BAND DREI. Kalle Blomquist, Eva-Lotte und Rasmus

ERSTES KAPITEL




»Kalle! Anders! Eva-Lotte! Seid ihr da?«

Sixtus sah zum Bäckereiboden hinauf und wartete, ob jemand von den Weißen Rosen den Kopf aus der Luke stecken und auf seinen Ruf antworten würde.

»Darf man fragen, warum ihr nicht da seid?« schrie Jonte, als sich im Hauptquartier der Weißen nichts regte.

»Seid ihr wirklich nicht da?« wunderte sich Sixtus, diesmal sehr ungläubig.

In der Bodenluke wurde Kalle Blomquists strohgelber Kopf sichtbar. »Nein, wir sind nicht hier«, versicherte er in aller Ruhe. »Wir tun nur so.«

Die feine Ironie dieser Sätze war an Sixtus einfach verschwendet. »Was macht ihr?« wollte er wissen.

»Ja, was meinst du?« fragte Kalle. »Glaubst du, wir spielen Vater, Mutter, Kind?«

»Euch kann man doch alles zutrauen«, entgegnete Sixtus.

»Sind Anders und Eva-Lotte auch oben?« Zwei andere Köpfe tauchten in der Bodenluke auf.

»Nein, wir sind auch nicht hier«, sagte Eva-Lotte. »Was wollt ihr übrigens, ihr Roten?«

»Ach, euch nur so ein wenig auf den Kopf klopfen«, sagte Sixtus sanft.

»Und endlich wissen, was mit dem Großmummrich werden soll«, ergänzte Benka.

»Oder sollen etwa die ganzen Sommerferien draufgehen, ehe ihr euch entscheiden könnt?« brummte Jonte. »Habt ihr ihn nun versteckt oder nicht?«

Anders rutschte am Seil hinab, dem Seil, das die Weißen Rosen stets benutzten, um schnell von ihrem Boden-Hauptquartier auf die Erde zu kommen.

»Klar, daß wir den Großmummrich versteckt haben«, sagte er. Er ging auf den Chef der Roten Rosen zu, sah ihm ruhig ins Gesicht und sprach, jedes Wort betonend:

»Schwarz und weiß der Vogel, baut ein Nest, nicht weit von öder Burg. Sucht heute nacht!«

»Läusepudel!« war das einzige, was der Rote Chef auf diese nachdrückliche Mahnung erwiderte. Aber er nahm sofort seine Getreuen mit an einen geschützten Platz hinter den Johannis-beerstäuchern, um sich mit ihnen zu beraten.

»Bah, das ist natürlich ’ne Elster«, rief Jonte. »Der Großmummrich liegt in einem Elsternnest! Das kann sich doch ein Säugling an den zehn Fingern ausrechnen.«

»Ja, ja, kleiner Jonte, das kann sich ein Säugling ausrechnen«, rief Eva-Lotte vom Bäckereiboden herunter. »Sogar ein so kleiner, winziger Säugling wie du kann sich das ausrechnen.«

»Kann ich nicht schnell einmal Urlaub haben, um sie zu verprügeln, Chef?« fragte Jonte.

Aber Sixtus hielt den Großmummrich für das Wichtigste auf der Welt, und Jonte mußte auf seine Strafexpedition verzichten.

»… nicht weit von öder Burg. Damit kann nur die Schloßruine gemeint sein«, flüsterte Benka leise und vorsichtig, damit Eva-Lotte diesmal nichts hören konnte.

»In einem Elsternnest nahe bei der Schloßruine«, sagte Sixtus, denkbar zufrieden. »Kommt, wir hauen ab, und zwar sofort.«

Hinter den drei Rittern der Roten Rose flog die Tür im Zaun des Bäckermeisters mit einem Knall zu. Eva-Lottes Katze auf der Veranda fuhr erschrocken aus ihrem Vormittagsschlaf hoch.

Bäckermeister Lisander steckte sein gutmütiges Gesicht aus dem Fenster und rief seiner Tochter zu: »Na, Eva-Lotte, wie lange, glaubst du, wird es noch dauern, bis ihr die Bäckerei zerstört habt?«

»Ihr?« Eva-Lotte war sehr erstaunt. »Können wir dafür, wenn die Roten das Grundstück wie eine Herde Bisonochsen verlassen? Wir knallen nicht so mit der Tür.«

»Glaube ich«, sagte der Bäckermeister und hielt den Weißen Rosen aufreizend ein Backblech mit zuckerbegossenen Schnek-ken vor die Nasen: »Ihr knallt keine Gartentüren zu.«

Wenige Augenblicke später rasten auch die Weißen Rosen aus dem Garten, und die Zauntür flog mit einem Knall zu, daß die Blumen auf den Rabatten mit einem wehmütigen Seufzer ein paar welke Blätter zu Boden fallen ließen. Der Bäckermeister seufzte auch wehmütig. »Bisonochsen« hatte Eva-Lotte doch wohl gesagt. »Ja, ja …«

An einem friedlichen Sommerabend vor Jahren war der Krieg zwischen den Weißen und den Roten Rosen ausgebrochen.

