangen sein mochte, offenbar war Kalle Blomquist den Tätern des großen Juwelendiebstahls auf die Spur gekommen.

»Ich weiß keinen anderen Rat, als daß wir sofort hinfahren und Kalle selbst fragen«, sagte Schutzmann Björk.

»Ja, und das schneller als schnell«, sagte der Kriminalkommissar.

»Hauptstraße 14«, sagte der Kriminalpolizist und setzte sich ans Steuer. Das Polizeiauto sauste davon.

Die Roten Rosen langweilten sich erbärmlich. Was war das aber auch für eine Art von den Weißen, sich zu ergeben und Frieden zu schließen, gerade als der Kampf so vielversprechend begonnen hatte? Was in aller Welt hatten sie eigentlich vor, daß sie freiwillig auf so ein Vergnügen verzichteten?

»Ich glaube, wir gehen zu ihnen hin und versuchen, sie ein bißchen zu beleidigen«, sagte Sixtus. »Dann nehmen sie vielleicht Vernunft an.«

Benka und Jonte fanden den Vorschlag gut.

Aber das Hauptquartier der Weißen lag verlassen da.

»Wo mögen sie bloß sein?« fragte Jonte.

»Wir warten auf sie«, sagte Sixtus. »Einmal werden sie ja wiederkommen.«

Worauf sich die Roten auf dem Bäckereiboden bequem ein-richteten. Da waren eine ganze Menge alter Wochenzeitschriften, mit denen sich die Weißen unterhielten, wenn schlechtes Wetter war. Auch allerlei Spiele waren da und der ausgezeichnete Tisch, auf dem man Ping-Pong spielen konnte. An Zer-streuungen fehlte es also nicht.

»Verdammt feines Hauptquartier«, sagte Benka.

»Ja«, sagte Sixtus, »ich wünschte, ich hätte in meiner Garage Platz für einen Ping-Pong-Tisch.«

Sie spielten Ping-Pong, und zwischen den einzelnen Runden rutschten sie am Seil runter und kletterten wieder rauf und lasen die Bilderserien in den Zeitschriften, und es machte ihnen gar nichts aus, daß die Weißen durch Abwesenheit glänzten.

Sixtus stand an der offenen Luke und hatte das Seil in der Hand. »Sieh mal an, da kommt ja der Kerl, der mit Eva-Lotte verwandt ist – wie heißt er doch gleich? Onkel Einar! Gott, hat der es eilig!« dachte Sixtus.

Jetzt sah Onkel Einar hinauf und erblickte Sixtus. »Suchst du Eva-Lotte?« fragte er einen Augenblick später.

»Ja«, sagte Sixtus. »Wissen Sie, wo sie ist?«

»Nein«, sagte Onkel Einar, »das weiß ich nicht.«

»Ach so«, sagte Sixtus und rutschte am Seil runter.

Onkel Einar sah zufrieden aus. Sixtus fing wieder an raufzuklettern.

»Willst du wieder da rauf?« fragte Onkel Einar.

»Ja«, sagte Sixtus und kletterte mit schnellen Griffen weiter.

Er hatte eine 1-2 im Turnen, und das sah man.

»Was willst du da oben?« fragte Onkel Einar.

»Auf Eva-Lotte warten«, sagte Sixtus.

Onkel Einar ging eine Weile auf und ab. »Wenn ich es mir richtig überlege«, rief er zu Sixtus hinauf, »so fällt mir ein, daß Eva-Lotte und die Jungen heute einen Ausflug machen wollten.

Sie werden wohl nicht vor dem Abend zurückkommen.«

»Soso«, sagte Sixtus und rutschte am Seil herunter.

Onkel Einar sah zufrieden aus. Sixtus ergriff das Seil und fing wieder an raufzuklettern.

»Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?« fragte Onkel Einar ungeduldig. »Eva-Lotte kommt den ganzen Tag nicht nach Hause.«

»Soso«, sagte Sixtus. »Das ist schade«. Er kletterte weiter.

»Was willst du denn da oben machen?« rief Onkel Einar.

»Bilderserien ansehen«, sagte Sixtus.



Onkel Einar sah nicht mehr eine Spur zufrieden aus. Er ging ungeduldig auf und ab.

