»Du kannst nicht normal sein«, sagte Anders. »Du kannst einfach nicht normal sein. Liegst da herum und träumst!«
Er, der nicht normal sein sollte, sprang hastig aus dem Grase auf und blinzelte unter einem flachsgelben Haarschopf gekränkt auf die beiden am Zaun.
»Lieber, kleiner, süßer Kalle«, sagte Eva-Lotte, »du wirst ein Liegegeschwür bekommen, wenn du nicht endlich damit aufhörst, unter dem Birnbaum zu liegen und zu glotzen – jeden Tag, den ganzen Sommer lang.«
»Ich liege aber nicht den ganzen Tag und glotze«, wider-sprach Kalle verärgert.
»Nein, Eva-Lotte, übertreibe nun mal nicht«, meinte Anders.
»Besinnst du dich nicht auf den Sonntag Anfang Juni – da lag Kalle nicht ein einziges Mal unter dem Birnbaum. Er war den ganzen Tag lang nicht Detektiv. Diebe und Mörder waren un-bewacht und konnten tun, was sie wollten.«
»Ach ja, jetzt erinnere ich mich«, sagte Eva-Lotte. »Die Diebe und Mörder hatten ja tatsächlich Anfang Juni einen ungestörten Sonntag.«
»Haut ab!« brummte Kalle.
»Genau das wollten wir«, gab Anders zu. »Aber wir wollten dich mithaben. Natürlich nur, wenn du glaubst, daß die Mörder eine Stunde ohne Aufsicht auskommen.«
»Oh, das können sie sicher nicht«, stichelte Eva-Lotte. »Die müssen gewartet werden wie Säuglinge.«
Kalle seufzte. Es war hoffnungslos, absolut hoffnungslos.
Meisterdetektiv Blomquist – das war er. Und er verlangte Achtung vor seiner Tätigkeit. Aber bekam er, was er verlangte? Bestimmt nicht von Anders und Eva-Lotte. Dabei hatte er doch nachweislich im vorigen Sommer drei Juwelendiebe festgesetzt
– er ganz allein! Gewiß, Anders und Eva-Lotte hatten ihm nachher dabei geholfen, aber es war doch er, Karl Blomquist, gewesen, der durch Scharfsinn und Beobachtungsgabe den Schurken auf die Spur gekommen war. Damals hatten Anders und Eva-Lotte begriffen, daß er wirklich ein Detektiv war, der seinen Beruf verstand; aber nun neckten sie ihn wieder, als wäre das alles nie gewesen. Als gäbe es überhaupt keine Verbrecher auf der Welt, die beobachtet werden müßten. Als wäre er ein überspannter Narr, der den Kopf voll Einbildungen hatte.
»Im vorigen Sommer wart ihr ziemlich stolz«, sagte er und spuckte verdrießlich ins Gras. »Damals, als wir die Juwelendiebe festsetzten, gab es niemand, der sich über Meisterdetektiv Blomquist beklagte.«
»Es gibt auch jetzt niemand, der sich über dich beklagt«, meinte Anders. »Aber du begreifst doch wohl, daß das Dinge waren, die einmal passieren und nie wieder. Seit dem Jahre 1200 liegt diese Stadt nun hier, und bis heute hat es, soviel ich weiß, keine anderen Verbrecher gegeben als gerade deine Juwelendiebe. Das ist nun ein Jahr her. Du aber liegst noch immer unter dem Birnbaum und wälzt Kriminalprobleme. Gib es auf, Kalle, gib es auf. Glaub mir, für die nächste Zeit kommen keine Schurken mehr zum Vorschein, und wenn du sie auch mit der Lupe suchst.«
»Alles hat seine Zeit, das weißt du doch«, sagte Eva-Lotte.
»Strolche jagen hat seine Zeit, und Fleischklöße machen hat seine Zeit.«
»Ja, eben«, sagte Anders. »Und jetzt hat die Rote Rose wieder den Krieg erklärt. Benka kam vor einer Weile mit ihrer Kriegserklärung. Lies selbst!« Er zog ein großes Plakat aus der Tasche und gab es Kalle. Und Kalle las:
»Krieg! Krieg!
An den wahnsinnigen Chef der verbrecherischen Sippschaft, die sich ›Die Weiße Rose‹ nennt.
Hiermit tun wir kund und zu wissen, daß es in ganz Schweden keinen Bauern gibt, der ein Schwein hat, das auch nur andeutungsweise so dumm ist wie der Chef der Weißen Rose.
Das erwies sich, als dieser Abschaum der Menschheit gestern auf dem Großen Markt dem hochherzigen und allgemein ge-achteten Chef der Roten Rose entgegentrat. Fiel es da doch besagtem Abschaum ein, nicht zur Seite zu gehen, sondern erfrechte er sich in seiner greulichen Dummheit nicht noch, unsern edlen, hochberühmten Chef zu puffen und dabei in widerliche Schmähungen auszubrechen! Dieser Schimpf, diese Schmach kann nur mit Blut abgewaschen werden. Nun herrscht Kampf zwischen der Roten Rose und der Weißen Rose, und tausend und aber tausend Seelen werden in den Tod gehen – hinein in die Nacht des Todes.
Sixtus,
Edelmann
und Chef der Roten Rose«
»Und jetzt«, sagte Anders, »wollen wir ihnen eins auf die Qua-ste geben. Machst du mit?«
Kalle grinste zufrieden. Der Krieg der Rosen, der mit kurzen Unterbrechungen nun schon seit Jahren tobte, war nicht etwas, wovon man sich freiwillig ausschloß. Das gab Spannung und Inhalt für die Sommerferien, die sonst vielleicht etwas eintönig gewesen wären. Radfahren und baden, Erdbeerbeete begießen, Besorgungen machen für Vaters Lebensmittelgeschäft, angelnd am Fluß sitzen, in Eva-Lottes Garten Ball spielen – das alles reichte nicht, die Tage auszufüllen. Die Sommerferien waren ja so lang.
Ja, Sommerferien waren glücklicherweise lang. Und sie waren die beste Erfindung, die jemals gemacht worden war, fand Kalle.
Seltsam zwar, sich vorzustellen, daß Erwachsene so was erdacht hatte. Da ließen sie einen tatsächlich so einfach zehn Wochen lang im Sonnenschein herumlaufen, ohne daß man sich über den Dreißigjährigen Krieg oder so etwas den Kopf zerbrach.
Man konnte sich statt dessen mit dem Krieg der Rosen beschäftigen, und das war viel schöner.
»Ob ich mitmache? Mußt du das überhaupt fragen?«
Dünn gesät waren sie ja, die Verbrecher, in letzter Zeit.
Konnte sich Meisterdetektiv Blomquist da nicht gut etwas Urlaub gönnen, um seine Freizeit der höheren Kriegführung zu widmen und zu sehen, was die Roten diesmal wieder zusam-mengebraut hatten?
»Ich glaube, ich begebe mich erst mal auf einen kleinen vor-bereitenden Kundschaftergang«, sagte Anders.
»Tu das«, sagte Eva-Lotte. »Und wir starten dann in etwa einer halben Stunde. Ich will nur erst die Messer schleifen.«
Das hörte sich imponierend und gefährlich an. Anders und Kalle nickten einverstanden mit dem Kopf. Ja, Eva-Lotte war schon ein Krieger, auf den man sich verlassen konnte! Die Messer, die geschliffen werden sollten, waren freilich nur Bäckermeister Lisanders Brotmesser – aber trotzdem! Eva-Lotte hatte ihrem Vater versprochen, ihm den Schleifstein zu drehen, bevor sie wegging. In der brennenden Julisonne den schweren Schleifstein drehen war schon eine heiße Arbeit. Aber es kühlte ein wenig ab, wenn man sich vorstellte, daß das, womit man sich ab-rackerte, notwendige Waffen für den Krieg der Rosen waren.
»Tausend und aber tausend Seelen werden in den Tod gehen – hinein in die Nacht des Todes«, murmelte Eva-Lotte vor sich hin, während sie drehend am Schleifstein stand und ihr der Schweiß von der Stirn tropfte.
»Was sagst du?« fragte Bäckermeister Lisander und sah vom Schleifstein auf.
»Nichts.«
»Das war wohl genau das, was ich gehört habe«, sagte der Bäckermeister und fuhr prüfend mit dem Finger über die Schneide eines Brotmessers. »Du kannst laufen!«
Und Eva-Lotte lief. Sie schlängelte sich durch den Zaun, der ihren Garten von Kalles trennte. An einer Stelle fehlte ein Brett.
Solange sich Menschen entsinnen konnten, fehlte dort das Brett, und es würde dort fehlen, solange Eva-Lotte und Kalle etwas zu sagen hatten. Sie brauchten diesen Durchgang.
Es konnte passieren, daß Lebensmittelhändler Blomquist, der ein ordentlicher Mann war, zum Bäckermeister Lisander, wenn sie an Sommerabenden in des Bäckermeisters Laube saßen, sagte: »Hör mal, Freund, wir sollten vielleicht den Zaun in Ordnung bringen. Sieht recht liederlich aus, finde ich.«
»Ach, wir warten wohl, bis die Kleinen so groß geworden sind, daß sie in der Öffnung festklemmen«, erwiderte der Bäk-kermeister dann. Aber Eva-Lotte blieb unterdessen trotz hartnäckigster Milchbrötchenvertilgung weiterhin schmal wie ein Stock, und es bereitete ihr vorläufig absolut keine Schwierigkeiten, durch die enge Öffnung zu schlüpfen.
Ein Pfiff war von der Straße zu hören. Anders, Chef der Weißen Rose, war von seinem Kundschaftergang zurückge-kehrt. »Sie halten sich in ihrem Hauptquartier auf«, schrie er.
»Vorwärts zu Kampf und Sieg!«
Kalle hatte seinen Platz unter dem Birnbaum wieder bezogen, als Eva-Lotte zum Schleifstein und Anders auf seinen Kundschaftergang verschwunden waren. Er benutzte die kurze Atem-pause, bevor der Krieg der Rosen ausbrach, zu einem wichtigen Gespräch. Ja, er hatte ein Gespräch, obwohl kein lebendes Wesen in der Nähe zu sehen war. Meisterdetektiv Blomquist sprach mit seinem erdachten Zuhörer. Seit Jahren schon hatte er diesen lieben Begleiter. Oh, das war ein wunderbarer Mensch, dieser Zuhörer! Er behandelte den berühmten Detektiv mit der hohen Achtung, die er so oft verdiente und so selten bekam, am wenigsten von Anders und Eva-Lotte. Gerade jetzt saß er, andächtig auf jedes Wort lauschend, zu des Meisters Füßen.
»Herr Bengtsson und Fräulein Lisander sind von wahrhaft beklagenswerter Interessenlosigkeit gegenüber den Verbrechen in unserer Gemeinde«, versicherte Herr Blomquist und sah seinem erdachten Zuhörer ernst in die Augen. »Eine kleine Ruhe-pause nur – und sie verlieren alle Wachsamkeit. Sie verstehen nicht, daß gerade die Ruhe gefährlich ist.«
»Tatsächlich?« sagte der erdachte Zuhörer und sah ganz ver-dattert aus.
»Die Ruhe ist trügerisch«, fuhr der Meisterdetektiv mit Nachdruck fort. »Diese kleine friedliche Stadt, diese strahlende Sommersonne, diese idyllische Ruhe – bah! In einer Minute kann das alles verändert sein. Ganz plötzlich kann das Verbrechen seinen düsteren Schatten über uns werfen!«
Der erdachte Zuhörer keuchte. »Herr Blomquist, Sie erschrecken mich«, flüsterte er und warf scheue Blicke um sich, als wollte er sehen, ob das Verbrechen nicht schon hinter einer Ecke stand und lauerte.
»Überlassen Sie das alles nur mir«, sagte der Meisterdetektiv.
»Beunruhigen Sie sich nicht. Ich wache.«
Jetzt konnte der erdachte Zuhörer kaum noch sprechen, so gerührt und dankbar war er. Seine gestammelten Dankesworte wurden außerdem durch Anders’ Kriegsruf vom Zaun her unterbrochen: »Vorwärts zu Kampf und Sieg!«
Als hätte ihn eine Biene gestochen, fuhr Meisterdetektiv Blomquist in die Höhe. Man durfte ihn nicht noch einmal unter dem Birnbaum finden.
»Leben Sie wohl!« rief er dem erdachten Zuhörer zu und hatte dabei selbst das Gefühl, als wäre es ein Abschied für ziemlich lange. Der Krieg der Rosen würde ihm wohl kaum Zeit lassen, im Gras zu liegen und über Kriminalistik zu diskutieren.
Und das war eigentlich gut. Ehrlich gesagt: Es war schon ein Kreuz, in dieser Stadt Verbrecher fangen zu müssen. Ein ganzes Jahr seit dem letzten Mal – kann man sich das überhaupt vorstellen? Nein, der Krieg der Rosen war sicherlich herzlich willkommen.
Sein erdachter Zuhörer sah ihm lange und ängstlich nach.
»Leben Sie wohl!« rief der Meisterdetektiv noch einmal.
»Ich bin nun eine Weile zum Militärdienst einberufen. Aber seien Sie nicht beunruhigt. Ich denke nicht, daß gerade jetzt irgend etwas Besonderes passieren wird.«
Ich denke nicht … Ich denke nicht …! Da läuft der Meisterdetektiv, der eigentlich über die Sicherheit der Stadt wachen sollte! Da läuft er nun, fröhlich pfeifend, und seine nackten braunen Füße trommeln auf den Gartenweg, wie er Anders und Eva-Lotte entgegensaust. Ich denke nicht … Diesmal dachten Sie falsch, Herr Meisterdetektiv!
»In dieser Stadt gibt es nur eine Straße und eine Querstraße«, pflegte Bäckermeister Lisander zu den Leuten zu sagen, die aus einer anderen Gegend zu Besuch hierherkamen. Und der Bäk-kermeister hatte recht. Hauptstraße und Kleine Straße, das war alles, was es gab – und den Großen Markt natürlich. Der Rest waren winzige kopfsteingepflasterte, bucklige Gassen und Stra-
ßenstummel, die zum Fluß hinunterführten oder auch ganz plötzlich vor einem baufälligen alten Haus aufhörten, das mit dem Recht des Alters dort stand und den Weg versperrte und sich eigensinnig jeder modernen Stadtplanung widersetzte. Gewiß fand sich am Rande der Stadt die eine oder andere moderne Villa in einem schön gepflegten Garten; aber das waren Aus-nahmen. Die meisten Gärten waren wie der des Bäckermeisters: wild gewachsen mit alten knotigen Apfel- und Birnbäumen und verwilderten Grasmatten, die nie geschnitten wurden. Auch die Häuser ähnelten meist dem des Bäckermeisters: große Holzkä-sten, die ein Baumeister längst vergangener Zeit in wildem Schönheitssinn mit ganz unerwarteten Vorsprüngen, Türmchen und Zinnen geschmückt hatte.
Eine schöne Stadt war es also, strenggenommen, nicht, aber sie hatte die altväterliche gemütliche Ruhe.
Kalle und Anders und Eva-Lotte, die gerade am Ufer des Flusses entlang dem Hauptquartier der Roten Rose entgegentrabten, fragten auch nicht viel danach, ob ihre Stadt schön war oder nicht.
Sie wußten nur, daß sie einen ausgezeichneten Kriegsschauplatz im Krieg der Rosen abgab. Da konnte man in schmalen, winkligen Gassen die Verfolger abschütteln, Zäune gab es zum Übersprin-gen und Dächer, auf die zu klettern sich lohnte, Holzschuppen, in denen man sich verbarrikadieren konnte, und außerdem noch tau-sendundeine Gelegenheit, sich zu verstecken. Solange eine Stadt diese außerordentlichen Vorzüge besaß, brauchte sie nicht schön zu sein. Es war vollauf genug, daß die Sonne schien und die Pfla-stersteine sich unter den nackten Füßen so warm und behaglich anfühlten. Das war wie Sommer im ganzen Körper. Der leicht muffige Geruch vom Fluß, der sich ab und zu mit verirrtem Ro-senduft aus irgendeinem Garten mischte, war auch sommerlich und angenehm. Und die Eisbude hinten an der Straßenecke verschönerte das Stadtbild gerade genug, fanden Kalle und Anders und Eva-Lotte. Mehr Schönheit war hier gar nicht nötig.
Sie kauften sich jeder eine Fünfundzwanzig-Öre-Portion und liefen weiter die Straße entlang.
Hinten von der Flußbrücke her kam ihnen Schutzmann Björk langsam patrouillierend entgegen. Seine Uniformknöpfe blitz-ten im Sonnenschein.
»Hallo, Onkel Björk«, rief Eva-Lotte.
»Hallo«, erwiderte der Schutzmann. »Hallo, Meisterdetektiv«, setzte er noch hinzu und legte Kalle freundlich den Arm um den Nacken. »Keine neuen Fälle für heute?«
Kalle sah ärgerlich aus. Onkel Björk war doch wohl damals dabeigewesen und hatte die Früchte von Kalles Verbrecherjagd im vorigen Sommer geerntet. Er brauchte doch nun gewiß nicht faule Witze zu machen.
»Nein, keine neuen Fälle für heute«, antwortete Anders für Kalle. »Alle Diebe und Mörder haben den Befehl bekommen, ihre Arbeit bis morgen aufzuschieben. Kalle hat nämlich heute keine Zeit für sie.«
»Nein, heute wollen wir den Roten Rosen die Ohren ab-schneiden«, sagte Eva-Lotte und lächelte Schutzmann Björk freundlich an. Sie konnte ihn gut leiden.
»Eva-Lotte, manchmal habe ich so das Gefühl, als müßtest du etwas mädchenhafter sein«, sagte Schutzmann Björk und sah bekümmert auf die schlanke, sonnenverbrannte Amazone, die da an der Bordkante stand und spielerisch mit dem gekrümmten großen Zeh einen Zigarettenstummel aufzuheben versuchte. Es glückte, und mit kräftigem Schwung schleuderte sie den Stummel in den Fluß.
»Mädchenhafter? Ja, an den Montagen«, versicherte Eva-Lotte, und ein helles, strahlendes Lachen lag auf ihrem Gesicht.
»Hej, Onkel Björk, nun müssen wir aber flitzen!«
Schutzmann Björk schüttelte den Kopf und wanderte weiter.
Wenn man über die Brücke ging, wurde man einer schweren Versuchung ausgesetzt. Natürlich konnte man auf die allgemein übliche Weise hinübergehen. Aber da gab es Geländer, recht schmale Geländer. Und wenn man über die Brücke ging, indem man über diese Geländer balancierte, hatte man ein Weilchen einen angenehmen Kitzel in der Magengrube. Es konnte ja passieren, daß man runterfiel. Gewiß, es war trotz ausführlicher Versuche auf diesen Geländern noch nie geschehen, aber ganz sicher war man ja nicht. Und wenn auch das Ab-schneiden der Ohren der Roten Rosen eine recht eilige Angelegenheit war, fanden sowohl Kalle als Anders und Eva-Lotte doch, daß immer noch etwas Zeit für einen kleinen Balanceakt übrig sein mußte. Es war natürlich verboten; aber Schutzmann Björk war schon verschwunden, und auch sonst war kein Mensch zu sehen.
Doch, einer war zu sehen. Gerade als sie, nach allen Seiten sichernd, auf die Geländer geklettert waren und das angenehm kitzelnde Gefühl im Magen sich wieder einzustellen begann, kam auf der anderen Seite der Brücke Gren, der Alte, angetrottet.
Aber um ihn kümmerte man sich nicht. Gren, der Alte, blieb vor den Kindern stehen, seufzte wie gewöhnlich und sagte in seiner üblichen abwesenden Art: »Ja, ja, der Kindheit glückliche Spiele.
Der Kindheit glückliche, unschuldige Spiele. Ja, ja!«
So sagte Gren, der Alte, immer. Die Kinder pflegten ihn nachzuahmen. Selbstverständlich nie so, daß er es hören konnte.
Aber wenn Kalle aus Versehen den Fußball genau in Vater Blomquists Schaufensterscheibe setzte oder Anders vom Fahrrad fiel und dabei haargenau mit dem Gesicht in einem Bren-nesselgestrüpp landete, konnte es sein, daß Eva-Lotte seufzte und sagte: »Ja, ja, der Kindheit glückliche Spiele. Ja, ja.«
Sie erreichten glatt das andere Ende der Brücke. Auch diesmal wieder war keiner ins Wasser gefallen. Anders sah sich um, ob jemand ihr Tun beobachtet hatte. Die Kleine Straße aber war nach wie vor leer. Nur Gren, der Alte, ging dort ganz hinten. Seinen trottenden Gang konnte man nicht verkennen.
»Ich weiß niemand, der so seltsam geht wie Gren«, sagte Anders.
»Gren ist durch und durch seltsam«, meinte Kalle. »Aber vielleicht wird man seltsam, wenn man so allein ist.«
»Der Ärmste«, sagte Eva-Lotte. »Stellt euch vor, in solch einer alten Baracke wohnen zu müssen und keinen Menschen zu haben, der auffegt oder mal Essen kocht und so.«
»Tja, Fegen ist ja nicht unbedingt wichtig«, fand Anders nach kurzem überlegen. »Ein Weilchen allein sein, fände ich auch nicht schlecht. Da schafft man wenigstens etwas an seinen Basteleien.«
Für einen, der wie Anders mit einer Menge von kleinen Geschwistern auf knappem Wohnraum zusammenleben mußte, war es kein übler Gedanke, ein ganzes Haus für sich zu haben.
»Ach, du würdest dabei in einer Woche wunderlich werden«, sagte Kalle, »noch wunderlicher, als du jetzt schon bist, meine ich. Genauso wunderlich wie Gren.«
»Vater kann diesen Gren nicht leiden«, rief Eva-Lotte. »Er sagt, Gren ist ein Prozenter!« Weder Anders noch Kalle wußten, was ein Prozenter ist, aber Eva-Lotte erklärte es schon: »Vater sagt, ein Prozenter ist so einer, der Geld ausleiht – an Leute, die es nötig haben.«
»Ja, aber das ist doch nett von ihm«, staunte Anders.
»Nein, das ist es nicht«, sagte Eva-Lotte. »Das ist so – versteh doch … Nimm doch einmal an, du mußt dir fünfundzwanzig Öre leihen, du mußt die fünfundzwanzig Öre unbedingt für etwas haben …«
»Für ein Eis«, schlug Kalle vor.
»Du nimmst mir das Wort aus dem Mund. Ich fühle direkt schon, wie ich es unbedingt haben muß!« bestätigte Anders.
»Na ja, dann gehst du eben zu Gren«, sagte Eva-Lotte, »oder zu irgendeinem anderen Prozenter. Und der gibt dir dann die fünfundzwanzig Öre …«
»Macht er?« fragte Anders, völlig erschlagen von dieser Möglichkeit.
»Klar. Aber du mußt dich verpflichten, sie in einem Monat zurückzuzahlen«, sagte Eva-Lotte. »Und es reicht nicht, wenn du ihm fünfundzwanzig Öre zurückgibst. Du mußt ihm fünfzig Öre geben.«
»Auf keinen Fall!« empörte sich Anders. »Warum muß ich das?«
»Kindchen«, sagte Eva-Lotte. »Hast du denn noch nie in der Schule Prozentrechnen gehabt? Gren will Prozente für sein Geld haben. Versteh mich doch!«
»Aber er kann sich doch wohl etwas mäßigen«, meinte Kalle.
»Das tun die Prozenter aber nun einmal nicht«, sagte Eva-Lotte. »Die mäßigen sich nicht. Die nehmen immer zuviel Prozente. Und im Gesetzbuch steht, daß man das nicht darf. Wucher heißt es da, glaube ich. Ja, und deshalb kann Vater den Gren nicht leiden.«
»Ja, aber warum sind die Leute denn so vernagelt, daß sie Geld von Prozentern leihen?« wunderte sich Kalle. »Können die sich das Geld für ihr Eis nicht woanders borgen?«
»Dummchen«, sagte Eva-Lotte. »Vielleicht handelt es sich nicht nur um fünfundzwanzig Öre für ein Eis, sondern um Tausende von Kronen. Da gibt es vielleicht Menschen, die müssen durchaus fünftausend Kronen haben und gerade jetzt in dieser Sekunde, und kein Mensch ist da, der sie ihnen borgen will.
Keiner, nur so ein Prozenter, so ein Wucherer wie Gren.«
»Jetzt pfeifen wir auf Gren«, sagte Anders, der Chef der Weißen Rose. »Vorwärts zu Kampf und Sieg!«
Da lag des Postdirektors Haus und im Garten dahinter ein Schuppen, der als Garage diente. Als Garage und als Hauptquartier der Roten Rose. Denn des Postdirektors Sixtus war der Chef dieser streitsüchtigen Bande. Augenblicklich schien die Garage verlassen und leer. Schon von weitem konnte man sehen, daß da ein weißes Plakat an der Tür festgemacht war.
Der Chef der Weißen Rose gab seinen Truppen Anweisung:
»Kalle, du schleichst an der Hecke entlang, bis du hinter dem Hauptquartier außer Sicht für den Feind bist. Dann hinauf auf das Dach! Schaff sie herbei, die Bekanntmachung, tot oder lebendig!«
»Die Bekanntmachung – tot oder lebendig? Was meinst du damit?« fragte Kalle.
»Halt den Schnabel«, sagte Anders. » Du sollst tot oder lebendig sein, kannst du doch wohl begreifen, nicht? Eva-Lotte, du liegst hier still hinter der Hecke und spähst. Wenn du irgendeine Gefahr für Kalle merkst, pfeifst du unser Signal.«
»Und du? Was willst du machen?« fragte Eva-Lotte.
»Ich gehe rein und frage Sixtus’ Mutter, ob sie weiß, wo Sixtus ist«, antwortete Anders.
Sie setzten sich in Bewegung. Kalle hatte schnell das Hauptquartier erreicht. Auf das Dach zu kommen war kein Kunststück. Das hatte Kalle schon oft geschafft. Man brauchte nur vorher auf die Mülltonne zu klettern, die hinter der Garage stand. Er kroch über das Dach, ungemein leise, damit der Feind ihn nicht hören konnte. Natürlich wußte Kalle ganz genau, daß die Garage leer war. Das wußte auch Eva-Lotte – Anders übrigens auch. Aber der Krieg der Rosen hatte seine besonderen Regeln. Und deshalb kroch Kalle über das Dach, als gälte es das Leben. Und deshalb lag Eva-Lotte hinter der Hecke und verfolgte jede seiner Bewegungen, gespannt wie ein Tiger, jederzeit bereit, einen Warnpfiff auszustoßen, wenn es wider Erwarten nötig sein sollte.
Anders kam zurück. Sixtus’ Mutter wußte nicht, wo ihr geliebter Junge gerade residierte.
Kalle aber beugte sich äußerst vorsichtig über die Dachkante, und nach reichlichem Strecken gelang es ihm, das Plakat von der Tür zu reißen. Dann kehrte er auf demselben Weg genauso leise zurück. Eva-Lotte hielt bis zuletzt scharf Ausguck.
»Gut gemacht, mein Tapferer«, sagte Anders anerkennend, als Kalle ihm das Plakat übergab. »Wollen doch mal sehen.«
Sixtus, »Edelmann und Chef der Roten Rose«, hatte die bemerkenswerte Bekanntmachung verfaßt. Aber man mußte zugeben, für einen Edelmann war die Sprache merkwürdig saf-tig. Von einem Edelmann hätte man wohl mit Recht etwas Vor-nehmeres erwarten können.
»Ihr widerlichen Läusepudel, ja, gerade Ihr, Ihr Weißen Rosen, die Ihr mit Eurer stinkenden Anwesenheit diese Stadt ver-pestet! Hiermit tun wir Euch kund und zu wissen, daß wir, die noblen Edelmänner der Roten Rose, uns auf das Schlachtfeld der Prärie begeben haben. Kommt sofort dorthin, damit wir das häßliche Unkraut, das sich Weiße Rose nennt, ausrotten können und dessen Asche auf Johannssons Misthaufen streuen, wohin es schon lange gehört. Kommt nur, Läusepudel!!«
Niemand, der diese herzlichen Worte las, hätte glauben können, daß die Roten und Weißen Rosen in Wahrheit die allerbesten Freunde waren. Abgesehen von Kalle und Eva-Lotte, kannte Anders keinen prächtigeren Kameraden als Sixtus, höchstens noch Benka und Jonte, auch sie beide wunderbare Rote Rosen.
Und wenn Sixtus und Benka und Jonte in dieser Stadt jemand hoch und heilig anerkannten, so waren das die Läusepudel Anders, Kalle und Eva-Lotte.
»Das war das«, sagte Anders, als er die Bekanntmachung vor-gelesen hatte. »Zur Prärie! Vorwärts zu Kampf und Sieg!«
Die Prärie war eine große Gemeindewiese, die direkt am Au-
ßenrand der Stadt lag, auf der schon Eltern und Großeltern als Kinder gespielt hatten. Sie war mit kurzem Schafgras bewachsen, diesem Gras, über das mit nackten Füßen zu laufen besonders Spaß macht. Kalle, Anders und Eva-Lotte, die eilig der freundlichen Einladung von Sixtus gefolgt waren, starrten mit von der Sonne geblendeten Augen über das Schlachtfeld und versuchten, ihre Feinde zu entdecken. Aber die Roten Rosen waren nicht zu sehen. Große Teile der Prärie waren mit Haselsträuchern und Wacholderbüschen bewachsen, zwischen denen sich ein schleichender Ritter der Roten Rose leicht verstecken konnte. Die Weißen ließen ihr entsetzliches Kriegsgeschrei ertönen und drangen zwischen die Büsche. Sie durchsuchten jedes Gestrüpp, aber kein Feind wurde gefunden. Sie suchten weiter, bis sie die äußerste Kante der Prärie, dicht beim Herrenhof, erreicht hatten, aber es nutzte nichts.
»Was ist das für ein übler Scherz?« sagte Anders. »Sie sind ja nicht zu finden.«
Da ertönte über die Stille der Prärie aus drei Kehlen ein schneidendes, höhnisches Gelächter.
»He!« Eva-Lotte zuckte zusammen und sah sich unruhig um.
»Ich glaube fast, sie sind im Herrenhof.«
»Ja, sie sind bestimmt da drinnen«, sagte Kalle, und seine Stimme war voller Bewunderung.
Am Rand der Prärie stand zwischen zitternden Espen ein altes Haus. Das war der Herrenhof. Ein vornehmes altes Haus aus dem siebzehnten Jahrhundert, das einst bessere Tage gesehen hatte. Und dort guckten nun aus einem Fenster an der Rückseite drei triumphierende Jungengesichter heraus.
»Wehe dem, der sich dem neuen Hauptquartier der Roten Rose nähert!« schrie Sixtus.
»Wie in aller Welt seid ihr …« staunte Anders.
»Ja, das möchtet ihr wohl wissen«, höhnte Sixtus. »Die Tür war offen. Ganz einfach, nicht?«
Der Herrenhof war lange Jahre unbewohnt gewesen und sehr verfallen. Es war beabsichtigt, ihn zu restaurieren und ein Hei-matmuseum daraus zu machen. Jetzt quietschten die alten Dielen angstvoll unter den lebenslustigen Füßen, die unbeherrscht in rasenden Freudensprüngen durch das neue Hauptquartier tobten.
»Wir werden die Läusepudel gefangennehmen und hier einsperren. Sollen sie doch verhungern!« schrie Sixtus entzückt.
Seine solchermaßen bedachten Opfer liefen erwartungsvoll ihrem Schicksal entgegen. Die Roten versuchten nicht, sie zu hindern. Sixtus hatte nämlich beschlossen, das obere Stockwerk, das leichter zu verteidigen war, unter Einsatz von Blut und Leben zu halten. Auf der prunkvollen Treppe, die nach oben führte, standen die Roten und gaben mit kriegerischen Gebärden zu verstehen, daß nichts ihnen lieber sei, als sich auf den Feind zu stürzen. Die Weißen gingen ruhmvoll zum Angriff über. Die Stadtväter hätten sich die Haare ausgerissen, wenn sie den Krach und Donner hätten hören können, der entstand, als die beiden streitenden Heere aufeinanderprallten. Ihr angehendes Museum zitterte in allen Fugen, und die zierlichen Holzgeländer der Treppe bogen sich. Heulende Schreie stiegen zu der schönen Stuckdecke empor. Der Chef der Weißen Rose sauste, einem Unwetter gleich, rückwärts die Treppe hinunter.
Das Kriegsglück wechselte. Entweder trieben die Weißen ihre Gegner fast die ganze Treppe hinauf, oder sie befanden sich selbst unter dem ungeheuren Druck von oben in ungeordnetem Rückzug zum Erdgeschoß. Als der Kampf so gut und gern eine halbe Stunde hin und her gewogt hatte, sehnten sich alle Parteien nach etwas Abwechslung. Die Weißen zogen sich einen Augenblick zurück, um den letzten rasenden Angriff vorzubereiten.
Da gab Sixtus seinen Truppen schnell einen leisen Befehl. Sekunden später verließen die Roten ohne vorherige Warnung ihren Standort auf der Treppe und zogen sich blitzschnell in das obere Stockwerk zurück. Dort gab es viele Möglichkeiten, argli-stig in Zimmern und Wandschränken zu verschwinden. Das wußten Sixtus und seine Getreuen; denn sie hatten das Haus vorher gründlich untersucht. Als nun Anders, Kalle und Eva-Lotte die Treppe heraufgestürmt kamen, waren die Roten Rosen wie weg-geblasen. Sie hatten den Vorsprung von wenigen Sekunden aus-genutzt. Gerade jetzt waren sie hinter einer geschickt verborgenen Tapetentür verschanzt und beobachteten durch einen Spalt die hastige Beratung der Weißen, die ahnungslos genau davor-standen.
»Schwärmt aus«, sagte der Weiße Chef. »Sucht den Feind, in welchem Loch er auch, um sein Leben zitternd, liegen mag.
Macht kurzen Prozeß mit ihm, wenn ihr ihn findet.«
Die Roten Rosen hinter der Tür hörten voller Befriedigung zu. »Schwärmt aus«, hatte der Chef der Weißen gesagt. Etwas Dümmeres hätte er sich nicht ausdenken können. Das besiegelte sein Schicksal. Er selbst setzte sich unmittelbar danach in Bewegung und schwärmte aus, das heißt er verschwand hinter einer Ecke. Kaum war er außer Sicht, schlichen Kalle und Eva-Lotte in der entgegengesetzten Richtung los. Dort befand sich eine Tür, die sie öffneten. Sie fanden ein schönes sonniges Zimmer, und obwohl sie deutlich sehen konnten, daß es von Feinden leer war, gingen sie auf jeden Fall hinein und gönnten sich eine kleine Kriegspause, um aus dem Fenster zu sehen. Das aber erwies sich als ein absoluter Fehlgriff. Sie kehrten gerade noch rechtzeitig zur Tür zurück, um zu hören, wie außen ein Schlüssel im Schloß umgedreht wurde. Sie hörten auch das rohe Lachen des Roten Chefs und seine greulichen Triumphworte:
»Ha, ihr Läusepudel, nun habt ihr eure letzten Kartoffeln gesetzt! Hier kommt ihr lebend nicht mehr heraus!« Und dann Benkas gellende Stimme: »Nein, hier dürft ihr hocken, bis ihr Moos ansetzt. Aber wir können ja ab und zu mal vorbeikommen und guten Tag sagen. Heiligabend zum Beispiel.« Und Jonte:
»Ja, macht euch keine Sorgen. Wir kommen am Heiligabend.
Was wollt ihr zu Weihnachten haben?«
»Eure Köpfe auf einer Schüssel!« schrie Eva-Lotte von innen.
»Und garniert, wie man Schweinsköpfe immer garniert«, half Kalle nach.
»Unverschämt bis zum letzten«, sagte der Rote Chef besorgt zu seinen Waffenbrüdern. Dann erhob er seine Stimme und rief: »Adieu, ihr Läusepudel. Schreit, wenn ihr Hunger habt.
Dann kommen wir und rupfen etwas Gras für euch.« Danach wandte er sich an Benka und Jonte und rieb sich zufrieden die Hände: »Und nun, meine tapferen Waffengefährten: Irgendwo in diesem Haus befindet sich in diesem Augenblick eine kleine erbärmliche Ratte, die sich Chef der Weißen Rose nennt. Einsam und wehrlos! Sucht sie! Sucht sie, sage ich!«
Die Roten taten ihr Bestes. Den Chef der Gegner zu fangen, das war im Krieg der Rosen ein einzigartiges Bravourstück.
Der Weiße Chef hatte sich gut versteckt. Wie die Roten auch umherschnüffelten, sie fanden nicht soviel wie eine Feder von ihm. Bis Sixtus plötzlich ein schwaches Knarren über seinem Kopf hörte.
»Er ist oben auf dem Boden«, flüsterte er.