Lange währte er nun, und keine der kriegführenden Parteien zeigte Ermüdungserscheinungen. Im Gegenteil! Anders sprach in letzter Zeit sehr oft vom Dreißigjährigen Krieg als einem nachahmenswerten Beispiel.

»Wenn die früher so lange durchhalten konnten«, beteuerte er voller Enthusiasmus, »so können wir noch viel länger.«

Eva-Lotte sah die Sache nüchterner. »Stell dir vor, wenn du als dicker Brocken von vierzig durch die Gräben kriechst, um den Großmummrich zu suchen! Die Gören der ganzen Stadt werden aus dem Kichern nicht herauskommen.«

Der Gedanke war nicht angenehm. Ausgelacht und – schlimmer noch – vierzig Jahre alt zu werden, während es gleichzeitig Glückliche gab, die nicht mehr als dreizehn, vierzehn waren!

Anders empfand einen ausgesprochenen Widerwillen gegen diese Kleinen, die einmal die Spielplätze, die Verstecke und den Krieg der Rosen übernehmen würden und außerdem so unverschämt sein durften, über ihn zu lachen. Über ihn, den Chef der Weißen Rosen aus vergangenen großen, stolzen Tagen, als diese Rotznasen noch nicht einmal geboren waren.

Anders war bekümmert. Eva-Lottes Worte hatten ihn erkennen lassen, daß das Leben kurz war und daß es darauf ankam, zu spielen, solange man das konnte – ohne ausgelacht zu werden.

»Auf jeden Fall wird niemand so viel Spaß haben wie wir«, tröstete Kalle seinen Chef. »Den echten Krieg zwischen den Weißen und Roten Rosen wird es nie mehr geben! Das können die kleinen Kleckerchen sich merken.«

Eva-Lotte war derselben Meinung. Nichts konnte sich mit dem Krieg der Rosen messen. Selbst wenn sie einmal so beklagenswerte Vierziger wurden, wie sie eben geschildert hatte, blieb ihnen eines: die unauslöschliche Erinnerung an ihre herrlichen Sommerspiele. Das wundervolle Gefühl, wie man mit nackten Füßen über das weiche Gras der Prärie lief, wie das Wasser beim Baden einem warm und freundlich zwischen den Zehen perlte oder wie die Sonne durch die offenen Luken so lange in den Bäckereiboden schien, bis sogar die Holzbalken nach Sommer rochen, – das alles konnte nie aus ihrer Erinnerung getilgt werden. Ja, der Krieg der Rosen war für ewige Zeiten mit Sommerferien, milden Winden und hellem Sonnenschein verknüpft. Herbstdunkel und Winterkälte brachten unwillkürlich Waffenruhe in den Kampf um den Großmummrich.

Wenn die Schule begann, wurden die Feindseligkeiten einge-stellt, und der Krieg flackerte nicht eher wieder auf, als bis die Kastanien in der Hauptstraße wieder in voller Blüte standen und die Frühjahrszeugnisse an den kritischen Elternaugen vorbeige-rutscht waren.

Jetzt aber war Sommer, und der Rosenkrieg blühte mit den echten Rosen im Garten des Bäckermeisters um die Wette.

Schutzmann Björk, der die Kleine Straße entlangschlenderte, wußte, was im Gange war, als er zuerst die Roten den Weg zur Schloßruine galoppieren sah und einige Minuten später die Weißen in sausender Fahrt an ihm vorbeistürmten.

Eva-Lotte konnte gerade noch »Hej, Onkel Björk!« rufen, bevor ihr heller Haarschopf hinter der nächsten Ecke verschwand. Schutzmann Björk lächelte vor sich hin. Dieser Großmummrich – mit wie wenig die Kleinen doch zufrieden waren! Der Großmummrich war ja nur ein Stein, nichts anderes als ein seltsam geformter kleiner Stein, und doch reichte er aus, den Krieg der Rosen in Gang zu halten. Ja, ja, es war oft sehr wenig nötig, um einen Krieg zu entfesseln. Schutzmann Björk seufzte, als er daran dachte, wie wenig tatsächlich dazu nötig war. Dann ging er mit bedachtsamen Schritten weiter, um sich ein Auto anzusehen, das auf der anderen Seite des Flusses falsch parkte. Auf halbem Weg blieb er stehen und starrte philoso-phierend in das Wasser, das langsam unter dem Brückenbogen hervorglitt. Da kam eine alte Zeitung mit dem Strom angese-gelt. Sie schaukelte sacht auf den Wellen. Die großen Buchstaben ihrer Schlagzeile verkündeten, was gestern oder vorgestern oder vor einer Woche neu gewesen war. Björk las sie zerstreut.