»Du da oben«, rief er nach einer Weile. »Willst du eine Krone verdienen?«

Sixtus steckte den Kopf aus der Luke. »Ja, natürlich. Wie denn?«

»Lauf ins Zigarrengeschäft und kauf mir eine Schachtel Lucky Strike!«

»Gern«, sagte Sixtus und rutschte am Seil herunter. Onkel Einar gab ihm einen Fünfkronenschein.

Sixtus nahm die Beine in die Hand und verschwand. Und jetzt sah Onkel Einar zufriedener aus als je zuvor.

Da steckte Benka seinen Kopf durch die Luke, der prächtige kleine Benka mit dem blonden Lockenkopf und der lustigen Stupsnase. Niemand hätte Anlaß gehabt, beim Anblick eines so netten Kerlchens zu fluchen. Aber Onkel Einar fluchte – einen langen Fluch!

Nach einer Weile kam Sixtus zurück. In der einen Hand hatte er eine große Tüte. Er gab Onkel Einar die Zigaretten und rief zu den Roten hinauf: »Seht bloß, ich habe bei Eva-Lottes Vater Schnecken für die ganze Krone gekauft, und er ist ja nie geizig. Jetzt haben wir so viel zu essen, daß es den ganzen Tag reicht, da brauchen wir nicht nach Hause zu gehen.«

Da fluchte Onkel Einar einen noch längeren Fluch still vor sich hin und ging mit langen Schritten davon.

Und die Roten sahen Bilderserien an und spielten Ping-Pong und aßen Schnecken und rutschten das Seil runter und kletterten wieder rauf, und es machte ihnen gar nichts aus, daß die Weißen durch Abwesenheit glänzten.

»Glaubt ihr, daß der Kerl da ganz richtig im Kopf ist?« fragte Sixtus, als Onkel Einar zum viertenmal vor der Bäckerei auftauchte. »Was läuft er hier rum wie ein ängstliches Huhn? Kann er sich nicht eine nützlichere Beschäftigung suchen?«

Die Stunden vergingen. Und die Roten spielten Ping-Pong und besahen Bilder und rutschten das Seil runter und kletterten wieder rauf und aßen noch mehr Schnecken und machten sich nicht eine Spur daraus, daß die Weißen durch Abwesenheit glänzten.

Dunkel, Dunkel überall! Hier und da findet ein Lichtstreifen den Weg durch eine Luke. Noch leuchtet die Taschenlampe, und das ist auch nötig! Es ist schwer, vorwärts zu kommen. Mitunter liegen große Steine da und versperren den Weg. Es ist feucht und glatt und kalt. Nicht auszudenken, daß man die Nacht hier verbringen soll! Viele Nächte!

Anders und Kalle und Eva-Lotte haben sich gegenseitig an den Händen gefaßt. Kalle leuchtet an den Steinwänden entlang, wo die Feuchtigkeit hervorsickert.

»Die Ärmsten, die früher mal hier eingesperrt waren!« sagt Eva-Lotte. »Viele Jahre vielleicht!«

»Aber die bekamen wenigstens was zu essen«,knurrt Anders.

Ein kleines Brötchen hält nicht lange vor, und er ist schon wieder sehr hungrig. Um diese Zeit essen sie zu Hause Mittagbrot!




»Heute sollte es bei uns Fleischklopse geben«, seufzt Eva-Lotte.

Kalle sagt nichts. Er ist wütend auf sich selbst, daß er sich jemals auf diese Detektivarbeit eingelassen hat. Sie hätten jetzt zu Hause auf dem Bäckereiboden sitzen können, sie hätten mit den Roten Krieg führen können, sie hätten radfahren und baden und Fleischklopse zu Mittag essen können und alles mögliche andere. Anstatt hier in Dunkel und Elend herumzulaufen.

Und man kann nicht einmal wagen, daran zu denken, wie das enden soll!