Nun ging alles sehr schnell. Wohl stand Anders kampfbereit auf dem Boden und warnte in den höchsten Tönen jeden, der noch nicht sein Testament gemacht hatte, in seine Nähe zu kommen; aber es half nichts. Sixtus, der für sein Alter außergewöhnlich groß und stark war, ging an die Spitze, Benka und Jonte halfen nach Bedarf, und bald wurde Anders, wild zap-pelnd, die Treppe hinuntergeführt, einem unbekannten Schicksal entgegen.
Kalle und Eva-Lotte schrien ihm durch die verschlossene Tür tröstende Worte zu:
»Wow i ror kok o mom mom e non bob a lol dod u non dod ror e tot tot e non dod i choch!« schrien sie. »Wir kommen bald und retten dich«, hieß das in der heimlichen Sprache der Weißen Rosen.
Etwas Besseres, die Roten zu reizen, gab es nicht. Lange hatten diese versucht, hinter das Geheimnis dieser Sprache zu kommen, die die Weißen bis zur Vollendung beherrschten und so wahnsinnig schnell sprechen konnten, daß es für den Laien wie ein absolutes Sammelsurium klang. Weder Sixtus noch Benka oder Jonte hatten etwas in dieser Sprache Geschriebenes gesehen. Sonst hätten sie bestimmt keine Schwierigkeiten gehabt, das Rätsel zu lösen. Jeder Konsonant wurde verdoppelt und ein o dazwischen eingefügt. So wurde zum Beispiel aus Kalle »Kok a lol lol e« und aus Anders »A non dod e ror sos«.
Eva-Lotte hatte diese Sprache, die sogenannte Räubersprache, von ihrem Vater »geerbt«. Der Bäckermeister hatte eines Abends rein zufällig davon gesprochen, wie er und seine Spielkameraden in ihrer Jugend auf diese Weise zu sprechen pflegten, wenn sie verhindern wollten, daß sie von all und jedem verstanden wurden.
Eva-Lottes Vater war einigermaßen erstaunt gewesen über die wilde Begeisterung seiner Tochter für die Räubersprache. Ein ähnliches Entzücken hatte er jedenfalls stets bei ihr vermißt, wenn es sich um unregelmäßige deutsche Verben oder derglei-chen handelte. Trotzdem hatte er den ganzen Abend stillgesessen und mit Eva-Lotte geübt, und am nächsten Tag schon konnte sie ihre neue Weisheit an Kalle und Anders weitergeben.
Den Weißen den Schlüssel zu ihrer Geheimsprache zu entreißen, war eines der Kriegsziele der Roten. Ein anderes und noch wichtigeres war, den Großmummrich zurückzuerobern.
»Großmummrich« war der achtunggebietende Name für einen recht unbedeutenden Gegenstand. Der Großmummrich war einfach ein Stein, ein eigentümlich geformter Stein, den Benka einmal gefunden hatte. Mit etwas gutem Willen konnte man sich einbilden, daß der Stein wie ein Mann geformt war, wie ein nachdenklicher kleiner Mann, der ähnlich wie ein Buddha dasaß und seinen Nabel betrachtete. Die Roten Rosen hatten ihn sofort zu ihrem speziellen Talisman erklärt und schrieben ihm eine Reihe außerordentlicher Eigenschaften zu.
Es brauchte nicht lange, bis die Weißen Rosen herausgefun-den hatten, daß es eine erhabene Pflicht war, den Großmummrich zu besitzen. Die heftigsten Kämpfe hatten schon um den Großmummrich stattgefunden. Es klingt unglaubhaft, daß einem kleinen Stein so große Bedeutung beigemessen wurde.
Aber warum sollten die Roten Rosen ihren Großmummrich nicht ebenso lieben wie beispielsweise die Schotten ihren Krönungsstein und innerlich genauso aufgerührt sein, wenn die Weißen ihn voller Tücke entwendet hatten, wie die Schotten, als die Engländer den Krönungsstein nach Westminster Abbey gebracht hatten?
Es war eine traurige Wahrheit, daß die Weißen zur Zeit den Großmummrich besaßen und an einem unbekannten Ort versteckt hielten. Es wäre natürlich leicht gewesen, ihn so zu verstecken, daß keine menschliche Macht an ihn herangekonnt hätte. Aber zu den erstaunlichen Regeln, die im Krieg der Rosen galten, gehörte es auch, daß diejenigen, die den Großmummrich gerade in ihrer Hand hatten, verpflichtet waren, dem Gegner zumindest einen Anhaltspunkt über den derzeitigen Aufbewahrungsort des Kleinods zu geben. Der Anhaltspunkt konnte ein Lageplan sein, ein schwer deutbarer und teilweise irreführender, oder ein Bilderrätsel, einfach auf einen Zettel hingeschmiert.
Dieser Fingerzeig mußte in einer dunklen Nacht in einen Briefkasten des Feindes gesteckt werden, der dann unter Aufbietung seines ganzen Scharfsinnes herausfinden konnte, daß der Großmummrich in einem leeren Krähennest oder unter einer Dachsparre auf Schuhmachermeister Bengtssons Holzspeicher lag.
Zur Zeit befand er sich an keiner der genannten Stellen. Zur Zeit befand er sich an einem ganz anderen Platz. Und einer der Hauptgründe für das neue Auflodern der Kämpfe der Rosen war, daß die Roten genau zu wissen wünschten, wo dieser Platz nun eigentlich war. Mit dem Chef der Weißen als Geisel war es sicher leicht, diesen Platz zu erfahren.
»Wir kommen bald und retten dich!« hatten sie geschrien, Eva-Lotte und Kalle. Ihr Chef konnte diese Aufpulverung bestimmt gut brauchen. Denn er wurde von starken Armen zur Folter geschleppt. Wegen des Großmummrichs und wegen der Geheimsprache.
»I choch vov e ror ror a tot e non i choch tot sos«, versicherte der Weiße Chef laut und heroisch, als man ihn an der Tür vorbeiführte, hinter der seine Waffengefährten gefangen waren.
»Warte nur, bald hast du ausgerort«, sagte Sixtus gehässig und packte ihn noch fester am Arm. »Wir werden es schon aus dir herauspressen, was das bedeutet. Keine Sorge!«
»Sei standhaft! Sei stark!« schrie Kalle.
»Halt aus! Halt aus! Wir kommen bald«, unterstützte ihn Eva-Lotte.
Und durch die Tür hörten sie die letzten stolzen Worte ihres Chefs: »Lang lebe die Weiße Rose!« Und dann: »Laß meinen Arm los! Ich folge auf Ehrenwort! Ich bin bereit, meine Herren!«
Danach hörten sie nichts mehr. Das große Schweigen breitete sich über ihr Gefängnis. Der Feind hatte das Haus verlassen –und ihren Chef hatte er mitgenommen.
Sicher hatten die Roten angedeutet, Kalle und Eva-Lotte könnten bleiben, wo sie wären, bis Moos auf ihnen wüchse. Aber das war nicht buchstäblich gemeint. Auch im Krieg der Rosen war man gezwungen, gewisse Rücksichten auf das beschwerliche und störende Element, das Eltern genannt wurde, zu nehmen. Natürlich war es ärgerlich, wenn edle Krieger ihren Kampf auf dem Höhepunkt abbrechen mußten, um nach Hause zu gehen und Koteletts und Rhabarbergrütze zu essen. Aber Eltern waren nun einmal der Meinung, Kinder müßten Mahlzeiten innehal-ten. Es war mit einberechnet im Krieg der Rosen, daß man sich diesen närrischen Elternwünschen zu fügen habe. Tat man es nicht, bestand die Gefahr bedeutend ernsterer Störungen in der Kriegführung. Eltern besaßen ein schlechtes Unterscheidungs-vermögen. Sie konnten leicht gerade an dem Abend ein Ausgeh-verbot verhängen, der ausschlaggebend für eine Schlacht um den Großmummrich war. Eltern wußten im großen und ganzen erschreckend wenig über Großmummriche, wenn auch eine Kindheitserinnerung von der Prärie manchmal wie ein zufälliger Lichtstrahl ihren verdunkelten Verstand erleuchtete.
Wenn also die Roten mit Anders loszogen und Kalle und Eva-Lotte im leeren Zimmer eines unbewohnten Hauses ein-sperrten, um sie dort Hungers sterben zu lassen, so bedeutete das nur, daß sie ungefähr zwei Stunden, nämlich bis gegen sieben Uhr, schmachten mußten. Um sieben Uhr gab es Abendbrot beim Lebensmittelhändler Blomquist, beim Bäckermeister Lisander und in all den andern Familien in der Stadt. Eine gute Weile vor diesem kritischen Stundenschlag schickte Sixtus entweder Benka oder Jonte, um in aller Stille den Eingeschlossenen die Tür wieder zu öffnen. Darum sahen Kalle und Eva-Lotte dem Hungertod mit Fassung und Würde ins Auge. Aber es war eine Schmach, auf diese Weise eingesperrt worden zu sein. Au-
ßerdem bedeutete es einen erdrückenden Punktsieg für die Roten. Und dieser Vorsprung war, nachdem sie auch den Weißen Chef gefangen und abgeführt hatten, in Wahrheit katastrophal.
Nicht einmal der Großmummrich in der Hand der Weißen konnte ihn ausgleichen.
Eva-Lotte sah den Fortziehenden verbittert aus dem Fenster nach. »Ich möchte wissen, wohin sie ihn führen«, sagte sie.
»Natürlich in Sixtus’ Garage«, antwortete Kalle und fügte hinzu: »Wenn man doch nur eine Zeitung hätte!«
»Eine Zeitung?« fragte Eva-Lotte irritiert. »Jetzt Zeitung lesen, wo wir versuchen müssen, hier herauszukommen?«
»Du hast ja recht«, sagte Kalle. »Wir müssen hier heraus.
Deshalb möchte ich ja auch eine Zeitung haben.«
»Glaubst du, da steht etwas drin über die beste Art, an Hauswänden hinunterzuklettern?« Eva-Lotte beugte sich aus dem Fenster, um den Abstand vom Boden zu schätzen. »Wir brechen uns natürlich den Hals«, fuhr sie fort. »Aber es hilft ja nichts.«
Kalle stieß einen zufriedenen Pfiff aus. »Die Tapete! Daran hatte ich nicht gedacht. Die wird genügen.«
Rasch riß er einen Fetzen von der herabhängenden Tapete ab.
Eva-Lotte sah ihm verwundert zu. Kalle bückte sich und schob das große Papierstück durch die fingerbreite Ritze unter der Tür.
»Reine Routinearbeit«, murmelte er und holte sein Taschenmesser heraus. Das kleinste und dünnste Messer klappte er hoch und stocherte vorsichtig damit im Schlüsselloch herum. Man hörte ein Klirren auf der Außenseite der Tür. Es war der Schlüssel, der dort zu Boden fiel. Kalle zog die Tapete wieder herein, und richtig, darauf lag der Schlüssel. »Wie gesagt, reine Routinearbeit«, sagte der Meisterdetektiv, damit andeutend, daß seine Tätigkeit als Detektiv es eben mit sich brachte, jeden Tag verschlossene Türen auf die eine oder andere knifflige Art zu öffnen.
»O Kalle, du bist unschlagbar!« stellte Eva-Lotte bewundernd fest.
Kalle schloß auf. Sie waren frei. »Aber wir wollen nicht gehen, ohne die Rötlichen um Verzeihung zu bitten«, sagte Kalle.
Er fischte einen Bleistiftstummel aus seiner inhaltsreichen Hosentasche und reichte ihn Eva-Lotte. Und sie schrieb auf die Rückseite der Tapete:
»An die Hohlschädel der Roten Rose!
Eure Moosanpflanzungsversuche sind kläglich gescheitert.
Genau fünf Minuten und dreiunddreißig Sekunden haben wir gewartet, daß etwas hervorsprießen sollte. Jetzt warten wir nicht länger. Kleine Rotzbengelchen, wußtet ihr noch nicht, daß Weiße Rosen durch Wände gehen können?«
Sie schlossen das Fenster sorgfältig und legten den Fensterha-ken um. Dann schlossen sie die Tür von außen ab und ließen den Schlüssel im Schloß stecken. Den Abschiedsbrief hängten sie an den Türgriff.
»Das wird ihnen etwas zu denken geben: das Fenster von innen und die Tür von außen verschlossen! Die werden sich wundern, wie wir herausgekommen sind«, sagte Eva-Lotte und lief rot an vor Begeisterung.
»Ein Punkt für die Weiße Rose«, sagte Kalle und lachte.
Anders war in Sixtus’ Garage nicht zu finden. Die Garage lag still und leer da wie vorher. Sixtus’ Mutter war dabei, im Garten Wäsche aufzuhängen.
»Wissen Sie wohl, wo Sixtus ist?« fragte Eva-Lotte.
»Hm, vor einer halben Stunde war er noch hier«, sagte die Frau Postdirektor, »mit Benka und Anders und Jonte.«
Es war klar, die Roten hatten ihren Gefangenen an einen Platz gebracht, der sicherer war. Aber wohin? Die Antwort befand sich dicht bei ihnen. Kalle sah sie zuerst. In das Gras ge-bohrt stand da ein Finnenmesser, die scharfe Spitze durch einen kleinen Zettel getrieben. Es war Anders’ Messer. Kalle und Eva-Lotte erkannten es sofort. Und auf dem Zettel stand ein einziges Wort: »Jonte«.
Es war dem Weißen Chef offenbar gelungen, in einem unbewachten Augenblick diese lakonische Mitteilung für seine Waffenbrüder zu hinterlassen.
Kalle legte die Stirn in tiefsinnige Falten. »Jonte«, sagte er, »das kann nur eins bedeuten: Anders sitzt zu Haus bei Jonte gefangen.«
»Ja, was dachtest du denn sonst, was es bedeuten könnte?« höhnte Eva-Lotte. »Wenn er wirklich bei Jonte ist, so ist es natürlich schlauer, auch ›Jonte‹ zu schreiben und nicht etwa zum Beispiel ›China‹.« Darauf sagte Kalle kein Wort.
Jonte wohnte in dem Teil der Stadt, der Rackerberg genannt wurde. Es waren nicht gerade die Vornehmsten, die dort in den kleinen Hütten wohnten. Jonte erhob aber gar nicht den An-spruch, zu den Vornehmen der Stadt zu gehören. Er war vollauf zufrieden mit der baufälligen Wohnung seiner Familie, die aus Stube und Küche im Erdgeschoß und einer kleinen Kammer unter dem Dach bestand. Letztere war nur im Sommer be-wohnbar. Im Winter war es dort zu kalt. Aber im Juli herrschte in der Bodenkammer eine Hitze wie unter den Bleidächern von Venedig, weshalb dort der beste Platz für ein Verhör war. Jonte hatte das alleinige Verfügungsrecht über die Bodenkammer.
Hier schlief er auf einem einfachen Zeltbett, hier hatte er ein selbstgebautes Regal aus Kistenbrettern, wo er seine Detektiv-magazine und die Briefmarkensammlung, oder was ihm sonst kostbar war, aufbewahrte. Kein König konnte in seinem Palast zufriedener sein als Jonte in seiner Kammer, wo die warme Luft stillstand und die Fliegen an der Decke summten.
Hierher hatten die Roten Anders gebracht. Glücklicherweise waren Jontes Eltern gerade heute außerhalb der Stadt in ihrem Schrebergarten. Sie hatten zu essen mitgenommen. Jonte sollte zu Hause für sich selber sorgen und sich Wurst und Kartoffeln braten, falls er Hunger bekam. Und weil Sixtus’ Mutter direkt vor dem Hauptquartier der Roten Rose ihre Wäsche aufhängte und weil es so wunderbar elternfrei bei Jonte zu Hause war, hatte Sixtus den großartigen Einfall gehabt, das peinliche Verhör in Jontes Kammer stattfinden zu lassen.
Kalle und Eva-Lotte beratschlagten. Selbstverständlich konnten sie die Hilfsexpedition sofort starten. Nach einigem überlegen jedoch fanden sie es besser, damit noch zu warten. Es wäre dumm gewesen, sich ausgerechnet jetzt den Roten zu zeigen.
Bald war Abendbrotzeit. Bald würde Sixtus Benka oder Jonte zum Herrenhof schicken. Bald würde dort entweder Benka oder Jonte über die rätselhafte Flucht von Kalle und Eva-Lotte ganz entgeistert und verstört sein. Das war ein Gedanke voll tiefer Süße. Es wäre sündhaft gewesen, einen so großen Triumph zu zerstören.
Kalle und Eva-Lotte beschlossen deshalb, die Rettungsaktion bis nach dem Abendbrot zu verschieben. Sie wußten ja, daß Anders Urlaub auf Ehrenwort bekommen würde, um nach Hause zu gehen und Abendbrot zu essen. Und nichts war doch wohl peinlicher für eine Rettungsexpedition, als dann am Unglücks-platz zu erscheinen, wenn der zu Rettende sich gerade nach Hause begeben hatte, um Abendbrot zu essen.
»Und im übrigen«, meinte Kalle, »wenn man jemand, der sich in einer Wohnung aufhält, zu beobachten gedenkt, soll man immer dann beobachten, wenn es dunkel wird und die Leute das Licht anmachen. Bevor sie die Jalousien herunterlassen. Das weiß jeder, der nur die geringste Ahnung von Kriminalistik hat.«
»Jonte hat keine Jalousien«, stellte Eva-Lotte fest.
»Um so besser«, sagte Kalle.
»Aber wie sollen wir durch ein Fenster im Dach beobachten?«
wunderte sich Eva-Lotte. »Gewiß habe ich sehr lange Beine, aber …«
»Man merkt, daß du noch nie Kriminalistik studiert hast. Was zum Beispiel glaubst du, macht wohl die Kriminalpolizei in Stockholm? Wenn die eine Wohnung, drei Treppen hoch, beobachten wollen, weil dort Verbrecher wohnen, dann verschaffen sie sich Zutritt zu einer Wohnung auf der gegenüberliegenden Straßenseite, am besten vier Treppen hoch, damit sie etwas über den Verbrechern sind. Und dann stehen sie da, die Polizisten, mit ihren Ferngläsern und sehen haargenau zu den Verbrechern hinein, bevor diese die Jalousien herunterlassen.«
»Wenn ich Verbrecher wäre, würde ich zuerst die Jalousie herunterlassen und dann Licht anmachen«, sagte die praktisch veranlagte Eva-Lotte, »Übrigens, was denkst du: Zu welcher Wohnung sollen wir uns Zutritt verschaffen, um bei Jonte zu beobachten?«
Darüber hatte Kalle noch nicht nachgedacht. Für die Krimi-nalbeamten in Stockholm war es sicher ganz einfach, sich Zutritt zu einer Wohnung zu verschaffen. Sie brauchten ja nur ihre Polizeiausweise vorzuzeigen. Aber es war kaum anzunehmen, daß es hier für Kalle und Eva-Lotte genauso einfach sein würde.
Außerdem stand gegenüber von Jontes Haus gar kein Haus.
Da war der Fluß. Aber es war ein Haus dicht daneben. Das Haus von Gren, dem Alten. Eine Baracke von zwei Stockwerken. Gren hatte seine Tischlerwerkstatt zu ebener Erde und hauste selbst in der Wohnung im ersten Stock. Sollte man sich nicht »Zutritt verschaffen« können zu Grens Wohnung? meinte Kalle. Einfach reingehen zu ihm und artig fragen, ob man nicht ein Fenster beschlagnahmen könne, um eine Kleinigkeit zu beobachten? Kalle sah selbst ein, wie dumm dieser Gedanke war. Außerdem hatte er auch noch einen Haken. Zwar standen die Häuser von Jonte und Gren mit den Giebeln zueinander ge-kehrt, aber gerade auf der Seite zu Jonte hin war bei Gren im oberen Stockwerk kein Fenster.
»Ich habe eine Idee!« rief Eva-Lotte. »Eine Möglichkeit gibt es: Wir klettern bei Gren auf das Dach!«
Kalle sah sie voller Bewunderung an. »Für jemand, der noch nie in seinem Leben Kriminalistik studiert hat, ist diese Idee wirklich gut«, sagte er dann.
Ja, das Dach bei Gren, das war die Lösung. Es war im Verhältnis zu Jontes Dachstubenfenster gerade richtig hoch genug.
Und Jonte hatte keine Jalousien. Sie würden einen großartigen Beobachtungsplatz haben. Frohen Herzens gingen Kalle und Eva-Lotte nach Hause – zum Abendbrot.
Der Abend war dunkel und still, als sie einige Stunden später über den Rackerberg schlichen. Die kleinen Holzbaracken drängten sich dicht aneinander. Etwas von der Hitze des Julita-ges hing noch zwischen den Häuserreihen.
»Hier ist es still wie in einem Grab«, fand Kalle. Und er hatte recht. Nur ab und zu hörte man ein Gemurmel von Stimmen hinter einem der Fenster. In der Ferne bellte ein Hund auf, und danach war die Stille noch tiefer als zuvor.
Bei Jonte aber ging es lebhaft zu. In seiner Bodenkammer war es hell, und gellende Knabenstimmen tönten aus dem offenen Fenster. Kalle und Eva-Lotte stellten mit Befriedigung fest, daß das Verhör in vollem Gange war. Sicher spielte sich dort oben ein spannendes Drama ab, und Kalle und Eva-Lotte waren fest entschlossen, diesem Drama vom besten Platz aus, dem Gren-schen Dach, beizuwohnen.
Kalle lief noch einmal um das Haus, um die Möglichkeiten zu untersuchen. Ärgerlich – bei Gren war auch Licht. Warum konnten alte Menschen abends nicht schlafen gehen, sie, die den Schlaf doch so nötig hatten! Wie sollte man sonst einigermaßen ungestört auf ihrem Dach herumspazieren? Aber es half nichts.
Ungestört oder nicht – auf das Dach mußten sie.
Es war gar nicht so schwer. Gren, der Alte, hatte freundlicherweise eine Leiter an den einen Giebel des Hauses gestellt.
Zwar stand die Leiter dicht neben Grens Fenster, dem Fenster, das erleuchtet war, und das Fenster stand offen hinter einer zur Hälfte herabgelassenen Jalousie. Und es war nicht sicher, ob Gren besonders entzückt sein würde, wenn er den Kopf aus dem Fenster stecken und zwei Weiße Rosen sehen würde, die in voller Fahrt auf sein Dach kletterten. Aber im Krieg der Rosen durfte man sich durch derartige Bagatellen nicht stören lassen.
Unbeirrt mußte man den Weg der Pflicht gehen, auch wenn er über Grens Dachfirst führte.
»Geh du voran«, sagte Eva-Lotte ermunternd. Das tat Kalle.
Vorsichtig, ganz vorsichtig begann er, die Leiter hinaufzuklettern. Eva-Lotte folgte ihm schnell und leise. Gefährlich konnte es ja erst werden, wenn sie sich auf gleicher Höhe mit dem er-leuchteten Fenster im oberen Stockwerk befanden.
»Gren hat Besuch«, flüsterte Kalle Eva-Lotte zu. »Ich höre, wie sie zusammen sprechen.«
»Steck den Kopf rein und bitte für uns um ein Stück Kuchen«, meinte Eva-Lotte und kicherte zufrieden über ihren eigenen Vorschlag.
Kalle ließ sich nicht beirren. Er setzte seinen Weg zum Dach fort, so schnell er konnte. Auch Eva-Lotte hatte es eilig, als sie an der Fensteröffnung vorbei mußte. Ja, Gren hatte Besuch, man konnte es deutlich hören. Kuchen wurde aber nicht serviert. Jemand stand mit dem Rücken zum Fenster, jemand, der mit tiefer Stimme aufgeregt sprach. Eva-Lotte konnte zwar nur ein Stück von dem Sprechenden sehen, da die Jalousie ja zur Hälfte herabgelassen war; aber sie sah, daß der Besuch von Gren dunkelgrüne Gabardinehosen anhatte. Und dann hörte sie seine Stimme.
»Ja, ja, ja«, sagte er ungeduldig. »Ich werde versuchen. Ich werde bezahlen. Daß ich endlich aus dieser Hölle heraus kann!«
Darauf hörte sie Grens weinerliche Greisenstimme: »Das haben Sie schon oft gesagt. Jetzt will ich aber nicht länger warten.
Sie werden verstehen – ich muß mein Geld haben.«
»Sie werden es bekommen, sage ich.« Es war der Fremde, der nun wieder sprach. »Wir treffen uns am Mittwoch. An der gewohnten Stelle. Bringen Sie meinen Revers mit, nein, alle Reverse, jeden einzigen. Ich werde sie alle einlösen. Es muß endlich Schluß damit sein.«
»Der Herr braucht sich doch nicht so aufzuregen. Sie verstehen doch, daß ich mein Geld haben muß«, antwortete Gren beruhigend.
»Blutsauger!« sagte der Fremde, und man hörte, daß er es auch meinte.
Eva-Lotte kletterte schnell weiter. Kalle wartete, auf dem Dachfirst sitzend, auf sie.
»Die da unten hatten Krach wegen Geld«, erklärte Eva-Lotte.
»Sicherlich prozentuieren die beiden«, vermutete Kalle.
»Ich möchte wissen, was ein Revers ist«, sagte Eva-Lotte nachdenklich. Dann aber setzte sie hastig hinzu: »Ach, ist ja ganz egal! Komm, Kalle!«
Um in die Nähe von Jontes Fenster zu kommen, mußten sie quer über das Dach zur gegenüberliegenden Seite balancieren.
Recht unheimlich war es dort unter einem dunklen Himmel ohne freundliche Sterne, die den gefährlichen Weg etwas auf-hellten. Nichts zum Festhalten als den Schornstein, und der bot nur einen kurzen Halt, als sie die Hälfte des Weges hinter sich hatten. Aber sie gingen weiter auf ihrem gefahrvollen Ba-lancegang, und ihr Mut wurde belohnt durch den Anblick, der sich ihnen in Jontes Kammer bot. Da saß ihr Chef auf einem Stuhl, umringt von den Roten Rosen, die mit den Armen fuch-telten und ihn anschrien. Er aber schüttelte nur stolz den Kopf.
Eva-Lotte und Kalle legten sich platt auf den Bauch und bereiteten sich auf eine genußreiche Stunde vor. Sie konnten alles, was dort drüben vor sich ging, hören und sehen. Welch ein Triumph! Welch ein Erfolg! Ihr Chef sollte nur wissen, daß die Rettung so nahe war. Nur zwei Meter von ihm entfernt lagen seine Getreuen, bereit, Blut und Leben für ihn zu opfern.
Eine Kleinigkeit nur war noch zu klären. Wie sollte die Be-freiung vor sich gehen? Es war sicher gut und schön, Blut und Leben opfern zu wollen, aber wie sollte das geschehen? Über zwei Meter Abstand mit nur Luft dazwischen …
»Irgend etwas wird uns schon einfallen«, meinte Kalle voller Zuversicht und legte sich, den Umständen entsprechend, so bequem wie möglich zurecht.
Bei Jonte wurde das Verhör fortgesetzt. »Gefangener, ich gebe dir eine letzte Chance, dein widerliches Leben zu retten«, sagte Sixtus und riß unbarmherzig an Anders’ Arm. »Wo habt ihr den Großmummrich verborgen?«
»Vergeblich erkundigst du dich!« antwortete Anders. »Seit undenklichen Zeiten halten die Weißen Rosen ihre mächtige Hand über den Großmummrich. Nie werdet ihr ihn finden, darauf kannst du springen und dir eins husten«, setzte er weniger hochtrabend hinzu.
Kalle und Eva-Lotte nickten draußen auf ihrem Aussichtspo-sten stumm Beifall. Sixtus, Benka und Jonte aber sahen aufrichtig verärgert aus.
»Wir werden ihn über Nacht in meine Garage setzen müssen, damit er weich wird«, meinte Sixtus.
»Hahaha«, lachte Anders. »Wie Kalle und Eva-Lotte, wie?
Die sind auch in fünf Minuten geflohen, wie ich gehört habe.
Genauso werde ich fliehen.«
Die Roten Rosen wurden etwas nachdenklich. Es blieb ein Rätsel, wie es Kalle und Eva-Lotte geglückt war, aus ihrem Gefängnis zu entkommen. Es wirkte beinahe unnatürlich. Anders gegenüber aber tat man ungerührt.
»Bilde dir nur nicht ein, daß du ein Ausbrecherkönig bist«, sagte Sixtus. »Wo wir dich einsperren, da bleibst du auch. Zuerst aber möchten wir von dir noch etwas über diese Geheimsprache wissen. Du bekommst Strafnachlaß, wenn du uns die Lösung gibst.«
»Kaum«, sagte Anders.
»Sei nun nicht halsstarrig«, versuchte Sixtus. »Du kannst doch wohl etwas sagen. Meinen Namen zum Beispiel. Wie heiße ich in eurer Sprache?«
»Kok non a lol lol kok o pop pop«, sagte Anders bereitwillig und lächelte ironisch vor sich hin, um Sixtus fühlen zu lassen, daß es sich um eine Verunglimpfung handelte. So schwer es ihm auch wurde, zu übersetzen wagte er nicht – sonst hätte er den Schlüssel zur Räubersprache preisgegeben. Daher lächelte er nur noch einmal ironisch, und draußen auf dem Dach stimmten seine Bundesgenossen herzlich und etwas lauter in das Lächeln ein. Es hätte dem Chef Freude gemacht, wenn er es gewußt hätte. So aber waren er und die Roten vorläufig noch ohne Wissen um die unsichtbaren Zuschauer.
Sixtus knirschte in ohnmächtiger Wut mit den Zähnen. Es fing an für die Roten peinlich zu werden, und dieses Lolen und Koken, das sie nicht begriffen, konnte bei jedem von ihnen krampfartige Zustände hervorrufen. Den Chef der Weißen Rosen hatten sie zwar gefangen; aber sie wußten kaum, was sie mit ihm machen sollten. Geheimnisse wollte er nicht ausplaudern, und die Roten Rosen ließen sich unter keinen Umständen dazu herab, körperliche Gewalt anzuwenden, um Geständnisse zu er-zwingen. Gewiß prügelten sie sich oft, daß es nur so rauchte; aber das war in ehrlichem Kampf draußen auf dem Schlachtfeld.
Sich aber drei gegen einen über einen wehrlosen Gefangenen werfen, das gab es einfach nicht.
»Übrigens – wo habt ihr den Großmummrich gelassen?«
fragte Sixtus plötzlich wieder in der Hoffnung, Anders zu überrumpeln.
»Ja, wo habt ihr den Großmummrich gelassen?« fragte auch Jonte und piekte Anders auffordernd in die Seite. Anders kicherte auf und krümmte sich wie ein Wurm. Er war nämlich äußerst kitzlig.
Als Sixtus das sah, legte sich ein verklärtes Lächeln auf sein Gesicht. Er war ein Edelmann der Roten Rose und pflegte seine Gefangenen nicht zu quälen. Wer aber hatte gesagt, daß man sie nicht kitzeln durfte? Versuchsweise stach er einen spielerischen Zeigefinger in Anders’ Magengrube. Es glückte über alles Erwarten. Anders prustete los wie ein Flußpferd und krümmte sich doppelt und dreifach. Nun kam Leben in die Roten. Alle auf einmal warfen sie sich über ihr Opfer. Und der arme Weiße Chef stöhnte, winselte und hatte Schluckauf vor Lachen.
»Wo habt ihr den Großmummrich gelassen?« fragte Sixtus noch einmal und tastete prüfend zwischen den Rippen von Anders herum.
»Oh … oh … oh … oh …« keuchte Anders.
»Wo habt ihr den Großmummrich gelassen?« Benka kitzelte ihn ausgiebig unter der Fußsohle.
Als Antwort hörte er eine Lachkaskade.
»Wo habt ihr den Großmummrich gelassen?« wollte nun auch Jonte wissen und fingerte in Anders’ Kniekehle.
»Ich … gebe … auf …« winselte Anders. »Draußen auf der Prärie … beim Herrenhof … geht den … kleinen Weg …«
»Und weiter?« fragte Sixtus und hielt warnend seinen Zeigefinger in Bereitschaft.
Aber es gab kein Weiter. Es geschah etwas völlig Unerwartetes. Man hörte ein kurzes Sausen, einen kleinen Knall – und dann lag Jontes Kammer in wahrhaft ägyptischer Finsternis da.
Die Glühbirne unter der Decke, die einzige Beleuchtung für Jontes Kammer, war in tausend Stücke gesprungen. Der Weiße Chef war genauso verblüfft wie die Roten. Nur kam er schneller wieder zu sich. Im Schutz der Dunkelheit glitt er wie ein Aal zur Tür und verschwand. Er war frei.
Oben auf dem Dach steckte Kalle nachdenklich sein Katapult wieder in die Hosentasche.
»Ich werde Geld aus meinem Sparschwein nehmen und eine neue Birne für Jonte kaufen«, meinte er reumütig. Beschädi-gung von fremdem Eigentum war etwas, was einem edlen Ritter der Weißen Rose schlecht anstand, und es war deshalb für Kalle vollkommen klar, daß der Schaden zu ersetzen war.
»Aber du verstehst doch wohl, daß es notwendig wurde«, sagte er zu Eva-Lotte.
Eva-Lotte nickte zustimmend. »Es war absolut notwendig«, beruhigte sie ihn. »Unser Chef war in großer Gefahr. Und der Großmummrich auch. Es war also wirklich nötig.«
Bei Jonte hatten sie inzwischen eine Taschenlampe hervorge-kramt. Mit Verbitterung stellten die Roten fest, daß ihr Gefangener entwischt war.
»Verschwunden!« schrie Sixtus und raste zum Fenster.
»Welcher verdammte Läusepudel hat die Lampe zerschossen?«
Er hätte nicht zu fragen brauchen. Die Sünder standen, zwei schwarze schmale Silhouetten, auf dem Dach gegenüber. Die Silhouetten begannen einen schnellen Rückzug. Sie hatten soeben Anders’ Pfeifsignal gehört und verstanden, daß er frei war.
Nun sausten sie in lebensgefährlicher Hast über das Dach. Es galt, von dem Dach herunter und in Sicherheit zu kommen, bevor die Roten unten waren, um sie in Empfang zu nehmen. Sie liefen ohne Furcht im Dunkel den Dachfirst entlang und bewegten sich mit der Geschmeidigkeit, die ein wildes und glückliches Leben ihren mutigen jungen Körpern geschenkt hatte.
Sie erreichten die Leiter und kletterten in rasender Eile abwärts.
Eva-Lotte zuerst, danach Kalle, dicht hinterdrein. An Gren dachten sie überhaupt nicht mehr. Ihre Gedanken waren bei den Roten. Grens Fenster war ohne Licht. Der Fremde schien gegangen zu sein.
»Beeile dich, ich hab’s eilig«, flüsterte Kalle inständig über Eva-Lotte.
Da fuhr mit einem Knall Grens Jalousie in die Höhe, und der Alte sah heraus. Das geschah so unerwartet und erschreckte sie so furchtbar, daß Kalle plötzlich seinen Halt verlor. Mit kra-chendem Plumps schlug er unten auf und hätte beinahe Eva-Lotte mit sich gerissen.
» So eilig hast du es nun doch wieder nicht«, sagte Eva-Lotte sarkastisch. Sie hielt sich krampfhaft an der Leiter fest, um nicht auch noch hinunterzufallen, und wandte dabei Gren ein bitten-des Gesicht zu.
Gren aber sah mit seinen traurigen Greisenaugen auf Kalle, der am Boden lag und nach Luft schnappte, und sagte mit noch traurigerer Greisenstimme: »Ja, ja, der Kindheit glückliche Spiele. Der Kindheit glückliche, unschuldige Spiele. Ja, ja.«
Eva-Lotte und Kalle hatten keine Zeit, Gren zu erklären, warum sie seine Leiter benutzten, und er selbst schien nichts sonderlich Bemerkenswertes oder Unnatürliches daran zu finden.
Wahrscheinlich sah er ein, daß der Kindheit glückliche, unschuldige Spiele es ab und zu erforderlich machten, hier und dort in der Nachbarschaft auf Leitern und auf Dächern herumzuklettern. Kalle und Eva-Lotte verabschiedeten sich hastig und liefen davon, so schnell sie konnten. Aber Gren schien es nicht zu bemerken. Er seufzte nur still in sich hinein und ließ die Jalousie herunter.
In der dunklen Gasse hinter Grens Haus vereinigten sich die drei Streiter der Weißen Rose. Sie drückten sich die Hände, und der Chef sagte: »Gut gemacht, ihr Tapferen!«
Dann aber galt es zu fliehen. Schon hörte man am andern Ende der Gasse einen Lärm, der ständig an Stärke zunahm. Das waren die Roten, die endlich zur Besinnung gekommen waren und nun nach Rache schrien.