UNZERSTÖRBARES LEICHTMETALL


REVOLUTION IN DER KRIEGSINDUSTRIE

Schwedischer Wissenschaftler löst das Problem, das die Wissenschaft der ganzen Welt beschäftigt hat.

Wieder seufzte Schutzmann Björk: »Wie schön wäre es, wenn die Menschheit sich auf den Kampf um Großmummriche beschränken würde. Dann hätte man eine Kriegsindustrie gar nicht nötig …« Jetzt aber mußte er sich um das falsch parkende Auto kümmern.

»Hinter der Schloßruine werden sie bestimmt zuerst suchen«, versicherte Kalle und machte bei diesem Gedanken einen munteren Luftsprung.

»Deshalb habe ich auch dort eine kleine Mitteilung für die Rötlichen hingelegt«, grinste Anders. »Wenn sie die gelesen haben, werden sie schön wild werden. Ich glaube, wir können in der Nähe warten und uns ihren Anfall ansehen.«

Auf einer Anhöhe vor ihnen reckte die alte Schloßruine ihre geborstenen Mauern in den blaßblauen Sommerhimmel. Einsam lag sie dort, eine häßliche alte Burg, seit Jahrzehnten der Verlassenheit und dem Verfall anheimgegeben. Tief unter sich hatte sie die anderen Bauten der Stadt gelassen. Nur das eine oder andere Haus war vorwitzig ein wenig den Berg hinaufge-klettert, um sich der Großen, Gewaltigen oben auf der Höhe zu nähern.

Als letzter Posten stand auf halbem Weg zur Ruine eine altertümliche Villa, fast versteckt hinter einer üppigen Hecke aus Hagedorn, Fliederbüschen und Kirschbäumen. Ein wackliger Zaun umgab das kleine Idyll. Gleich hinter der Villa zweigte ein Pfad vom Fahrweg ab und lief durch den Wald zur Schloßruine hinauf.

Anders hatte beschlossen, hier die Rückkehr der Roten abzuwarten. Er lehnte sich mit dem Rücken bequem an den Zaun.

»Nicht weit von öder Burg …« sagte Kalle und warf sich neben Anders ins Gras. »Kommt ganz darauf an, wie man es ansieht. Wenn wir den Abstand von hier zum Südpol als Vergleich nehmen, können wir den Großmummrich in der Gegend von Jönköping verstecken und doch behaupten, es sei nicht weit von öder Burg.«

»Vollkommen richtig«, stimmte Eva-Lotte zu. »Wir haben nie behauptet, daß das Elsternnest sich durchaus am Rand der Schloßruine befinden müsse. Aber die Roten sind viel zu vernagelt, um das zu begreifen.«

»Eigentlich müßten sie uns auf bloßen Knien danken«, sagte Anders erbittert. »Es hätte nahegelegen, den Großmummrich in der Gegend von Jönköping zu verstecken. Aber wir haben ihn freundlicherweise ganz in der Nähe – bei Eklunds Villa – versteckt. Das ist doch wirklich anständig.«

»Klar sind wir anständig.« Eva-Lotte lachte zufrieden. Und dann sagte sie etwas völlig Unerwartetes: »Seht mal, da drinnen auf der Verandatreppe sitzt ein kleiner Knirps.«

Wirklich, da saß ein Knirps auf der Verandatreppe. Mehr war nicht nötig, um Eva-Lotte ein Weilchen den Großmummrich vergessen zu lassen. Die berühmte Eva-Lotte die ein so tapferer Krieger war, hatte eben einen Augenblick weiblicher Schwäche.



Es hatte noch nie etwas geholfen, wenn der Anführer ihr klarzumachen versuchte, daß für so etwas im Krieg der Rosen kein Platz war. Anders und Kalle waren immer wieder erstaunt über Eva-Lottes Veränderung, sowie sie in die Nähe kleiner Kinder kam. Für Anders und Kalle waren Kleinkinder nur beschwerlich, naß und rotznäsig. Aber auf Eva-Lotte wirkten sie, als wären es alles kleine entzückende Lichtelfen. Kam sie in den Zau-berkreis einer dieser Elfen, so veränderte sich ihr jungenhafter kleiner Amazonenkörper, und sie benahm sich in einer Weise, die nach Anders’ Meinung völlig unbeherrscht war. Sie stieß wunderliche weiche Laute aus, die Kalle und Anders einfach auf die Nerven gingen. Die lebendige, übermütige Eva-Lotte, Ritter der Weißen Rose, war wie fortgeblasen. Es fehlte nur noch, daß die Roten sie einmal in einer solchen Stunde der Schwäche überraschten – der Fleck auf dem Wappenschild der Weißen Rose konnte so schnell nicht weggewaschen werden, meinten Kalle und Anders.