»Das beste ist, wir gehen wieder zum Ausgangspunkt zurück«, sagt Eva-Lotte. »Jetzt haben wir sicher alles gesehen, was zu sehen ist, und es ist überall das gleiche, den ganzen Weg lang. Dunkel und unheimlich überall.«

»Wir wollen bloß noch diesen Gang hier zu Ende gehen«, schlägt Anders vor. »Dann können wir wieder umkehren.«

Eva-Lotte hatte unrecht. Es ist nicht überall das gleiche. Dieser Gang hier endet mit einer Treppe. Und eine Treppe bedeutet eine Verbindung zwischen zwei Stockwerken. Es ist eine kleine, schmale Wendeltreppe, deren Steinstufen durch viele Füße abgenutzt sind.

Anders und Kalle und Eva-Lotte stehen ganz still. Sie können ihren Augen nicht trauen. Kalle leuchtet mit der Taschenlampe.

Dann rennt er die Treppe hinauf. Aber die Treppe ist oben zu-genagelt. Es soll niemand in den Keller hinunterkommen. Und offenbar auch nicht hinauf. Kalle wünscht, daß er mit dem Kopf durch das Holz könnte, so daß die Splitter herumflögen.

»Wir müssen raus! Wir müssen raus, sage ich!« Anders ist vollkommen wild. »Ich halte es nicht eine Minute länger aus!«

Er hebt einen großen Stein auf. Kalle hilft ihm.

»Eins, zwei, drei – jetzt!« kommandiert Anders. Das Holz kracht. Noch einmal! »Du wirst sehen, es geht, Kalle!« Anders keucht förmlich vor Aufregung.

Ein Glück, daß das Holz nicht so dick ist. Ein letztes Mal mit voller Kraft! Peng – die Holzsplitter fliegen nach allen Seiten.

Es macht keine Mühe, das Zeug wegzuräumen. Anders reckt den Kopf hoch und stößt ein Freudengeheul aus. Die Treppe führt zum Erdgeschoß der Ruine.

»Kalle und Eva-Lotte, kommt!« ruft er.

Aber Kalle und Eva-Lotte sind bereits gekommen. Sie stehen da und starren zum Licht, zur Sonne hinauf, als ob es ein großes Wunder wäre.

Eva-Lotte rennt zur Fensteröffnung. Da unten liegt die stille Stadt. Sie kann den Fluß sehen und den Wasserturm und die Kirche. Und dort, weit weg, sieht sie das rote Dach der Bäckerei. Da lehnt sie sich gegen die steinerne Wand und bricht in lautes Weinen aus.

»Mädels sind schon komisch«, denken Anders und Kalle.

Vorhin, im Keller unten, da hat sie nicht geweint, aber jetzt, da alle Gefahr vorüber ist, da läuft ihr das Wasser raus wie ein Springbrunnen.

Ungefähr um diese Zeit haben die Roten alle Bilderserien durchgesehen, und sie haben keine Lust mehr, Ping-Pong zu spielen. Im übrigen soll bald ein Fußballmatch auf der Prärie stattfinden.

»Nee, jetzt warten wir nicht länger«, sagt Sixtus. »Ich glaube, sie sind nach Amerika ausgewandert. Kommt, wir hauen ab!«

Sie rutschen am Seil runter, Sixtus und Benka und Jonte, und marschieren auf Eva-Lottes Steg über den Fluß. Und nun bekommt Onkel Einar endlich die Gelegenheit, auf die er schon so viele Stunden gewartet hat.

Ein schwarzer Ford parkt einige hundert Meter weiter auf der Straße. Zwei Männer sitzen darin, zwei ungeduldige und nervöse Männer. Sie haben so lange hier in der Hitze gesessen.

Die Stunden haben sich hingeschlichen, und in gleichmäßigen Zwischenräumen war ihr alter Freund Einar mit dem Bericht gekommen: »Die Brut ist immer noch da! Ja, was soll ich machen? Ich kann ihnen doch nicht gut die Hälse umdrehen, so gern ich auch möchte!«

Aber jetzt endlich kommt Einar, beinahe im Laufschritt. Er trägt etwas unter dem Jackett. »Alles klar«, flüstert er und springt rein.

Tjomme drückt den Gashebel ganz runter, und der Ford braust mit höchster Geschwindigkeit davon. Die drei im Auto haben keinen anderen Gedanken, als so schnell wie möglich die kleine Stadt hinter sich zu lassen. Sie sehen nur vorwärts, sie sehen nur den Weg, der sie zu Reichtum und Freiheit und Unabhängigkeit führen soll. Wenn sie einen Blick zur Seite geworfen hätten, dann würden sie vielleicht drei Kinder gesehen haben, Anders und Kalle und Eva-Lotte, die gerade um die Straßenecke bogen und mit Erstaunen und Entsetzen ihren verschwindenden Feinden nachstarrten.