Um diese Zeit waren die Bewohner des Rackerberges schon zu Bett gegangen und schliefen. Nun schossen sie schlaftrunken und aufgescheucht in ihren Betten hoch. War es die Wilde Jagd, die dort draußen vorüberraste? Ach, es waren nur drei edle Ritter der Weißen Rose, die mit gewaltigen Sprüngen über das Kopfsteinpflaster der Gasse setzten. Und fünfzig Meter hinter ihnen taten drei gleich edle Ritter der Roten Rose dasselbe. Deren Sprünge waren nicht minder gewaltig, und deren gellende und giftige Schreie hatten eine Tragweite, die kaum von der modernsten Feuerwehrsirene erreicht wurde.
Kalle fühlte ein wildes Entzücken in der Brust, als er so durch das Dunkel lief. Das war ein Leben – oh, fast so spannend wie Verbrecher fangen. Verbrecher fangen konnte man nur in der Phantasie. In Wirklichkeit gab es sicher keine, so wie es zur Zeit hier aussah. Aber das hier war Wirklichkeit: das Dröhnen der Fü-
ße der Verfolger hinter ihm, Anders’ und Eva-Lottes keuchende Atemzüge, das holprige Straßenpflaster unter seinen Sohlen, die dunklen kleinen Gassen und die düster lockenden Höfe und Schlupfwinkel, wo man sich verstecken konnte – ja, das alles zusammen war herrlich, und es würde eine spannende Jagd werden.
Das Allerschönste aber war, zu spüren, wie genau sein Körper ihm gehorchte, wie schnell seine Beine sich bewegten und wie leicht sein Atem ging. So hätte er die ganze Nacht laufen können. Er fühlte sich kräftig genug, einer ganzen Koppel von Bluthunden zu entlaufen, wenn es nötig sein sollte. Es fiel ihm ein, daß es noch spannender wäre, allein gejagt zu werden.
Dann könnte man seine Verfolger noch mehr reizen und auf die eine oder andere Weise noch kühner manövrieren.
»Versteckt euch«, sagte er schnell zu Anders und Eva-Lotte.
Anders fand diesen Vorschlag großartig. Alle Möglichkeiten, die Roten anzuführen, waren herzlich willkommen. Als sie die nächste Ecke erreicht hatten, tauchten deshalb Anders und Eva-Lotte blitzschnell in einem Torweg unter und blieben dort still, wenn auch heftig atmend, stehen. Es brauchte einige Sekunden, bevor die Roten um die Ecke kamen. Sie liefen so nahe an Anders und Eva-Lotte vorbei, daß man sie beinahe hätte anfassen können.
»Anzuführen wie Kleinkinder«, stellte Anders fest. »Waren wohl noch nie im Kino, um zu sehen, wie man so was macht.«
»Aber für Kalle wird es schwer werden«, sagte Eva-Lotte und horchte nachdenklich auf das Geräusch der springenden Füße, das jetzt in der Dunkelheit davonlief. Drei böse rote Wölfe, die ein armes, zartes weißes Kaninchen hetzen, dachte sie und war ganz erfüllt von plötzlichem Mitleid.
Eine Weile dauerte es, bis die Roten bemerkten, daß ihnen ein Teil ihrer Beute entging. Aber da war es bereits zu spät. Das einzige, was sie tun konnten, war, ihre Jagd auf Kalle fortzusetzen.
Keiner kann sagen, daß sie nicht das Äußerste leisteten. Sixtus lief wie ein Besessener, und während er lief, schwor er sich hoch und heilig, daß, wenn Kalle diesmal seinem Schicksal entsprin-gen sollte, er, Sixtus, sich einen knallroten Vollbart stehen lassen würde als äußeres Zeichen seiner erbärmlichen Niederlage.
Er dachte allerdings nicht weiter darüber nach, wie er es anstellen sollte, den Bart auf seinem kahlen Jungengesicht zum Sprie-
ßen zu bringen, – er lief und lief.
Das tat Kalle auch. Hin und her in den Gassen des ganzen Rackerberges und immer in wohlüberlegten Winkelsprüngen.
Nie war sein Vorsprung so groß, daß er seine Verfolger abschütteln konnte. Vielleicht wollte er es auch nicht. Sie folgten ihm dicht auf den Fersen, und die ganze Zeit hatte er seine Freude daran, sie sich so nahe zu halten, daß es gefährlich schien.
Es war überall still. Aber durch diese Stille klang plötzlich das Geräusch eines Automotors, der irgendwo in der Nähe angelas-sen wurde. Das setzte Kalle in Erstaunen; denn Autos waren eine Seltenheit auf dem Rackerberg. Wäre der Meisterdetektiv nur nicht so mit dem Krieg der Rosen beschäftigt gewesen und hätte er nicht den Schwarm von Roten Rosen an den Fersen gehabt, so hätte er sicherlich versucht, einen Schimmer von dem Auto zu erwischen. Denn das hatte er seinem erdachten Zuhörer oft genug eingeschärft: »Man kann nicht aufmerksam genug sein, wenn es unerwartete Erscheinungen betrifft.« Leider war jetzt der Meisterdetektiv, wie gesagt, zum Militärdienst einberufen, und er stürmte blindlings weiter, nur schwach an dem Auto interessiert, das sich deutlich entfernte und verschwand.
Sixtus fing an ungeduldig zu werden. Jonte, der den Schulre-kord über hundert Meter hielt, sollte einen günstigen Augenblick abpassen und versuchen, Kalle zu kreuzen und in Sixtus’ wartende Arme zu treiben.
Und der günstige Augenblick kam. Es gab an einer Stelle eine Sackgasse, und da nahm Jonte seine Chance wahr: In diese Richtung sollte Kalle abbiegen. So geschah es zu Kalles Überraschung, daß er plötzlich in seinem Lauf durch Jonte, der wie aus dem Nichts vor ihm auftauchte, abgestoppt wurde. Er wagte nicht, sich durchzuschlagen, denn selbst wenn ihm dies glücken sollte, würde es doch so viele kostbare Sekunden kosten, daß Sixtus und Benka es geschafft hätten, zu Jontes Unterstützung heranzukommen.
»Na«, schrie Sixtus aus weniger als zehn Schritt Entfernung,
»jetzt bist du reingefallen, jetzt knallt es, glaube ich!«
»Denkst du dir so«, sagte Kalle und schwang sich im letzten Bruchteil einer Sekunde über den Zaun, der die Straße nach der einen Seite abgrenzte.
Er landete in einem dunklen Hof, und schnell wie ein aufgescheuchter Troll rannte er quer hinüber. Die Roten waren ihm auf den Fersen! Er hörte dumpf, wie sie über den Zaun setzten.
Aber er blieb nicht stehen, um zu horchen. Er war zu sehr damit beschäftigt, nach einer Gelegenheit auszuspähen, wie er wieder auf die Straße hinauskommen konnte, ohne hier an der anderen Seite über den Zaun zu müssen. Denn wie nun auch der Besitzer dieses Zaunes heißen mochte – er hatte auf jeden Fall eine sehr verkehrte Einstellung zu dem Krieg zwischen den Weißen und Roten Rosen. Sonst hätte er bestimmt nicht seinen Zaun mit einem so widerlichen Stacheldraht gesichert.
»Lieber Himmel, was tue ich nur?« flüsterte Kalle ratlos vor sich hin. Zeit zum Überlegen hatte er nicht. Was geschehen sollte, mußte augenblicklich geschehen. Er kroch schnell hinter eine Kehrichttonne und hockte dort mit wild klopfendem Herzen. Vielleicht gab es den Schimmer einer Möglichkeit, daß ihn die Roten nicht entdeckten. Aber sie waren absolut in seiner Nähe. Sie flüsterten halblaut miteinander und suchten, suchten nach ihm in der Dunkelheit.
»Über den Zaun kann er nicht geklettert sein«, sagte Jonte.
»Sonst würde er noch im Stacheldraht hängen. Das weiß ich genau – ich habe Erfahrung, weil ich es selbst einmal versucht habe.«
»Der einzige Ausgang aus dem Hof ist dort durch die Veranda des Hauses«, sagte Sixtus.
»Die Veranda der alten Karlsson – schrecklich!« stöhnte Jonte, der den Rackerberg und seine Bewohner nach Strich und Faden kannte. »Die alte Karlsson ist wie eine giftige Spinne –schrecklich!«
Was ist schlimmer, dachte Kalle hinter seiner Tonne, von den Roten oder von der Karlsson geschnappt zu werden? Das möchte ich zu gern wissen. Die Roten suchten weiter.
»Ich bin sicher, daß er hier irgendwo auf dem Hof steckt«, beteuerte Benka. Er schnüffelte überall umher, und schließlich entdeckte er Kalles Schatten hinter der Kehrichttonne.
Benkas Jubelschrei, wild, aber gedämpft, erweckte neues Leben in Sixtus und Jonte. Noch mehr: erweckte es auch bei Frau Karlsson! Diese Dame war schon seit geraumer Zeit durch eigenartiges Gepolter in ihrem Hinterhof beunruhigt worden, und sie war nicht gewillt, das eigenartige Gepolter in ihrem Hinterhof zu dulden, wenn sich dagegen etwas tun ließ.
Kalle hatte sich zu diesem Zeitpunkt dafür entschieden, daß selbst das größte Risiko immer noch besser war, als von den Roten gefangengenommen zu werden, und mochte daraus auch ein ausgewachsener Hausfriedensbruch bei der auf dem Rackerberg am meisten gefürchteten Person entstehen. Er entglitt mit einigen Millimetern Zwischenraum Sixtus’ greifenden Fäusten und setzte mit einem Hechtsprung in Frau Karlssons Veranda, um von dort weiter auf die Straße zu schlüpfen. Aber jemand kam ihm in der Dunkelheit entgegen. Und dieser Jemand war Frau Karlsson! Sie war in persönlicher Angelegenheit unterwegs: Sie wollte dem geheimnisvollen Gepolter ein Ende bereiten, gleichviel, ob Ratten oder Einbrecher oder seine Majestät der König selbst die Urheber waren. Frau Karlsson war nämlich der Meinung, daß auf gerade diesem Hinterhof kein anderer berechtigt war, geheimnisvoll zu poltern als nur sie selbst.
Als Kalle wie ein aufgeschreckter Hase angesaust kam, war Frau Karlsson allerdings so überrascht, daß sie ihn vor Erstaunen glatt an sich vorbeiließ. Aber ihm auf den Fersen folgten Sixtus und Benka und Jonte, und sie alle landeten in Frau Karlssons ausgebreiteten Armen. Sie preßte sie an sich und schrie mit der Stimme eines Feldwebels:
»Aha, hier rennen kleine Strolche umher! Auf meinem Grund und Boden! Das geht zu weit! Das geht entschieden zu weit!«
»Verzeihung«, sagte Sixtus, »wir wollten nur …«
» Was wolltet ihr nur?« schrie Frau Karlsson. »Was wolltet ihr nur … nur auf meinem Hof – was?«
Mit einiger Mühe gelang es den dreien, sich aus ihrer eisernen Umarmung zu befreien.
»Wir wollten nur …« stammelte Sixtus, »wir wollten … Wir haben uns verirrt … Es war so dunkel, ja!«
Und damit rannten sie weiter, ohne auf Wiedersehen zu sagen.
»So! Versucht es nur, euch noch einmal auf meinem Hof zu verirren!« rief ihnen Frau Karlsson nach. »Dann werde ich euch von der Polizei auf den rechten Weg bringen lassen – damit ihr es wißt!«
Aber die Roten Rosen hörten nichts mehr. Sie waren schon draußen auf der Straße. Wo war jetzt Kalle? Sie blieben stehen und horchten. In einiger Entfernung hörten sie das leichte Tapp-Tapp seiner Füße und folgten ihm schnell.
Zu spät entdeckte Kalle, daß er wieder in einer Sackgasse war. Diese kleine Straße endete ja unten am Fluß – das hatte er vergessen! Natürlich konnte er sich ins Wasser stürzen und an das andere Ufer schwimmen, aber das brachte unnötigen Ärger wegen der nassen Kleider mit sich, wenn man nach Hause kam.
Auf jeden Fall wollte er erst andere noch mögliche Auswege bedenken.
Friedrich mit dem Fuß! Das war der rettende Gedanke.
Friedrich mit dem Fuß wohnt in dem kleinen Haus. Er wird mich sicher verstecken, wenn ich ihn darum bitte. Friedrich mit dem Fuß war der gutmütigste Strolch der Stadt und ein großer Gönner der Weißen Rosen. Wach war er noch, denn es schien Licht aus seinem Fenster. Ein Auto stand vor der Tür.
Merkwürdig, wie viele Autos heute abend auf dem Rackerberg waren! Hatte er dieses vorhin gehört? wunderte sich Kalle.
Lange Zeit zum Überlegen hatte er aber nicht. Schon hörte er, wie seine Feinde die Straße entlanggaloppierten. Er besann sich also nicht mehr lange, sondern riß die Tür zu Friedrichs Wohnung auf und stürzte hinein.
»Guten Abend, Friedrich«, begann er eilig, unterbrach sich aber sofort. Friedrich war nicht allein. Friedrich lag in seinem Bett, und bei ihm saß Doktor Forsberg und fühlte Friedrichs Puls. Und Doktor Forsberg, der Stadtarzt, war niemand anders als Benkas Vater.
»Ergebenster Diener, Karlchen«, sagte Friedrich mit dem Fuß matt. »Hier liegt ein fremder Friedrich. Elend und schlechter als schlecht. Sterbe sicher bald. Du solltest nur mal hören, wie es in meinem Bauch rumort.«
Bei anderer Gelegenheit wäre es für Kalle ein Vergnügen gewesen zu hören, wie es in Friedrichs Bauch rumorte, aber im Augenblick war es das nicht. Doktor Forsberg schien ein wenig nervös über die Unterbrechung, und Kalle konnte verstehen, daß er mit Friedrich allein sein wollte, wenn er ihn untersuchte.
Es blieb ihm anscheinend nichts anderes übrig, als sich erneut in die Gefahren der Straße zu stürzen.
Aber Kalle hatte die Intelligenz der Roten unterschätzt. Sie rechneten sich sofort aus, daß er zu Friedrich geflohen war, und nun kamen sie eilends hinterher. Benka war der erste. »Ha, du Läusepudel, habe ich dich endlich auf frischer Tat ertappt?« schrie er.
Doktor Forsberg wandte sich um und sah direkt in das erhitz-te Gesicht seines Sohnes. »Sprichst du mit mir?« fragte er.
Benkas Kinnlade verlor vor Bestürzung ihren Halt – antworten konnte er nicht.
»Handelt es sich um eine Art Stafettenlauf durch Friedrichs Krankenzimmer«, fuhr Doktor Forsberg fort, »oder warum rennst du so spät noch umher?«
»Ich … ich … ich wollte nur sehen, ob du einen Krankenbesuch machst«, sagte Benka endlich.
»Ja, ich mache einen Krankenbesuch«, versicherte ihm sein Vater. »Du hast also tatsächlich, wie du sagtest, den Läusepudel auf frischer Tat ertappt. Aber jetzt ist er fertig, und du gehst mit ihm nach Hause.«
»Nein … aber … Vater!« schrie Benka in höchster Verzweiflung.
Doktor Forsberg schloß in aller Ruhe seine Tasche und griff sodann mild, aber fest in Benkas helles Kraushaar.
»Komm nun, mein Kleiner«, sagte er. »Gute Nacht, Friedrichs-son. Vorläufig sterben Sie noch nicht. Das kann ich Ihnen versprechen.«
Während des ganzen Gesprächs hatte Kalle abseits gestanden, und über sein Gesicht legte sich ein Lächeln, das langsam breiter und breiter wurde. Welch ein Pech für Benka, welch ein großartiges Pech! Genau in die Arme seines Vaters zu laufen!
Nach Hause geführt zu werden wie ein Baby! Gerade jetzt, wo er Kalle schnappen wollte. Das sollte Benka noch oft im Krieg der Rosen schlucken müssen. »Komm nun, mein Kleiner« –mehr brauchte man gar nicht zu sagen.
Und Benka, als er von starken Vaterarmen zur Tür geführt wurde, empfand dies in seiner ganzen Entsetzlichkeit. Oh, ganz bestimmt, diesmal würde er einen »Leserbrief« an die Ortszeitung senden: »Muß man Eltern haben?« Gewiß, er hatte nichts gegen Vater und Mutter. Er schätzte sie sehr. Aber diese un-wahrscheinliche Pünktlichkeit, mit der Eltern stets im unpas-sendsten Augenblick auftauchten, konnte ja das friedlichste Kind zur Raserei bringen.
Sixtus und Jonte kamen schnaubend die Straße entlang, und Benka flüsterte ihnen zu: »Er ist dort drinnen.«
Danach wurde Benka zu dem wartenden Auto geführt – warum, ach, warum hatte er es nicht vorher gesehen? –, und Sixtus und Jonte starrten ihm nach, die Augen angefüllt mit einem Mitleid ohnegleichen.
»Armer Kerl«, sagte Jonte und seufzte tief.
Dann aber war keine Zeit mehr für Mitleid und Seufzen.
Dreifache Schmerzen über die Weißen Rosen, die sie andau-ernd foppten! Kalle mußte erwischt werden, und das sofort, auf der Stelle! Sixtus und Jonte flitzten hinein zu Friedrich. Dort aber war kein Kalle zu sehen.
»Hallo, Sixtus! Hallo, kleiner Jonte«, sagte Friedrich schwach. »Ihr solltet nur hören, wie es in meinem Bauch rumort. Krank und schlechter als schlecht …«
»Friedrich, hast du Kalle Blomquist gesehen?« unterbrach ihn Sixtus.
»Den Kalle? Ja, der war eben noch hier. Er ist aus dem Fenster gesprungen«, sagte Friedrich und lächelte verschmitzt.
So, der Schurke war aus dem Fenster gesprungen! Richtig, Friedrichs beide Fenster waren geöffnet, und die Gardinen flat-terten im Abendwind.
»Komm, Jonte!« schrie Sixtus aufgeregt. »Hinterher! Es geht um Sekunden!« Und mit einem Hechtsprung sauste jeder aus einem Fenster. Es ging, wie gesagt, um Sekunden.
Im selben Moment hörte man Geplansche und Gebrüll. Sogar Jonte, der doch auf dem Rackerberg geboren war, hatte vergessen, daß die Rückwand von Friedrichs Haus direkt am Fluß stand.
»Kalle, komm jetzt raus«, sagte Friedrich matt, »damit du hören kannst, wie es in meinem Bauch rumort.« Und Kalle kletterte aus dem Wandschrank, vor Vergnügen zitternd. Er lief zum Fenster und beugte sich hinaus.
»Seid ihr sicher, daß ihr schwimmen könnt?« rief er. »Oder soll ich euch Korkwesten holen?«
»Es genügt, wenn du uns deinen Korkschädel herschmeißt!«
Sixtus war wütend und spritzte einen kräftigen Wasserstrahl in Kalles lachendes Gesicht. Kalle wischte sich unbekümmert das Wasser ab und sagte:
»Scheint mollig warm zu sein in der Brühe. Ich denke, ihr solltet eine nervenstärkende Schwimmstunde einlegen.«
»Nee, kommt rein zu mir«, rief Friedrich matt und schwach.
»Kommt rein. Dann könnt ihr hören, wie es bei mir im Bauch rumort.«
»Hej, jetzt haue ich ab«, rief Kalle.
»Ja, hau nur ab, ehe ich dich abhaue«, sagte Jonte bitter und nahm Kurs auf ein Waschhaus in der Nähe. Die Jagd war zu Ende. Sixtus und Jonte wußten das wohl.
Kalle verabschiedete sich von Friedrich und begab sich auf frohen und leichten Füßen nach Hause und in den Nachbargar-ten zu Eva-Lotte. Auf dem Boden über der Bäckerei hatten die Weißen Rosen noch immer ihr Hauptquartier, und aus einer der Bodenluken am Giebel hing noch immer das Seil herab. Da sich ein Ritter der Weißen Rose nicht eines so simplen Weges, wie es die Treppe war, bedienen konnte, kletterte Kalle pflicht-gemäß am Seil hoch, und als Anders und Eva-Lotte ihn hörten, steckten sie eilends die Köpfe durch die offene Bodenluke.
»Aha, du hast es geschafft«, sagte Anders zufrieden.
»Ja, ihr sollt gleich hören«, sagte Kalle.
Über das Hauptquartier, wo allerlei Plunder sich an den Wänden drängte, warf eine Taschenlampe ihren dürftigen Schein. In diesem Schein saßen die drei Weißen Rosen mit gekreuzten Beinen und genossen die Geschichte von Kalles wun-dersamer Rettung.
»Gut gemacht, mein Tapferer«, lobte Anders, als Kalle aufgehört hatte.
»Für den ersten Kriegstag, finde ich, hat die Weiße Rose tadellos abgeschnitten«, sagte Eva-Lotte.
Da hörte man eine Frauenstimme: »Eva-Lotte, wenn du nicht augenblicklich hereinkommst und zu Bett gehst, bitte ich Vater, daß er dich holt.«
»Ja, ja, ich komme«, antwortete Eva-Lotte, und ihre treuen Mitkämpfer erhoben sich, um zu gehen.
»Also wir sehen uns dann morgen«, sagte Eva-Lotte und lachte zufrieden in sich hinein. »Die Rötlichen dachten, sie könnten den Großmummrich erwischen, hahaha!«
»Da haben sie sich aber schön in den Finger geschnitten«, meinte Kalle, ebenfalls lachend.
»Siehe, in dieser Nacht, da fingen sie nichts«, sagte Anders und ließ sich übertrieben würdevoll als letzter am Seil herab.
Kann es wohl auf der Welt einen Platz geben, der noch schläfriger, ruhiger und an Sensationen ärmer ist als diese kleine Stadt?
dachte Frau Lisander. Aber wie sollte auch in einer solchen Hitze etwas passieren? Sie schlenderte langsam zwischen den Marktständen umher und wählte zerstreut unter den Waren, die dort für die Beschauer ausgebreitet lagen. Es war Markttag, und viele Menschen waren auf den Straßen und dem Markt, und eigentlich hätte die ganze Stadt vor Leben und Treiben bersten müssen. Aber das tat sie nicht. Sie duselte wie immer. Das Wasser im Springbrunnen vor dem Rathaus rieselte schläfrig und leise aus dem Rachen der Bronzelöwen, und die Bronzelöwen selbst sahen auch schläfrig aus. Die Musik im Konditoreigarten unten am Fluß spielte schläfrig und leise eine Art Nachtmusik –mitten am hellen Vormittag. Die Sperlinge, die zwischen den Tischen heruntergefallene Kuchenkrümel aufpickten, hüpften hier und da mit kleinen aufgedunsenen Sprüngen, aber auch sie sahen schläfrig aus.
Alles schläfrig hier, dachte Frau Lisander.
»Es scheint, als wolle es ein Gewitter geben«, sagten die Menschen zueinander.
Da kam Eva-Lotte angesprungen. Endlich ein Mensch, der nicht schläfrig aussieht! dachte Frau Lisander. Sie betrachtete ihre kleine Tochter zärtlich und fing in ihrem Blick alle Einzelheiten auf: das fröhliche Gesicht, die munteren blauen Augen, das blonde zerzauste Haar und die langen braungebrannten Beine, die unter einem hellen, frisch gebügelten Sommerkleid hervorsahen.
»Wo willst du hin?« fragte Frau Lisander und gab ihr eine Handvoll Kirschen.
»Das darfst du nicht wissen«, sagte Eva-Lotte, Kerne aus-spuckend. »Geheimer Auftrag! Ungeheuer geheimer Auftrag!«
»Aha! Na, sieh nur zu, daß du rechtzeitig zum Mittagessen zurück bist.«
»Für wen hältst du mich eigentlich?« fragte Eva-Lotte. »Ich bin noch nie zu einem Mittagessen zu spät gekommen, seit ich den Zwiebackbrei versäumte – damals am Tag meiner Taufe!«
Frau Lisander lachte ihr zu. »Du bist mein Liebes«, sagte sie.
Eva-Lotte nickte zu dieser selbstverständlichen Tatsache und setzte ihre Reise über den Markt fort. Kirschkerne markierten ihren Weg.
Die Mutter stand noch einen Augenblick und sah ihr nach.
Und auf einmal hatte sie ein ängstliches Gefühl in der Herzge-gend. Herr Gott, wie schmal war das Mädchen im Genick! Wie sah sie auf irgendeine Weise doch so klein und hilflos aus. Es war wirklich nicht allzulange her, seit sie ihren Zwiebackbrei gegessen hatte, und nun lief sie da umher mit »geheimen Aufträgen«! War das richtig? Sollte man nicht etwas besser auf sie achten?
Frau Lisander seufzte und ging langsam heimwärts. Sie hatte das Gefühl, daß die Wärme sie bald verrückt machen würde, und da war es doch wohl besser, sich in des eigenen Hauses Schutz und Mauern zu befinden.
Eva-Lotte litt gar nicht unter der Hitze. Sie genoß sie genauso, wie sie das Treiben in den Straßen und den Saft der herrlichen Kirschen genoß, der durch ihre Kehle rann. Es war Markttag, und sie mochte Markttage gern. Ja, wenn sie genau nachdachte, mochte sie alle Tage – außer denen, an welchen in der Schule Handarbeitsstunde war. Aber jetzt waren ja Sommerferien!
Sie bummelte langsam über den Markt und die Kleine Straße hinunter zum Fluß, am Konditoreigarten vorbei und der Brücke zu. Eigentlich hatte sie nicht viel Lust, sich vom Zentrum der Ereignisse zu entfernen; aber da war der geheime Auftrag, und der mußte ausgeführt werden. Der Chef hatte ihr nämlich befohlen, den Großmummrich zu holen und an einen günstigeren Platz zu bringen. Bei dem peinlichen Verhör hatte Anders ja beinahe verraten, wo der Großmummrich lag. Und man konnte wetten, daß die Roten jeden Quadratmillimeter Boden untersuchen würden – dort unten am kleinen Pfad hinter dem Herren-haus. Da aber bislang noch kein Jubelschrei aus ihren Kehlen erklungen war, war es doch wohl sicher, daß der Großmummrich noch immer dort war, wo ihn die Weißen hingelegt hatten.
Oben auf einem großen Stein, genau neben dem Pfad, dort lag er in einer kleinen Vertiefung des Steins.
Eigentlich war es ja schändlich einfach, ihn zu finden, meinte Anders. Es war nur eine Frage der Zeit, wann die Roten ihre Krallen um das kostbare Kleinod schlagen würden. Da aber heute Markt war, durfte man annehmen, daß Sixtus und Benka und Jonte am Karussell und an der Schießbude unten auf dem Rummelplatz hinter der Eisenbahnstation festklebten. Heute hatte Eva-Lotte die Chance, den Großmummrich ungestört von seinem nunmehr recht unsicheren Aufbewahrungsplatz holen zu können. Der Chef hatte außerdem schon den neuen Platz für das Kleinod bestimmt: oben in der Schloßruine bei dem Brunnen im Burghof. Das bedeutete, Eva-Lotte sollte in der drük-kenden Gewitterschwüle zuerst den langen Weg über die Prärie machen, dann wieder zurück quer durch die ganze Stadt und danach den steilen Weg zur Ruine empor, die in ansehnlicher Höhe über der Stadt und genau entgegengesetzt vom Herrenhof lag. Tatsächlich, man mußte schon ein hingegebener Ritter der Weißen Rose sein, um sich derartiger Mühsal ohne Murren zu unterziehen. Und Eva-Lotte war hingegeben.
Warum wurde übrigens ausgerechnet Eva-Lotte dieser Auftrag erteilt? Hätte der Chef nicht Kalle schicken können? Nein, ein Vater ohne Einsicht hatte aus Kalle an diesem wichtigen Tag einen Laufburschen und Aushilfsverkäufer für das Lebensmittelgeschäft gemacht. Denn heute kamen die Bauern in die Stadt, um ihre Vorräte an Einmachzucker, Kaffee und Salzheringen zu ergänzen. Hätte da der Chef der Weißen Rose nicht selbst gehen können? Nein, der Chef mußte seinen Vater in der Schuhmacherwerkstatt vertreten. Es gefiel dem Schuhmachermeister Bengtsson nicht, an Markttagen zu arbeiten und dadurch den Tag zu entweihen. An solchen Tagen nahm er sich frei und »fei-erte«. Deshalb konnte aber nicht die Werkstatt geschlossen sein.
Es konnte doch, obwohl Markttag war, jemand kommen und Schuhe bringen, oder es konnte jemand kommen und Schuhe holen. Und deshalb hatte er seinem Sohn fest versprochen, ihn grün und blau zu schlagen, wenn er sich unterstehen würde, auch nur fünf Minuten aus der Werkstatt zu entweichen.
Eva-Lotte, hingegebener Ritter der Weißen Rose, ist es also, die den Auftrag bekommen hat, den geheimen und heiligen Auftrag, den verehrten Großmummrich von einem Versteck in das andere zu überführen. Das ist nicht irgend so ein Auftrag, das ist eine rituelle Handlung, eine Mission. Was macht es da schon, daß die Sonne verzehrend über der Prärie brennt und schwarzblaue Wolken sich am Horizont zusammenzuziehen beginnen? Was macht es da schon, daß man nicht am Marktleben teilnehmen kann, daß man »das Zentrum der Ereignisse« verlassen muß – denn das tat sie doch, als sie bei der Brücke abbog und den Weg zur Prärie nahm …
Tat sie das? Nein, das Zentrum der Ereignisse liegt nicht immer dort, wo das Markttreiben ist. An diesem Tag liegt das Zentrum der Ereignisse woanders. Und Eva-Lotte wandert gerade jetzt auf ihren nackten braunen Beinen genau hinein.
Die Wolken dort fangen an, wirklich drohend auszusehen.
Blauschwarz, häßlich – sie machen einen geradezu etwas ängstlich. Eva-Lotte geht langsam, denn hier draußen auf der Prärie ist es so heiß, daß die Luft zittert.
Hu, die Prärie ist so groß und weit – es kostet ja eine Ewigkeit hinüberzukommen! Aber Eva-Lotte geht nicht allein in dem Sonnenbrand. Sie wird beinahe fröhlich, als sie weit vor sich Gren, den Alten, entdeckt. Man kann sich nicht irren, man sieht, daß das Gren ist. Keiner trottet so wie er. Gren ist, wie es scheint, auch auf dem Weg zum Herrenhof. Sieh an, jetzt biegt er in den kleinen Pfad, der zwischen den Haselnußsträuchern entlangführt, und verschwindet Eva-Lotte aus den Augen. Du großer Nebukadnezar, er ist doch wohl nicht etwa auch drau-
ßen, um den Großmummrich zu suchen – er auch! Eva-Lotte grinst sich eins bei diesem Gedanken.
Dann aber blinzelt sie aufmerksam durch den Sonnendunst.
Von der anderen Seite kommt noch jemand, jemand, der gewiß nicht aus der Stadt sein kann, weil er an dem Weg auftaucht, der sich am Herrenhof vorbei in das flache Land hineinschlängelt.
Ach, das ist ja bestimmt der in den grünen Gabardinehosen!
Klar, heute ist ja Mittwoch. Heute wollte er doch »seine Reser-ven einlösen« oder was er damals sagte, nein, seine »Reverse«, so hießen die Dinger.
Eva-Lotte überlegt, wie es wohl sein mag, wenn man Reverse einlöst. O ja, Prozenterei und Ähnliches, das ist sicher sehr verwik-kelt. Mit was für Blödsinn sich große Menschen beschäftigen …
»Wir treffen uns an der gewohnten Stelle«, hatte er gesagt, der Gabardinejunge. Hier ist das also, hier draußen. Muß es aber durchaus neben dem Großmummrich sein, wie? Gibt es keine anderen Sträucher, wo die beiden sich treffen können, um zu prozenten? Nein, anscheinend nicht. Jetzt verschwinden die Gabardinehosen zwischen den Sträuchern, sie auch.
Eva-Lotte geht noch langsamer. Sie hat keine sonderliche Eile, und es ist wohl besser, wenn der Junge erst in Ruhe und Frieden seine Reverse einlösen kann, bevor sie den Großmummrich holt. Sie geht für ein Weilchen in den Herrenhof hinein.
Während sie wartet, schnüffelt sie ein wenig in den Winkeln herum. Bald wird sicher der Herrenhof wieder Kriegsschauplatz sein, und dann kann es nur gut sein, hier Bescheid zu wissen.
Sie sieht aus einem Fenster an der Rückseite. Oh, der ganze Himmel ist schwarz! Die Sonne ist verschwunden, und von ferne hört man ein gehässiges Grollen. Die ganze Prärie sieht so unheimlich und verlassen aus. Sie muß sich beeilen, sie muß den Großmummrich holen, sie muß nach Hause, bevor das Gewitter ausbricht.
Und sie läuft zur Tür hinaus, sie läuft, so schnell sie kann, sie läuft hinein in den kleinen Pfad zwischen den Haselsträuchern, sie hört die ganze Zeit das gehässige Gewitter grollen, sie läuft weiter, läuft – – nein, jetzt hält sie plötzlich verwirrt an.
Sie ist genau jemand in die Arme gelaufen, der von der entgegengesetzten Seite kam und es ebenso eilig hatte wie sie. Zuerst sieht sie nur die dunkelgrünen Gabardinehosen und das weiße Hemd. Dann sieht sie auf und in sein Gesicht. Mein Gott, welch ein Gesicht! So bleich, so voller Angst – kann ein großer Kerl wirklich solche Angst vor dem Gewitter haben? Eva-Lotte hat fast Mitleid mit ihm.
Aber es scheint, als wolle er gar nichts von ihr wissen. Er wirft ihr einen schnellen Blick zu, er sieht erschrocken und böse zugleich aus, und jetzt beeilt er sich, auf dem schmalen Pfad an ihr vorbeizukommen.
Eva-Lotte mag es nicht, daß man sie auf diese Art ansieht –als sei sie etwas Lästiges. Sie ist es gewohnt, Gesichter aufleuchten zu sehen, wenn sie bemerkt wird. Und sie wünscht nicht, daß der Kerl verschwindet, ohne daß sie ihm irgendwie klarge-macht hat, daß sie ein freundlicher Mensch ist und wie ein solcher behandelt sein will.
»Verzeihung, wie spät ist es?« fragt sie deshalb höflich, nur um etwas zu sagen und um zu zeigen – ja, daß sie doch eigentlich gut erzogene Menschen sind, wenn sie auch zwischen den Büschen zusammengestoßen sind.
Der Mann zuckt zusammen und bleibt unwillig stehen. Zuerst scheint es so, als wolle er ihre Frage nicht beantworten; aber dann sieht er doch auf seine Armbanduhr und murmelt undeutlich: »Viertel vor eins.« Dann läuft er weiter. Eva-Lotte sieht ihm nach. Sie bemerkt, daß eine Menge Papier aus seiner Hosentasche heraussieht, aus einer seiner dunkelgrünen Gabar-dinehosentaschen.
Nun ist der Mann verschwunden. Aber da liegt ein weißes, zerknittertes Papier auf dem Weg. Er hat es in der Eile verloren. Eva-Lotte hebt es auf und liest neugierig. »Revers« steht ganz zuoberst darauf. Aha, so sehen also die Reverse aus, olala!
War das nun schon etwas, um so ein Theater darum zu machen?
Dann kracht es, kracht entsetzlich, und Eva-Lotte springt vor Schreck in die Luft. Eigentlich hat sie vor Gewittern keine Angst. Aber jetzt, gerade jetzt, hier draußen, ganz allein auf der Prärie! Alles macht plötzlich so einen düsteren, unbehaglichen Eindruck. Zwischen den Sträuchern hier ist es so dunkel. Und selbst in der Luft liegt etwas so Unheimliches, etwas so Unheilverkündendes. Ach, wenn man doch nur zu Hause wäre! Sie muß sich beeilen, riesig beeilen!
Aber zuerst der Großmummrich! Ein Ritter der Weißen Rose tut seine Pflicht, und wenn ihm auch das Herz bis in den Hals hinauf schlägt. Nur noch einige Schritte sind es bis zu dem Stein. Bloß noch an den Büschen vorbei.
Eva-Lotte rennt …
Zuerst kommt es nur wie ein Wimmern über ihre Lippen. Vollkommen steif steht sie da, sieht, sieht und wimmert leise vor sich hin. Vielleicht, oh, vielleicht ist das hier alles nur ein Traum, ein böser Traum. Vielleicht liegt da gar nichts – nichts Zusammengesunkenes – dort – neben dem Stein – –
Dann schlägt sie die Hände vors Gesicht, dreht sich um und läuft, und seltsam entsetzte Laute kommen aus ihrer Kehle. Sie rennt, obwohl die Beine unter ihr zittern. Sie hört nicht den Donner und spürt nicht den Regen, der ihr das Gesicht peitscht.
Sie rennt, wie man in schweren Träumen rennt, um der unbekannten Gefahr hinter sich zu entkommen. Über die Prärie.
Über die Brücke. Durch die bekannten Straßen, die plötzlich leer und verlassen im Gewitterregen liegen.
Zu Hause! Zu Hause! Endlich! Sie stößt die Gartentür auf.