Der Kleine auf der Verandatreppe hatte wohl bemerkt, daß vor seinem Zaun etwas Ungewöhnliches geschah, denn er trottete jetzt langsam zur Gartenpforte. Er blieb stehen, als er Eva-Lotte sah. »Hej«, sagte er etwas schüchtern.

Eva-Lotte stand am Zaun und hatte das im Gesicht, was Anders und Kalle Idiotenlachen nannten. »Hej«, sagte sie. »Wie heißt du?«

Der Kleine sah sie mit ruhigen, dunklen blauen Augen an und schien für das Idiotenlachen nicht sonderlich empfänglich.

»Rasmus heiß’ ich«, antwortete er und malte mit dem großen Zeh im Sand des Gartenweges. Dann kam er näher. Er steckte ein kleines, stumpfes, sommersprossiges Naschen durch die Latten im Zaun und sah Kalle und Anders, die draußen im Gras sa-

ßen. Sein ruhiges Gesicht wurde von einem breiten, entzückten Grinsen gespalten. »Hej«, sagte er. »Ich heiße Rasmus!«

»Ja, haben wir gehört«, erwiderte Kalle gnädig.

»Wie alt bist du?« fragte Eva-Lotte.

»Fünf Jahre«, antwortete Rasmus. »Aber nächstes Jahr, da werde ich sechs. Wie alt wirst du denn nächstes Jahr?«

Eva-Lotte lachte. »Nächstes Jahr werde ich eine alte Tante«, sagte sie. »Was machst du übrigens hier? Wohnst du bei Eklunds?«

»Das gerade nicht«, antwortete Rasmus. »Ich wohne bei meinem Vater.«

»Wohnt er in Eklunds Villa?«

»Klar macht er das«, sagte Rasmus energisch. »Ich könnte doch sonst nicht hier bei ihm wohnen. Das verstehst du doch wohl!«

»Das ist reinste und feinste Logik, Eva-Lotte«, kicherte Anders.

»Heißt sie Eva-Lotte?« fragte Rasmus und zeigte mit dem großen Zeh auf Eva-Lotte.

»Ja, sie heißt Eva-Lotte«, sagte Eva-Lotte. »Und sie findet dich prima!«



Da die Roten noch nicht in Sicht waren, kletterte sie über den Zaun und näherte sich dem reizenden Kleinen in Eklunds Garten. Es konnte Rasmus nicht entgehen, daß zumindest einer da war, der an ihm interessiert war, und er beschloß, als Gegenleistung artig zu sein. Nun kam es nur noch darauf an, einen passenden Gesprächsstoff zu finden.

»Mein Vater macht Bleche«, begann er nach kurzer Überlegung.

»Bleche macht er?« fragte Eva-Lotte. »Ist er Schmied?«

»Nein, Schmied ist er nicht«, sagte Rasmus. »Er ist ein Professor, der Bleche macht.«

»Wunderbar«, sagte Eva-Lotte. »Dann kann er vielleicht für meinen Vater Bleche machen. Der ist Bäcker, verstehst du, und der kann eine Menge Bleche brauchen.«

»Ich werde meinen Vater bitten, daß er ein Blech für deinen Vater macht«, versicherte Rasmus freundlich und legte seine Hand in Eva-Lottes.

»Ach, Eva-Lotte, laß doch bloß den Bengel sausen«, sagte Anders. »Die Roten können jeden Moment kommen.«

»Immer ruhig«, beschwichtigte ihn Eva-Lotte. »Ich werde die erste sein, die ihnen auf den Kopf klopft.«

Rasmus starrte Eva-Lotte voller Bewunderung an.

»Wem wirst du als erste auf den Kopf klopfen?« fragte er.

Und Eva-Lotte erzählte. Vom ehrenvollen Krieg zwischen den Roten und den Weißen Rosen. Von wilden Verfolgungsjag-den durch Straßen und über Zäune. Von gefahrvollen Aufträgen, heimlichen Befehlen und spannendem Schleichen in dunklen Nächten. Von dem verehrten Großmummrich, und daß nun bald die Roten auftauchen würden, wild wie die Hornissen, und welch einen großartigen Kampf es dann geben würde.