FÜNFZEHNTES KAPITEL

»Du Unglückskind, wo bis du gewesen?« fragte Lebensmittelhändler Blomquist. »Und was hast du gemacht? Hast du schon wieder Fensterscheiben kaputtgeschlagen?«

Zum hundertsten Male war der Lebensmittelhändler vor die Tür gegangen und hatte nach seinem Sprößling ausgespäht.

Und jetzt endlich sah er ihn an der Straßenecke, zusammen mit Anders und Eva-Lotte, und ging ihm entgegen.

»Vater, laß mich los! Ich muß sofort zur Polizei!«

»Das weiß ich«, sagte sein Vater. »Die Polizei sitzt bei uns zu Hause und wartet auf dich. Das wird kein Spaß für dich werden, Kalle!«

Kalle konnte nicht verstehen, warum die Polizei auf ihn wartete. Aber es genügte ihm, daß sie wartete. Und er lief, wie er niemals vorher in seinem jungen Leben gelaufen war. Anders und Eva-Lotte folgten. Da saß Schutzmann Björk auf dem grünen Schaukelbrett. Gott segne ihn! Und neben ihm zwei andere Polizisten.

»Verhaftet sie, verhaftet sie!« schrie Kalle. »Beeilt euch!«

Björk und die beiden andern sprangen auf. »Wo? Wen?«

»Die Juwelendiebe!« Kalle war so aufgeregt, daß er kaum die Worte herausbringen konnte. »Sie sind eben im Auto wegge-fahren! Um Himmels willen, beeilt euch!«

Er brauchte es nicht zweimal zu sagen. Lebensmittelhändler Blomquist kam gerade die Straße entlanggetrabt, rechtzeitig genug, um Kalle und seine beiden Kameraden in das Polizeiauto hineinstürzen zu sehen, mit drei Polizisten auf den Fersen. Herr Blomquist faßte sich an den Kopf. Der Sohn in so jungen Jahren verhaftet, das war ja schrecklich! Der einzige Trost war, daß das Mädchen vom Bäcker offenbar nicht eine Spur besser war! Und der Schuhmacherjunge auch nicht.



Das Polizeiauto sauste mit einer Fahrt nordwärts, die die ge-setzestreuen Bürger der kleinen Stadt entrüstet die Köpfe schütteln ließ. Kalle, Anders und Eva-Lotte saßen im Rücksitz mit Kommissar Stenberg. Sie wurde zur Seite gedrückt, je nachdem wie das Auto die Kurve nahm. Eva-Lotte saß da und fragte sich, wieviel man an einem einzigen Tag aushalten konnte, ohne daß man ohnmächtig wurde. Kalle und Anders sprachen beide zu gleicher Zeit, bis der Kommissar sagte, daß er nur einen auf einmal hören wollte. Kalle gestikulierte wild und rief mit gellender Stimme: »Einer ist blaß, und einer sieht unheimlich aus, und einer ist Onkel Einar, aber der Blasse ist eigentlich unheimlicher als der Unheimliche, und Onkel Einar ist auch unheimlich.«

Der Kommissar sah etwas verwirrt aus.

»Der Blasse nennt sich Ivar Redig, aber er heißt sicher Artur, und den Häßlichen nennen sie Tjomme, aber vielleicht heißt er Krok, und Onkel Einar hat zwei Namen, Lindeberg und Brane, und er schläft mit einem Revolver unter dem Kopfkissen, und er hat die Juwelen unter der Treppe in der Schloßruine vergraben, und als ich einen Fingerabdruck von ihm genommen hatte, da fiel der Blumentopf runter – Pech, was? –, und da hat er mit dem Revolver auf mich gezielt, und dann saß ich im Ahornbaum und hab’

gehört, wie Tjomme und Redig ihn mit dem Tode bedrohten, und dann haben sie ihn im Keller in der Schloßruine gefesselt, denn er war so dumm, mit ihnen hinzugehen, aber da waren die Juwelen schon weg, denn wir haben sie auf dem Bäckereiboden versteckt, aber jetzt haben sie sie leider wiedergenommen, denn sie haben uns im Keller eingeschlossen, und Himmel, so viele Gänge wie da sind, aber raus sind wir gekommen, ja, jetzt wissen Sie alles, aber fahrt um Himmels willen schneller!«

Der Kommissar sah nicht so aus, als ob er alles wüßte, aber er dachte, daß man wohl später Einzelheiten klarstellen könnte.