Dort in der Bäckerei ist Vater. Dort steht er an seinen Blechen in seinem weißen Bäckeranzug. Er ist groß und ruhig wie immer, und man wird mehlig, wenn man in seine Nähe kommt.
Vater ist immer derselbe, wenn die Welt auch sonst häßlich und verändert ist, wenn es auch unmöglich geworden ist, in ihr noch zu leben. Wild wirft sich Eva-Lotte in seine Arme, preßt sich an ihn, schlingt ihre Arme um seinen Hals, ganz fest, ganz fest, versteckt ihr tränenüberströmtes Gesicht an seiner Achsel und wimmert leise:
»Vater, lieber guter Vater! Hilf mir! Der alte Gren …«
»Kindchen, Kleines, was ist mit Gren?«
Und noch leiser, fast erstickt, kommt es von Eva-Lottes Lippen: »Er liegt draußen auf der Prärie – tot …«
War das die Stadt, die so schläfrig war, so ruhig und so still?
Jetzt nicht mehr. Innerhalb einer Stunde hatte sich alles verändert. Die ganze Stadt summte wie ein Bienenschwarm, Polizeiautos fuhren hin und her, Fernsprecher klingelten, die Menschen redeten und rätselten herum und waren aufgeregt und wunderten sich und fragten Schutzmann Björk, ob es wahr sei, daß man den Mörder schon gefaßt habe. Und sie schüttelten bekümmert die Köpfe und sagten: »Ja, ja, daß es dem armen alten Gren einmal so ergeben würde …« Oder: »Ja, ja, es wurde so allerhand über ihn gemunkelt … Wer sich mit dem Teufel abgibt … Jedenfalls kein Wunder, daß ihm das passiert ist …«
Und: »Auf jeden Fall … eine entsetzliche Sache!«
Ganze Scharen neugieriger Menschen strömten hinaus zur Prärie. Das ganze Gebiet um den Herrenhof aber war inzwischen durch die Polizei abgesperrt worden. Da kam niemand hindurch. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit hatte die Staatspolizei ihre Leute an den Tatort gebracht. Die Untersuchung war in vollem Gang. Alles wurde fotografiert, jeder Meter Boden wurde untersucht, jede Beobachtung protokolliert. Gab es Spuren des Mörders, Fußspuren oder andere? Nein, nichts! Wenn es jemals welche gegeben hatte, waren sie durch den heftigen Regen zerstört worden. Es fand sich nichts, nicht so viel wie ein weggeworfener Zigarettenstummel, als Spur des Verbrechers.
Der Gerichtsarzt, der die gerichtsmedizinische Untersuchung der Leiche vornahm, stellte fest, daß Gren durch einen Schuß in den Rücken getötet worden war. Die Brieftasche und die Uhr wurden bei dem Ermordeten gefunden. Ein Raubmord schien nicht vorzuliegen.
Der Kriminalkommissar hatte versucht, die »Kleine, die das Verbrechen entdeckt hatte«, zu sprechen; aber Doktor Forsberg ließ es nicht zu. Sie hatte einen Nervenschock erlitten und mußte Ruhe haben. Der Kommissar war über diese Verzögerung enttäuscht; aber er mußte sich dem ärztlichen Verbot fügen.
Doktor Forsberg konnte ihm allerdings erzählen, daß das Mädchen geweint und mehrere Male gesagt habe: »Er hat grüne Gabardinehosen an.« Sie konnte damit nur den Mörder meinen.
Aber man konnte doch wohl nicht den Fahndungsdienst über das ganze Land in Bewegung setzen – nur wegen ein Paar grüner Gabardinehosen. War es wirklich der Mörder gewesen, den das Mädchen gesehen hatte (für den Kommissar war das nicht ganz sicher), so hatte er sicherlich jetzt seine grünen Hosen schon längst gegen andere vertauscht. Trotzdem ließ der Kommissar sämtliche Polizeistationen benachrichtigen, man solle auf alle grünen Gabardinehosen, die sich verdächtig machten, ein Auge haben. Im übrigen galt es, alle nur möglichen Routinear-beiten zu erledigen und zu hoffen, das Mädchen möchte sich schnell wieder so weit erholen, daß es verhört werden konnte.
Eva-Lotte lag in Mutters Bett, an dem ruhigsten Platz, den es gab. Doktor Forsberg war bei ihr gewesen, und sie hatte ein Pulver bekommen, damit sie »ohne böse Träume« schlafen könne. Außerdem hatten Vater und Mutter versprochen, jeder auf einer Seite des Bettes zu sitzen – die ganze Nacht über.
Und dennoch – wild jagten sich die Gedanken hinter ihrer Stirn. Oh, wäre sie doch nie zum Herrenhof gegangen! Jetzt war alles zu Ende. Nie mehr würde es etwas Schönes in der Welt geben. Wie konnte noch etwas schön sein, wenn Menschen sich so Böses antaten? Gewiß, sie hatte vorher schon gewußt, daß solche Dinge geschehen konnten; aber sie hatte es nicht so wie jetzt gewußt. Ach, wie oft hatten sie und Anders Kalle geärgert und von Mördern gesprochen, so leicht, als sei es etwas Lustiges und Komisches, etwas, womit man Witze machen konnte. Es war entsetzlich, jetzt daran zu denken. Nie mehr würde sie so etwas mitmachen. So etwas durfte man nicht, zum Spaß sagen.
Damit zog man vielleicht das Böse an, so daß es dann in Wirklichkeit geschah. Oh, daran zu denken, daß es womöglich ihre Schuld war, daß Gren … daß Gren … Nein, sie wollte nicht daran denken. Aber sie wollte ein anderer Mensch werden. Ja, ja, das wollte sie. Sie wollte etwas mehr Frau sein, mädchenhafter, wie Onkel Björk gesagt hatte. Nie mehr wollte sie in einem Krieg der Rosen mitmachen. Denn war nicht gerade der Krieg der Rosen die Ursache, daß sie in diese Dinge hineingeraten war
– diese Dinge, an die man nicht denken durfte, wenn einem der Schädel nicht platzen sollte? Nein, für sie sollte Schluß sein mit dem Krieg. Sie wollte nie mehr spielen. Nie mehr! Oh, wie trostlos würde das sein!
Tränen stiegen ihr aufs neue in die Augen, und sie nahm die Hand der Mutter.
»Mutti, ich fühle mich so alt«, sagte sie und weinte. »Ich fühle mich beinahe wie sechzehn.«
Dann schlief sie ein. Aber bevor sie in die barmherzige Bewußtlosigkeit sank, überlegte sie noch ein wenig, was wohl Kalle jetzt denken mochte. Kalle, der jahrelang Mörder gejagt hatte!
Was tat er wohl, wenn wirklich einer auftauchte?
Meisterdetektiv Blomquist erfuhr davon, als er hinter seines Vaters Ladentisch dabei war, zwei Salzheringe für einen Kunden in eine Zeitung zu wickeln. In dem Augenblick nämlich kam Frau Karlsson vom Rackerberg durch die Tür gesegelt, zum Platzen gefüllt mit Neuigkeiten und berstend vor Sensati-onslust. Und innerhalb von zwei Minuten war der ganze Laden ein kochender Topf voll von Fragen und Ausrufen und Grauen.
Jeder Verkauf stockte. Alle im Laden drängten sich um Frau Karlsson. Und sie plapperte und erzählte, daß der Speichel schäumte. Alles, was sie wußte, und mehr dazu.
Meisterdetektiv Blomquist, er, der über die Sicherheit der Stadt wachen sollte, stand hinter dem Ladentisch und hörte zu.
Er sagte nichts. Er fragte nichts. Er war wie versteinert. Als er genug gehört hatte, schlich er sich unbemerkt hinaus in den La-gerraum und sank auf eine leere Kiste.
Lange saß er da. Sprach er vielleicht mit seinem erdachten Zuhörer? Das wäre doch jetzt so passend gewesen. Nein, das tat er nicht. Er sprach überhaupt nicht. Aber er dachte an das eine und das andere.
Kalle Blomquist, dachte er, du bist ein Wicht, ein lächerlicher kleiner Wicht. Das bist du haargenau! Meisterdetektiv – nicht viel mehr als meine alten Pantoffeln! Hier können die verab-scheuungswürdigsten Verbrechen geschehen; aber du stehst ruhig hinter dem Ladentisch und wickelst Salzheringe ein. Weiter so, nur weiter so, dann tust du doch wenigstens etwas Nützliches!
Da saß er nun, den Kopf in die Hände gestützt, düster grü-belnd. Ach, warum hatte er nur gerade heute im Geschäft sein müssen! Sonst hätte Anders sicher ihn an Stelle von Eva-Lotte geschickt. Und dann wäre er es gewesen, der das Verbrechen entdeckt hätte. Oder wer weiß – vielleicht wäre er so rechtzeitig gekommen, daß er es verhindert hätte? Er hätte dann den Verbrecher unter vielen guten Ermahnungen hinter Schloß und Riegel gebracht. So, wie er es immer tat.
Aber mit einem tiefen Seufzer erinnerte er sich, daß es nur in der Phantasie war, daß er es »immer so tat«. Und dann begriff Kalle erst tatsächlich, was geschehen war. Er begriff es mit einem Ruck, der ihm die Lust nahm, weiterhin Meisterdetektiv zu spielen. Das hier war kein Phantasiemord, den man auf elegante, leichte Art aufklären konnte, um sich vor seinem erdachten Zuhörer wichtig zu machen. Das hier war eine erschreckende, häßliche, widersinnige Wirklichkeit, die ihn fast krank machte.
Er verachtete sich zwar dafür, aber es war Tatsache, daß er froh war, aufrichtig froh, daß er heute nicht an Eva-Lottes Stelle gewesen war. Arme Eva-Lotte!
Ohne jemand um Erlaubnis zu bitten, verließ er das Haus. Er fühlte, er mußte zu Anders gehen, um mit ihm zu sprechen. Zu versuchen, mit Eva-Lotte zu sprechen, war aussichtslos, das verstand er. »Der Doktor ist bei der Kleinen«, hatte Frau Karlsson gesagt.
Anders wußte gar nichts. Er saß in der Schuhmacherwerkstatt und las »Die Schatzinsel«. Seit dem Vormittag war kein Mensch mehr gekommen. Ein Glück! Anders befand sich nämlich zur Zeit, umringt von bösartigen Piraten, auf einer Insel in der Süd-see und hatte für Riester und Kernledersohlen gar kein Interesse.
Als Kalle die Tür ohne vorherige Warnung aufstieß, starrte ihn Anders daher an, als fürchte er, der einbeinige John Silver stürze herein. Er war total überrascht, als er begriff, daß es nur Kalle war. Er sprang von seinem Dreibein auf und schmetterte unbeschwert:
»Fünfzehn Mann auf des toten Mannes Kiste – Johoho und die Flasche voll Rum.«
Kalle schauderte. »Schweig«, flüsterte er, »schweig, sage ich.«
»Das sagt der Gesangslehrer auch immer, wenn ich anfange zu singen«, bestätigte Anders friedfertig. Es schien, als wolle Kalle etwas sagen, aber Anders kam ihm zuvor. »Hast du gehört, ob Eva-Lotte schon den Großmummrich geholt hat?«
Kalle sah ihn erstaunt an. Wieviel Blödsinn würde Anders noch vom Stapel lassen, bevor Kalle dazu kam, etwas zu berichten? Wieder nahm Kalle einen Anlauf, aber Anders hinderte ihn wieder. Zu lange hatte er stillsitzen müssen, und jetzt sprudelte die Redelust in ihm. Er nahm die »Schatzinsel« und hielt sie Kalle unter die Nase.
»Junge, Junge, das ist ein Buch«, sagte er. »Das ist spannend, irrsinnig spannend! Mensch, damals hätte man leben sollen!
Welche Abenteuer! Heutzutage passiert rein gar nichts mehr!«
»So, gar nichts passiert?« sagte Kalle. »Du weißt nicht, was du sprichst.« Und dann erzählte er Anders, was »heutzutage passiert«.
Anders’ dunkle Augen verdunkelten sich noch mehr, als er hörte, was sein Befehl zur Platzverlegung des Großmummrich angerichtet hatte. Er wollte sofort zu Eva-Lotte rennen, um, wenn sie auch nicht direkt zu trösten, so ihr doch auf irgendeine Art zu zeigen, daß er selbst sich für einen Idioten hielt, weil er sie mit dem Auftrag losgeschickt hatte.
»Aber ich konnte doch wirklich nicht wissen, daß dort draußen Tote herumliegen«, sagte er ganz niedergeschlagen zu Kalle.
Kalle saß ihm gegenüber und hämmerte nachdenklich ganze Reihen von Schuhmachernägeln in den Schuhmachertisch.
»Nein, klar, wie solltest du das wissen können«, sagte er dabei. »Es kommt ja nicht oft vor.«
»Was kommt nicht oft vor?«
»Daß Tote rumliegen draußen beim Herrenhof.«
»Klar, meinte ich doch«, sagte Anders, »Übrigens schafft Eva-Lotte das ganz bestimmt. Jedes andere Mädchen würde dabei durchdrehen, aber nicht sie. Du wirst sehen, sie wird der Polizei einen ganzen Berg Fingerzeige geben.«
Kalle nickte. »Vielleicht hat sie jemand gesehen, der … der … es getan haben kann.«
Anders schauderte. Aber er war nicht annähernd so benommen wie Kalle. Er war ein froher, zukunftsträchtiger und sehr aktiver Junge, und außergewöhnliche Ereignisse weckten seinen Tätigkeitsdrang, auch wenn sie erschreckend waren. Er wollte etwas tun, und das sofort. Loslegen mit den Nachforschungen und den Mörder festsetzen, und zwar möglichst im Verlauf der nächsten Stunde. Er war kein Träumer wie Kalle. Es wäre unrecht zu behaupten, daß Kalle nicht auch, trotz seiner Träume-reien, besonders wirksam sein konnte – es gab ja welche, die das bereits erfahren hatten-, aber Kalles Wirksamkeit begann stets mit langatmigen Meditationen. Kalle saß dann da und dachte sich Dinge aus – recht einfallsreiche Dinge mitunter, das mußte man bestätigen –, aber oftmals waren es doch nur Phantasien ins Blaue hinein.
Anders phantasierte nicht. Er verschwendete keine Zeit mit Meditationen. Sein Körper war so erfüllt von Energie, daß es eine wahre Plage für ihn war, eine Weile stillsitzen zu müssen. Es war kein Zufall, daß er der Chef der Weißen Rose war. Er war selbst-sicher, fröhlich und redegewandt, erfindungsreich und immer bereit, an der Spitze zu gehen. Das war Anders. Ein wehleidigerer Typ als er hätte an den häuslichen Verhältnissen Schaden genommen – der Vater war ein unerträglicher Tyrann –, Anders aber nicht. Er hielt sich nur, soviel er irgend konnte, fern von zu Hause, und die Zusammenstöße mit seinem Vater nahm er gleichmütig hin. Alle Schelte glitt an ihm ab wie das Wasser an einer Gans, und fünf Minuten nach der stärksten Abreibung war Anders schon draußen und sprang fröhlich umher wie immer.
Ganz unmöglich also, daß er jetzt mit den Händen im Schoß da-sitzen sollte, wenn wichtige Sachen sein Eingreifen erforderten.
»Komm, Kalle«, sagte er deshalb. »Ich schließe die Werkstatt. Vater kann sagen, was er will.«
»Traust du dich wirklich?« fragte Kalle, der den Schuhmachermeister kannte.
»Pfff«, machte Anders.
Natürlich getraute er sich. Er mußte nur eventuellen Kunden auf irgendeine Art klarmachen, warum das Geschäft an einem Werktag geschlossen war. Er nahm einen Blaustift und schrieb auf ein Stück Papier:
GESCHLOSSEN WEGEN MORD
Dann heftete er das Papier mit einer Reißzwecke außen an die Ladentür und wollte abschließen.
»Aber Anders, du bist wohl nicht ganz normal«, sagte Kalle, als er auf das Papier sah. »Das kannst du doch nicht schreiben!«
»Kann ich nicht?« fragte Anders zögernd. Er legte den Kopf auf die Seite und dachte nach. Möglicherweise hatte Kalle recht.
Man konnte den Zettel vielleicht mißverstehen. Er riß ihn ab, lief in die Werkstatt zurück und schrieb einen neuen. Den heftete er dann an die Tür und ging rasch davon. Kalle folgte seinem Chef.
Frau Magnussen kam bald darauf über die Straße, um ihre neubesohlten Schuhe abzuholen. Sie blieb stehen und las mit vor Verwunderung kugelrunden Augen:
AUS ANLASS DES PASSENDEN WETTERS
BLEIBT DIESE WERKSTATT
HEUTE GESCHLOSSEN
Frau Magnussen schüttelte den Kopf. Richtig bei Troste war er ja nie gewesen, der Schuhmacher, aber jetzt war er bestimmt übergeschnappt. »Passenden Wetters« – hatte man so etwas schon gehört?
Anders eilte zur Prärie. Äußerst unwillig folgte ihm Kalle. Er hatte nicht die geringste Lust, dorthin zu gehen. Anders aber wollte wissen, daß die Polizei schon unruhig auf Kalles Hilfe wartete. Sicher hatte Anders Kalle seiner Grillen wegen gehän-selt, aber das vergaß er, da ja jetzt ein akuter Kriminalfall tatsächlich eingetreten war. Jetzt entsann er sich nur des bemerkenswerten Einsatzes von Kalle im vorigen Jahr. Es war unbe-streitbar Kalles Verdienst gewesen, daß die drei Juwelendiebe verhaftet worden waren. Ja, Kalle war ein hervorragender Detektiv, und Anders erkannte diese Überlegenheit willig an. Und er war überzeugt, daß auch die Polizei so dachte.
»Du verstehst doch, die müssen sich ja freuen, wenn du dich ihnen zur Verfügung stellst«, sagte er. »Im Handumdrehen wirst du das Rätsel lösen. Und ich werde dein Gehilfe.«
Kalle war in der Zwickmühle. Er konnte Anders nicht eingestehen, daß er nur Phantasiemorde vollendet aufklären konnte und daß er es einfach entsetzlich fand, jetzt mit einem richtigen Mord in Berührung zu kommen. Er schleppte die Beine immer langsamer nach, so daß Anders unruhig und ungeduldig wurde.
»Beeile dich«, sagte er. »Jede Sekunde ist kostbar in solch einem Fall. Das müßtest du doch am besten wissen!«
»Ach, ich glaube, wir lassen die Polizei das allein machen«, sagte Kalle, um den Kopf aus der Schlinge zu ziehen.
»Das sagst du?« rief Anders ganz verstört. »Wo du genau weißt, wie die alle Sachen und Dinge verwechseln! Das hast du selbst oft genug gesagt. Sei nicht dumm und komm mit.«
Er nahm den widerstrebenden Meisterdetektiv an die Hand und zog ihn hinter sich her. Langsam kamen sie zu dem abge-sperrten Gebiet.
»Du«, sagte Anders, »weißt du, was los ist?«
»Nein, was denn?«
»Der Großmummrich ist umzingelt! Wenn die Roten ihn haben wollen, müssen sie erst die Polizei überwältigen.«
Kalle nickte nachdenklich. Viel hatte der Großmummrich schon erlebt, aber es war das erste Mal, daß er unter Polizei-schutz stand.
Schutzmann Björk patrouillierte bei der Absperrung, und Anders ging geradewegs auf ihn zu. Er zog Kalle mit sich und stellte ihn vor Björk hin, so wie ein Hund einen apportierten Gegenstand hinlegt und dann auf ein Lob wartet.
»Onkel Björk, hier ist Kalle«, sagte er erwartungsvoll.
»Das sehe ich«, sagte Björk. »Und was will Kalle?«
»Lassen Sie ihn durch, damit er losschnüffeln kann«, forderte Anders. »Den Tatort des Verbrechens untersuchen …«
Aber Björk schüttelte den Kopf. Er sah ungemein amtlich aus. »Macht euch nach Hause, Jungen«, sagte er. »Geht nach Hause. Dankt Gott, daß ihr noch so klein seid und von alledem nichts begreift.«
Kalle errötete. Er begriff sehr gut. Er begriff, daß hier kein Platz war für den Meisterdetektiv mit den scharfgeschnittenen Gesichtszügen und den großen Worten. Wenn er das doch nur auch Anders begreiflich machen könnte!
»Typisch«, sagte Anders verbittert, als sie nach der Stadt zurückwanderten. »Und wenn du, seit Kain den Abel erschlug, jeden einzigen Mord aufgeklärt hättest – die würden niemals zugeben, daß ein Privatdetektiv etwas taugt.«
Kalle schüttelte sich vor Unbehagen. So ungefähr hatte er selbst viele Male geredet. Er wünschte von ganzem Herzen, daß Anders das Gesprächsthema wechseln möge. Aber Anders fuhr fort: »Früher oder später fährt sich die Polizei sicher fest. Bitte, versprich mir, daß du den Fall dann nicht eher übernimmst, bevor sie dich auf den Knien darum bitten!«
Das versprach Kalle bereitwilligst. Wehmütig wanderten sie weiter der Stadt zu. Sixtus, Benka und Jonte waren auch auf dem Heimweg von der Prärie. Vor einer Stunde hatte die furchtbare Nachricht sie erreicht, und sie waren auch zur Prärie gestürzt –nur um enttäuscht festzustellen, daß es ebensogut war, wieder nach Hause zu gehen. Gerade als sie zu diesem Entschluß gekommen waren, trafen sie Anders und Kalle.
Heute tauschten die Weißen und die Roten keine Gehässig-keiten miteinander. Die gewaltigen Krieger waren alle ziemlich still und sahen um die Nasen recht blaß aus. Gemeinsam trabten sie zur Stadt zurück und dachten mehr an den Tod, als sie es bisher in ihrem Jungenleben getan hatten. Sie fühlten tiefes Mitleid mit Eva-Lotte.
»Leid tut sie mir, wahrhaftig«, sagte Sixtus. »Sie sagen, daß sie total mit den Nerven runter ist. Liegt bloß da und heult.«
Anders wurde davon beinahe mehr ergriffen als von der übrigen Scheußlichkeit. Er schluckte einige Male. Es war ja seine Schuld, wenn Eva-Lotte dalag und heulte.
»Man müßte sich wohl um sie kümmern«, sagte er schließlich, »’ne Blume hinschicken oder so was …«
Die andern vier starrten ihn an, als ob sie ihren Ohren nicht trauten. War die Situation wirklich so ernst? Dem Mädchen Blumen schicken – er mußte davon überzeugt sein, daß Eva-Lotte verloren war. Aber je länger sie darüber nachdachten, desto nobler schien ihnen der Vorschlag. Eva-Lotte sollte eine Blume haben. Sie war es, ehrlich gesagt, wert.
Sixtus ging tief ergriffen nach Hause und klaute eine von den roten Pelargonien seiner Mutter, und, den Blumentopf zwischen sich tragend, zogen sie alle fünf zu Bäckermeisters. Eva-Lotte schlief und durfte nicht gestört werden. Aber ihre Mutter nahm ihnen die Pelargonie ab und stellte die Gabe der fünf in Eva-Lottes Zimmer.
Es war nicht die letzte Gabe, die Eva-Lotte für ihren Einsatz in diesem Drama bekommen sollte.
Da saßen sie nun und warteten auf der Veranda, der nette Kriminalkommissar und Schutzmann Björk und noch einer. Es sei wichtig, daß das kleine Mädchen nicht nervös werde vor dem Verhör, meinte der Kommissar. Jedenfalls nicht noch nervöser, als sie schon war. Deshalb war es gut, Schutzmann Björk bei sich zu haben, der das Mädchen kannte. Und um dem ganzen Verhör den Charakter eines freundlichen kleinen Gesprächs zu geben, sollte es hier, in der Wohnung bei dem Mädchen, stattfinden, hier auf der sonnigen Veranda und nicht auf dem Polizeirevier. Eine fremde Umgebung wirkt immer beunruhigend auf Kinder, fand der Kommissar.
Während sie warteten, brachte Frau Lisander starken Kaffee und frisches Gebäck. Es war ein wundervoller Morgen. Die Luft war frisch und klar nach dem gestrigen Gewitter. Die Rosen in des Bäckermeisters Garten sahen wie frisch gewaschen aus, und die Meisen und Buchfinken zwitscherten munter in dem alten Apfelbaum.
Der Kommissar nahm das dritte Gebäckstück und sagte:
»Ehrlich gesagt, ich glaube nicht, daß wir sehr viel aus dem Mädchen herausholen werden – hieß sie nicht Eva-Lotte? Ich glaube nicht, daß ihre Aussagen uns bedeutend weiterbringen werden. Kinder können nicht sachlich beobachten. Sie phantasieren zuviel.«
»Eva-Lotte ist aber recht sachlich«, sagte Schutzmann Björk.
Bäckermeister Lisander erschien auf der Veranda. Er hatte eine kleine Falte auf der Stirn, die sonst nie dort zu sehen war.
Diese Falte bedeutete, daß er um sein einziges, geliebtes Kind in Sorge war. »Sie kommt jetzt«, sagte er kurz. »Darf ich bei dem Verhör zugegen sein?«
Nach einigem Zögern willigte der Kommissar ein. Bedingung war allerdings, daß der Bäckermeister sich absolut still verhielt und auf keine Weise in das Verhör eingriff. »Na ja, es ist übrigens nicht schlecht, wenn das Mädchen ihren Vater hier sieht. Es wird sie beruhigen. Könnte ja sein, daß sie Angst vor mir hat.«
»Warum sollte ich«, sagte eine ruhige Stimme von der Tür her, und Eva-Lotte kam in das Sonnenlicht hinaus. Sie sah den Kommissar aufmerksam an. Warum sollte sie Angst vor ihm haben? Eva-Lotte hatte keine Angst vor Menschen. Nach ihrer Erfahrung waren die Menschen nett und freundlich und wollten einem wohl. Es war erst seit gestern, daß sie im Ernst verstanden hatte, es könne auch böse Menschen geben.
Sie sah aber nicht ein, weshalb sie auch den Kriminalkommissar dazu rechnen sollte. Sie wußte, er war hier, weil er hier sein mußte. Sie wußte, daß sie ihm alles von dem Entsetzlichen drau-
ßen auf der Prärie erzählen mußte, und sie war bereit, es zu tun.
Warum also sollte sie Angst haben?
»Guten Morgen, kleine Lisa-Lotte«, sagte der Kommissar hastig.
»Eva-Lotte«, sagte sie. »Guten Morgen!«
»Ach ja, natürlich – Eva-Lotte! Komm und setz dich hierher, Eva-Lotte. Wir wollen ein wenig miteinander reden. Es wird nicht lange dauern. Und dann kannst du gleich wieder mit deinen Puppen spielen.« Das sagte er zu Eva-Lotte, die sich so alt vorkam, beinahe wie sechzehn!
»Ich habe schon vor zehn Jahren aufgehört, mit Puppen zu spielen«, sagte sie aufklärend.
Schutzmann Björk hatte recht – das war tatsächlich ein sachliches Kind. Der Kommissar verstand: Hier mußte er einen anderen Ton finden und Eva-Lotte wie eine Erwachsene behan-deln.
»Erzähle mir nun alles«, sagte er. »Du warst also bei dem Mor… also draußen auf der Prärie? Wie kam es eigentlich, daß du gestern mittag so ganz allein dorthin gegangen bist?«
Eva-Lotte kniff die Lippen zusammen. »Das … das darf ich nicht sagen. Das ist vollkommen geheim. Ich war draußen in geheimem Auftrag.«
»Kind … komm«, sagte der Kommissar. »Wir versuchen doch, einen Mord aufzuklären. Da gibt es nichts, was geheim ist.
Was solltest du also gestern beim Herrenhof draußen tun?«
»Ich sollte den Großmummrich holen«, sagte Eva-Lotte widerstrebend.
Es war eine ziemlich eingehende Aufklärung nötig, bis der Kommissar endlich begriff, was ein Großmummrich war.
»Hast du dort irgendeinen Menschen gesehen?« wollte der Kommissar wissen, nachdem das Rätsel des Großmummrich geklärt war.
»Ja«, sagte Eva-Lotte. »Ich sah … Gren … und noch einen.«
Der Kommissar wurde lebhaft: »Erzähle ganz genau, wie und wo du sie gesehen hast!«
Und Eva-Lotte erzählte. Wie sie Gren aus ungefähr hundert Meter Entfernung von hinten gesehen hatte …
»Halt«, unterbrach der Kommissar. »Wie konntest du dann sehen, daß es Gren war?«
»Man merkt, Herr Kommissar, daß Sie nicht aus unserer Stadt sind«, sagte Eva-Lotte. »Jeder Mensch hier würde Gren sofort an seinem Gang erkennen. Stimmt das, Onkel Björk?«
Björk bestätigte es. Eva-Lotte setzte ihren Bericht fort. Wie sie Gren in den Pfad hatte einbiegen sehen und wie er in den Büschen verschwand. Wie der mit den dunkelgrünen Gabardinehosen von der anderen Seite gekommen war und auf demselben Pfad verschwunden sei.
»Hast du eine Ahnung, wie spät es da wohl war?« fragte der Kommissar, obwohl er doch wußte, daß Kinder selten sachliche Beobachtungen machen konnten.
»Halb eins«, antwortete Eva-Lotte schnell.
»Woher weißt du das? Hast du auf die Uhr gesehen?«
»Nein«, sagte Eva-Lotte und wurde blaß. »Aber ich habe den Mör… den Mörder danach gefragt – ungefähr eine Viertelstunde später.«
Der Kommissar sah seine Kollegen an. Hatten sie so etwas schon erlebt? Dies Verhör schien doch wertvoller zu werden, als er es sich vorgestellt hatte. Er beugte sich nach vorn und sah Eva-Lotte durchbohrend in die Augen: »Du hast den Mörder gefragt, sagst du? Wagst du wirklich zu behaupten, du wüßtest, wer Gren ermordet hat? Hast du vielleicht auch gesehen, wie es geschah?«
»Nein«, sagte Eva-Lotte, »aber wenn ich sehe, wie erst ein Mensch zwischen Büschen verschwindet und gleich danach ein anderer Mensch auch dorthin verschwindet und ich nach kurzer Zeit den zuerst erwähnten Menschen dort tot vorfinde, dann kann es nur eins geben: Ich muß den anderen, den übriggebliebenen Menschen, verdächtigen. Gren kann natürlich auch gestürzt und dadurch umgekommen sein. Aber das muß man mir erst beweisen.«
Björk hatte recht. Das hier war wirklich ein unglaublich sachliches Kind.
Sie berichtete weiter, wie sie, als sie die beiden Männer dorthin hatte verschwinden sehen, wo der Großmummrich lag, in den Herrenhof gegangen war, um sich die Wartezeit zu vertreiben, und daß sie dort höchstens eine Viertelstunde geblieben war.
»Und danach?« fragte der Kommissar.
Eva-Lottes Augen verengten sich. Sie sahen gequält aus. Das, was jetzt kommen sollte, war am schwersten zu erzählen. »Ich prallte genau auf ihn – da auf dem kleinen Pfad«, flüsterte sie.
»Ich fragte ihn, wie spät es sei, und er sagte: ›Viertel vor eins‹.«
Der Kommissar sah zufrieden aus. Der Gerichtsarzt hatte als den Zeitpunkt der Tat die Zeit etwa zwischen zwölf und zwei festgesetzt. Die Angaben der Kleinen aber machten es möglich, die Zeit genau festzulegen: etwa zwischen halb eins und Viertel vor eins. Diese Tatsache konnte wichtig werden. Bestimmt, Eva-Lotte war ein unschätzbarer Zeuge!
Er fragte weiter: »Wie sah der Mann aus? Erzähle alles, wor-an du dich erinnern kannst. Alle Einzelheiten.«
Eva-Lotte holte wieder die dunkelgrünen Gabardinehosen hervor. Dann das weiße Hemd. Und den dunkelroten Schlips.
Die Armbanduhr. Eine ganze Menge schwarzer Haare auf den Händen.
»Wie sah er im Gesicht aus?« wollte der Kommissar wissen.
»Er hatte einen Schnurrbart«, antwortete Eva-Lotte. »Und langes schwarzes Haar, das ihm in die Stirn hing. So sehr alt war er nicht. Er sah gut aus. Aber ängstlich und böse. Er lief von mir fort, so schnell er konnte. Er hatte es so eilig, daß er einen Revers verlor – und das hat er nicht einmal bemerkt.«
Der Kommissar hielt einen Moment den Atem an. Dann stieß er hervor: »Um Himmels willen, was sagst du da? Was hat er verloren?«
»Einen Revers«, sagte Eva-Lotte stolz. »Wissen Sie nicht, was das ist, Herr Kommissar? Das ist nur ein kleines Stück Papier, und ganz oben steht ›Revers‹ drauf. Ich sage Ihnen, das ist nichts als ein kleines Stück Papier. Aber die Menschen, glauben Sie mir, machen oft viel Wesens um solche Reverse.«
Der Kommissar sah erneut seine Kollegen an. Die gestrigen Vernehmungen bei Grens Nachbarn oben auf dem Rackerberg hatten ja klar ergeben, daß Gren als lohnenden Nebenverdienst einen kleinen Wucher betrieb. Viele hatten bemerkt, daß er abends in seinem Haus geheimnisvolle Besucher empfangen hatte – allerdings nicht oft. Gewiß hatte er es vorgezogen, seine Kunden irgendwo in der Umgebung der Stadt zu treffen. Bei der Haussuchung hatte man eine ganze Menge Reverse gefunden, mit verschiedenen Namen unterzeichnet. Alle Namen waren notiert worden, und man bereitete sich darauf vor, notfalls alle geheimnisvollen Kunden von Gren aufzuspüren. Einer von ihnen konnte der Mörder sein.
Der Kommissar hatte sofort den Gedanken gehabt, daß sich einer von ihnen durch den Mord aus der Geldverlegenheit, in die er durch Gren hineingepreßt war, hatte retten wollen. Das mußte das Motiv zu dem Verbrechen sein. Aber so etwas tat niemand, wenn er nicht sicher war, sämtliche Papiere an sich bringen zu können, die für ihn verräterisch werden konnten.
Und nun saß das Mädchen hier und erzählte, daß der Mörder dort zwischen den Büschen einen Revers verloren hatte. Einen Revers, auf dem sein Name stand! Einen Revers mit dem Namen des Mörders … Der Kommissar war so erregt, daß seine Stimme zitterte, als er sich zu Eva-Lotte vorbeugte: »Hast du den Revers aufgehoben?«
»Ja, natürlich«, sagte Eva-Lotte.
»Was hast du damit gemacht?« Der Kommissar hielt wieder den Atem an.
Eva-Lotte dachte nach. Es war totenstill, während sie nachdachte. Nur die Buchfinken und Meisen setzten ihr Konzert im Apfelbaum fort. »Das weiß ich nicht mehr«, brachte Eva-Lotte schließlich langsam hervor.
Der Kommissar stöhnte leise.
»Aber ich sage Ihnen ja, das war nichts weiter als nur so ein kleines Stück Papier«, wiederholte Eva-Lotte, um ihn zu trösten.
Da nahm der Kommissar ihre Hand und erklärte ihr langsam und deutlich, daß ein Revers ein recht wichtiges Stück Papier sei, auf dem man anerkannte, daß man sich von jemand Geld geborgt hatte und daß man nun verpflichtet war, dies geborgte Geld auch wieder zurückzuzahlen. Und das bekräftigte man, indem man unter den Revers seinen Namen schrieb. Der Mann, der Gren ermordet hatte, hatte das bestimmt getan, weil er eben kein Geld besaß, um das geborgte zurückzuzahlen. Kaltblütig hatte er einen Menschen umgebracht, um seine Reverse zurück-zubekommen, auf denen er seine Schulden an Gren einmal anerkannt hatte. Dieses Stück Papier, das Eva-Lotte für so un-wichtig hielt, war so ein Schuldschein, so ein Revers. Und sein Name mußte auf dem Papier gestanden haben, das er auf dem Pfad verloren hatte. Verstand Eva-Lotte nun, wie wichtig es war und daß sie einfach gezwungen war, sich zu erinnern, was sie mit dem Revers – mit dem Schuldschein – gemacht hatte?
Das verstand Eva-Lotte, und sie bemühte sich wirklich. Sie erinnerte sich, wie sie dagestanden hatte mit dem Schuldschein in der Hand. Sie erinnerte sich, daß gerade da ein furchtbarer Donner gekracht hatte. Aber an mehr erinnerte sie sich nicht.
Wohl an das Schreckliche nachher. Aber von dem Schuldschein wußte sie nicht ein bißchen mehr. Enttäuscht bekannte sie das dem Kommissar.
»Und den Namen, der darauf stand, den hast du nicht zufällig gelesen?« forschte der Kommissar.
»Nein, das habe ich nicht«, sagte Eva-Lotte.
Der Kommissar seufzte. In Gedanken aber sagte er sich: So leicht darf die Arbeit eines Polizeimannes ja auch nicht sein.