Das verstand Rasmus gut. Endlich, endlich verstand er den eigentlichen Sinn des Lebens! Eine Weiße Rose mußte man sein! Etwas Herrlicheres konnte es nicht geben. Tief unten in seiner fünfjährigen Seele wurde in dieser Stunde der Wunsch geboren, so sein zu dürfen wie diese Eva-Lotte und Anders und der andere – wie hieß er doch …? Kalle! Genauso stark und groß zu sein, den Roten auf den Kopf zu klopfen, Haarsträuben zu bekommen, auf dunklen Wegen zu schleichen – und all das andere noch. Mit Augen, die voll waren von all seinen Wünschen, sah er begeistert zu Eva-Lotte auf und fragte beschwörend:

»Eva-Lotte, darf ich auch eine Weiße Rose werden?«

Eva-Lotte gab seiner sommersprossigen Nase spielerisch einen leichten Stups. »Nein, Rasmus«, sagte sie. »Dafür bist du noch zu klein!«

Da wurde Rasmus böse. Eine heilige Wut packte ihn, als er die verhaßten Worte »Dafür bist du noch zu klein« hörte. Immer und immer und immer wieder bekam man sie zu hören!

Wütend starrte er Eva-Lotte an.

»Dann finde ich, daß du blöd bist«, sagte er.

Als er das festgestellt hatte, überließ er sie ihrem Schicksal.

Jetzt wollte er zu diesen Jungen gehen und dort fragen, ob er nicht eine Weiße Rose werden dürfe. Sie standen am Zaun und sahen interessiert zum Schuppen hinüber.

»Du, Rasmus«, fragte der, der Kalle hieß, »wem gehört denn das Motorrad da?«

»Vater natürlich«, sagte Rasmus.

»Donner!« murmelte Kalle. »Ein Professor, der Motorrad fährt! Wie sieht das wohl aus? Ich denke, sein Bart wird sich in den Rädern verwickeln.«

»Was für ein Bart?« fragte Rasmus wütend. »Mein Vater hat keinen Bart!«

»Hat keinen?« grunzte Anders. »Jeder Professor hat doch wohl einen Bart?«

»Na bitte, stell dir vor, hat nicht jeder Professor«, sagte Rasmus und ging mit würdigen Schritten zur Veranda zurück. Diese Kinder dort waren alle blöd, und er dachte nicht mehr daran, mit ihnen zu sprechen! Als er in die Sicherheit der Veranda gekommen war, drehte er sich um und schrie den dreien am Zaun zu: »Pfui Blase, was seid ihr blöd! Mein Vater ist ein Professor und ohne Bart, und er macht Bleche!«

Kalle, Anders und Eva-Lotte sahen belustigt auf die böse kleine Gestalt oben auf der Veranda. Sie wollten ihn doch nicht reizen. Eva-Lotte machte einige schnelle Schritte, um ihm nachzueilen und ihn ein bißchen zu trösten, aber sie blieb gleich wieder stehen. Denn hinter Rasmus öffnete sich die Tür, und jemand kam heraus. Es war ein sonnenverbrannter Mann in den Dreißigern. Mit festem Griff packte er Rasmus und schwang ihn sich auf die Schulter.

»Du hast recht, Rasmus«, sagte er. »Dein Vater ist ein Professor ohne Bart, und er macht Bleche.« Er kam den Weg herunter, Rasmus auf der Schulter, und Eva-Lotte schämte sich ein wenig: Sie war ja auf privatem Grund und Boden.

»Siehst du nun wenigstens, daß er keinen Bart hat!« schrie Rasmus triumphierend Kalle zu, der sich vorsichtig an der Zauntür herumdrückte. »Dann kann er also auch Motorrad fahren«, setzte er stolz hinzu. Vor seinem inneren Auge sah er seinen Vater mit langem, wallendem Bart, der sich um die Radach-sen wickelte, und es war ein äußerst empörender Anblick für ihn.

Kalle und Anders machten höflich ihre Verbeugungen.

»Rasmus sagt, Sie machen Bleche, Herr Professor«, sagte Kalle schnell, um von der Sache mit dem Bart abzukommen.

Der Professor lachte: »Ja, das kann man beinahe sagen. Bleche … Leichtmetall … Ich habe eine kleine Erfindung gemacht, versteht ihr?«

»Eine Erfindung?« fragte Kalle interessiert.