Der Kriminalpolizist sah auf den Geschwindigkeitsmesser.

Der war jetzt auf hundert Kilometer, und er wagte nicht, noch schneller zu fahren, obwohl Kalle meinte, daß es zu langsam ginge.

»Eine Wegscheide, Kommissar, nach rechts oder links?« Er bremste das Auto, daß es schleifte. Anders und Kalle und Eva-Lotte bissen sich in den Daumen vor Nervosität über die Verzögerung.

»Ärgerlich«, sagte der Kommissar. »Schutzmann Björk, Sie kennen doch die Wege hier. Welchen, glauben Sie, können sie genommen haben?«

»Das kann man unmöglich sagen«, antwortete Björk. »Sie können zum großen Kontinentalweg hinkommen, ganz gleich, welchen Weg sie nehmen.«

»Einen Augenblick«, sagte Kalle und stieg aus dem Auto. Er nahm sein Notizbuch aus der Hosentasche und ging zum linken Weg. Er besah aufmerksam die Erde. »Sie sind diesen Weg hier gefahren!« schrie er voller Eifer.

Björk und der Kommissar waren auch ausgestiegen.

»Woher weißt du das?« fragte der Kommissar.

»Ja, ihr Auto hat einen neuen Reifen aus Gislaved auf dem rechten Hinterrad, und ich hab’ hier das Muster abgezeichnet.

Sehen Sie her!« Er zeigte auf einen deutlichen Abdruck in dem losen Fahrweg. »Genau das gleiche!«

»Du bist sehr pfiffig«, sagte der Kommissar, während sie zum Auto zurückrannten.

»Ach, das ist reine Routinearbeit«, sagte Meisterdetektiv Blomquist. Aber dann fiel ihm ein, daß er viel lieber nur Kalle sein wollte. »Ach, das war mir geradeso eingefallen«, fügte er ganz bescheiden hinzu.

Die Fahrt war jetzt beinahe lebensgefährlich. Niemand sagte etwas. Aller Augen starrten durch die Windschutzscheibe. Sie rutschten um eine Kurve.

»Da!« rief Schutzmann Björk. Hundert Meter vor ihnen sah man ein Auto.

»Das ist es«, sagte Kalle. »Ein A-Auto! Schwarzer Ford!«

Der Kriminalpolizist Santesson tat sein Äußerstes, um die Fahrgeschwindigkeit noch höher hinaufzupressen. Aber der schwarze Ford jagte vorwärts und behielt seinen Vorsprung.

Man sah ein Gesicht durch die hintere Fensterscheibe heraussehen. Sie hatten offenbar begriffen, daß ihnen Verfolger auf den Fersen waren.

»Es dauert sicher nur noch ein paar Minuten, bis ich ohnmächtig werde«, dachte Eva-Lotte. »Ich war noch nie ohnmächtig.«

Hundertzehn Kilometer! Jetzt kam das Polizeiauto langsam, aber sicher dem schwarzen Ford näher.

»Legt euch hin, Kinder!« schrie der Kommissar plötzlich.

»Sie schießen!« Er drückte die drei Kinder auf den Boden des Autos nieder. Es war höchste Zeit. Eine Kugel kam pfeifend durch die Windschutzscheibe.

»Björk, Sie sitzen besser, nehmen Sie meinen Revolver und geben Sie den Schweinehunden Antwort.« Der Kommissar reichte seinen Revolver dem Kollegen auf dem Vordersitz.

»Die schießen, pfui Teufel, wie die schießen«, flüsterte Kalle unten auf dem Fußboden.