Dies Verhör mit dem Mädchen hatte trotzdem viel ergeben.
Man konnte wirklich nicht verlangen, nun auch noch den Namen des Mörders als Gratiszugabe zu bekommen.
Bevor er mit Eva-Lotte weitersprach, gab er telefonisch den Befehl an das Polizeirevier, jedes Stück der Prärie zu untersuchen. Gewiß war der Tatort selbst sehr genau untersucht worden; aber ein Stück Papier konnte weit weg geweht werden.
Und der Schuldschein sollte und mußte gefunden werden.
Anschließend erzählte Eva-Lotte, wie sie Gren gefunden hatte. Sie schluckte wiederholt und sprach jetzt sehr, sehr leise. Und ihr Vater bedeckte sein Gesicht mit den Händen, um den ver-
ängstigten Ausdruck in ihren Augen nicht sehen zu müssen. Aber nun mußte das Ganze wohl bald zu Ende sein. Der Kommissar hatte nur noch einige Fragen zu stellen. Eva-Lotte hatte beteuert, der Mörder könne unmöglich aus dieser Stadt sein, sie hätte ihn sonst bestimmt gekannt. Und nun fragte der Kommissar sie:
»Glaubst du, daß du ihn wiedererkennen könntest, wenn du ihn noch einmal sehen würdest?«
»Ja«, sagte Eva-Lotte langsam, »unter Tausenden würde ich ihn wiedererkennen.«
»Und du hast ihn vorher nie gesehen?«
»Nein«, sagte Eva-Lotte. Sie bedachte sich einen Augenblick. »Doch – teilweise …« setzte sie dann hinzu.
Der Kommissar riß die Augen auf. Dies Verhör war voller Überraschungen.
»Was meinst du mit ›teilweise‹?«
»Ich habe früher schon von ihm seine Hosen gesehen«, sagte sie widerstrebend.
»Das mußt du mir näher erklären.«
Eva-Lotte zierte sich. »Muß ich das?«
»Du weißt doch, daß du es mußt. Wo hingen also seine Hosen?«
»Sie hingen nicht«, sagte Eva-Lotte. »Sie sahen unter einer Jalousie hervor. Er hatte sie an.«
Der Kommissar griff schnell nach einem übriggebliebenen Stück Kaffeegebäck. Er fühlte, daß er etwas Stärkendes nötig hatte. Und er überlegte, ob Eva-Lotte wirklich so sachlich war, wie es zuerst den Anschein gehabt hatte. Fing sie nun nicht doch an zu phantasieren?
»Also«, sagte er, »die Hosen des Mörders sahen unter einer Jalousie hervor. Wessen Jalousie?«
»Natürlich Grens.«
»Und du? Wo warst du?«
»Ich war draußen auf der Leiter. Kalle und ich waren dort.
Am Dienstagabend nach neun Uhr.«
Der Kommissar hatte keine Kinder, und in diesem Augenblick stieg ein frohes und dankbares Gefühl dafür in ihm auf.
»Was in aller Welt habt ihr am Dienstagabend auf Grens Leiter gemacht?« fragte er, setzte aber gleich hinzu, wohl um seine neue Weisheit anzubringen: »Ach so, ich verstehe. Es war natürlich wieder irgend so ein Großmummrich, hinter dem ihr her wart.«
Es lag etwas wie Verachtung in Eva-Lottes Blick, als sie ihn fest ansah und sagte: »Herr Kommissar, Sie glauben wohl, Großmummriche wachsen auf den Bäumen. Aber es gibt nur einen Großmummrich – in Ewigkeit – Amen.«
Dann berichtete sie von dem Nachtmarsch über Grens Dach.
Der arme Bäckermeister schüttelte kummervoll sein Haupt, als er davon hörte. Und da sagen die Leute, für Eltern sei es so viel friedlicher, Mädchen zu haben …
»Woher wußtest du, daß es die Hosen des Mörders waren, die du sahst?« staunte der Kommissar.
»Das wußte ich gar nicht«, sagte Eva-Lotte. »Hätte ich das gewußt, wäre ich hineingegangen und hätte ihn verhaftet.«
»Ja, aber sagtest du nicht …« wandte der Kommissar betreten ein.
»Nein, das habe ich mir nachher ausgerechnet«, beteuerte Eva-Lotte. »Ich hörte doch, wie sie sich da drinnen im Zimmer über diese Reverse zankten und wie der in den Hosen sagte:
›Wir treffen uns am Mittwoch an der gewohnten Stelle! Bringen Sie dann meine Reverse mit!‹ Und nun rechnen Sie sich doch einmal selbst aus, mit wie vielen dunkelgrünen Gabardinehosen konnte Gren sich wohl am Mittwoch treffen?«
Der Kommissar war überzeugt davon, daß Eva-Lotte recht hatte. Das Puzzlespiel ging auf. Alles war jetzt klar: das Motiv, der Zeitpunkt, die Tat selbst. Es blieb nur noch eine Kleinigkeit übrig: den Mörder zu verhaften.
Der Kommissar erhob sich und tätschelte Eva-Lotte das Kinn. »Vielen Dank auch«. sagte er. »Du bist sehr tüchtig gewesen. Du hast uns mehr geholfen, als du, wie ich glaube, selbst verstehst. Vergiß nun alles wieder.«
»Danke«, sagte Eva-Lotte.
Dann wandte sich der Kommissar an Schutzmann Björk.
»Nun müssen wir noch diesen Kalle erwischen«, sagte er, »damit er uns Eva-Lottes Aussagen über die Geschehnisse am Dienstagabend bestätigt. Wo finden wir ihn?«
»Hier«, sagte eine sichere Stimme vom Balkon über der Veranda. Der Kommissar sah erstaunt dort hinauf und bemerkte zwei Köpfe, einen dunklen und einen hellen, die über dem Bal-kongeländer hervorlugten.
Ritter der Weißen Rose können einen Kameraden während eines Polizeiverhörs oder während anderer Prüfungen nicht im Stich lassen. Ebenso wie der Bäckermeister hatten auch Kalle und Anders den Wunsch gehabt, bei dem Verhör zugegen zu sein. Aber um der Sicherheit willen fanden sie, daß es klüger war, vorher nicht erst um Erlaubnis zu fragen.
Auf den ersten Seiten aller Zeitungen des Landes nahm der Mord einen großen Platz ein, und auch Eva-Lottes Aussage wurde besonders erwähnt. Ihr Name wurde nicht genannt, aber es wurden viele Worte gemacht über »die tüchtige Vierzehnjährige«, die so gründlich ihre Beobachtungen am Tatort wieder-gegeben und damit der Polizei wichtige Hinweise vermittelt hatte.
Die Ortszeitung war nicht so verschwiegen, wenn es Namen galt. In der kleinen Stadt wußte ja sowieso jeder, daß die tüchtige Vierzehnjährige Eva-Lotte Lisander war, und der Redakteur sah nicht ein, was ihn hindern sollte, über alles ausführlich und mit vollem Namen zu berichten. Eine so prachtvolle Möglichkeit zu schreiben hatte er lange nicht gehabt, und das nutzte er aus. Er schrieb einen langen, überschwenglichen Artikel über
»die kleine, niedliche Eva-Lotte, die heute wieder zwischen den Blumen in der Eltern Garten spielt und aussieht, als habe sie all die schrecklichen Erlebnisse des Mittwochs dort draußen auf der stürmischen Prärie wieder vergessen«.
Der Redakteur breitete vor dem Leser in den weiteren Sätzen aus, wie tüchtig Eva-Lotte gewesen war, wie genau sie den Mörder beobachtet und beschrieben hatte. Das heißt, er schrieb nicht wirklich »der Mörder«, sondern »der Mann, bei dem man die Lösung dieses furchtbaren Geheimnisses vermutet«. Er erwähnte auch, daß Eva-Lotte den Unbekannten wiedererkennen würde, falls sie ihn sähe, und er wies hochtrabend besonders darauf hin, daß die kleine Eva-Lotte möglicherweise ein Werkzeug sei, durch das eines Tages der Verbrecher seiner wohlver-dienten Strafe zugeführt werden könne. Ja, er schrieb tatsächlich alles, was er eigentlich nicht hätte schreiben dürfen.
Ein sehr bekümmerter Schutzmann Björk gab dem Kommissar auf dem Polizeirevier ein Exemplar der Zeitung, noch feucht von Druckerschwärze. Der Kommissar las, und dann brüllte er:
»Es ist eine Schweinerei, so etwas zu schreiben! Ehrlich gesagt: eine glatte Schweinerei!«
Bäckermeister Lisander gebrauchte noch wesentlich kräftige-re Ausdrücke, als er eine Stunde später in die Redaktion der Zeitung stürmte. Die Adern auf seiner Stirn Waren vor Wut ge-schwollen, und er schlug mit der Faust auf den Tisch des Redakteurs.
»Begreifst du nicht, daß es verbrecherisch ist, so zu schreiben?« schrie er. »Begreifst du denn gar nicht, wie gefährlich das für meine Tochter werden kann?«
Nein, darüber hatte der Redakteur sich keine Gedanken gemacht. Wieso gefährlich?
»Mach dich nicht dümmer, als du schon bist! Das ist nicht nötig, weißt du«, polterte der Bäckermeister weiter. »Begreifst du nicht, daß ein Kerl, der einmal morden kann, das sehr gut auch ein zweites Mal fertigbringt, wenn er glaubt, daß es für ihn notwendig ist? Und deshalb ist es ein sträflicher Leichtsinn von dir, den Namen und die Adresse von Eva-Lotte anzugeben.
Hättest du nicht auch noch die Telefonnummer bekanntmachen können? Dann hätte der Kerl vorher anrufen und die Zeit verabreden können!«
Auch Eva-Lotte fand, daß der Artikel verbrecherisch war, zumindest einzelne Teile davon. Sie saß mit Anders und Kalle zusammen auf dem Bäckereiboden und las:
»Die kleine, niedliche Eva-Lotte, die heute wieder zwischen den Blumen in der Eltern Garten …«
»Himmel, mich beißt der Affe! Darf man denn so irrsinnig sein, wie man will, wenn man in der Zeitung schreibt?«
Kalle nahm ihr die Zeitung weg und las den ganzen Artikel und schüttelte dann besorgt den Kopf. So viel Detektiv war er ja auf jeden Fall, daß er verstehen konnte, wie wahnwitzig dieser Artikel war. Den anderen aber sagte er davon nichts.
In einem hatte der Redakteur allerdings recht: damit, daß Eva-Lotte ihre schrecklichen Abenteuer anscheinend vergessen hatte. Glücklicherweise hatte sie die Begabung junger Gemüter, Dinge, die ihnen unbehaglich sind, beinahe von einem Tag auf den anderen auszulöschen. Nur wenn der Abend kam und sie in ihrem Bett lag, hielten die Gedanken sich schwer von dem Geschehenen fern, das sie vergessen wollte. In den ersten Nächten schlief sie unruhig, und zuweilen schrie sie im Schlaf auf, so daß ihre Mutter kommen mußte, um sie zu beruhigen. Im klaren Sonnenschein des Tages aber war Eva-Lotte ruhig und froh wie zuvor.
Dem Krieg der Rosen konnte sie auch nicht lange fernblei-ben. Sie fühlte selbst: Je wilder die Spiele waren, in die sie sich warf, um so schneller würde all das andere in ihrem Unterbe-wußtsein versinken.
Die Polizeisperre draußen am Herrenhof hatte aufgehört.
Aber bereits vorher war der Großmummrich von dort weggeholt worden. Schutzmann Björk hatte den ehrenvollen Auftrag bekommen, ihn aus der Sperrzone zu holen. Nach dem Verhör auf der Veranda, als die Existenz des Großmummrich verraten werden mußte, nahm Anders Björk beiseite und fragte ihn, ob er nicht so nett sein wollte, den Großmummrich aus der Gefangenschaft zu befreien. Björk tat das gern. Ehrlich gesagt, er war sogar sehr interessiert daran, einmal zu sehen, wie ein Großmummrich aussah.
So geschah es, daß der Großmummrich unter Polizeieskorte von seinem unheimlichen Aufbewahrungsort fortgebracht und dem Chef der Weißen Rose übergeben wurde. Und jetzt lag er in einer der Kommodenschubladen oben auf dem Bäckereiboden, wo die Weißen ihre Heiligtümer zu verwahren pflegten.
Dieser Platz war aber nur ein vorläufiger, denn der Großmummrich sollte erneut verlegt werden.
Anders fand nach längerem Nachdenken die Idee, ihn bei dem Brunnen oben im Schloßhof zu verstecken, gar nicht mehr so gut. »Ich wünsche ihn mir an einem spannenderen Platz«, sagte er.
»Armer Großmummrich«, meinte Eva-Lotte. »Ich finde, sein letzter Platz war gerade spannend genug.«
»Nein … ich meine eine andere Art von spannendem Platz«, sagte Anders. Er zog die Schublade auf und betrachtete zärtlich den Großmummrich, wie er da auf Watte in einer Zigarrenkiste lag. »Vieles sahen deine weisen Augen schon, o du Großmummrich«, flüsterte er. Und mehr als je zuvor war er überzeugt von der magischen Kraft des Heiligtums.
»Ich weiß etwas«, sagte Kalle. »Wir geben ihn einem der Rötlichen!«
»Was meinst du damit?« fuhr Eva-Lotte auf. »Sollen wir ihn etwa freiwillig an die Roten zurückgeben?«
»Nein«, beruhigte Kalle. »Wir verstecken ihn bei einem von ihnen. Sie sollen ihn eine Zeitlang haben dürfen, ohne es zu wissen. Und wenn sie von ihm nichts wissen, ist es doch genauso, als hätten sie ihn nicht. Und denkt nur, wie wild die werden, wenn wir es ihnen nachher erzählen!«
Anders und Eva-Lotte sahen ein, daß dieser Einfall genial war. Nach einem hinreißenden Wortwechsel über die verschiedenen Möglichkeiten wurde bestimmt, daß der Großmummrich in Sixtus’ Zimmer versteckt werden sollte, und sie beschlossen, sofort dorthin zu gehen, um einen passenden Platz ausfindig zu machen. Schnellstens ließen sie sich am Seil hinunter, und mit Windeseile ging es zum Hauptquartier der Roten in Sixtus’ Garage.
Ziemlich atemlos kamen sie bei der Postdirektorsvilla an. Sixtus, Benka und Jonte saßen im Garten und tranken Fruchtsaft, als die Weißen hineinstürmten. Anders verkündete die frohe Botschaft, daß Eva-Lotte nicht länger den Dienst mit der Waffe verweigere und daß deshalb der Krieg der Rosen erneut ausbre-chen könne.
Die Roten hörten diese Botschaft voll innerer Zufriedenheit.
Eva-Lottes Entschluß, fraulicher zu werden, hatte tiefe Miß-stimmung bei ihnen hervorgerufen, und etwas Langweiligeres als die letzten Tage hatten sie noch nicht erlebt.
Gastfreundlich bot Sixtus den Feinden Platz und Fruchtsaft an. Die Feinde ließen sich dazu nicht zweimal auffordern – aber Anders sagte, listig wie eine Schlange: »Könnten wir den Fruchtsaft nicht oben in deinem Zimmer trinken, Sixtus?«
»Was ist los mit dir, hast du einen Sonnenstich?« fragte ihn sein Gastgeber herzlich. »Oben sitzen, bei dem wunderbaren Wetter?«
Sie tranken den Fruchtsaft draußen in dem wunderbaren Wetter.
»Ich hätte mir gern dein Luftgewehr angesehen«, bat Kalle dann.
Dieses Luftgewehr hing immer an der Wand in Sixtus’ Zimmer und war sein kostbarster Besitz. Er hatte es gezeigt und gezeigt und gezeigt, bis es schon zur Landplage geworden war. Es gab auf der Welt für Kalle nichts Langweiligeres anzusehen als dieses Luftgewehr. Aber jetzt galt es eine gute Sache. Sixtus sprang auf.
»Mein Luftgewehr möchtest du sehen?« fragte er erfreut.
»Natürlich kannst du das!« Und er lief in die Garage und holte es.
»Was ist denn nun los?« sagte Kalle mißmutig, »Hast du das Luftgewehr jetzt in der Garage?«
»Schön, nicht? Ein Glück, daß ich es so schnell zur Hand habe!« sagte Sixtus und begann, Kalle seinen Schatz umständlich zu erklären.
Anders und Eva-Lotte lachten, daß sie beinahe erstickten.
Eva-Lotte sah ein: Wenn sie heute überhaupt noch in Sixtus’ Zimmer kommen wollten, war weibliche List nötig. Sie sah zu Sixtus’ Fenster hoch und meinte unschuldig: »Du hast doch sicher eine prima Aussicht von deinem Fenster – wie?«
»Ja, da kannst du, was du willst, draus sehen«, bestätigte Sixtus stolz.
»Kann ich verstehen«, sagte Eva-Lotte. »Wenn die Bäume dort nicht so hoch wären, könntest du beinahe den Wasserturm sehen.«
»Ich kann doch wohl zum Kuckuck den Wasserturm sehen!« empörte sich Sixtus.
»Ja, beim Kuckuck kann er den Wasserturm sehen«, bestätigte Benka, hilfsbereit wie immer.
»Kann er?« fragte Eva-Lotte. »Das mußt du mir nicht einre-den wollen.«
»Lauter Lügen!« sagten Kalle und Anders mit brennender Überzeugung in den Stimmen. »Er kann den Wasserturm einfach nicht sehen, bestimmt nicht!«
»Bestimmt nicht«, äffte Sixtus nach. »Kommt bloß mit rauf!
Dann will ich euch Wassertürme zeigen, daß euch der Hut hochgeht, ihr blinden Bumsköpfe!« Er ging voran, und alle sechs zogen ins Haus.
Ein großer Hund, der im schattigen Vorraum auf dem Boden lag, sprang hoch und bellte, als sie kamen.
»Gut, gut, Beppo!« sagte Sixtus. »Das hier sind doch nur ein paar minderbegabte Idioten, die den Wasserturm sehen wollen.« Sie stiegen die Treppe empor in Sixtus’ Zimmer, und er führte sie im Triumph an das Fenster.
»Da!« sagte er stolz. »So etwas nenne ich immer noch einen Wasserturm. Ihr könnt das meinetwegen einen Glockenturm oder sonstwie nennen.«
»Das hat gesessen, was?« meinte Jonte.
»Hm, tatsächlich«, sagte Eva-Lotte mit einem verächtlichen Lachen. »Du kannst den Wasserturm sehen. Bist du damit zufrieden?«
»Was meinst du damit?« fragte Sixtus ärgerlich.
»Ooch – ich meine nur so … Denk doch bloß mal an, einen Wasserturm sehen zu können …« Und sie lachte aufreizend.
Anders und Kalle waren an der Aussicht gar nicht interessiert.
Ihre Augen jagten statt dessen rund durch das Zimmer, eifrig nach einem passenden Versteck für den Großmummrich ausspähend.
»Hübsches Zimmer hast du«, sagten sie zu Sixtus, als wären sie nicht schon mehr als hundertmal hier gewesen. Sie kreisten rings um das Zimmer, sie drückten sich an den Wänden und an Sixtus’ Bett herum, und wie zerstreut zogen sie die Schubladen seines Schreibtisches heraus.
Eva-Lotte war eifrig damit beschäftigt, die anderen am Fenster aufzuhalten. Sie zeigte auf alles, was noch irgendwie vom Fenster aus zu erkennen war, und das war nicht wenig.
Auf der Kommode stand Sixtus’ Globus. Anders und Kalle hatten zu gleicher Zeit den gleichen Einfall: der Globus, natürlich!
Sie sahen sich in die Augen und nickten dann bekräftigend.
Von früheren Besuchen bei Sixtus wußten sie, daß der Globus in zwei Hälften zu zerlegen war. Sixtus hatte das aus Spaß ab und zu getan, und der Globus war deshalb rund um den Äquator leicht beschädigt. Nach diesem Globus zu urteilen, waren grö-
ßere Teile von Äquatorialafrika noch nicht erforscht – so viele weiße Flecken waren dort.
Natürlich bestand das Risiko, daß Sixtus auf den Einfall kam, seine Weltkugel wieder einmal zu halbieren, und dann den Großmummrich fand, das sahen sowohl Anders als auch Kalle ein. Aber was wäre ein Krieg der Rosen gewesen, wenn man keine Gefahren hätte auf sich nehmen wollen?
»Ich glaube, wir haben nun alles gesehen«, sagte Anders in unbestimmtem Tonfall zu Eva-Lotte, und sie verließ erleichtert ihren Platz am Fenster.
»Ich denke, jetzt haben wir genug Aussichten gehabt. Mehr ist nicht nötig«, sagte Kalle und grinste zufrieden. »Kommt, wir hauen ab!«
»Wow o?« fragte Eva-Lotte neugierig.
»Gog lol o bob u sos« sagte Kalle schnell.
»Fof ei non!« lobte Eva-Lotte.
Sixtus glotzte sie wild und wütend an, als sie wieder zu roren anfingen, wie er es nannte.
»Kommt wieder mal vorbei, wenn ihr mehr Wassertürme sehen wollt«, war schließlich alles, was er sagte.
»Ja, tut das«, sagte Jonte und gönnte ihnen einen überlege-nen Blick aus seinen pfefferbraunen Augen.
»Läusepudel«, meinte Benka zusammenfassend.
Die Weißen Rosen gingen zur Tür. Sie quietschte jämmerlich, als sie sie öffneten.
»Vornehmer Leute Türen quietschen,
sagte die alte Mutter Pietschen …«
deklamierte Anders. »Wie wäre es, wenn du das Gequietsche mal ein wenig schmieren würdest?«
»Wie wäre es, wenn du nach Hause gehen und dir die Decke über den Kopf ziehen würdest?« sprach nun Sixtus in deklamie-rendem Ton.
Die Weißen kehrten in ihr Hauptquartier zurück. Das Versteck war gefunden. Nun galt es zu überlegen, wann und wie der Großmummrich dorthin kommen sollte.
»Wenn der Vollmond um Mitternacht leuchtet«, sagte Anders mit seiner tiefsten Stimme, »dann soll der Großmummrich an seinen neuen Ruheplatz geführt werden. Und hier steht der Mann, der es tun wird!«
Eva-Lotte und Kalle nickten bestätigend. Es war natürlich ein Punkt mehr für die Weißen, wenn die Überführung des Großmummrichs in Sixtus’ Zimmer geschah, während Sixtus dort lag und schlief.
»Das hört sich gut an«, meinte Eva-Lotte und reichte eine große Pralinenschachtel herum, die sie aus der Kommode geholt hatte. Sie konnte jetzt in Leckerbissen schwelgen, denn sie hatte Massen davon bekommen. Der Redakteur hatte richtig geschrieben: »Die kleine populäre Eva-Lotte kann in diesen Tagen Beweise der Anerkennung von allen Seiten entge-gennehmen. Bekannte und Unbekannte erinnern sich ihrer und senden ihr Geschenke. Bonbons, Schokolade, Spielsachen, Bücher –das ist nur eine kleine Auswahl von all den guten Dingen, die ihr der nette Briefträger Petersson täglich ins Haus trägt.«
»Was machst du aber, wenn Sixtus aufwacht?« fragte Kalle.
Unberührt sah Anders ihn an: »Ich sage, ich wäre gekommen, um ihm Wiegenlieder vorzusingen und um nachzusehen, ob er sich nicht bloßgestrampelt hat.«
»Hihihi«, lachte Kalle. »Hör mal, kleine populäre Eva-Lotte, gib mir noch ein Stück Konfekt! Dann wirst du noch einmal so populär.«
Sie aßen, bis die Schachtel leer war, und machten Pläne für den Abend. Sie begeisterten sich an dem neuen Schlag gegen die Roten. Ja, der Krieg der Rosen war doch eine wundervolle Einrichtung! Schließlich verließen sie das Hauptquartier. Sie mußten noch »auf das Feld«, wie Anders es nannte. Irgendein Stichwort konnte möglicherweise auftauchen. Wenn nicht, fand sich vielleicht die Gelegenheit, ein kleines Scharmützel mit den Roten zu provozieren. Sie ließen sich am Seil hinunter, und Eva-Lotte sagte gedankenlos:
»Ja, ja, der Kindheit glückliche Spiele, der Kindh…«
Sie brach ihren Satz ab und wurde bleich. Ein Stöhnen kam von ihren Lippen, und sie lief schnell davon. An diesem Tag spielte sie nicht mehr.
»Heute nacht wird es passieren!« sagte Anders ein paar Tage später.
Verschiedene Umstände hatten es mit sich gebracht, daß das Unternehmen, den Großmummrich in Sixtus’ Globus zu überführen, etwas aufgeschoben wurde. Erstens mußte man ja den Vollmond abwarten. Vollmond mußte sein. Das war magisch und gut und hatte außerdem den Vorteil, daß man sich in einem Zimmer zurechtfinden konnte, ohne die Taschenlampe zu gebrauchen. Zweitens hatten sie beim Postdirektor in den letzten Tagen Besuch gehabt. Die beiden jungen Tanten von Sixtus waren gekommen.
»Und man kann sich unmöglich in ein Haus wagen, wo aus allen Ecken und Winkeln eine kleine Tante hervorsieht«, sagte Anders, als Kalle ihn fragte, ob es nun etwas werde oder nicht.
»Je mehr Tanten in einem Haus sind, desto größer ist die Möglichkeit, daß eine aufwacht und alles zuschanden schreit, verstehst du?«
»Ja, Tanten können einen sehr leichten Schlaf haben«, bestätigte Kalle.
Sixtus bekam jetzt zu seiner größten Verwunderung häufig unruhige Fragen gestellt, wie es seinen Tanten gehe und wie lange sie noch bleiben wollten. Schließlich wurde er nervös.
»Was soll das ewige Gefrage nach meinen Tanten?« sagte er, als Anders zum zehntenmal davon anfing. »Haben sie dir was getan?«
»Nein, natürlich nicht«, sagte Anders zahm.
»Na also«, sagte Sixtus. »Ich glaube, sie fahren am Montag wieder ab. Traurig genug. Ich kann sie gut leiden, besonders Tante Ada.« Nach diesem Bescheid getraute sich Anders nicht, wieder zu fragen. Sixtus konnte mißtrauisch werden.
Jetzt aber war Montag. Anders hatte gesehen, wie die Frau Postdirektor mit ihren Schwestern zum Frühzug gegangen war, und heute nacht sollte Vollmond sein.
»Heute nacht wird es passieren!« sagte Anders entschlossen.
Sie saßen in der Laube beim Bäckermeister und aßen frische Schnecken, die Eva-Lotte gerade ihrem schwachen Vater in der Backstube abgeluchst hatte. Vor einer Weile waren die Roten vorbeigezogen. Sie wollten zu ihrem neuen Hauptquartier im Herrenhof. Es waren ja nun dort keine Polizisten mehr. Die Prärie lag wieder friedlich und still. Der Herrenhof war als Un-terschlupf viel zu gut, um aufgegeben zu werden, und die Roten hatten alles, was in der Nähe geschehen war, aus ihrem Gedächtnis gestrichen.
»Wenn ihr Appetit auf die Rute habt, kommt nur raus zum Herrenhof«, schrie Sixtus, als er bei Bäckermeisters vorbeiging.
Eva-Lotte schüttelte sich. Zum Herrenhof wollte sie nicht hinaus, unter keinen Umständen!
»Puh, bin ich satt!« sagte Kalle, als die Roten verschwunden waren und er seine siebente Schnecke verzehrt hatte.
»Aber ich erst!« sagte Anders und beklopfte seinen Magen.
»Schadet aber nichts, wir haben heute gekochten Schellfisch zu Mittag.«
»Man soll so intelligent werden nach Fisch«, meinte Eva-Lotte.
»Du solltest ruhig mehr gekochten Schellfisch essen, Anders.«
»Kaum«, meinte Anders. »Erst muß ich einmal wissen, wie intelligent ich davon werde und wieviel Fisch ich essen muß.«
»Es kommt natürlich etwas darauf an, wie intelligent man vorher ist«, mischte sich Kalle ein. »Für dich, Anders, reicht sicher ein normalgroßer Walfisch in der Woche ganz bequem aus.«
Als Anders Kalle dreimal um die Laube gejagt hatte und der Frieden wiederhergestellt war, sagte Eva-Lotte: »Ich bin neugierig, ob heute einige neue Gaben im Postkasten liegen. Ich verstehe nicht, was die Menschen sich so denken. In dieser Woche habe ich nur sechs Pfund Schokolade bekommen. Ich werde die Post anrufen und mich beschweren.«
»Rede bitte nicht von Schokolade!« sagte Anders voller Abscheu, und auch Kalle verzog das Gesicht. Sie hatten tapfer gegen die Sturmflut von Süßigkeiten, die über Eva-Lotte herein-gebrochen war, angekämpft, aber jetzt schafften sie es nicht mehr.
Trotzdem kam Eva-Lotte vom Postkasten unten am Zaun mit einem dicken Umschlag in der Hand zurück. Sie riß ihn auf, und da hatte sie tatsächlich eine Tafel Schokolade, eine große, stattliche Tafel Milchschokolade. Kalle und Anders sahen auf die Tafel, als ob es Rizinusöl sei.
»Schrecklich!« stöhnten sie.
»Oho!« Eva-Lotte tat harmlos. »Der Tag kann kommen, wo ihr Borke unter die Schokolade mischen müßt.«
Sie brach die Tafel auseinander und zwang erbarmungslos jedem eine Hälfte auf. Sie nahmen sie entgegen ohne eine Spur von Begeisterung, nur um ihr gefällig zu sein. Gleichgültig stopften sie ihre Schokoladenstücke in die sowieso schon überfüllten Hosentaschen.
»So ist es recht«, lobte Eva-Lotte sie. »Spare in der Zeit, so hast du in der Not.« Den Umschlag warf sie zusammengeknüllt über den Zaun auf die Straße.
»Was machen wir nun?« fragte sie.
»Hört mal, wir radeln los und baden«, sagte Kalle. »Mehr bekommen wir heute doch nicht zu tun.«
»Du hast recht«, meinte Anders. »Wir können wahrhaftig bis zum Abend Waffenstillstand eintreten lassen.«
Zwei Minuten später kam Benka, von Sixtus ausgeschickt, um mit zweckmäßigen Schmähungen die Weißen zum Kampf zu reizen. Aber die Laube war leer. Nur eine kleine Bachstelze saß auf der Schaukel und pickte ein paar Krümel auf.
Um Mitternacht, als der Vollmond leuchtete, schliefen Kalle und Eva-Lotte ruhig in ihren Betten. Nur Anders war wach.
Auch er war in gewohnter Weise zu Bett gegangen. Er brachte höchst kunstvolle Schnarchtöne hervor, damit seine Eltern glaubten, er schlafe. Der Erfolg war, daß seine Mutter ganz beunruhigt an sein Bett kam und ihn fragte:
»Was hast du, Junge, ist dir schlecht?«
»I wo«, sagte Anders und bemühte sich anschließend, nicht ganz so laut zu schnarchen.
Als er endlich das leichte Atmen seiner kleinen Geschwister und die tiefen, gleichmäßigen Atemzüge seiner Eltern hörte, wußte er, daß alles schlief. Er schlich vorsichtig in die Küche.
Dort lagen seine Kleider auf einem Stuhl. Unruhig horchte er in das Zimmer zurück. Aber alles schlief weiter, und schnell fuhr er in Hose und Hemd. Dann tappte er leise und vorsichtig die Treppe hinunter. Und er brauchte nicht viel Zeit, bis er auf dem Bäckereiboden stand, um den Großmummrich zu holen.
»O erhabener Großmummrich«, flüsterte er, als er die Kommodenschublade wieder zuschob, »halte nun deine mächtige, starke Hand über mein Beginnen; denn weißt du, ich glaube, es ist nötig.«
Die Nachtluft war kühl, und er fröstelte unter seinen dünnen Kleidern. Ein wenig war wohl auch die Aufregung schuld. Es war schon ein merkwürdiges Gefühl, hier so in der Nacht unterwegs zu sein, während andere Menschen schliefen. Fest um-spannte seine Hand den Großmummrich, als er über Eva-Lottes Zaun sprang. Wie dunkel die Erlen am Ufer standen. Der Fluß aber glitzerte im Mondschein.
»Bald sind wir am Ziel, o Großmummrich«, flüsterte er für den Fall, daß der Großmummrich ungeduldig werden sollte. Ja, bald waren sie am Ziel. Da lag die Villa des Postdirektors so dunkel und still, als wenn auch sie schliefe. Alles war ruhig. Nur die Heimchen zirpten.
Anders hatte damit gerechnet, daß mindestens ein Fenster im Hause offenstehen würde, und seine Hoffnung erfüllte sich. Für einen durchtrainierten Jungen wie Anders dürfte es nicht schwer sein, in das Küchenfenster hineinzukommen. Den Großmummrich steckte er in die Hosentasche. Sicher war dieser Platz nicht eines Großmummrichs würdig; aber es mußte sein – Anders brauchte beide Hände frei.
»Verzeih mir, o Großmummrich«, bat er ihn leise.
Seine Finger fuhren in die Tasche, und er war sehr erstaunt, als sie sich um etwas Klebriges legten, das vorher ein Stück Schokolade gewesen war. Anders war nicht mehr so überfüttert wie am Morgen, und er fühlte schon, wie dieser klebrige Kloß ihm großartig schmecken würde. Aber es sollte eine Belohnung werden nach vollbrachter Tat. Er schob den Großmummrich in die andere Hosentasche und leckte vorerst nur die Finger ab.
Dann zog er sich behutsam zum Küchenfenster hoch und wollte hinein.
Ein dumpfes Knurren erschreckte ihn so furchtbar, daß er dachte: Jetzt werde ich wahnsinnig – Beppo! Nicht einen Augenblick lang hatte er an Beppo gedacht! Und doch hätte er sofort wissen müssen, daß dieses Fenster nur offengelassen war, um Beppo Gelegenheit zu geben, des Nachts aus dem Hause zu kommen – falls er mußte und wollte.
»Beppo«, flüsterte Anders beruhigend. »Beppo, ich bin es doch bloß.«
Als Beppo merkte, daß es nur einer von den Spaßmachern war, die Herrchen immer mitzubringen pflegte, ging sein Knurren in entzücktes Gebell über.
»Ach du gutes, kleines, süßes, liebes Beppochen, kannst du nicht leise sein?« bat Anders.
Aber Beppo fand, wenn man fröhlich war, sollte man es auch zeigen und tüchtig bellen und mit dem Schwanz wedeln. Und beides tat er ganz energisch.
In seiner Not fischte Anders das Schokoladenstück hervor und hielt es ihm unter die Nase.
»Hier, sei nur still, dann bekommst du es«, flüsterte er.
Beppo schnüffelte an der Schokolade. Und da er fand, daß die Begrüßungsfeierlichkeiten gerade so lange gedauert hatten, wie es die Würde und der Anstand des Hauses erforderten, hörte er auf zu bellen und legte sich zufrieden nieder, um den herrlichen Klebekloß zu genießen, den ihm sein Gast – sicher für den freundlichen und lautstarken Empfang – spendiert hatte.
Anders seufzte erleichtert auf und öffnete die Tür, die in den Vorraum führte, so behutsam wie irgend möglich. Da war die Treppe, auf der er nach oben wollte …
Da ging oben jemand! Jemand kam mit schweren Schritten die Treppe herunter. Der Postdirektor kam, in eigener Person, barfuß und im Nachthemd. Beppos Bellen hatte ihn geweckt, und nun wollte er sehen, was los war.
Einen Augenblick stand Anders wie versteinert. Dann aber sammelte er all seine seelische Kraft, und im selben Moment kroch er auch schon schnell hinter einige Mäntel, die in einer Ecke des Vorraums an ihren Haken hingen.
Wenn ich nach diesem Unternehmen nicht in einer Nerven-heilanstalt lande, habe ich Nerven wie Tarzan, dachte er. Erst jetzt fiel ihm ein, daß die Postdirektorfamilie möglicherweise gar nichts davon hielt, wenn man nachts durch ihre offenen Fenster ins Haus kletterte. Daß Sixtus so etwas nur natürlich finden würde, war klar; aber er war ja auch am Krieg der Rosen beteiligt. Anders schauderte bei dem Gedanken, was der Postdirektor wohl mit ihm machen würde, wenn er ihn fand. Er schloß die Augen und betete still vor sich hin, als der Postdirektor, böse murmelnd, ganz dicht an den Mänteln vorüberging, hinter denen er stand.
Der Postdirektor öffnete die Tür zur Küche. Da lag Beppo im Mondschein und sah ihn an.
»Na, mein Junge«, sagte der Postdirektor, »was schimpfst du denn hier in der Nacht herum?«
Beppo antwortete nicht. Vorsichtig legte er seine Pfote auf den herrlichen Klebekloß. Herrchens Vater hatte nämlich oft wunderliche Einfälle. Gestern erst hatte er Beppo einen fetten alten Knochen weggenommen, den Beppo gerade auf dem Her-renzimmerteppich verzehren wollte. Niemand konnte daher wissen, ob er die richtige Einstellung zu so einem Schokoladenkloß hatte. Um ganz sicherzugehen, gähnte Beppo und legte eine gleichgültige Miene auf sein Hundegesicht. Der Postdirektor beruhigte sich. Der Ordnung wegen sah er aber doch noch aus dem Fenster.