»Ich habe eine Möglichkeit gefunden, Leichtmetall unzerstörbar zu machen«, erklärte der Professor. »Das nennt Rasmus nun ›Bleche machen‹.«

»Oh, davon habe ich in der Zeitung gelesen«, sagte Anders eifrig. »Dann sind Sie ja direkt berühmt!«

»Klar, sicher ist er berühmt«, bestätigte Rasmus von seinem erhöhten Platz aus. »Und einen Bart hat er auch nicht, bitte sehr!«

Der Professor ließ sich auf keine Diskussion über seine Berühmtheit ein. »Na, Rasmus«, sagte er, »wollen wir ins Haus gehen und frühstücken? Ich könnte dir Schinken braten.«

»Ich habe gar nicht gewußt, Herr Professor, daß Sie hier in der Stadt wohnen«, sagte Eva-Lotte.

»Nur während des Sommers«, gab der Professor zurück.

»Ich habe diese Zuflucht für den Sommer gemietet, um in Ruhe arbeiten zu können.«

»Ja, Vati und ich machen hier Sommerferien, wir beide ganz allein«, sagte Rasmus, »und Mutti ist bei Großvater in Indien.

Stell dir vor, da wohnen nämlich Großvater und Großmutter.

Und ich hab’ sie noch nie gesehen, bloß als ich ganz klein war.

Aber nächstes Jahr hat Vati mehr Zeit, und dann fahren wir zu Weihnachten alle hin, Vati und Mutti und ich – bitte sehr!«

ZWEITES KAPITEL

Eltern sind oft hinderlich, wenn man Krieg führen will. Sie greifen auf verschiedene Weise störend in den Gang der Geschehnisse ein. Manchmal bekam der Lebensmittelhändler Blomquist den Einfall, daß sein Sohn in den schwersten Stunden im Geschäft helfen sollte. Und der Postdirektor kam einfach daher und wünschte, daß Sixtus die Gartenwege harke und den Rasen sauber schneide. Vergeblich versuchte Sixtus, seinem Vater klarzumachen, daß ein wildwachsender Garten viel, viel schöner sei. Der Postdirektor schüttelte nur verständnislos den Kopf und zeigte stumm auf den Rasenmäher.

Noch verstockter in seinen Forderungen war der Schuhmacher Bengtsson. Er hatte von seinem dreizehnten Lebensjahr an selbst für sich sorgen müssen, und das sollte sein Sohn auch, meinte der Schuhmachermeister. Deshalb versuchte er, mit äu-

ßerster Strenge Anders während der Sommerferien an den Schuhmacherhocker zu fesseln. Anders hatte im Laufe der Zeit eine komplizierte Technik entwickelt, allen Attentaten auf seine goldene Freiheit zu entgehen.

Der Hocker, auf dem Anders sitzen sollte, war deshalb meistens leer, wenn der Schuhmacher in die Werkstatt kam, um seinen ältesten Sprößling in die Geheimnisse seiner Kunst einzuweihen.

Richtig menschlich dachte nur Eva-Lottes Vater. »Wenn du nur glücklich bist – und nicht zuviel Unfug anstellst, will ich mich nicht weiter darum kümmern, was du treibst«, sagte der Bäckermeister und legte sanft seine väterliche Hand auf Eva-Lottes blonden Schopf.

»Solch einen Vater müßte man haben«, sagte Sixtus verbittert und mit lauter Stimme, um das Klippklippklipp des Rasenmähers zu übertönen.

Das war nun seit kurzer Zeit das zweite Mal, daß sein unbarmherziger Vater ihn zur Gartenarbeit zwang. Benka und Jonte hingen am Zaun und sahen Sixtus teilnahmsvoll bei seinen Anstrengungen zu. Sie versuchten, ihn mit glühenden Schilde-rungen eigener Leiden zu trösten. Hatte Benka nicht tatsächlich den ganzen Vormittag Himbeeren gepflückt, und hatte Jonte nicht den ganzen Vormittag auf seine kleinen Geschwister auf-passen müssen?

»Klar, auf diese Weise wird man ja gezwungen, die Nächte zu Hilfe zu nehmen, wenn man den Weißen an den Kragen will«, sagte Sixtus betrübt. »Man hat ja tagsüber kaum eine Stunde für das Notwendigste übrig.«

Jonte nickte zustimmend: »Du hast das richtige Wort gesagt.

Wollen wir nun heute nacht den Weißen an den Kragen?«

Sixtus warf sofort die Rasenmähmaschine beiseite.

»Da hast du gar nicht so unrecht, Jonte«, rief er. »Kommt, wir wollen in das Hauptquartier und Kriegsrat halten.«

Und im Hauptquartier der Roten Rosen in Sixtus’ Garage wurde der Plan für die kommende Nacht entworfen. Dann wurde Benka mit der Botschaft des Roten Chefs zu den Weißen geschickt.