Schutzmann Björk streckte den Arm aus dem Seitenfenster hinaus. Er war nicht nur ein guter Turner, er war auch ein guter Schütze. Er zielte sorgfältig auf den rechten Hinterreifen des Fords. Der hatte jetzt nicht mehr als fünfundzwanzig Meter Abstand. Der Schuß ging ab, und eine Sekunde später schleifte der schwarze Ford und fuhr in den Graben. Das Polizeiauto fuhr hin und hielt daneben an.

»Jetzt schnell, bevor sie aus der Karre raus können!« schrie der Kommissar »Ihr bleibt liegen, Kinder!«

Im Augenblick hatten die Polizeileute den Ford umringt.

Nichts in dieser Welt hätte Kalle dazu kriegen können, lie-genzubleiben. Er mußte aufstehen und zusehen.

»Onkel Björk und der, der am Steuer saß, halten ihre Revolver in höchster Bereitschaft«, rapportierte er an Anders und Eva-Lotte. »Und der dicke Kommissar reißt die Autotür auf Junge, wie die losschlagen! Jetzt kommt Redig, er hat auch seinen Revolver – pang – jetzt bekommt er einen Schlag von Onkel Björk, so daß er den Revolver verliert, hört bloß – ach, ist das fein – und da ist Onkel Einar, aber er hat keinen Revolver, er haut bloß um sich, aber jetzt, wahrhaftig, jetzt legen sie dem Kerl Handschellen an und auch dem Redig. Aber wo ist Tjomme? Jetzt ziehen sie ihn raus. Er ist sicher ohnmächtig geworden. Ach, ist das spannend! Und jetzt, wahrhaftig …«

»Hör auf«, sagte Anders. »Wir haben wohl Augen im Kopf, wir können selbst sehen!«



Der Kampf war zu Ende. Da standen Onkel Einar und der Blasse vor dem Kommissar. Tjomme lag daneben auf der Erde.

Er fing wohl langsam an, wieder zu sich zu kommen.

»Was sehe ich!« sagte der Kommissar. »Ist das nicht Artur Berg? Das ist wirklich eine freudige Überraschung!«

»Die Freude ist ganz und gar auf Ihrer Seite«, sagte der Blasse mit einem bösen Blick.

»Das kann man wohl sagen«, meinte der Kommissar. »Was sagst du dazu, Santesson, wir haben Artur Berg in der Zange!«

»Man muß ein gutes Gedächtnis haben, wenn man alle Namen behalten will«, dachte Kalle.

»Kalle, komm mal her!« rief der Kommissar. »Es wird dich vielleicht freuen zu hören, daß es uns gelungen ist, einen der gefährlichsten Verbrecher zu fangen, die wir hier im Lande haben, und das haben wir dir zu verdanken!«

Sogar Artur Berg zog die Augenbrauen etwas hoch, als er Kalle und Anders und Eva-Lotte erblickte.

»Ich hätte meinem ersten Gedanken folgen und die Bande da niederschießen sollen«, sagte er ruhig. »Es lohnt sich nicht, Menschenfreund zu sein. Das bringt einen bloß ins Elend.«

Tjomme schlug die Augen auf.

»Und hier haben wir noch einen alten Bekannten und treuen Polizeikunden! Wie war das, Tjomme, haben Sie nicht gesagt, daß Sie ein anständiger Kerl werden wollten, als wir uns das letzte Mal trafen?«

»Ja«, sagte Tjomme, »aber ich wollte mir erst ein bißchen Startkapital verschaffen. Es kostet Geld, Herr Kommissar, wenn man anständig sein will.«

»Und Sie?« Der Kommissar wandte sich an Onkel Einar.

»Ist es das erste Mal, daß Sie sich auf solche Wege begeben haben?«

Onkel Einar schlug den Blick nieder. »Ja«, sagte er. Dann sah er Kalle wütend an. »Ich bin jedenfalls bis jetzt noch nicht rein-geschlittert! Und es wäre auch diesmal gutgegangen, wenn nicht der Meisterdetektiv hier wäre! Meisterdetektiv Blomquist!« Er preßte etwas hervor, was wohl ein Lächeln darstellen sollte.

»Und jetzt wollen wir sehen, wo wir das Diebesgut haben, Santesson! Ich vermute, es liegt im Auto.«

Ja, da war der Blechkasten!