»Ist dort jemand?« rief er leise. Nur der Nachtwind antwortete ihm.
Das Gemurmel von Anders hinter den Mänteln konnte er nicht hören: »Nein, nein, hier ist niemand. Ich erkläre, hier findet sich nicht einmal eine Laus.«
Lange stand Anders in seinem Versteck. Er getraute sich nicht eher, eine Bewegung zu machen, als bis er sicher war, daß der Postdirektor wieder eingeschlafen war. Es war sehr langweilig für ihn. Bald hatte er das Gefühl, als habe er die beste Zeit seiner Jugend hier hinter den Mänteln zugebracht – und immer mit den kitzelnden Wollfusseln vor seiner Nase. Er war eine be-triebsame Natur, und untätig sein war eine Qual für ihn.
Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Er kam aus seinem Gefängnis hervor und begann, vorsichtig die Treppe hinauf zuklimmen. Bei jedem Schritt blieb er stehen und lauschte, aber es war kein Laut zu hören. »Das geht ja großartig«, sagte er, opti-mistisch wie immer.
Die quietschende Tür in Sixtus’ Zimmer beunruhigte ihn ein wenig. Sachte drückte er die Türklinke herunter, um zu probieren. Die Tür öffnete sich lautlos – sie war tatsächlich geölt worden. Anders lachte in sich hinein. Nun hatte Sixtus die Tür zu seinem eigenen Schaden geölt. Was hatte man doch für nette Feinde! Man brauchte nur auf eine kleine Unbequemlichkeit hinzuweisen, und – schwupp – schon halfen sie einem, so daß man sich bestens bei ihnen einschleichen konnte.
»Vielen Dank, mein lieber Sixtus«, dachte Anders und warf einen Blick zu Sixtus’ Bett hinüber. Da schlief er nun, der arme Kerl, und ahnte nichts davon, daß heute nacht der Großmummrich in sein Haus einzog.
Der Globus stand mitten im fließenden Mondlicht auf der Kommode. Anders’ flinke Finger hatten ihn schnell auseinan-dergenommen. Welch ein großartiger Platz für einen Großmummrich! Eifrig nahm er das Heiligtum aus seiner Hosentasche und legte es an seinen Platz.
»Eine kurze Zeit nur, o Großmummrich!« sagte er, als er fertig war. »Eine Weile mußt du unter den Heiden, die das Gesetz nicht anerkennen, leben. Dann aber werden dir die Weißen Rosen wieder eine Freistatt bei christlichen und ehrlichen Menschen geben.«
Eine Schere lag neben dem Globus. Und als Anders sie sah, hatte er einen Genieblitz. Wenn ein Mann in der Nähe seines schlafenden Feindes war, so war es doch üblich, daß er einen Zipfel von dessen Mantel abschnitt zum Zeichen dafür, wie nahe er ihm gewesen war. So geschah es stets in alten Zeiten. Jedenfalls schrieben die Bücher davon. Das war eine hervorragende Art, dem Feinde zu zeigen, daß man ihn in der Gewalt gehabt, aber voller Edelmut Abstand davon genommen hatte, ihm etwas zu tun. Am nächsten Tag konnte man dann erscheinen und seinem Feind mit dem Mantelflicken vor der Nase herum-fuchteln und sagen: »Danke mir auf den Knien, daß du noch lebst, du elender Flegel.«
Das war genau das, was Anders tun wollte. Nun trug ja Sixtus allerdings im Bett keinen Mantel. Aber er hatte Haare, einen großen, prächtigen Schopf roter Haare. Und eine Locke von diesem Schopf gedachte Anders zu kappen. Ha, wenn dann der Tag kam, an dem der Großmummrich wieder woanders in gutem Verwahr lag, sollten die Roten zu fühlen bekommen, daß sie noch lebten! Da sollten sie die bittere Wahrheit über den Großmummrich im Globus erfahren! Und dann sollten sie diese Haarlocke sehen, die der Chef der Weißen Rosen um Mitternacht, als der Vollmond schien, von der Stirn des Häuptlings der Roten Rosen geschnitten hatte. Welch ein gigantischer Doppeltriumph!
Der Vollmond schien indessen nicht auf Sixtus’ Bett. Das Bett stand hinten an der Wand, wo es vollständig dunkel war.
Aber Anders tastete sich mit einer Hand vorsichtig näher. In der anderen hatte er die Schere. Wehrlos lag er da, der Häuptling der Roten. Da lag sein Kopf auf dem Kissen. Anders nahm mit zärtlichem, aber doch festem Griff eine Locke und schnitt sie ab.
Da gellte ein wilder Schrei durch die Stille der Nacht. Und das war kein Schrei aus einer rauhen, unebenen Stimmbruch-kehle – das war ein heller Frauenschrei!
Anders fühlte das Blut in seinen Adern einfrieren. Ein nie ge-kanntes Entsetzen ergriff ihn, und er warf sich blindlings gegen die Tür. Er sprang auf das Treppengeländer, und wie ein Blitz rutschte er abwärts. Er riß die Küchentür auf und war mit zwei Riesenschritten am Fenster. Und er sprang ins Freie mit einem so rasenden Satz, als liefen alle zur Zeit vorhandenen bösen Geister und Gespenster hinter ihm her. Nicht eher stand er still, als bis er an der Brücke war. Da mußte er etwas Atem schöpfen.
Die Locke hatte er noch immer in seiner Faust. Er hatte nicht gewagt, sie fortzuwerfen.
Japsend stand er da im Mondlicht und sah verzweifelt auf das Entsetzliche, was er in der Hand hatte. Es war nicht eine, es waren viele blonde Locken, und sie hatten einst zweifellos einer Tante gehört, gleichviel welcher. Wahrscheinlich war nur eine mit dem Frühzug abgefahren. Wer konnte das auch ahnen! Hatte er es nicht gesagt: Es war lebensgefährlich, sich in ein Haus zu wagen, wo aus jeder Ecke eine kleine Tante hervorsah.
Welche Schmach! Welche Schande! Auf den Skalp des Roten Häuptlings aus zu sein und nach Hause zu kommen mit den Locken einer blonden Tante! Anders zitterte. Das war das Schlimmste, was ihm jemals passiert war. Und er beschloß, keinem lebenden Menschen ein Sterbenswort davon zu erzählen.
Bis an das Ende seiner Tage sollte dies sein fürchterliches Geheimnis bleiben, und dann wollte er es mit hinunter in sein Grab nehmen.
Die Locken aber mußte er sofort loswerden. Er streckte die Hand über das Brückengeländer und ließ die Haare los. Und das schwarze Wasser nahm sein Geschenk schweigend entgegen. Es brodelte nur ein wenig unter dem Brückenbogen, wie es immer tat.
In der Postdirektorsvilla herrschte unterdessen wilder Auf-ruhr. Ängstlich kamen der Postdirektor und seine Frau zu Tante Ada gelaufen. Auch Sixtus kam vom Boden, wo er während des Tantenbesuchs hausen mußte, angeschossen.
Warum in aller Welt schrie Tante Ada mitten in der Nacht so laut? wollte der Postdirektor wissen. Ja, weil ein Einbrecher hier gewesen war, behauptete Tante Ada. Der Postdirektor machte im ganzen Haus Licht, überall wurde gesucht, aber von einem Einbrecher fand sich keine Spur. Das Tischsilber war noch da. Nicht ein Stück fehlte. Ja, Beppo! Er war wohl ein bißchen in den Garten gegangen, wie er es ab und zu tat. Wäre wirklich ein Einbrecher hier gewesen, hätte Beppo bestimmt Lärm gemacht, das könnte Tante Ada schon glauben. Sicher hatte sie nur einen unangenehmen Traum oder Alpdrücken gehabt – das war wohl alles. Und sie streichelten sie tröstend und sagten, nun solle sie nur ruhig weiterschlafen. Es sei gewiß alles gut.
Als aber Tante Ada wieder allein war, konnte sie vor Unruhe nicht einschlafen. Keiner sollte sie Lügen strafen, keiner sagen, es sei niemand in ihrem Zimmer gewesen! Um sich zu beruhigen, zündete sie sich eine Zigarette an. Dann nahm sie ihren Spiegel hervor, um nachzusehen, ob der ausgestandene Schreck Spuren auf ihrem hübschen Gesicht hinterlassen hatte.
Da sah sie es! Der Besuch hatte Spuren hinterlassen! Sie hatte eine neue Frisur bekommen! Eine ganze Strähne von ihrem Haar war fortgeschnitten worden. Sie hatte plötzlich eine nette, pikante Ponyfrisur. Verstört sah sie auf ihr Spiegelbild. Langsam aber verklärte sich ihr Gesicht. Irgend jemand, wer es auch war, war so närrisch gewesen, sich mitten in der Nacht in das Haus zu schleichen, nur um eine Locke von ihrer Stirn zu erha-schen. Eine Weile dachte sie darüber nach, wer wohl der unbekannte Bewunderer sein könnte; aber es war und blieb ein Rätsel für sie. Tante Ada beschloß großmütig, dem »Wer-es-auch-war« zu verzeihen. Und verraten würde sie ihn auch nicht.
Mochten die anderen es nur weiter für einen Traum halten.
Tante Ada seufzte und kroch wieder in ihr Bett. Sie beschloß, morgen zum Friseur zu gehen und die Ponyfrisur noch ein Spürchen kürzer machen zu lassen.
Ein neuer Tag begann, und im Garten des Bäckermeisters warteten Kalle und Eva-Lotte schon seit dem frühen Morgen auf Anders und seinen Bericht über das nächtliche Unternehmen.
Aber die Stunden gingen, und von Anders hörten sie nichts.
»Eigenartig«, sagte Kalle. »Er ist doch wohl nicht wieder gefangen worden?«
Sie wollten sich gerade auf die Suche nach ihm begeben, als er endlich kam. Er lief nicht, wie er es sonst tat, sondern ging langsam und war seltsam blaß.
»Wie siehst du elend aus«, sagte Eva-Lotte. »Bist du auch so ein ›Opfer der Hitze‹, wie immer in der Zeitung steht?«
»Ich bin ein Opfer von gekochtem Schellfisch«, sagte Anders.
»Gekochten Schellfisch, das habe ich meiner Mutter schon wer weiß wie oft gesagt, vertrage ich nicht. Und jetzt ist es endlich bewiesen.«
»Wie denn?« wollte Kalle wissen.
»Raus aus dem Bett – rein ins Bett. Die ganze Nacht erbrochen.«
»Und der Großmummrich?« fragte Kalle. »Der liegt wohl immer noch in der Kommode, was?«
»Jungchen, das habe ich natürlich vorher erledigt! Ich erledige alles, was zu erledigen ist, mögen die Stürme auch in mir toben. Der Großmummrich liegt in Sixtus’ Globus!«
»Fein!« sagte Kalle. »Erzähle! Ist Sixtus aufgewacht?«
»Beruhigt euch! Ihr werdet schon hören!« sagte Anders.
Sie saßen zu dritt auf Eva-Lottes Steg. Hier unten am Fluß war es kühl, und die Erlen gaben einen behaglichen Schatten.
Mit den Beinen baumelten sie in dem lauen Wasser. Anders sagte, das habe eine beruhigende Wirkung auf den Schellfisch in seinem Magen.
»Vielleicht, wenn ich so darüber nachdenke, war es nicht nur der Schellfisch. Vielleicht waren es auch noch die Nerven. Denn heute nacht bin ich im Haus der Schrecken gewesen.«
»Erzähle alles von Anfang an«, sagte Eva-Lotte.
Das tat Anders. Sehr dramatisch schilderte er seine Begeg-nung mit Beppo und wie er ihn zum Schweigen gebracht hatte.
Kalle und Eva-Lotte waren ein paar ideale Zuhörer. Sie freuten sich über alles und brüllten vor Lachen, und Anders genoß es, ihnen seine Abenteuer zu erzählen.
»Ihr versteht doch, hätte ich Beppo nicht die Schokolade gegeben – ich wäre verloren gewesen!«
»Gut, daß die Leute mir so viel Schokolade schicken«, sagte Eva-Lotte.
Dann schilderte Anders die beinahe noch schlimmere Begeg-nung mit dem Postdirektor.
»Hättest du ihm nicht auch etwas Schokolade geben können?« fragte Kalle.
»Nein, Beppo hatte alles bekommen«, sagte Anders.
»Und wie ging es weiter?« Eva-Lotte war ganz aufgeregt vor Neugier.
Anders erzählte, wie es weitergegangen war. Er erzählte alles, von Sixtus’ Tür, die nicht mehr quietschte, und von Sixtus’ Tante, die um so mehr quietschte, und wie ihm das Blut eingefroren war, als er es hörte, und wie er Hals über Kopf hatte fliehen müssen. Das einzige, wovon er nicht sprach, waren die tantli-chen Locken, die er in den Fluß versenkt hatte. Kalle und Eva-Lotte fanden alles spannender als eine Abenteuergeschichte, und sie wurden nicht müde, winzige Einzelheiten immer wieder hören zu wollen.
»Was für eine Nacht!« schwärmte Eva-Lotte, als Anders endlich fertig war.
»Ja, es ist gar kein Wunder, wenn man vorzeitig altert«, sagte Anders. »Aber die Hauptsache ist doch, daß der Großmummrich dort liegt, wo er liegen soll.«
Kalle planschte wild mit den Füßen im Wasser. »Ja, der Großmummrich liegt bei Sixtus im Globus«, triumphierte er.
»Könntet ihr euch etwas ausdenken, was so raffiniert ist wie gerade das?«
Nein, das konnten weder Anders noch Eva-Lotte. Und ihr Entzücken wurde noch größer, als sie sahen, wie Sixtus, Benka und Jonte am Fluß auf sie zutrabten.
»Sieh mal einer an, was sitzen denn da für niedliche Weiße Rosen auf dem Ast?« sagte Sixtus, als sie den Steg erreicht hatten.
Benka versuchte sofort, die Weißen Rosen in den Fluß zu wälzen, aber Sixtus hinderte ihn daran. Die Roten waren nicht gekommen, um zu streiten, sondern um zu klagen. Nach den Gesetzen, die im Krieg der Rosen herrschten, war doch der, der im Augenblick den Großmummrich besaß, verpflichtet, zumindest einen Fingerzeig darüber zu geben, wo das Heiligtum eventuell zu finden sei. Hatten die Weißen das getan? Gewiß hatte der Chef der Weißen, als er gekitzelt wurde, etwas von dem kleinen Pfad hinter dem Herrenhof hervorgestoßen, und der Sicherheit wegen hatten die Roten gestern die ganze Nachbarschaft dort draußen noch einmal durchsucht. Jetzt aber waren sie überzeugt davon, daß die Weißen den Großmummrich an einen neuen Platz gebracht hatten, und verlangten nun höflich, aber bestimmt den schuldigen Hinweis.
Anders kletterte ins Wasser. Es reichte ihm nicht weiter als bis an die Knie. Breitbeinig stand er dort, die Hände in die Seiten gestemmt, und seine dunklen Augen glänzten munter und voller Freude.
»Gut, ihr sollt einen Fingerzeig haben«, sagte er. »Sucht im Innern der Erde!«
»Danke, das ist ja sehr freundlich«, meinte Sixtus sarkastisch.
»Sollen wir hier anfangen oder auf der Königstraße in Stockholm?«
»Wirklich ein feiner Fingerzeig«, sagte Jonte. »Ihr sollt sehen, sicher finden unsere Kindeskinder den Großmummrich, bevor sie ins Grab steigen.«
»Ja, aber dann haben sie schon Schwielen an den Händen«, meinte Benka.
»Benutzt euren Verstand, rote Zwerge, falls ihr so etwas überhaupt besitzt«, sagte Anders lachend. Und dramatisch setzte er hinzu: »Wenn der Rote Chef zu sich nach Hause geht und im Innern der Erde sucht, wird alles offenbar werden.«
Kalle und Eva-Lotte zappelten übermütig mit den Füßen im Wasser herum und kicherten heftig. »Sehr wahr! Sucht im Innern der Erde«, sagten sie und sahen sehr geheimnisvoll aus.
»Läusepudel!« sagte Sixtus.
Dann gingen die Roten zu Sixtus und begannen umfangrei-che Ausgrabungen im Garten des Postdirektors. Den ganzen Vormittag gruben und wühlten sie an allen Stellen, die nur im geringsten verdächtig aussahen.
Endlich kam der Postdirektor und fragte, ob es notwendig sei, seinen Rasen völlig zu zerstören, oder ob sie freundlicherweise auch mal einen anderen Garten heimsuchen wollten.
»Übrigens finde ich, Sixtus, du solltest lieber Beppo suchen«, sagte er.
»Ist Beppo noch immer nicht da?« fragte Sixtus und ließ den Spaten fallen. »Wo kann er denn nur sein?«
»Das, glaubte ich ja, solltest du herausbekommen«, meinte sein Vater.
Sixtus sprang auf. »Kommt ihr mit?« fragte er Benka und Jonte.
Ohne Frage wollten Benka und Jonte mit. Und es gab noch andere, die helfen wollten, Beppo zu suchen. Kalle, Eva-Lotte und Anders, die die letzte Stunde über hinter der Hecke gelegen und die beharrliche Graberei der Roten bewundert hatten, kamen hervor und boten ihre Hilfe an. Sixtus nahm das Angebot dankbar an. In der Stunde der Not gab es keine Feinde. Voll inneren Einverständnisses zog die Gemeinde von dannen.
»Er geht sonst nie weg«, sagte Sixtus bekümmert, »jedenfalls niemals mehr als ein paar Stunden. Aber jetzt ist er ja seit gestern abend elf Uhr weg!«
»Nein, seit zwölf ungefähr«, sagte Anders, »denn …«
Er unterbrach sich und wurde knallrot.
»Na ja, meinetwegen seit zwölf dann«, sprach Sixtus gedankenlos nach. Dann aber sah er plötzlich Anders mißtrauisch an:
»Na, bei allen Katzen, woher weißt du das übrigens?«
»Ich bin so ein Hellseher, weißt du«, sagte Anders hastig.
Er hoffte, daß Sixtus nicht näher auf das Thema eingehen würde. Denn er konnte doch unmöglich erzählen, daß er Beppo ungefähr um zwölf Uhr, als er mit dem Großmummrich unterwegs war, in der Küche gesehen hatte, daß er aber fort war, als er ungefähr eine Stunde später aus dem Fenster entfloh.
»Ist ja reizend, daß man so bei kleinem die Hellseher zusam-menbekommt«, sagte Sixtus. »Sei so gut und sieh mal hell, wo Beppo jetzt gerade steckt.«
Anders aber erklärte, daß er nur Hellseher für Zeit, aber nicht für Orte sei.
»Und wie spät wird es sein, wenn wir Beppo finden?«
»Wir finden ihn in ungefähr einer Stunde«, sagte Anders überzeugt. Hierin aber irrte sich der Hellseher. Ganz so schnell ging es nun doch nicht.
Sie suchten überall. Sie suchten in der ganzen Stadt. Sie fragten an allen Stellen, wo es Hunde gab, die Beppo zu begrüßen pflegte. Sie fragten jeden, den sie trafen. Niemand hatte Beppo gesehen. Er war verschwunden. Sixtus war nun völlig still geworden. Die Tränen kamen ihm vor Unruhe. Aber zeigen konnte er das auf keinen Fall. Er putzte sich nur auffallend oft die Nase.
»Es muß ihm etwas passiert sein«, sagte er immer wieder.
»Niemals war er so lange weg.«
Die anderen versuchten, ihn zu trösten. »Ach, ihm ist schon nichts passiert«, sagten sie. Aber sie waren selbst weit entfernt davon, so überzeugt zu sein, wie sie vortäuschten. Stumm gingen sie eine Weile nebeneinanderher.
»Er war so ein feiner Hund«, sagte Sixtus schließlich mit zitternder Stimme. »Er verstand alles, was man zu ihm sagte.«
Dann mußte er sich wieder die Nase putzen.
»Laß das sein, so zu reden«, sagte Eva-Lotte. »Du redest, als ob er tot wäre.«
Sixtus antwortete darauf nicht.
»Er hatte so treue Augen«, fand Kalle. »Ich meine: Er hat so treue Augen«, beeilte er sich zu verbessern.
Dann war wieder eine lange Zeit alles still. Als es zu drückend wurde, sagte Jonte: »Ja, Hunde sind feine Tiere.«
Sie waren jetzt auf dem Heimweg. Es lohnte sich nicht mehr zu suchen. Sixtus ging einen halben Meter vor den anderen und stieß einen Stein vor sich her. Und sie verstanden genau, wie traurig er war.
»Denk nur, Sixtus, wenn Beppo nach Hause gekommen ist, während wir unterwegs waren und so lange suchten«, sagte Eva-Lotte hoffnungsvoll.
Sixtus blieb mitten auf der Straße stehen. »Wenn das wahr ist, wenn Beppo nach Hause gekommen ist, dann werde ich ein guter Mensch. Oh, welch ein guter Mensch will ich werden! Ich will mir jeden Tag die Ohren waschen, und immer, wenn Mutter etwas von mir will …«
Voll neuer Hoffnung begann er zu laufen. Die anderen folgten ihm, und sie wünschten alle brennend, daß Beppo am Zaun stehen und bellen möge, wenn sie zur Postdirektorsvilla kamen.
Aber da stand kein Beppo. Sixtus’ großzügiges Versprechen der Ohrenwaschung hatte auf die Mächte, die das Leben und die Schritte der Hunde lenkten, keinen Einfluß gehabt. Und die Hoffnung war bereits in Sixtus’ Brust gestorben, als er seiner Mutter, die auf der Veranda saß, zurief: »Ist Beppo zurückgekommen?«
Sie schüttelte den Kopf. Sixtus sagte nichts. Er ging in den Garten und setzte sich ins Gras. Die anderen folgten ihm. Sie lagerten sich stumm um ihn. Es gab ja keine Worte, so eifrig sie auch danach suchten.
»Ich hatte ihn, seit er ein kleiner Welpe war«, erklärte Sixtus mit undeutlicher Stimme. Sie mußten doch verstehen: Wenn man einen Hund gehabt hatte, seit er ein kleiner Welpe war, dann war man schon berechtigt, rote Augen zu haben, wenn er verschwand. »Und wißt ihr, was er mal tat?« fuhr Sixtus fort, wie um sich selbst zu quälen. »Damals, als ich nach der Blind-darmoperation aus dem Krankenhaus kam? Da kam mir Beppo am Zaun entgegen, und da war er so froh, mich zu sehen, daß er mich doch umschmiß, und die ganze Wunde sprang wieder auf!«
Alle waren davon tief gerührt. Einen größeren Beweis von Liebe konnte ein Hund gewiß nicht erbringen, als seinen Herrn umzuschmeißen, so daß die Blinddarmnaht wieder aufriß. »Ja, Hunde sind feine Tiere«, bestätigte Jonte noch einmal.
»Besonders Beppo«, sagte Sixtus und putzte sich die Nase.
Kalle wußte nachher nicht mehr, woher ihm der Einfall gekommen war, in den Holzschuppen des Postdirektors zu sehen.
Eigentlich war es richtig närrisch, das fand er selbst. Denn wenn Beppo dort eingeschlossen worden wäre, dann hätte er sicher so lange gebellt, bis man ihn wieder herausgelassen hätte. Aber auch wenn es keinen vernünftigen Grund dafür gab, in den Holzschuppen zu sehen, – Kalle tat es trotzdem. Er öffnete die Türen ganz weit, so daß das Tageslicht den ganzen Schuppen erfüllte. Und weit hinten in einer Ecke lag Beppo. Ganz still lag er dort, und eine verzweifelte Sekunde lang war Kalle sicher, daß er tot war. Aber als Kalle näher kam, hob der Hund mühsam den Kopf und winselte schwach. Da stürzte Kalle ins Freie und schrie mit der ganzen Kraft seiner Lungen:
»Sixtus! Sixtus! Er ist hier! Er liegt im Holzschuppen!«
»Mein Beppo! Mein armer kleiner Beppo«, sagte Sixtus mit zitternder Stimme. Er lag auf den Knien neben dem Hund, und Beppo sah ihn an, als wollte er ihn fragen, warum Herrchen nicht früher gekommen sei. Er hatte doch hier schon so unendlich lange gelegen und war so krank, so krank, daß er nicht einmal bellen konnte. Ach, wie krank war er die ganze Zeit gewesen! All dies versuchte er Herrchen zu erzählen, und es klang ganz erbärmlich.
»Hört doch, er weint ja«, sagte Eva-Lotte und begann auch zu weinen.
Ja, Beppo war krank, das konnte man sehen. Er lag in einem See von Auswurf und Exkrementen und war so schwach, daß er sich nicht rühren konnte. Stumm leckte er Sixtus die Hand. Er wollte wohl dafür danken, daß er in seinem Elend nicht mehr allein zu sein brauchte.
»Ich muß zum Tierarzt laufen, und das sofort!« rief Sixtus.
Aber als er aufsprang, heulte Beppo verzweifelt auf.
»Er hat Angst, daß du ihn allein läßt«, sagte Kalle. »Ich laufe für dich!«
»Sag ihm, daß er sich beeilen möchte«, bat Sixtus. »Und sag ihm, daß Beppo Rattengift gefressen hat.«
»Woher weißt du das?« fragte Benka.
»Das weiß ich«, sagte Sixtus. »Das sehe ich doch. Das ist die verdammte Schlachterei gewesen. Die legen, um die Ratten loszuwerden, überall Meerzwiebeln aus. Beppo ging manchmal hin und holte sich einen Knochen.«
»Kann Beppo … kann ein Hund davon sterben?« fragte Anders mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen.
»Schweig!« sagte Sixtus böse. »Beppo nicht! Ein Beppo stirbt nicht. Ich habe ihn, seit er ein kleiner Welpe war. O Beppo, warum mußtest du nur hingehen und am Rattengift schnüffeln?«
Beppo leckte ergeben seine Hand und antwortete darauf nichts.
Kalle schlief in der Nacht unruhig. Er träumte, er sei draußen und suche wieder nach Beppo. Einsam wanderte er auf dunklen, öden Wegen, die sich vor ihm in schauerlicher Endlosigkeit ausdehnten und in einer erschreckenden Düsternis weit, weit vorn verschwanden. Er hoffte, einen Menschen zu treffen, den er nach Beppo fragen konnte, aber niemand kam. Die ganze Welt war menschenleer und dunkel und vollkommen öde.
Und plötzlich war es nicht mehr Beppo, den er suchte. Es war etwas anderes, etwas viel Wichtigeres. Aber er konnte sich nicht erinnern, was es war. Er fühlte, daß er sich dessen erinnern mußte, es war ihm, als hinge das Leben davon ab. Es befand sich irgendwo dort in dem Dunkel vor ihm, aber er konnte es nicht finden. Und es kam deswegen eine so große Angst über ihn, daß er davon erwachte.
Gott sei Dank, daß es nur ein Traum war! Er sah auf die Uhr.
Es war erst fünf. Es war besser zu versuchen, wieder einzuschlafen. Er wühlte den Kopf tiefer in das Kissen und versuchte es.
Aber das war doch eigentümlich – dieser Traum wollte ihn nicht loslassen. Auch jetzt, wo er wach lag, spürte er, daß da etwas war, auf das er sich besinnen mußte. Es lag irgendwo tief innen in seinem Gehirn und wartete darauf, herauskommen zu dürfen. Ein kleines, kleines Stückchen dort drinnen wußte, was es war, worauf er sich besinnen mußte. Nachdenklich rieb er sich den Schädel und brummte böse vor sich hin:
»Na los, komm doch schon raus!« Aber es kam nicht, und Kalle wurde müde. Er wollte wieder schlafen. Und langsam be-schlich ihn diese behagliche Benommenheit, die anzeigte, daß der Schlaf in der Nähe war.
Aber da, gerade als er schon zur Hälfte schlief, ließ sein Gehirn das kleine Stückchen, das es so lange festgehalten hatte, los. Es war nur ein Satz, und es war die Stimme von Anders, die ihn sprach:
»Hätte ich Beppo nicht die Schokolade gegeben – ich wäre verloren gewesen.«
Kalle war hellwach, als er sich jetzt kerzengerade im Bett auf-richtete. »Hätte ich Beppo nicht die Schokolade gegeben – ich wäre verloren gewesen«, wiederholte er langsam. Was war daran so merkwürdig? Warum mußte er sich so notwendig darauf besinnen? Ja, darum, weil … Darum, weil … Es gab eine entsetzliche Möglichkeit …
Als er so weit gekommen war, legte er sich wieder hin und zog nachdrücklich die Decke über den Kopf.
»Kalle Blomquist«, sagte er warnend zu sich selbst, »fang nun nicht wieder so an! Komm nicht noch einmal mit diesen de-tektivischen Grillen! Mit dieser Sorte von Dummheiten sind wir fertig. Darüber waren wir uns doch wohl einig.«
Nun wollte er aber schlafen. Das wollte er!
»Ich bin ein Opfer von gekochtem Schellfisch.«
Wieder war es die Stimme von Anders, die er hörte. Zum Teufel, daß man ihn nicht in Ruhe lassen konnte! Was hatte Anders hier nur immer herumzukrabbeln? Konnte er nicht zu Hause liegen und mit sich selber reden, wenn er so verzweifelt redelustig war?
Aber jetzt half nichts mehr. Die unheimlichen Gedanken wollten heraus. Er konnte sie nicht länger zurückhalten. Zu denken, daß es vielleicht nicht der Fisch war, weswegen sich Anders übergeben hatte! Gekochter Schellfisch war ekelhaft, das fand Kalle auch. Aber sich davon eine Nacht lang zu übergeben, das war nicht üblich. Und – wenn es nun nicht Meerzwiebeln gewesen waren, die Beppo gefressen hatte? Wenn es nun …
wenn es nun … etwas anderes war … Wenn es nun … vergiftete Schokolade war?
Er versuchte wieder, sich selbst zu mäßigen.
»Der Meisterdetektiv hat Zeitungen gelesen, ich merke es«, höhnte er. »Es scheint, er hat die Kriminalfälle der letzten Jahre zu gut verfolgt. Und wenn es auch schon vorgekommen ist, daß jemand durch vergiftete Schokolade getötet wurde, so bedeutet das nicht, daß jede verdammte Schokoladentafel nur noch aus Arsenik besteht.«
Eine Zeitlang lag er ganz still und dachte. Und es waren be-
ängstigende Gedanken.
»Es gibt noch mehr Menschen als nur mich, die Zeitungen gelesen und Kriminalfälle verfolgt haben. Noch einer kann das getan haben. Einer in grünen Gabardinehosen. Einer, der Angst hat. Er kann den Artikel über Eva-Lotte auch gelesen haben. Da wurde ja von Schokolade und Bonbons geschrieben, die man ihr per Post schickt. Diesen Artikel, in dem auch gestanden hat, daß Eva-Lotte möglicherweise ein Werkzeug sei, dazu bestimmt, den Mörder festzusetzen oder so ähnlich. Du großer Nebukadnezar, wenn es so gewesen ist!«
Kalle sprang aus dem Bett. Die andere Hälfte der Schokoladentafel – die hatte er doch bekommen! Er hatte sie völlig vergessen gehabt. Wo war sie? Selbstverständlich war sie noch immer in der Hosentasche. Diese blauen Hosen, die er neulich angehabt hatte … Er hatte sie seitdem nicht mehr angezogen.
Welch ein Glück für ihn, welch sagenhaftes Glück – wenn es wirklich so war, wie er mutmaßte.
Man kann sich viel einbilden, wenn man im Halbschlaf dahindämmert. Das Unwahrscheinlichste wird dann glaubhaft. Als Kalle jetzt in seinem Pyjama in der Schrankkammer stand, wo die Morgensonne durch das Fenster lugte, fand er wieder, daß er einfach närrisch sei. Es war alles natürlich nur Einbildung –genau wie immer.
»Und trotzdem«, sagte er, »eine kleine Routineuntersuchung kann ich ja immerhin machen.«
Sein erdachter Zuhörer, der sich lange verborgen gehalten hatte, wartete sichtlich nur auf dieses Stichwort. Eifrig kam er angelaufen, um zu sehen, womit der große Meisterdetektiv sich beschäftigte.
»Was wollen Sie tun, Herr Blomquist?« fragte er andächtig.
»Wie ich schon sagte – eine kleine Routineuntersuchung.«
Plötzlich war Kalle wieder Meisterdetektiv, es war nicht zu ändern. Lange hatte er es nicht sein dürfen, auch keine Lust gehabt, es zu sein. Wenn tatsächlich Ernst mit im Spiel war, wollte er nicht Detektiv sein. Aber gerade jetzt zweifelte er selbst, einen berechtigten Verdacht zu haben, zweifelte so stark daran, daß er hilflos der Versuchung verfiel, wieder in der alten Weise zu markieren. Er nahm die halbe Tafel Schokolade aus der Hosentasche und hielt sie seinem erdachten Zuhörer hin.
»Aus bestimmten Gründen habe ich den Verdacht, daß sie mit Arsenik vergiftet ist.« Sein erdachter Zuhörer krümmte sich vor Schreck. »Sie wissen, so etwas ist schon passiert«, fuhr der Meisterdetektiv unbarmherzig fort. »Und es gibt etwas, das nennt man ›Verbrechen aus Nachahmung‹. Es ist ja eine ziemlich gewöhnliche Sache, daß ein Verbrecher seine Anregungen aus bereits geschehenen Verbrechen nimmt.«
»Aber wie kann man wissen, ob wirklich Arsenik darin ist?«
fragte der erdachte Zuhörer und sah hilflos und ratsuchend auf das Schokoladenstück.
»Man macht eine kleine Probe«, sagte der Meisterdetektiv ruhig. »Die Marshsche Arsenikprobe. Und die gedenke ich jetzt vorzunehmen.«
Sein erdachter Zuhörer sah sich mit bewundernden Blicken in der Schrankkammer um. »Ein erstklassiges Laboratorium haben Sie hier, Herr Blomquist«, sagte er. »Sie sind sicher ein ausgezeichneter Chemiker, wie ich mir denken kann?«
»Na ja … ausgezeichnet … ich habe mir in meinem langen Leben ein gut Teil chemischer Kenntnisse angeeignet«, bestätigte der Meisterdetektiv bescheiden. »Die Chemie und die Kriminalistik müssen Hand in Hand arbeiten. Verstehen Sie, junger Freund?«
Seine armen Eltern hätten, wenn sie jetzt dabeigewesen wären, bestätigen können, daß ein großer Teil in des Meisterdetektivs langem Leben tatsächlich chemischen Versuchen ge-widmet gewesen waren. Sie hätten es wahrscheinlich anders ausgedrückt. Wahrscheinlich fanden sie, daß man der Wahrheit näher kam, wenn man sagte, er habe unzählige Male versucht, sich selbst und den gesamten Haushalt in die Luft zu sprengen, um einen Forschereifer zu befriedigen, der nicht immer von ex-aktem Wissen begleitet war.
Aber der erdachte Zuhörer besaß nichts von diesem Unglauben, der Eltern auszeichnet. Interessiert sah er zu, wie der Meisterdetektiv von einem Regal eine Anzahl Geräte, einen Spiritusbrenner und verschiedene Glasröhren und Büchsen nahm.
»Wie wird die Probe gemacht, von der Sie vorhin sprachen, Herr Blomquist?«
»Zuerst benötigen wir dazu einen Wasserstoffapparat«, sagte Kalle in dozierendem Ton. »Einen Apparat dieser Art habe ich hier. Es ist ganz einfach eine Büchse. In diese Büchse, die Schwefelsäure enthält, lege ich einige Zinkstückchen. Dabei bildet sich Wasserstoff, verstehen Sie? Wenn wir dort hinein Arsen in irgendeiner Form geben, bildet sich ein Gas, das man Ar-senwasserstoff nennt. AsH . Das entstehende Gas leiten wir durch diese Glasröhre, lassen es weitergleiten und in einer Röhre mit wasserfreiem Kalziumchlorid trocknen. Dieser Vorgang wiederholt sich anschließend in der engeren Röhre. Unter Zu-hilfenahme des Spiritusbrenners erhitzen wir das Gas genau hier an der Verengung. Und dort, verstehen Sie, zerlegt sich das Gas in Feuchtigkeit und freies Arsenik, und das Arsen schlägt sich auf den Wänden der Glasröhre als ein grauschwarz schimmernder Belag nieder. Der sogenannte Arsenspiegel. Ich vermute, daß Sie davon bereits gehört haben, mein junger Freund?«
Sein junger Freund hatte von rein gar nichts gehört; aber er verfolgte mit gespannter Aufmerksamkeit die Manipulationen des Meisterdetektivs.