Anders und Eva-Lotte saßen in der Laube des Bäckermeisters und warteten darauf, daß der Lebensmittelladen geschlossen und Kalle für diesen Tag frei wurde. In der warmen Julisonne sah der Weiße Chef reichlich faul und nicht besonders kriegerisch aus. Aber er zuckte doch zusammen, als er Benka über Eva-Lottes Steg springen sah, daß das Wasser nur so über seine nackten Füße spritzte. Benka hielt ein Papier in der Hand, und dieses Papier überreichte er dem Chef der Weißen Rosen mit abgemessener Verbeugung. Dann verschwand er schnell auf demselben Weg, auf dem er gekommen war. Anders spuckte einen Kirschstein aus, bevor er mit lauter Stimme las:

»In dieser Nacht bei des Mondes Schein wird ein Fest in meiner Väter Burg sein. Denn die Rote Rose wird die glor-reiche Wiedereroberung des Großmummrich aus den Händen der Heiden feiern.

WARNUNG: Stört uns nicht!!! Alles schleichende Ungezie-fer der Weißen Rose wird schonungslos zertreten werden.

Sixtus,

Edelmann und Chef der Roten Rose

P.S. Punkt 12 Uhr in der Schloßruine.«

Anders und Eva-Lotte grinsten zufrieden.

»Komm, dann sausen wir und warnen Kalle«, sagte Anders.

Er stopfte den Zettel in die Hosentasche. »Denk an meine Worte: Hier zieht es sich zusammen zu einer Nacht der Schrek-ken.«

»Bei des Mondes Schein« schlief die kleine Stadt unbekümmert und tief. Von der »Nacht der Schrecken« ahnte sie nichts.

Schutzmann Björk, der durch die menschenleeren Straßen schlenderte, ahnte auch nichts davon. Alles war still. Er hörte nur den Laut seiner eigenen Absätze auf dem Pflaster. Die Stadt schlief in einer Flut aus Mondschein; aber zwischen den schlafenden Häusern und den Gärten lag die dunkle Schwärze der Schatten, und wenn Schutzmann Björk etwas aufmerksamer gewesen wäre, hätte er merken müssen, daß in dieser Schwärze Leben war.

Er hätte hören müssen, wie dort jemand schlich und sich vorbei-schlängelte und flüsterte. Er hätte sehen müssen, wie im Haus des Bäckermeisters Lisander vorsichtig ein Fenster geöffnet wurde und wie Eva-Lotte die Leiter hinunterkletterte. Er hätte an der Blomquistschen Ecke Kalle leise das Signal der Weißen Rosen pfeifen hören und den Schimmer von Anders sehen müssen, bevor er im schützenden Schatten der Fliederhecke verschwand.

Schutzmann Björk war nur leider sehr müde und wünschte sich, daß sein Rundgang endlich ein Ende nehmen möge. Deshalb begriff er nicht, daß dies die Nacht der Schrecken war.

Die armen, unwissenden Eltern der Weißen und Roten Rosen schliefen ruhig in ihren Betten. Keiner hatte sie nach ihrer Meinung über die nächtlichen Übungen ihrer Kinder gefragt.

Nur Eva-Lotte hatte für alle Fälle einen Zettel geschrieben und auf ihr Kopfkissen gelegt. Sollte bei ihr zu Hause jemand auf den Einfall kommen, zu bemerken, daß sie verschwunden war, bitte, dort standen die beruhigenden Zeilen:

»Hej, alle miteinander! Stellt Euch bloß jetzt nicht an. Ich bin draußen und kämpfe und komme bald zurück, glaube ich.

Eva-Lotte«

»Nur eine kleine Beruhigungspille«, erklärte sie Kalle und Anders, während sie den steilen Weg zur Schloßruine hinaufklet-terten.

Eben schlug die Rathausuhr zwölf. Die Zeit war da.

»Meiner Väter Burg …« sagte Kalle. »Was meint Sixtus damit? Soviel mir bekannt ist, hat hier noch nie ein Postdirektor gewohnt.« Vor ihnen lag im Mondlicht die Schloßruine und sah wirklich nicht besonders postalisch aus.

»Die gewöhnliche Angabe der Roten. Ist dir doch klar?« sagte Anders. »Sie müssen Prügel haben. Diese Angabe, weil sie nun schon mal den Großmummrich gefunden haben!«

In seinem Innern war Anders gar nicht so unzufrieden damit, daß die Roten schließlich das rechte Elsternnest gefunden und den Großmummrich zurückerobert hatten. Die Voraussetzung für den Krieg der Rosen war ja, daß das Kleinod dann und wann den Besitzer wechselte.