»Wer hat den Schlüssel?« fragte der Kommissar. Onkel Einar reichte ihn widerstrebend hin. Alle standen in gespannter Erwartung da. »Jetzt wollen wir mal sehen«, sagte der Kommissar und drehte den Schlüssel um. Der Deckel schlug auf.

Zuoberst lag ein Stück Papier. »Die heimliche Urkunde der Weißen Rose« stand mit großen Buchstaben da. Der Kommissar sperrte den Mund auf vor Erstaunen. Das taten die anderen auch, nicht zum mindesten Onkel Einar und seine beiden Kumpane. Artur Berg warf Onkel Einar einen haßerfüllten Blick zu.

Der Kommissar wühlte in dem Kasten. Aber da lag nichts anderes als Papier, Steine und allerlei anderer Kram.

Eva-Lotte war es, die zuerst anfing zu lachen, ein lautes, übermütiges Lachen. Das war das Signal für Kalle und Anders. Sie brachen in Gelächter aus, sie lachten, ja, sie lachten derartig, daß sie sich bogen, alle drei. Sie lachten, bis sie beinahe heulten und sich den Bauch halten mußten.

»Was ist denn nur mit den Kindern los?« fragte der Kommissar verwirrt. Dann wandte er sich an Artur Berg: »Ach so, ihr habt bereits das Diebesgut beiseite schaffen können! Aber das werden wir schon aus euch rauspressen!«

»Das – das – das braucht nicht rausgepreßt zu werden«, brachte Anders mühsam hervor, während er vor Lachen schluckte. »Ich weiß, wo es ist. Es ist im untersten Kommodenschubfach auf dem Bäckereiboden.«

»Aber wo haben sie das hier her?« fragte der Kommissar und zeigte auf den Blechkasten.

»Aus dem obersten Schubfach!«

Eva-Lotte hatte plötzlich aufgehört zu lachen. Sie war am Grabenrand zusammengesunken.

»Ich glaube wahrhaftig, das Mädel ist ohnmächtig geworden«, sagte Schutzmann Björk und hob Eva-Lotte auf. »Das ist auch kein Wunder.«

Da schlug Eva-Lotte mühsam ihre blauen Augen auf. »Nein, das ist kein Wunder«, flüsterte sie. »Ich habe heute noch nichts weiter gegessen als ein Brötchen.«

SECHZEHNTES KAPITEL

Meisterdetektiv Blomquist lag auf dem Rücken unter dem Birnbaum. Ja, er war jetzt Meisterdetektiv und nicht nur Kalle. Das stand sogar in der Zeitung, die er in der Hand hatte. »Meister-detektiv Blomquist« stand da als Überschrift, und darunter war seine Fotografie. Die Fotografie stellte ganz gewiß nicht den reifen Mann mit den scharf geschnittenen Zügen und dem durchdringenden Blick dar, wie man es hätte erwarten können.

Das Gesicht, das einem aus der Zeitung entgegenblickte, war auffallend Kalle-artig, aber da war nichts zu machen. Eva-Lottes und Anders’ Fotografien waren auch dabei, wenn auch etwas weiter unten.

»Haben Sie bemerkt, junger Mann«, fragte Herr Blomquist seinen eingebildeten Zuhörer, »daß die ganze erste Seite nur von diesem kleinen Fall mit den gestohlenen Juwelen handelt, den aufzuklären mir kürzlich gelungen ist, als ich gerade etwas Zeit übrig hatte?«

O ja, das hatte sein eingebildeter Zuhörer wohl bemerkt, und er konnte seiner Bewunderung nicht genug Ausdruck geben.

»Da hat es wohl eine ordentliche Belohnung für Sie gegeben, Herr Blomquist?« vermutete er.

»Tja«, sagte Herr Blomquist, »natürlich bekam ich eine schreckliche Masse Moneten – hm, ich meine, selbstverständlich bekam ich eine nicht unbeträchtliche Summe Geld, aber das habe ich mit Fräulein Lisander und Herrn Bengtsson geteilt, die mir bei den Forschungsarbeiten keine geringe Hilfe geleistet haben. Um die Wahrheit zu sagen: Wir konnten uns zehntausend Kronen teilen, die Bankier Östberg uns als Belohnung zur Verfügung gestellt hat.«

Sein eingebildeter Zuhörer schlug vor Erstaunen die Hände zusammen.