»Bitte, erinnern Sie sich«, sagte der Meisterdetektiv, als er zum Schluß den Spiritusbrenner anzündete, »daß ich nicht ge-sagte habe, das Schokoladenstück enthalte wirklich Arsenik. Ich stelle nur eine Routineuntersuchung an und hoffe inständig, daß mein Verdacht gänzlich aus der Luft gegriffen ist.«
Dann war es eine Weile ruhig in der sonnigen Schrankkammer. Der Meisterdetektiv war so beschäftigt, daß er ganz einfach seinen jungen Freund vergaß.
Jetzt war die Glasröhre erwärmt. Ein Teil der Schokolade wurde pulverisiert, und durch einen Trichter schüttete Kalle das Pulver in den Wasserstoffapparat. Dann wartete er und hielt den Atem an. – Großer Gott, tatsächlich! Da war er! Der Arsenspiegel! Der schreckliche Beweis dafür, wie recht er gehabt hatte. Er starrte auf die Glasröhre, als könne er seinen Augen nicht trauen. In seinem Innern hatte er die ganze Zeit über gezweifelt.
Jetzt aber war kein Zweifel mehr möglich. Das bedeutete etwas Furchtbares. Zitternd löschte er den Spiritusbrenner. Sein erdachter Zuhörer war fort. Er verschwand, sowie sich der ver-dienstvolle Meisterdetektiv in einen geängstigten Kalle verwandelte.
Anders wurde davon geweckt, daß jemand unter seinem Fenster das Signal der Weißen Rose pfiff. Er streckte ein verschlafenes Gesicht zwischen den Blumentöpfen hervor, um zu sehen, wer dort war. Kalle stand da draußen vor der Schuhmacherwerkstatt und winkte ihm zu.
»Wo brennt es?« fragte Anders. »Warum mußt du Menschen um diese Zeit wecken?«
»Quatsch nicht, sondern komm herunter«, sagte Kalle. Und als Anders endlich kam, sah er ihm scharf in die Augen und forschte: »Hast du von der Schokolade gekostet, bevor du sie Beppo gegeben hast?«
Anders starrte ihn betroffen an: »Um halb sieben Uhr morgens kommst du hier angetigert, nur um so was zu fragen?«
»Ja. Denn sie war vergiftet. Mit Arsenik.« Kalle sagte es ganz ruhig.
Anders’ Gesicht wurde schmal und blaß. »Ich besinne mich nicht«, murmelte er. »Doch, ich habe die Finger abgeleckt. Ich habe doch zuerst den Großmummrich in die Klebe in meiner Tasche gesteckt … Bist du ganz sicher?«
»Ja«, sagte Kalle hart. »Und jetzt gehen wir zur Polizei.«
Eilig erzählte er Anders von dem Versuch, den er gemacht hatte, und von der schrecklichen Gewißheit, die sich ihm enthüllt hatte. Sie dachten an Eva-Lotte und fühlten sich so scheußlich wie noch nie. Eva-Lotte durfte davon nichts wissen.
Sie mußte vorläufig – darüber waren sie sich einig – aus dieser Sache herausgehalten werden.
Anders dachte auch an Beppo.
»Ich war es, der ihn vergiftet hat«, sagte er verzweifelt.
»Wenn Beppo stirbt, kann ich Sixtus nie mehr ins Gesicht sehen.«
»Beppo stirbt nicht, das hat doch der Tierarzt gesagt«, tröstete Kalle ihn. »Hat er nicht genug Medizin und Magenspü-lungen bekommen? Und es war doch wohl besser, daß Beppo die Schokolade gefressen hat als Eva-Lotte oder du?«
»Oder du«, sagte Anders. Sie schüttelten sich alle beide.
»Eines jedenfalls ist ganz klar«, sagte Anders, als sie Kurs auf das Polizeirevier nahmen.
»Und was?« fragte Kalle.
»Du mußt endlich diesen Fall in die Hand nehmen, Kalle.
Eher kommt da keine Ordnung hinein. Das sage ich nun schon die ganze Zeit über.«
»Dieser Mord muß aufgeklärt werden«, sagte der Kriminalkommissar und ließ seine Hand schwer auf den Tisch fallen.
Vierzehn Tage lang hatte er sich mit dieser ausnehmend ver-zwickten Angelegenheit befaßt. Nun sollte er die Stadt verlassen. Der Arbeitsbereich der Staatspolizei war groß, und an anderen Stellen warteten neue Aufgaben auf ihn. Er ließ allerdings drei seiner Männer hier und hatte jetzt zusammen mit ihnen und der Ortspolizei eine Morgenbesprechung auf der Polizeistation.
»Aber soviel ich sehen kann«, fuhr er fort, »ist das einzige greifbare Ergebnis dieser vierzehn Arbeitstage nur, daß kein Mensch jetzt mehr wagt, dunkelgrüne Gabardinehosen anzuziehen.«
Mißmutig schüttelte er den Kopf. Sie hatten gearbeitet und hart gearbeitet. Jeder möglichen Anregung waren sie gefolgt.
Die Lösung des Rätsels aber schien genauso fern zu liegen wie am ersten Tag. Der Mörder war aus dem Nichts aufgetaucht und wieder in das Nichts verschwunden. Niemand hatte ihn gesehen, nur ein Mensch – Eva-Lotte Lisander.
Die Allgemeinheit hatte ihr Bestes getan, ihm zu helfen. Es waren viele Hinweise gekommen auf Menschen, die dunkelgrüne Gabardinehosen zu tragen pflegten. Eva-Lotte war mehrere Male Individuen gegenübergestellt worden, denen der Kommissar etwas mehr auf den Zahn fühlen wollte. Die Männer waren mit einigen anderen ungefähr gleichgekleideten in eine Reihe gestellt worden, und Eva-Lotte wurde gefragt, ob einer von ihnen derjenige sei, dem sie damals auf der Prärie begegnet sei.
»Nein, von diesen ist es keiner«, hatte sie jedesmal geantwortet.
Eine Unmenge von Bildern waren ihr vorgelegt worden; aber auch da fand sich niemand, den sie kannte.
Jeder Mensch oben auf dem Rackerberg war über seine Beobachtungen, Grens Privatleben betreffend, befragt worden. Spezielles Interesse hatte die Polizei an außergewöhnlichen Vor-kommnissen an jenem Dienstagabend vor dem Mord, als der Mann in den Gabardinehosen Gren nachweislich besucht hatte.
Und beinahe alle hatten etwas ganz Außergewöhnliches gerade von diesem Abend zu berichten. Es hatte einen Lärm gegeben, als hätten sich wenigstens zehn Mörder gegenseitig umgebracht.
Das war natürlich sehr interessant. Aber der Kommissar hatte bald heraus gefunden, daß der Lärm vom Krieg der Rosen verursacht worden war. Mehrere Personen, darunter auch Kalle Blomquist, hatten allerdings erklärt, daß sie ein Auto zu dem bestimmten Zeitpunkt hätten anfahren hören. Und es wurde festgestellt, daß Doktor Forsbergs Auto, in dem er an diesem Abend seinen Krankenbesuch bei Friedrich mit dem Fuß gemacht hatte, dafür nicht in Frage kam.
Schutzmann Björn hatte Kalle scherzend aufgezogen und gemeint, Kalle hätte doch auf dieses seltsame Auto etwas besser achtgeben können. »Du als Meisterdetektiv«, sagte er, »hättest dir doch die Nummer des Autos aufschreiben müssen! Was machst du eigentlich im Augenblick?«
»Ich hatte doch damals drei wilde Rote hinter mir her«, hatte Kalle verschämt zu seiner Verteidigung gesagt.
»Ein Mann mit Auto – wunderbar!« sagte der Kommissar und schüttelte sich wie ein wütender Terrier. »Er kann ja gut hundert Meilen von hier entfernt wohnen. Er kann den Wagen in der Nähe des Herrenhofes geparkt haben und ist dann nach der Tat hineingesprungen und hatte bereits einige Meilen Vorsprung, bevor wir überhaupt wußten, daß etwas passiert war.«
Man hatte unmittelbar nach dem Mord überall auf den Wegen beim Herrenhof nach Autospuren gesucht. Aber es fanden sich keine. Der heftige Regen war dem Verbrecher sicher ein unschätzbarer Helfer gewesen. Und wie sie nach dem Schuldschein gesucht hatten! Jeder Busch, jeder Stein, jedes Erdloch war untersucht worden. Das wichtige Papier jedoch war und blieb unauffindbar.
»Unauffindbar wie der Mörder«, sagte der Kommissar mit einem Seufzer. »Stellt euch vor, daß der Kerl nicht das geringste Lebenszeichen von sich gibt!«
In dem Moment hörte man im Vorraum ein paar eifrige Jun-genstimmen. Sie wollten deutlich den Kommissar sprechen, wurden aber von dem diensthabenden Schutzmann abgewiesen.
Die Stimmen der Jungen wurden nur noch eigensinniger: »Wir müssen ihn sprechen, sage ich Ihnen!«
Schutzmann Björk erkannte die Stimme von Anders und ging hinaus.
»Onkel Björk«, sagte Anders, als er ihn sah, »es handelt sich um den Mord … Kalle hat das jetzt in die Hand genommen …«
»Das habe ich gewiß nicht«, protestierte Kalle ärgerlich,
»aber …«
Björk sah sie mißbilligend an: »Ich dachte, ich hätte euch ganz deutlich gesagt, daß das hier nichts ist für kleine Jungen und Meisterdetektive in spe«, sagte er. »Überlaßt das Ganze ruhig der Staatspolizei. Das ist ihre Arbeit. Nach Hause mit euch!«
Jetzt aber wurde Anders auch auf Björk, den er sonst so gut leiden konnte, böse.
»Nach Hause!« schrie er. »Nach Hause gehen und dem Mörder erlauben, die ganze Stadt mit Arsenik zu vergiften, wie?«
Kalle kam ihm zu Hilfe. Er zog ein wohlverpacktes Stück Schokolade hervor und sagte ernst: »Onkel Björk, jemand hat Eva-Lotte vergiftete Schokolade geschickt.«
Hilfesuchend sah er den großen, langen Schutzmann an, der da vor ihm stand und ihn hindern wollte. Aber Björk hinderte ihn nicht mehr. »Kommt rein«, sagte er und schob die Jungen vor sich her.
Es wurde still, als Kalle und Anders mit ihrem Bericht zu Ende waren. Dann sagte der Kommissar:
»War ich es, der ein Lebenszeichen von dem Mörder haben wollte?« Er wog das Schokoladenstück in seiner Hand. Ein solches Lebenszeichen hatte er sich allerdings nicht gewünscht.
Dann sah er Anders und Kalle prüfend an. Gewiß, es war möglich, daß diese Jungen in einem leeren Teich fischten. Er wußte ja nicht, für wie tüchtig er Kalle als Chemiker halten durfte und ob man seinem Bericht über den Arsenspiegel glauben konnte: Vielleicht war seine Phantasie mit ihm durchgegangen. Nun, darauf mußte eine gerichtschemische Untersuchung Antwort geben.
Das mit dem Hund war ja unzweifelhaft seltsam. Es wäre wichtig, auch eine Probe von der anderen Schokoladenhälfte zu bekommen. Aber die Jungen hatten erklärt, daß sie gestern abend sorgfältig allen Auswurf des Hundes beseitigt hatten. Alles, was getan werden konnte, um die Spur zu verwischen, war getan worden. Und um das Unglück vollzumachen, hatte Eva-Lotte auch noch den Umschlag, in dem, wie die Jungen sagten, die Schokolade gewesen war, fortgeworfen. Ja, die Kleine schmeißt mit wertvollem Papier nur so um sich, dachte der Kommissar.
Aber woher sollte sie eigentlich wissen, daß der Umschlag so wichtig war? Wie es auch sein mochte, danach suchen mußte man selbstverständlich. Aber ob man ihn finden würde?
Er wandte sich an Anders: »Du hast wohl nicht zufällig noch so ein kleines Stück von deiner Hälfte aufbewahrt?«
Anders schüttelte den Kopf: »Nein, Beppo hat alles bekommen! Ich habe nur abgeleckt, was an meinem Finger klebte.«
»Ja, aber dann in deiner Hosentasche? Kann dort nichts kleben?«
»Oh! Mutter hat diese Hosen gestern gewaschen!« sagte Anders.
»Schade«, seufzte der Kommissar. Er schwieg eine Weile.
Dann aber sah er Anders durchdringend an: »Da ist noch etwas, was ich gerade überlege. Du hattest etwas in der Küche des Postdirektors zu tun in der Nacht zu gestern, sagtest du. Du bist durch das Fenster geklettert, als alles schlief. Für einen alten Polizeimann klingt das ziemlich beunruhigend. Dürfte man einmal ganz genau wissen, was du dort zu tun hattest?«
»Na ja … also …« sagte Anders und wand sich.
»Na …« sagte der Kommissar.
»Da war also der Großmummrich …«
»Sachte, sachte, sag mir nur nicht, der Großmummrich habe wieder damit etwas zu tun«, bat der Kommissar bewegt. »Dieser Großmummrich fängt an, mir unheimlich zu werden, tatsächlich. Immer, wenn etwas passiert, dann taucht er auf.«
»Ich wollte ihn doch nur bei Sixtus in den Globus legen«, sagte Anders entschuldigend.
Kalle unterbrach ihn mit einem Pfiff. »Der Großmummrich!« schrie er auf. »Auf ihm klebt vielleicht Schokolade! Anders hat ihn doch in den Schokoladenkloß, den er in der Tasche hatte, gedrückt!«
Über das Gesicht des Kommissars legte sich ein Lachen.
»Ich glaube, es wird Zeit, daß sich der Herr Großmummrich der Polizei zur Verfügung stellt«, sagte er.
Und so bekam der Großmummrich noch einmal Polizeige-leit. Schutzmann Björk begab sich eilig zur Villa des Postdirektors, und in seinem Kielwasser folgten ihm Kalle und Anders.
»Der Großmummrich wird auf diese Weise reichlich verwöhnt«, sagte Kalle. »Nächstens verlangt er noch berittene Polizei zur Begleitung, wenn er mal verlegt wird.«
Mit der Entdeckung, daß es Anders gewesen war, der, ohne es zu wissen, Beppo vergiftet hatte, mußte auch das Geheimnis des Großmummrich im Globus preisgegeben werden. Sie mußten ja jetzt Sixtus alles erzählen, und das bedeutete, daß er das Kleinod sofort mit Beschlag belegen würde – wenn nicht die Polizei mitkommen und es unter ihren Schutz stellen würde.
Und wie betrüblich die Angelegenheit vorher für Eva-Lotte und Beppo auch gewesen war, so konnten Anders und Kalle doch nicht unterlassen, die Abholung des Großmummrich durch die Polizei als eine Art Triumphzug zu betrachten.
»Übrigens ist der Großmummrich ein Lebensretter«, sagte Kalle. »Denn wenn du, Anders, ihn nicht in den Globus gelegt hättest, hätte Beppo nie die Schokolade bekommen. Und wenn Beppo die Schokolade nicht bekommen hätte, wäre sicher etwas viel Schlimmeres damit passiert. Und es ist nicht sicher, ob alle Arsen so gut vertragen wie Beppo.« Das fanden Björk und Anders auch.
»Der Großmummrich ist eine ziemlich beachtliche Person«, sagte Björk und öffnete die Gartentür beim Postdirektor.
Beppo lag in einem Korb auf der Veranda, noch schwach, aber unleugbar lebendig. Sixtus saß neben ihm und sah ihn lie-bevoll an. Als er jemand kommen hörte, sah er auf, und seine Augen wurden rund vor Staunen.
»Guten Tag, Sixtus«, sagte Schutzmann Björk. »Ich komme, um den Großmummrich zu holen.«
Wie schnell wird ein Mord vergessen? Ach, das dauert nicht allzu lange! Die Menschen reden eine Zeitlang davon, reden und rätseln, regen sich auf und schaudern und werfen der Polizei vor, nichts zu tun. Und dann hört es auf, interessant zu sein, und sie regen sich über andere Dinge auf, die Menschen.
Zuallererst vergessen natürlich die Kinder, die Kriege zwischen Rosen führen, die Eroberer des Großmummrich. Man hat viel zu tun. Man hat anderes zu denken. Wer hat gesagt, daß Sommerferien lang sind? Falsch! Vollkommen falsch! Sommerferien sind so besorgniserregend, so unbarmherzig kurz, zum Weinen kurz. Einer nach dem anderen laufen die goldenen Tage weg. Es gilt, jede Stunde auszunutzen. Da kann man die letzte sonnengetränkte Woche der Sommerferien nicht durch die Gedanken an düstere Gewalttat verdunkeln lassen.
Die Mütter aber vergessen nicht so schnell. Sie halten ihre hellhaarige Tochter eine Weile im Haus, sie wagen nicht, sie aus den Augen zu lassen. Unruhig spähen sie aus dem Fenster, wenn sie ihre Söhne nicht in der Nähe toben hören. Ab und zu laufen sie aus dem Haus, um nachzusehen, ob ihren Lieblingen nichts geschehen ist. Aber schließlich schaffen sie es nicht mehr, sich zu beunruhigen. Auch sie müssen an andere Dinge denken.
Und die beaufsichtigten Kinder begeben sich wieder mit tiefen Seufzern der Erleichterung an ihre gewohnten Spielplätze und Schlachtfelder, die ihnen eine Zeitlang verboten gewesen waren.
Der Großmummrich war noch nicht von der gerichtschemi-schen Untersuchung in Stockholm zurückgekommen. Der Un-tersuchungsbescheid aber war bereits hier: Die äußerst winzigen Schokoladenmengen, die am Großmummrich gefunden worden waren, hatten tatsächlich Spuren von Arsenik gezeigt, und Kalles Schokolade enthielt auch Arsen. Hätte Eva-Lotte die Tafel allein aufgegessen, sie hätte wenig Aussicht gehabt weiterzule-ben.
Eva-Lotte wußte um das Attentat auf sie. Es wäre unmöglich gewesen, ihr etwas zu verheimlichen, wovon alle Zeitungen be-richteten. Außerdem hielt der Kriminalkommissar es für seine Pflicht, sie zu warnen. Gewiß war der Strom von Gaben und Leckereien nach dringender Ermahnung in der Presse abgestoppt worden; aber Eva-Lotte mußte sich doch in acht nehmen. Für einen gewalttätigen Menschen gab es sicher noch andere Wege, ihr zu schaden. Und deshalb hatte der Kommissar Eva-Lotte alles über die vergiftete Schokolade erzählt.
Wenn er gefürchtet hatte, Eva-Lotte würde erneut einen Schock erleiden, so hatte er sich, Gott sei Dank, geirrt. Eva-Lotte erlitt nicht den geringsten Schock. Sie wurde nur wütend, so wütend, daß sie knisterte.
»Beppo hätte ja sterben können«, schrie sie. »Eine Gemeinheit, beinahe einen unschuldigen Hund zu töten, der niemand etwas getan hat!« In Eva-Lottes Augen war das eine Freveltat, die alles übertraf.
Eine armselige Woche lang waren die Sommerferien nur noch.
Alle Ritter der Weißen und Roten Rose waren sich einig, die kurze Gnadenfrist mußte zu etwas Besserem verwendet werden, als über vergangene Dinge, die nicht zu ändern waren, nachzu-grübeln.
Beppo war wieder ganz gesund. Und Sixtus, der bisher, wie festgeklebt, nicht von seiner Seite gewichen war, wurde wieder von seiner alten Betriebsamkeit ergriffen. Aufs neue rief er seine Truppen unter die Fahnen. Sie versammelten sich in seiner Garage und schmiedeten neue Pläne. Denn nun war die Zeit der Rache gekommen. Jetzt sollte abgerechnet werden für den Großmummrich im Globus und für ähnliche Bosheiten. Daß Anders beinahe Beppo vergiftet hatte, gehörte nicht dazu. Das hatte Sixtus ihm bereits von ganzem Herzen vergeben, und Anders hatte in ganz rührender Weise Anteil genommen an Beppos Krankheit.
Lange vor der Ära des Großmummrich hatten schon Kriege zwischen Roten und Weißen Rosen getobt. Und wenn auch der Großmummrich mit all den magischen Eigenschaften, die man ihm zuschrieb, ein unübertroffenes Kriegsobjekt war, so gab es doch noch andere Kostbarkeiten, die man dem Gegner rauben konnte. Da hatten die Weißen zum Beispiel die Stahlkassette, angefüllt mit geheimen Dokumenten. Anders fand, daß man ohne große Gefahr diese Kassette in der Kommode auf dem Bäckereiboden aufbewahren konnte. Das konnte man sicher auch – zu normalen Zeiten. Jetzt aber, wo der Großmummrich auf einer Dienstreise war, kam Sixtus auf den Gedanken, daß die Kassette der Weißen Rosen eine ganz außerordentliche Kostbarkeit sei, die geraubt werden mußte, und wenn die Roten Rosen bis zum letzten Mann dafür kämpfen mußten. Benka und Jonte stimmten sofort zu, und selten waren sich zwei Jungen so einig, bis zum letzten Mann zu kämpfen. Nachdem der heroi-sche Entschluß durch heilige Eide bekräftigt worden war, ging Sixtus abends in aller Ruhe in das Hauptquartier der Weißen Rosen und nahm auf dem Bäckereiboden die Kassette an sich.
Die erwarteten Entsetzensschreie der Weißen blieben allerdings aus, und zwar weil sie gar nicht bemerkten, daß die Kassette verschwunden war. Zum Schluß verlor Sixtus die Geduld, und er schickte Benka mit einem Handschreiben zu den Weißen, um sie zum Erwachen zu bringen.
Das Schreiben hatte folgenden Wortlaut:
»Wo ist wohl die Geheimkassette der Weißen Rosen?
Ja, wo sind sie wohl, die geheimen Dokumente?
Dort, wo die Prärie zu Ende geht, da steht ein Haus. In dem Haus ist ein Zimmer.
In dem Zimmer ist eine Ecke. In der Ecke liegt ein Papier.
Auf dem Papier ist eine Landkarte. Auf der Landkarte – – –
Ja, genau so!
O du Weiße Laus,
such nur in dem Haus!«
»Nie in meinem Leben gehe ich dorthin«, sagte Eva-Lotte zuerst. Bei näherem Überlegen aber sagte sie sich selbst, daß sie sich doch unmöglich ihr Leben lang von der Prärie, dem Spiel-platz aller Spielplätze, fernhalten konnte. Frühling oder Herbst, Sommer oder Winter, die Prärie behielt ihre Anziehungskraft, sie blieb voller Möglichkeiten. Durfte sie nicht mehr auf der Prärie spielen – ja, dann konnte sie ebensogut sofort in ein Klo-ster gehen.
»Ich gehe mit«, sagte sie nach einem kurzen inneren Streit mit sich selbst. »Besser sofort, als daß es zur fixen Idee bei mir wird.«
Und am Morgen danach standen die Weißen Rosen unnatürlich früh auf, um zu vermeiden, daß sie während ihres Suchens von den Feinden überrascht wurden. Der Sicherheit wegen erzählte Eva-Lotte zu Hause nicht, wohin sie ging. In aller Stille schlich sie aus dem Haus und vereinigte sich mit Anders und Kalle, die schon eine Weile am Zaun auf sie gewartet hatten.
Die Prärie war gar nicht so erschreckend, wie Eva-Lotte gedacht hatte. Und der Herrenhof sah beinahe einladend aus, gar nicht, als wäre er ein armes, unbewohntes Haus, sondern wie ein Heim, in dem die Menschen nur noch nicht aufgewacht waren.
Bald würden sie vielleicht die Fenster öffnen, die Gardinen würden sich im Morgenwind bauschen, die Zimmer von fröhli-chen Stimmen widerhallen, und aus der Küche würde ein freundliches Rumoren zu hören sein, welches Frühstück bedeutete. Hier gab es wirklich nichts, wovor man sich ängstigen konnte.
»O du Weiße Laus, such nur in dem Haus«, hatten die Roten sie aufgefordert, und sie taten ihr Bestes. Sie mußten lange suchen. Das Haus war sehr groß und hatte viele Zimmer und Ek-ken und Nischen. Aber schließlich wurde ihr Suchen von Erfolg gekrönt – genau wie die Roten es berechnet hatten. Jetzt sollten die Weißen aber gründlich angeführt werden!
Das Papier enthielt tatsächlich eine Landkarte, und es war nicht schwer, den Garten des Postdirektors darauf zu erkennen.
Da war das Wohnhaus und die Garage und der Holzschuppen und das geheime Örtchen und alles andere und dann an einer Stelle ein Kreis mit dem Hinweis »Grabt hier!«
»Man kann von den Roten sagen, was man will; aber besonders witzig ist das hier nicht«, fand Anders, als er die Karte gründlich angesehen hatte.
»Bestimmt, das hier wirkt direkt kindisch«, sagte Kalle. »Das ist so lächerlich einfach, man schämt sich richtig. Aber wir werden wohl hingehen müssen und graben glaub’ ich.«
Ja, sie wollten dorthin und graben. Aber zuerst wollten sie noch etwas anderes tun Weder Anders noch Kalle waren seit dem denkwürdigen Mittwoch hier draußen gewesen. Damals waren sie von Schutzmann Björk abgewiesen worden. Nun ergriff sie eine kleine häßliche Neugierde. Sollte man nicht auf jeden Fall mal hingehen und sich die Stelle ansehen, wenn man schon hier war?
»Ich nicht«, sagte Eva-Lotte nachdrücklich. Lieber wollte sie sterben als den kleinen Pfad zwischen den Haselnußsträuchern noch einmal gehen. Aber wenn Anders und Kalle durchaus wollten – sie hatte nichts dagegen. Nur abholen mußten sie sie nachher.
»Gut, wir sind in zehn Minuten zurück«, sagte Kalle.
Dann gingen die beiden.
Als Eva-Lotte allein war, begann sie das Haus einzurichten.
In ihrer Phantasie möblierte sie es und bevölkerte es mit einer großen, kinderreichen Familie. Eva-Lotte hatte selbst keine Geschwister, und kleine Kinder waren das Schönste, was sie sich denken konnte.
Hier ist das Eßzimmer, dachte sie. Hier ist der Tisch. Es sind so viele Kinder, daß sie sich drängen. Und Krister und Kristine prügeln sich und müssen zur Strafe ins Kinderzimmer. Bertil ist so klein, daß er in einem hohen Kinderstuhl sitzen muß. Die Mutter füttert ihn, aber oh, wie er sabbert! Da ist die große Schwester Liliane. Sie ist so schön, sie hat ganz schwarze Haare und schwarze Augen und will abends auf den Ball gehen. Sie soll hier unter dem Kristalleuchter stehen, in einem weißer Seiden-kleid, und mit den Augen funkeln. Eva-Lotte funkelte mit den Augen und war die große Schwester Liliane.
Der große Bruder Klaus kommt gerade heute aus Upsala zurück. Er hat sein Examen gemacht. Der Gutsherr ist sehr glücklich darüber. Er steht am Fenster und sieht hinaus und wartet auf seinen Sohn. Eva-Lotte streckte den Bauch vor und war der Gutsherr, der am Fenster stand und auf seinen Sohn wartete.
Sieh mal an, da kommt er ja schon! Wie gut er doch aussieht
– wenn er auch etwas jünger sein könnte.
Es dauerte einige Sekunden, bevor Eva-Lotte aus ihrer Phan-tasiewelt in die Wirklichkeit zurückkam und begriff, daß das dort nicht der große Bruder Klaus war, der mit langen, schnellen Schritten ankam, sondern ein richtiger Mensch aus Fleisch und Blut. Sie kicherte in sich hinein. Wie peinlich, wenn sie
»Hej, Klaus!« zu ihm hinuntergerufen hätte.
Jetzt sah er auf und sah sie am Fenster stehen. Er zuckte zusammen, der Bruder Klaus. Er mochte es wohl nicht, daß dort der Gutsherr stand und ihn ansah. Er hatte es plötzlich eilig. So eilig! Dann aber besann er sich und kam zurück. Ja, er kam zurück!
Eva-Lotte dachte nicht daran, ihn weiterhin nervös zu machen, indem sie ihn aus dem Fenster heraus ansah. Sie ging wieder in das Eßzimmer, um zu sehen, ob Bertil mit seinem Süpp-chen fertig war. Das war er nicht, und die große Schwester Liliane mußte ihm helfen. Sie war so damit beschäftigt, daß sie gar nicht hörte, wie die Tür geöffnet wurde. Und sie schrie leicht auf vor Schreck, als sie hochsah und bemerkte, daß der große Bruder Klaus ins Zimmer kam.
»Guten Tag«, sagte er – der große Bruder Klaus oder wer er nun sonst war.
»Guten Tag«, sagte Eva-Lotte.
»Ich dachte tatsächlich, es wäre eine alte Bekannte, die ich vorhin am Fenster stehen sah«, meinte der große Bruder Klaus.
»Nein, das war nur ich«, sagte Eva-Lotte.
Er sah sie prüfend an. »Aber haben wir uns nicht schon einmal getroffen, du und ich?« fragte er.
Eva-Lotte schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht«, sagte sie. »Daran kann ich mich nicht erinnern.«
»Unter Tausenden würde ich ihn wiedererkennen«, hatte sie einmal gesagt. Aber da wußte sie nicht, daß das Aussehen eines Menschen vollkommen verändert werden kann, wenn ein Bart abrasiert und langes, in die Stirn hängendes Haar zu einer kurzen, aufrecht stehenden Bürste geschnitten wird. Der Mann, dem sie einmal auf dem schmalen Pfad begegnet war und dessen Bild ihrer Netzhaut unauslöschlich eingeprägt war, hatte damals außerdem dunkelgrüne Gabardinehosen getragen, und es war ihr unmöglich, sich vorzustellen, daß er irgendwie anders gekleidet sein konnte. Der große Klaus trug einen kleinkarierten grauen Anzug.
Er sah sie mit unruhigen Augen an, und dann fragte er: »Wie kann so ein kleines Fräulein wohl heißen?«
»Eva-Lotte Lisander«, sagte Eva-Lotte.
Der große Klaus nickte. »Eva-Lotte Lisander«, sagte er nachdenklich.
Eva-Lotte hatte keine Ahnung, wie gut es war, daß sie den großen Klaus nicht wiedererkannte. Auch ein Verbrecher scheut sich, einem Kind unnötig Böses zu tun. Aber dieser Mann gedachte sich um jeden Preis zu retten. Er wußte, jemand, der Eva-Lotte Lisander hieß, konnte alles für ihn zerstören, und er war bereit, alles zu tun, um das zu verhindern. Und jetzt stand sie hier vor ihm, diese Eva-Lotte Lisander, die er schon durch das Fenster erkannt zu haben glaubte, als er ihr helles Haar gesehen hatte, stand hier vor ihm und sagte ganz ruhig, daß sie ihn nie vorher getroffen hätte. Und er fühlte eine Erleichterung, daß er hätte schreien mögen. Er brauchte also diesen plappern-den Mund nicht zu schließen, diesen Mund, der ihm so viel Sorgen gemacht hatte. Er brauchte nicht mehr zu fürchten, daß diese Eva-Lotte Lisander eines Tages in der Nachbarstadt, wo er wohnte, auftauchte und ihn wiedererkannte und mit dem Finger auf ihn zeigte und sagte: »Da geht der Mörder!« Denn sie kannte ihn nicht. Sie war nicht länger mehr ein Zeuge gegen ihn.
Er war so erleichtert, er war beinahe froh darüber, daß sie seinem Attentat mit der Schokolade entgangen war.
Der große Klaus wollte gehen. Er wollte gehen und nie wieder an diesen verdammten Platz zurückkehren. Als er aber die Türklinke in der Hand hielt, erwachte sein Mißtrauen. Sie war doch wohl nicht etwa eine ausgekochte kleine Schauspielerin, die die Unschuldige markierte und nur so tat, als kenne sie ihn nicht mehr? Er warf ihr einen lauernden Blick zu. Aber sie stand da mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen, und ihr Kinderblick war offen und zuverlässig. Da gab es keine Verstellung, das konnte er deutlich sehen. Trotzdem fragte er: »Was machst du hier so allein?«
»Ich bin nicht allein«, sagte Eva-Lotte freundlich. »Anders und Kalle sind auch hier. Meine Freunde, verstehen Sie?«
»Spielt ihr hier?« wollte der große Klaus wissen.
»Nein«, sagte Eva-Lotte, »wir haben bloß ein Papier gesucht.«
»Ein Papier?« fragte der große Klaus, und sein Blick wurde hart. »Ein Papier habt ihr gesucht?«
»Ja, und so lange«, sagte Eva-Lotte, die fand, daß eine Stunde lang war, wenn es galt, die kindische Landkarte der Roten aufzuspüren. »Sie glauben gar nicht, wie wir gesucht haben! Aber wir haben es gefunden.«
Er war verloren. Ein paar Kinder hatten ihn gefunden, den Schuldschein, den er selbst immer wieder gesucht hatte und den er heute zum allerletztenmal hatte suchen wollen. Er war verloren, und das jetzt, da er glaubte, in Sicherheit zu sein!
Er zwang sich zur Ruhe. Noch wollte er nicht alle Hoffnung aufgeben. Er mußte nur dieses Papier haben – mußte es haben!
»Wo sind Anders und Kalle denn jetzt?« fragte er so unbeteiligt wie möglich.
»Die kommen gleich wieder«, antwortete Eva-Lotte. Sie sah aus dem Fenster. »Ja, da hinten kommen sie schon«, fuhr sie fort. Der große Klaus stellte sich hinter sie, um aus dem Fenster zu sehen. Mit der Hand stützte er sich auf das Fensterbrett, und als Eva-Lotte den Kopf ein wenig senkte, sah sie zufällig auf seine Hand.
Und sie erkannte seine Hand wieder. Diese Hand erkannte sie.
Sie war wohlgeformt und reichlich mit dunklen Härchen bewachsen. Jetzt wußte sie, wer der große Klaus war. Und der Schreck, der sie ergriff, war so groß, daß er sie fast zu Boden warf. Alles Blut schoß ihr aus dem Gesicht, nur um Sekunden später mit solcher Gewalt wieder zurückzuschießen, daß es in ihren Ohren dröhnte. Es war gut, daß sie mit dem Rücken zu ihm stand. So konnte er das wilde Entsetzen in ihren Augen nicht sehen und auch ihren Mund nicht, der anfing zu zittern.
Aber gleichzeitig war es furchtbar, ihn hinter sich zu fühlen und nicht zu wissen, was er tat.
Aber da kamen Anders und Kalle – Gott segne sie! Sie war nicht mehr allein auf der Welt. Die beiden Gestalten, die dort in ausgeblichenen blauen Hosen und nicht ganz sauberen Hemden und mit ungekämmten Haaren angetrabt kamen, waren wie ein Geschenk des Himmels für sie. Ritter der Weißen Rose, Gott segne euch!
Aber sie war auch ein Ritter der Weißen Rose, und der durfte die Besinnung nicht verlieren. Ihr Gehirn arbeitete so fieber-haft, daß sie glaubte, der Mann hinter ihr müsse es hören. Etwas war ihr klar: Er durfte nicht bemerken, daß sie ihn wiedererkannt hatte. Was auch geschah, sie mußte ruhig aussehen. Sie öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus. Ihre ganze Verzweiflung lag in ihren Augen. Die beiden da draußen aber merkten nichts davon.
»Aufgepaßt, gleich kommen sie!« schrie Anders hinauf.
Der große Klaus zuckte zusammen. War die Polizei schon unterwegs, um den Revers zu holen? Wer von den Kindern hatte ihn? Er mußte sich beeilen. Die Zeit drängte. Es mußte sofort etwas geschehen. Er ging nach vorn, dicht an das Fenster. Er hatte keine Wahl. Wenn sich auch sein Inneres dagegen sträubte, er mußte sich offen zeigen. Er lächelte den Jungen freundlich zu.
»Hallo, ihr dort!« sagte er. Sie sahen fragend zu ihm auf.
»Dürft ihr denn eine kleine Dame so allein lassen?« fragte er in einem Ton, der scherzhaft sein sollte, der ihm aber nicht gelang. »Ich war direkt gezwungen, hier hineinzugehen und ein wenig mit Eva-Lotte zu plaudern, während ihr draußen Altpa-piersammlung spieltet.«
Darauf gab es kaum etwas zu antworten, und Kalle und Anders schwiegen abwartend.
»Kommt rein, Jungen«, sprach der Mann hinter Eva-Lotte weiter. »Ich habe euch einen Vorschlag zu machen. Einen guten Vorschlag. Ihr könnt Geld dabei verdienen.« Nun wurden Anders und Kalle lebhaft. Wenn es darum ging, Geld zu verdienen waren sie immer bereit, sich sofort in die Startlöcher zu legen.
Eva-Lotte saß jetzt auf dem Fensterbrett und sah sie so son-derbar an. Und sie machte mit der Hand das Geheimzeichen der Weißen Rose. Und dieses geheime Zeichen bedeutete »Gefahr«. Anders und Kalle zögerten verwirrt. Da begann Eva-Lotte zu singen.