»Na ja«, sagte Herr Blomquist und zupfte mit überlegener Miene an einem Grashalm, »immerhin, zehntausend Kronen sind auch Geld. Aber ich will Ihnen sagen, junger Mann, ich arbeite nicht des schnöden Goldes wegen. Ich habe ein einziges Ziel: die Bekämpfung des Verbrechens in unserer Gesellschaft.

Hercule Poirot, Lord Wimsey und der Unterzeichnete, ja, wir bleiben weiterhin auf dem Posten und haben nicht die Absicht, es zuzulassen, daß die Kriminalität die Oberhand gewinnt.«

Der eingebildete Zuhörer betonte ganz richtig, daß die Gesellschaft den Herren Poirot, Wimsey und Blomquist für ihre aufopfernde Arbeit im Dienste des Guten zu großem Dank verpflichtet sei.

»Bevor wir uns trennen, junger Mann«, sagte der Meisterdetektiv und nahm die Pfeife aus dem Mund, »eins will ich Ihnen sagen: Verbrechen lohnt sich nicht! Ehrlich währt am längsten, das hat sogar Artur Berg einmal zu mir gesagt. Und ich hoffe, er sieht es jetzt ein, wo er nun sitzt. In jedem Fall hat er viele Jahre Zeit, darüber nachzudenken. Und dann – Onkel Einar! – hm, Einar Lindeberg, ein so junger Mann schon auf der Bahn des Verbrechens! Möge seine Strafe ihm zur Besserung gereichen!

Denn – wie ich schon sagte – Verbrechen lohnt sich nicht!«

»Kalle!!!« Eva-Lotte steckte den Kopf durch die Zaunöffnung.

»Kalle, warum liegst du hier und starrst in die Luft? Komm rüber! Anders und ich wollen in die Stadt.«

»Leben Sie wohl, junger Mann«, sagte Meisterdetektiv Blomquist. »Fräulein Lisander hat mich gerufen, und – nebenbei gesagt – sie ist die junge Dame, mit der ich die Ehe einzugehen beabsichtige.« Sein eingebildeter Zuhörer beglückwünschte Fräulein Lisander zur Wahl ihres Gatten. »Ja, Fräulein Lisander weiß natürlich noch nichts davon«, sagte der Meisterdetektiv wahrheitsgemäß und hüpfte auf einem Bein zum Zaun hin, wo das besagte Fräulein mitsamt Herrn Bengtsson auf ihn wartete.

Es war Samstag abend. Alles atmete tiefsten Frieden, als Kalle, Anders und Eva-Lotte die Hauptstraße entlanggeschlendert kamen. Die Kastanien hatten schon längst zu blühen aufgehört, aber in den kleinen Gärten prunkten Rosen und Levkojen und Löwenmaul. Sie gingen zur Gerberei hinunter. Friedrich mit dem Fuß war bereits betrunken und stand da und wartete auf Schutzmann Björk. Kalle, Anders und Eva-Lotte blieben eine Weile stehen, um Friedrichs Geschichten aus seinem Leben mit anzuhören. Aber dann gingen sie weiter zur Prärie hinaus.

»Seht mal, da sind Sixtus und Benka und Jonte«, sagte Anders plötzlich, und seine Augen fingen an zu blitzen. Kalle und Eva-Lotte gingen dichter zu ihrem Chef hin. Und die Weißen marschierten direkt auf die Roten zu.

Nun trafen sie sich. Nach dem Friedensvertrag hätte der Chef der Weißen sich jetzt dreimal vor den Roten verbeugen sollen und sagen: »Ich weiß, daß ich nicht würdig bin, den gleichen Boden zu betreten wie du, o Herr!« Der rote Chef sah den weißen auch besonders herausfordernd an. Da öffnete der weiße Chef seinen Mund, er sprach und sagte: »Rotzbengel!«

Der rote Chef sah zufrieden aus. Er ging jedoch entrüstet einen Schritt rückwärts. »Das bedeutet Kampf!« sagte er.

»Ja«, sagte der weiße Chef und schlug sich dramatisch an die Brust. »Jetzt herrscht Kampf zwischen der Weißen und der Roten Rose!«


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