»Sommer ist, die Sonne scheint«, sang sie, wenn auch mit etwas zitternder Stimme. Und sie sang dieselbe frohe Melodie weiter – nur der Text war ein wenig verändert.
»Mom ö ror dod e ror«, sang sie.
Das klang wie ein zusammenhangloser Singsang, wie ihn Kinder sich ausdenken. Anders und Kalle aber wurden stocksteif, als sie es hörten. Sie standen wie angenagelt. Dann aber nahmen sie sich zusammen und kniffen sich wie unabsichtlich ins Ohrläppchen – das geheime Zeichen der Weißen Rose dafür, daß eine Botschaft verstanden worden war.
»Na, beeilt euch!« sagte der Mann am Fenster ungeduldig.
Unschlüssig standen die beiden. Aber plötzlich drehte sich Kalle um und ging mit raschen Schritten auf ein Gebüsch zu, das in der Nähe war.
»Wo willst du hin?« schrie der Mann im Fenster ärgerlich.
»Willst du nicht dabeisein, wenn es Geld zu verdienen gibt?«
»Na klar«, sagte Kalle ruhig. »Aber deshalb darf man doch die natürlichen Bedürfnisse nicht vergessen, meine ich.«
Der Mann biß sich auf die Lippen. »Beeil dich!« schrie er.
»Ja, ja, werde ich machen«, rief Kalle zurück.
Es dauerte eine ganze Weile. Dann aber kam er doch wieder, demonstrativ seine Hosen zuknöpfend.
Anders stand noch auf demselben Platz. Bei ihm war nicht der Schatten des Gedankens aufgetaucht, Eva-Lotte etwa im Stich zu lassen. Er mußte zu ihr in das Haus hinein, wo sich der Mörder befand; aber er wollte Kalle dabei haben. Und nun gingen sie hinein. Anders ging vor zu Eva-Lotte und legte seinen Arm um ihre Schulter. Er sah auf ihre Armbanduhr, und dann sagte er:
»Donner noch mal, ist das aber spät! Wir müssen nach Haus, aber schnell!« Er nahm Eva-Lotte an die Hand und ging mit ihr zur Tür.
»Ja, ich glaube auch, das Geld, von dem Sie sprachen, verdienen wir uns wohl besser ein andermal«, meinte Kalle. »Jetzt müssen wir rennen.«
Wenn sie aber dachten, der große Klaus hätte nichts dagegen, so irrten sie sich. Plötzlich stand er vor der Tür und hinderte sie.
»Moment mal«, sagte er. »So eilig habt ihr es doch nicht!«
Er fühlte mit der Hand in seine Gesäßtasche. Ja, er war dort.
Seit dem Mittwoch im Juli trug er ihn immer bei sich – für alle Fälle. Die Gedanken jagten sich in seinem Kopf. Es gab kein Zurück mehr. Er hatte ein hohes Spiel begonnen und mußte es zu Ende spielen, auch wenn es noch ein paar Menschenleben kosten sollte.
Als er die drei Kinder vor sich ansah, haßte er sie für das, was zu tun er gezwungen war. Aber er konnte keine drei Zeugen brauchen, die hingingen, um auszusagen, wie der Mann aussah, der ihnen den Schuldschein weggenommen hatte. Nein, sie sollten niemals Gelegenheit bekommen, etwas darüber zu erzählen.
Dafür wollte er sorgen, wenn es ihm auch fast übel war vor Schreck. Zuerst mußte er jetzt wissen, wer von ihnen das Papier hatte, damit er nicht noch lange in ihren Taschen herumzusu-chen brauchte – nachher.
»Hört mal«, sagte er, und seine Stimme war heiser und unklar, »gebt das Papier her, das ihr da vorhin gefunden habt. Ich will es haben – aber schnell.«
Die drei vor ihm gafften vor Erstaunen. Sie hätten nicht erstaunter sein können, wenn er gesagt hätte: »Los, singt: ›Bäh, bäh, weißes Lamm‹!« Man hatte ja schon von wahnsinnigen Mördern gehört; aber nicht einmal ein Wahnsinniger konnte doch Spaß an der Landkarte der Roten Rosen mit dem Hinweis »Grabt hier«
haben.
Natürlich, eigentlich konnte er die Landkarte getrost bekommen, wenn er so wild danach war, dachte Anders, der die Karte in seiner Hosentasche fühlte. Man konnte sie ihm ja geben.
In wirklich kritischen Situationen aber war es trotz allem der Meisterdetektiv Blomquist, der am schnellsten dachte. Im Laufe einer kurzen Sekunde ging ihm auf, was für ein Papier es war, von dem der Mann dachte, daß sie es hätten. Und noch mehr stand im selben Moment ganz klar vor Kalle. Dieser Mann hatte kaltblütig einen Menschen niedergeschossen, und gewiß war er auch jetzt bewaffnet. Die Zeugin Eva-Lotte hatte er durch vergiftete Schokolade aus dem Weg räumen wollen. Kalle begriff, wie gering ihre Chancen waren, lebend von hier wegzukommen.
Wenn Anders jetzt die Karte aus der Tasche nehmen würde und wenn es ihnen auch glücken würde, den Mörder davon zu überzeugen, daß sie nie im Leben seinen Revers gesehen hatten, so waren sie doch verloren. Der Mörder wußte sicher, daß er sich durch seine heftigen Fragen verraten hatte, und Kalle begriff, daß, wenn er damals versucht hatte, einen Zeugen loszuwerden, er noch weniger zulassen würde, daß es drei gab, die lebend umherliefen und ihn identifizieren konnten. Darüber dachte Kalle nicht in klaren, deutlichen Worten; aber es befand sich als Bewußtsein innen in seinem Gehirn. Und diese Bewußtheit machte ihn ohnmachtsreif vor Angst. Aber er sagte wütend zu sich selbst: Du hast nachher Zeit, Angst zu haben – wenn es ein Nachher noch gibt!
Es galt, Zeit zu gewinnen, oh, nur Zeit mußte gewonnen werden!
Anders wollte gerade die Karte aus seiner Taschen ziehen, als er plötzlich einen Puff von Kalle bekam.
»Non ei non«, zischte Kalle. »Lol a ßoß sos ei non!«
»Hört ihr nicht, was ich sage?« fragte der große Klaus böse.
»Wer von euch hat das Papier?«
»Wir haben es nicht hier«, sagte Kalle ruhig.
Anders fand wohl, es wäre besser gewesen, dem Mann das Papier zu geben. Dann hätten sie vielleicht gehen dürfen. Aber er wußte auch, daß Kalle es besser gewohnt war, mit kriminellen Personen umzugehen, und deshalb schwieg er.
Der Mann an der Tür wurde vollkommen wild über Kalles Worte. »Wo habt ihr es?« schrie er. »Her damit! Schnell! Sofort!«
Kalle überlegte, so schnell er konnte. Wenn er jetzt sagte, das Papier sei auf dem Polizeirevier oder zu Hause bei Eva-Lotte oder weit draußen irgendwo auf der Prärie, so war wahrscheinlich sofort alles aus. Er begriff, daß sie sich so lange sicher fühlen konnten, wie der Mörder noch Hoffnung hatte, das Papier rechtzeitig zu bekommen.
»Wir haben es im oberen Stockwerk«, sagte er zögernd.
Der große Klaus zitterte vor Erregung am ganzen Körper. Er zog den Revolver aus der Tasche. Eva-Lotte schloß die Augen.
»Beeilt euch!« schrie er. »Vielleicht hilft euch dies hier, ein wenig Tempo in die Beine zu legen!«
Und er trieb sie vor sich her aus dem Zimmer.
»Gog e hoh tot lol a non gog sos a mom«, sagte Kalle leise.
»Pop o lol i zoz ei kok o mom mom tot bob a lol dod!«
Anders und Eva-Lotte sahen ihn verwundert an. Wie sollte die Polizei bald kommen? Glaubte er, sie durch Gedankenüber-tragung hierher zu lenken? Aber sie gehorchten und gingen langsam. Sie zogen die Beine nach, stolperten über Türschwel-len, und Anders rutschte aus und sauste rückwärts die Treppe hinunter wie vor tausend Jahren, als sie gerade an derselben Stelle mit den Roten gekämpft hatten.
Ihre Langsamkeit brachte den großen Klaus außer Rand und Band. Er war so nahe an der Grenze, die Nerven zu verlieren, daß er fürchtete, es jetzt schon zu tun – das, was er tun wollte. Aber er mußte zuerst den Schuldschein haben. Oh, wie er diese Kinder haßte! Die wußten anscheinend nicht einmal mehr, in welcher Ek-ke sie das Papier versteckt hatten. Langsam, ganz langsam trödel-ten sie sich von dem einen Zimmer in das andere und sahen sich um und sagten dann nachdenklich: »Nein, hier war es nicht.«
Eine verwilderte Viehherde wäre leichter vor sich her zu treiben gewesen. Die verdammten Satanskinder blieben stehen, um sich die Nasen zu putzen oder um sich zu kratzen oder um zu weinen – ja, es war natürlich das Mädchen, das weinte.
Dann kamen sie in ein kleines Zimmer mit herunterhängen-der Tapete. Und Eva-Lotte schluchzte auf, als ihr einfiel, wie sie und Kalle hier eingeschlossen gewesen waren vor langer Zeit, damals, als sie noch jung und glücklich waren.
Kalle sah prüfend an den Wänden entlang.
»Nee, hier war es doch wohl nicht«, sagte er.
»Nee, hier war es sicher nicht«, sagte Anders.
Dieses Zimmer war aber das letzte im ganzen oberen Stockwerk, und der große Klaus stieß einen unartikulierten Schrei aus.
»Glaubt ihr, ihr könnt mich zum Narren halten?« schrie er los. »Glaubt ihr, daß ich nicht merke, wie ihr mich an der Nase herumführt? Aber jetzt sollt ihr mal auf mich hören, sage ich euch! Ihr holt sofort das Papier raus. Jetzt sofort. Und wenn ihr vergessen habt, wo es ist, wird es für euch am schlimmsten. Bekomme ich es nicht in genau fünf Sekunden, schieße ich euch alle drei nieder.«
Er stand mit dem Rücken zum Fenster und zielte auf sie. Kalle verstand, daß er es ernst meinte und daß seine Taktik nun nicht mehr taugte. Er nickte Anders zu. Anders ging hinüber zu der Wand, an der die Tapete in Fetzen herunterhing. Die Hand, die er in der Tasche hielt, zog er heraus und steckte sie hinter die Tapete. Als er sie nach einem Augenblick wieder hervornahm, hatte er ein Papier zwischen den Fingern.
»Hier ist es ja«, sagte er.
»Das ist gut«, sagte der große Klaus. »Bleibt dort dicht beieinander stehen. Und du streckst deine Hand aus und gibst mir das Papier.«
»Wow e ror fof tot eu choch zoz u Bob o dod e non, wow e non non i choch non ie sos e«, sagte Kalle zungenzerbrechend.
Anders und Eva-Lotte faßten sich an die Ohrläppchen zum Zeichen, daß sie verstanden hatten.
Der große Klaus hörte zwar, daß eines der Kinder eine Art Kauderwelsch redete; was es aber war, interessierte ihn nicht. Er wußte, daß er nun bald damit fertig war. Wenn er erst das Papier hatte, sollte es geschehen. Er streckte seine Hand nach dem Papier aus, das Anders ihm entgegenhielt, und hatte die ganze Zeit seinen Revolver in Bereitschaft. Aber seine Finger zitterten, als er mit nur einer Hand versuchte, den zusammengeknüllten Schuldschein zu glätten.
Schuldschein? Welcher Schuldschein? »Grabt hier« – das ist ja wohl nicht gerade das, was man auf einem Revers zu finden glaubt. Sein Verstand setzte eine halbe Sekunde aus, und genau da hörte man Kalle kräftig niesen. Im selben Augenblick warfen sich die drei auf den Boden. Kalle und Anders schmissen sich nach vorn und bekamen die Beine vom großen Klaus zu fassen.
Er plumpste zu Boden und schrie, als er fiel. Der Revolver rollte ihm aus der Hand, und Kalle hatte ihn im Bruchteil einer Se-
kunde, bevor der Gegner sich recht besinnen konnte, an sich gerissen und war aufgesprungen.
Das war also so eine Gelegenheit, wo der Meisterdetektiv Blomquist einen Mörder entwaffnete. So etwas tat er ja oft –und stets mit der gleichen Eleganz. Und dann pflegte er lässig den Revolver auf den Verbrecher zu richten und zu sagen:
»Vorsicht in der Kurve, mein Guter!«
Und so geschah es jetzt wohl auch? Nein, so geschah es nicht.
In voller Panik nahm er das häßliche schwarze Ding und warf es aus dem Fenster, so daß die Glassplitter flogen. Das war es, was er tat. Und das war doch wohl schlecht bedacht von einem Meisterdetektiv. Einen Revolver zur Hand zu haben, wäre doch sicher gut gewesen. Die Wahrheit war aber, daß dem Meisterdetektiv jetzt himmelangst war vor allem, was sich Schußwaffe nannte, sein Katapult ausgenommen. Vielleicht tat er auch ganz recht. Ein Revolver in der Hand eines zitternden Jungen ist wohl doch nicht die geeignete Drohung einem Mörder gegen-
über. Die Rollen wären sicher sofort wieder getauscht worden.
Und darum war es besser, der Revolver lag für beide außer Reichweite. Der große Klaus war inzwischen aufgesprungen und starrte verwirrt und mit wildem Blick aus dem Fenster, seine Waffe suchend. Das war sein größter und schlimmster Fehler, und die drei Ritter der Weißen Rose zögerten nicht, ihn auszunutzen. Sie sausten zur Tür. Der einzigen Tür im Haus, die wirklich zu verschließen war – das wußten sie ja aus eigener bitterer Erfahrung.
Der große Klaus war ihnen auf den Fersen. Aber sie schafften es im letzten Augen blick und preßten die Tür zu und setzten ihre Füße dagegen, so daß Kalle den Schlüssel umdrehen konnte. Sie hörten Gebrüll hinter der Tür und wildes Klopfen. Kalle nahm sicherheitshalber den Schlüssel heraus für den Fall, daß zufällig der Mörder auch wußte, wie man eine von außen abgeschlosse-ne Tür von innen öffnen konnte.
Sie rasten die zierliche Treppe hinunter, immer noch angst-gehetzt und am ganzen Körper zitternd. Zugleich quetschten sie sich durch die Außentür. Sie rannten besinnungslos. Aber Kalle sagte beinahe weinend: »Wir müssen den Revolver holen.«
Die Mordwaffe mußte sichergestellt werden, das war klar. Im selben Augenblick aber, als sie sich umwandten, geschah es. Etwas kam aus dem geöffneten Fenster gesaust und landete genau vor ihnen. Der große Klaus war gesprungen. Es war ein Sprung aus sieben Meter Höhe; aber in seiner Raserei hatte er diese Kleinigkeit nicht bedacht. Jetzt würde er ohne viel Lamento handeln.
Da hörte er eine Stimme, in der Tränen und Jubel miteinander um den Vorrang kämpften. Es war das Mädchen, das schrie: »Die Polizei! Da kommen sie! Schnell, beeilt euch! Kommt! Onkel Björk! Schnell, hierher!«
Er sah über die Prärie. Tatsächlich, bei allen schwarzen Mächten, da kamen sie, in ganzen Scharen!
Zu spät, die Kinder zum Schweigen zu bringen. Aber vielleicht noch nicht zu spät zum Fliehen. Er schnaufte vor Angst.
Zu seinem Auto! Sich hineinwerfen! Aufdrehen und losrasen!
Weit weg, in ein anderes Land!
Er lief in der Richtung zu seinem Wagen. Er holte das Letzte aus seinen Beinen heraus. Denn dort kamen sie hinter ihm her, die Polizisten, genau wie in seinen schrecklichen Träumen.
Aber sein Vorsprung war gut. Wenn er nur erst am Auto war …
Da, da stand seine Rettung! Er fühlte einen wilden Triumph in der Brust, als er die letzten Meter in langen Sprüngen nahm. Er würde durchkommen …
Er drehte den Zündschlüssel, und der Motor lief an. Adieu alle, die ihn halten wollten!
Aber das Auto bewegte sich mit dumpfem Gepolter mühevoll wie eine Schnecke vorwärts. Er stieß einen Fluch zwischen den Zähnen hervor. Als er sich aus dem Wagen beugte, sah er es: Seine Reifen waren platt!
Die Verfolger näherten sich immer mehr. Er sprang aus dem Auto. Er hätte schießen können, aber er tat es nicht. Sie würden ihn trotzdem fassen, das wußte er. In seiner Nähe standen einige Büsche, und dicht dahinter war ein Pfuhl, der trotz der Dürre des Sommers mit schlammigem Wasser gefüllt war. Dorthin lief er. Und in die morastige Tiefe versenkte er den Revolver. Die Mordwaffe sollten sie nicht finden. Dieses Beweisstück sollte nicht gegen ihn zeugen.
Dann lief er in einem großen Bogen zum Weg zurück. Dort blieb er stehen und wartete. Er war jetzt bereit. Nun konnten sie ihn haben.
Der verhaftete junge Mann, der nach Eva-Lottes Aussagen der Mörder war, leugnete hartnäckig und geschickt, jemals etwas mit Gren zu tun gehabt, ja, ihn überhaupt gekannt zu haben.
Seine Spielerei mit den Kindern sei nicht böse gemeint gewesen
– ja, sicherlich etwas dumm, und er habe sie wohl erschreckt, das gebe er zu. Wo sein Revolver sei? Ja, das würde er selbst gern wissen … eine gute Waffe, von seinem Vater geerbt … sicher habe eins der Kinder ihn genommen … Grüne Gabardinehosen seien in seinem Schrank gefunden worden? Ja, er habe nie gehört, daß es verboten sei, solche zu tragen … Und seinen Bart habe er sich abrasiert, weil er ihm langweilig geworden war. Er könnte es nicht ändern, daß am Tage davor ein armer Greis erschossen worden war.
Er hatte den Mut, so lange zu lügen, bis der Kommissar beinahe die Geduld verlor. Der große Bruder Klaus war aus hartem Holz. Ja, großer Bruder Klaus – ein eigenartiger Zufall wollte es, daß er tatsächlich Klaus mit Vornamen hieß. Eva-Lotte hatte ihn richtig getauft.
Die dramatischen Ereignisse draußen im Herrenhof hatten Störungen im Krieg der Rosen zur Folge. Wieder einmal hatte die Angst die Mütter ergriffen. Wieder einmal bekamen die Kinder strenge Anweisung, sich im Haus zu halten. Und diese selbst waren noch so angegriffen, daß sie kaum Lust zu etwas verspür-ten.
Sie saßen im Garten des Bäckermeisters, die Roten und die Weißen Rosen, und gingen noch einmal in der Erinnerung die entsetzlichen Minuten auf der Prärie durch. Und Kalle bekam wieder und wieder Lobesworte für seine Klugheit zu hören; denn das war doch wohl der Gipfel der Klugheit, sich das mit dem »natürlichen Bedürfnis« auszutüfteln! Er hatte gewußt, daß die Roten unterwegs waren, und sie auch gesehen, wie sie sich in den Büschen herumdrückten. Deshalb war er ihnen entge-gengerannt, so schnell er konnte, und hatte ihnen den kurzen, aber unmißverständlichen Befehl gegeben:
»Der Mörder ist im Herrenhof! Lauft und holt die Polizei!
Und einer von euch rennt zu seinem Auto an der Wegbiegung und schraubt alle Ventile aus den Reifen und versteckt sie.«
Während die Geduld des Kommissars nach einem weiteren Verhörtag mit dem großen Klaus erneut um einige Grade gesunken war, saß Benka friedlich zu Hause und war mit seiner Briefmarkensammlung beschäftigt. An diesem regnerischen Nachmittag konnte man sich, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, friedlichen Innenraumbeschäftigungen hingeben, und Benka gab sich seinen Briefmarken hin. Er betrachtete sie liebe-voll. Er hatte eine fast vollständige Serie schwedischer Marken und wollte gerade eine Anzahl von Neuerwerbungen einkleben, als sein Blick auf einen zerknitterten Umschlag fiel. Ach ja, das hatte er ja vor Lisanders Garten gefunden, vor einiger Zeit.
Benka hatte den Umschlag aufgehoben, weil er eine neue, soeben herausgegebene Marke, die er noch nicht hatte, darauf sah.
Nun glättete er den Umschlag zum erstenmal. Er hatte ihn vor-dem einfach so, wie er war, in den Karton gelegt, wo er seine Marken aufbewahrte.
»Fräulein Eva-Lotte Lisander« stand in Maschinenschrift auf dem Umschlag. Ja, sie hatte sehr viel Post gehabt in letzter Zeit, die Eva-Lotte. Er sah in den Umschlag hinein. Natürlich leer!
Als er die Marke noch einmal sah, freute er sich. Sie war wirklich sehr schön. Wo der Brief abgesandt war, konnte man nicht sehen. »B. P.« stand auf dem Stempel. Das bedeutete »Bahn-post«. Das Datum aber konnte man deutlich erkennen.
Und plötzlich kam ihm wie der Blitz ein Gedanke. Wenn das nun der Umschlag war, nach dem die Polizei so sehr gesucht hatte? Mal sehen … Der Tag, als die Weißen in der Laube gesessen hatten und Sixtus ihn ausgeschickt hatte, die Weißen zu reizen, – war das nicht der Tag, an dem Eva-Lotte die Schokolade bekommen hatte? Ja, klar, das war der Tag! Und an dem Tag hatte er auch den Umschlag gefunden. Was für eine Nuß er doch war, nicht schon früher den Umschlag etwas genauer anzusehen!
In zwei Minuten war er bei Sixtus, der auch zu Hause saß. Er spielte Schach mit Jonte. Und in zwei Minuten waren sie alle bei Eva-Lotte, die auch zu Hause saß. Oben auf dem Bäckereiboden mit Anders und Kalle. Sie hörten sich an, wie der Regen auf das Dach tropfte, und lasen Witzblätter. Und in zwei Minuten waren die sechs auf dem Polizeirevier. Aber es kostete die Durchnäßten beinahe eine Viertelstunde, hineinzugelangen, um Onkel Björk und dem Kriminalkommissar klarzumachen, weshalb sie gekommen waren.
Der Kommissar betrachtete den Umschlag durch die Lupe.
Der Buchstabe t war deutlich sichtbar auf der Schreibmaschine, die man zur Beschriftung benutzt hatte, fehlerhaft. Jedes t hatte eine winzige Scharte.
»Kinder sind wie Hunde«, schmunzelte der Kommissar, als die sechs gegangen waren. »Sie schnüffeln überall umher und wühlen in einer Menge Plunder rum, aber dann, hast du nicht gesehen, kommen sie doch mit etwas Genießbarem nach Haus!«
Der Umschlag erwies sich als in hohem Maße genießbar. Der große Klaus hatte tatsächlich eine Schreibmaschine, und als festgestellt wurde, daß der Buchstabe t auf seiner Maschine den-selben Fehler aufwies wie die entsprechenden Buchstaben auf dem Umschlag, hielt der Kommissar die Zeit für reif, ihn unter Mordanklage zu stellen. Aber nach wie vor weigerte sich der Verhaftete, zu gestehen. Man war gezwungen, ihn auf Indizien hin anzuklagen.
Sixtus hatte eine neue Karte mit einem neuen »Grabt hier« angefertigt. Und eines schönen Abends kam er und übergab sie den Rittern der Weißen Rose, die vollzählig im Garten des Bäk-kermeisters versammelt waren.
»Grabt hier«, sagte Anders, als Sixtus ihm die Karte in die Hand steckte. »Ja, das sagst du. Aber was wird dein Vater sagen, wenn wir seinen Rasen umpflügen?«
»Wer hat gesagt, daß es Rasen ist? Folgt ihr nur der Karte, und ich garantiere dafür, daß kein Vater schimpfen wird. Benka und Jonte und ich, wir sausen jetzt. Wir werden inzwischen baden gehen.«
Die Weißen zogen zum Garten des Postdirektors. Sie rechneten die Abstände aus und verglichen mit der Skizze auf der Karte und kamen schließlich dahinter, daß die Kassette in einem alten, fast völlig zugewachsenen Erdbeerbeet eingegraben sein mußte. Munter begannen sie zu graben, und bei jedem Stein, an den sie stießen, jubelten sie laut auf in dem Glauben, es sei die Kassette, die von einem Spaten getroffen war. Aber jedesmal wurden sie enttäuscht und gruben von neuem, so daß der Schweiß nur so rann. Als sie schließlich fast das ganze Erdbeerbeet durchgeackert hatten, sagte Kalle plötzlich mit einem Seufzer:
»Na endlich, hier haben wir sie.« Und er grub die Finger in den Sand und holte die erdige Kassette hervor, die so heimtük-kisch in die äußerste Ecke verlagert worden war.
Anders und Eva-Lotte warfen ihre Spaten beiseite und eilten hinzu. Vorsichtig säuberte Eva-Lotte mit dem Taschentuch ihren kostbaren Reliquienschrein, und Anders nahm den Schlüssel, den er an seinem Hals trug, heraus. Die Kassette war so unheimlich leicht. War es denkbar, daß die Roten einen falschen Schlüssel benutzt und einige der Kostbarkeiten einfach gestohlen hatten? Um sich zu überzeugen, öffneten sie schnell ihre Kassette.
Tatsächlich, da lagen keine Geheimdokumente und Kostbarkeiten mehr. Da lag nur ein Zettel, beschrieben mit der verab-scheuungswürdigen Handschrift von Sixtus. Und der Zettel enthielt folgende Aufforderung:
»Grabt hier mehr! Macht weiter, wie Ihr angefangen habt!
Ihr braucht nur noch ein paar tausend Meilen zu graben, dann kommt Ihr in Neuseeland raus. Dort könnt Ihr dann bleiben!«
Die Weißen stießen einen Ruf der Verbitterung aus. Und hinter der Hecke hörte man ein entzückt gluckerndes Lachen.
Sixtus, Benka und Jonte kamen hervor.
»Ihr Lümmel, wo habt ihr unsere Urkunden gelassen?«
schrie Anders sie an.
Sixtus schlug sich auf die Knie und lachte erst ausgiebig, bevor er antwortete.
»Maulwürfe!« sagte er. »Glaubt ihr, wir haben irgendein Interesse an euren schmierigen Urkunden? Die liegen unter all dem anderen Plunder in eurer Kommodenschublade. Aber ihr hört ja weder noch seht ihr.«
»Nein, sie graben nur und graben und graben«, sagte Jonte.
»Ja, graben könnt ihr großartig«, lobte Sixtus. »Wie wird Vater zufrieden sein, wenn er mich nicht mehr mit dem Umgraben dieses alten Erdbeerbeetes zu quälen braucht! Ich hatte nämlich in der Sommerwärme keine rechte Lust dazu.«
»Na, du hast ja wahrscheinlich auch Blasen an den Händen, seit du so tüchtig nach dem Großmummrich gegraben hast«, vermutete Kalle.
»Das wird euch teuer zu stehen kommen, meine Herren«, sagte Anders.
»Ja, darauf könnt ihr die Kurve nehmen«, sagte Eva-Lotte.
Sie schüttelte das erdige Taschentuch aus und stopfte es wieder in ihre Tasche. Da steckte schon etwas, ganz unten in der Tiefe der Tasche. Es war ein Stück Papier. Sie nahm es heraus und sah es an. »Revers« stand ganz oben. Eva-Lotte lachte auf.
»Nee, kann man sich so etwas vorstellen!« sagte sie. »Hier steckt doch dieser olle Revers! Die ganze Zeit über muß er schon hier gesteckt haben, während alle möglichen Leute drau-
ßen auf der Prärie zwischen den Büschen rumkrochen und danach suchten. Habe ich es nicht immer gesagt – es ist irgendwie blödsinnig mit Reversen!«
Sie sah sich das Papier genauer an. »Klaus«, sagte sie. »Ja, stimmt. Übrigens hat er eine ganz nette Handschrift.«
Dabei knitterte sie das Papier wieder zu einem Ball zusammen und warf es ins Gras, wo der Sommerwind damit zu spielen begann. »Nun ist er ja verhaftet«, sagte sie. »Jetzt ist es ja gleich, was für eine Handschrift er hat.«
Kalle schrie auf und warf sich über das kostbare Papier. Er sah Eva-Lotte vorwurfsvoll an: »Ich will dir mal etwas sagen, Eva-Lotte. Es wird einmal sehr unglücklich mit dir enden, wenn du nicht endlich damit aufhörst, so mit wichtigen Papieren umherzuwerfen.«
»Ei non Hoh o choch dod e non Ror o tot e non Ror o sos e non«, sagte Sixtus mit einiger Anstrengung. »Eigentlich eine verflixt einfache Sprache, wenn man darüber nachdenkt.«
»Ja, das kannst du jetzt sagen, wo du den Trick kennst«, sagte Anders lachend.
»Und außerdem müßt ihr noch lernen, sie viel, viel schneller zu sprechen« sagte Kalle.
»Ja, nicht einen Buchstaben heute und einen morgen«, stichelte Eva-Lotte. »Die Rors müssen nur so knattern!«
Wieder saßen sie alle auf dem Bäckereiboden, die Ritter der Weißen und die der Roten Rose. Die Roten hatten soeben ihre erste Lektion in der Räubersprache bekommen. Bei näherer Überlegung hatten nämlich die Weißen eingesehen, daß es ein Gebot der Nächstenliebe war, die Roten in das Geheimnis ihrer Sprache einzuweihen. Der Nutzen durch die Kenntnisse in fremden Sprachen kann nicht hoch genug gewertet werden, pflegte ja auch der Lehrer in der Schule stets zu sagen. Oh, wie hatte er recht! Denn wie wären wohl Anders, Kalle und Eva-Lotte im Herrenhof klargekommen, wenn sie nicht die Räubersprache beherrscht hätten! Kalle hatte einige Tage darüber nachgedacht und schließlich zu Eva-Lotte und Anders gesagt:
»Wir können es einfach nicht verantworten, die Roten in einer so bodenlosen Unwissenheit leben zu lassen. Es muß glatt schiefgehen, wenn sie mal mit Mördern zu tun haben.«
Und deshalb hatten die Weißen nun ihren Sprachunterricht auf dem Bäckereiboden gestartet. Sixtus hatte ein wunderbar schlechtes Zeugnis in Englisch, und eigentlich hätte er von morgens bis abends ununterbrochen englische Grammatik üben müssen. Aber er hielt es für wichtiger, sich ganz der Räubersprache zu widmen.
»Englisch kann jeder Mörder«, sagte er. »Davon hat man also keinen besonderen Nutzen. Ohne die Räubersprache aber ist man glatt verkauft.« Und folglich saßen er und Benka und Jonte stundenlang zwischen dem Plunder auf dem Bäckereiboden und trainierten mit rührendem Eifer.
Der Sprachunterricht wurde durch Eva-Lottes Vater unterbrochen, der von der Bäckerei her die Treppe emporgeklettert war. Er hielt einen Teller mit frisch gebackenen Schnecken in der Hand, reichte ihn Eva-Lotte und sagte: »Schutzmann Björk hat eben angerufen. Der Großmummrich ist zurückgekommen.«
»Fof ei non«, sagte Eva-Lotte entzückt und nahm sich eine Schnecke. »Kommt, wir flitzen zum Polizeirevier!«
»Fof ei non, non a tot ü ror lol i choch«, sagte der Bäckermeister. »Aber verfahrt in Zukunft etwas vorsichtiger mit dem Großmummrich!«
Alle Ritter der Weißen und der Roten Rose beteuerten, daß sie in Zukunft vorsichtiger verfahren würden, viel vorsichtiger. Und gemächlich stieg der Bäckermeister wieder die Treppe hinunter,
»Übrigens dieser Klaus – das wollte ich euch noch erzählen –, der hat endlich gestanden«, sagte er noch, bevor er ganz entschwand.
Ja, der große Klaus hatte gestanden. Die Beweiskraft des Schuldscheins mit seiner Unterschrift konnte er nicht bestreiten.
»Der Großmummrich?« sagte Schutzmann Björk zögernd, als die sechs Rosen kamen und begehrten, das Kleinod ausgeliefert zu erhalten. »Der Großmummrich ist nicht hier.«
Sie starrten ihn entgeistert an. Was meinte er? Hatte er nicht eben noch selbst angerufen und gesagt, er wäre zurückgekommen?
Björk sah sie ernst an. »Sucht hoch über der Erde«, sagte er mit feierlicher Stimme. »Laßt die Vögel des Himmels euch den Weg weisen. Fragt die Krähen, ob sie den ehrwürdigen Großmummrich gesehen haben!«
Ein verklärtes Lächeln breitete sich über die jungen Gesichter der Rosen aus. Und Jonte sagte unter zufriedenem Glucksen:
»Fof ei non! Der Kampf geht weiter!«
»Der Kampf geht weiter!« sagte Benka entschlossen.
Eva-Lotte sah anerkennend auf Schutzmann Björk, der dort saß und so gut aussah in seiner Uniform und der versuchte, sein gutmütiges Großejungengesicht in ernsthafte Falten zu legen.
»Onkel Björk«, sagte sie, »wenn du nicht so ungeheuer alt wärst – Onkel Björk, du könntest direkt den Krieg der Rosen mitmachen.«
»Ja, Onkel Björk wäre eine feine Rote Rose«, sagte Sixtus.
»Kaum«, sagte Anders. »Eine Weiße!«
»Bloß nicht, nein!« wehrte Schutzmann Björk ab. »An so lebensgefährliche Sachen wage ich mich nicht heran. Die ruhige, sichere Arbeit eines Polizeimannes paßt viel besser zu mir ungeheuer altem Mann!«
»Bah, man muß doch auch mal gefährlich leben«, sagte Kalle mit Überzeugung und wölbte die Brust vor.
Einige Stunden später lag er in seiner Lieblingsstellung unter dem Birnbaum und dachte über dieses »Gefährlich-Leben«
nach. Er dachte nach und starrte so beharrlich hinauf in die ziehenden Sommerwolken, daß er kaum bemerkte, wie sein erdachter Zuhörer vorsichtig angeschlichen kam und sich zögernd neben ihn setzte.
»Stimmt es, Herr Blomquist, Sie haben da schon wieder einen Mörder festgesetzt?« fragte er einschmeichelnd.
Da plusterte plötzlich die helle Wut in Kalle Blomquist hoch.
»Habe ich?« fragte er und starrte böse auf den erdachten Zuhörer, der sich nicht fernhalten konnte. »Reden Sie nicht so dummes Zeug! Ich habe keinen Mörder festgesetzt. Die Polizei hat das getan, weil das ihre Arbeit ist. Ich gedenke auch in meinem ganzen Leben keinen Mörder festzusetzen. Ich gedenke mit der Detektiverei Schluß zu machen. Man bekommt nur einen Haufen Ärger davon.«
»Aber ich dachte, Herr Blomquist, Sie lieben es, gefährlich zu leben?« sagte der erdachte Zuhörer, und es hörte sich, ehrlich gesagt, ein wenig vorwurfsvoll an.
»Als ob ich nicht trotzdem gefährlich leben kann!« sagte der Meisterdetektiv. »Junger Freund, Sie sollten nur ahnen, wie es im Krieg der Rosen zugeht …«
Hier wurde der Fluß seiner Gedanken jäh durch einen Pflaumenstein unterbrochen. der seinen Kopf traf. Mit der Schlauheit eines Meisterdetektivs rechnete er sich sofort aus, daß ein Pflaumenstein nicht gut von einem Birnbaum herunter-fallen kann, und wandte sich suchend nach dem Täter um.
Anders und Eva-Lotte standen am Zaun.
»Wach auf, der du dort schläfst!« schrie Anders. »Wir wollen den Großmummrich erjagen!«
»Und weißt du, was wir glauben?« rief Eva-Lotte. »Wir glauben, daß Onkel Björk ihn auf dem Aussichtsturm im Stadtpark versteckt hat. Du weißt doch, wie viele Krähen dort zur Zeit hausen.«
»Pop ror i mom i sos sos i mom a!« schrie Kalle begeistert.
»Die Rötlichen schlagen uns zu Brei, wenn wir ihn zuerst finden«, sagte Anders.
»Das ist egal«, meinte Kalle. »Man muß doch auch mal gefährlich leben!«
Fragend sah Kalle seinen erdachten Zuhörer an. Verstand er nun endlich, daß man gefährlich leben konnte, ohne Meisterdetektiv zu sein? Heimlich winkte er einen Abschiedsgruß zu dem netten jungen Mann hinüber, der noch dastand und ihn genauso bewundernd ansah wie immer.
Dann trommelten Kalles nackte braune Füße fröhlich auf den Gartenweg, als er hinauslief zu Anders und Eva-Lotte. Und sein erdachter Zuhörer verschwand – verschwand so still und un-merklich, als hätte ihn der leichte Sommerwind verweht.