Ziemlich atemlos nach dem ermüdenden Aufstieg standen die drei ein kleines Weilchen vor dem Eingang zur Ruine herum. Sie standen da und horchten auf die Stille und fanden, daß es drinnen unter den tiefen Gewölben recht düster und gefährlich aussah.

Da hörten sie aus dem Dunkel eine Gespensterstimme, die rief: »Nun herrscht Kampf zwischen der Roten und der Weißen Rose, und tausend und aber tausend Seelen werden in den Tod gehen – hinein in die Nacht des Todes.«

Darauf folgte ein entsetzlich grausiges Lachen, dessen Echo zwischen den Steinwänden hin und her geworfen wurde. Und dann Stille, eine furchtbare Stille, als sei der, der vorher gelacht hatte, selber von Entsetzen über etwas Unbekannt-Grausiges in der Dunkelheit gepackt worden.

»Vorwärts zu Kampf und Sieg!« schrie Anders entschlossen und stürzte sich kopfüber in die Ruine. Kalle und Eva-Lotte folgten ihm.



Unzählige Male waren sie tagsüber hier gewesen. Aber nie zuvor in der Nacht. Sie erinnerten sich gut, daß sie sogar schon einmal im Keller der Schloßruine von Verbrechern eingeschlossen gewesen waren. Das war damals gewesen; und doch schien es ihnen jetzt, daß es nicht so schaurig gewesen war wie heute, wo sie sich mitten in der Nacht durch eine völlig ungewisse Dunkelheit zwängten und wo überall in den Schatten etwas Unheimliches verborgen sein konnte. Nicht nur die Roten! Nein, bestimmt nicht nur die! Gab es nicht auch Geister und Gespenster, die vielleicht ihre gestörte Nachtruhe dadurch rächten, daß sie aus irgendeinem Loch in der Wand, natürlich dort, wo man es am wenigsten vermutete, eine Knochenhand hervorstreckten, um einen zu erwürgen?

Noch einmal schrie Anders: »Vorwärts zu Kampf und Sieg!«

Er wollte wohl ihren Mut beleben, aber es klang in der Stille so entsetzlich, daß Eva-Lotte ihn zitternd bat, nicht noch einmal zu rufen. »Und laßt mich nicht allein, was ihr auch tun mögt«, setzte sie hinzu, »denn ich fühle mich unter Gespenstern nun einmal nicht besonders wohl.«

Kalle stieß sie beruhigend in den Rücken, und sie schlichen vorsichtig weiter. Nach jedem Schritt hielten sie an und horchten. Irgendwo in der Dunkelheit waren die Roten – denn es waren doch wohl hoffentlich ihre schleichenden Schritte, die man hörte. Ab und zu schien der Mond durch ein gewölbtes Fenster, und dann sah man alles fast so deutlich wie am Tage: die verwit-terten Wände und den ausgetretenen Boden. Wo aber das Mondlicht nicht hinkam, da waren nur beängstigende Schatten und erschreckendes Dunkel und taube Stille. Und aus dieser Stille konnte man, wenn man ganz genau hinhorchte, schwaches Geflüster auffangen, flatterndes kleines Geflüster, das einem ins Ohr floß und es mit Schrecken erfüllte.

Eva-Lotte hatte Angst. Ihre Schritte wurden langsamer. Wer flüsterte dort? Waren es die Roten, oder war es das Echo längst gestorbener Stimmen, das jetzt noch unruhig zwischen den Schloßmauern umhergeisterte? Sie streckte die Hand aus, um sich zu vergewissern, daß sie nicht allein war. Sie mußte Kalles Windjacke mit ihren Fingerspitzen fühlen können – als einen Schutz gegen die lauernde Angst. Aber da war keine Windjacke, und da war auch kein Kalle, nur ein schwarzer Hohlraum! Eva-Lotte stieß vor Entsetzen einen schrillen Schrei aus.

Da schoß aus einer tiefen Nische in der Wand ein Arm hervor und fing sie mit festem Griff. Eva-Lotte schrie. Sie schrie, weil sie wirklich glaubte, dies seien die letzten Minuten ihres Lebens.

»Halt den Schnabel!« sagte Jonte. »Das hört sich ja an, als ob ein Idiot schreit.«

»Liebster, bester alter Jonte!« Plötzlich hielt Eva-Lotte ihren Gegner für den herrlichsten aller Menschen. Innerlich wunderte sie sich verbittert, wo Anders und Kalle geblieben waren. Aber dann hörte sie, nicht allzu weit entfernt, die Stimme ihres Chefs:

»Was schreist du nur so ’rum, Eva-Lotte? Sag uns lieber, wo das Fest hier eigentlich stattfindet.«

Jonte war nicht besonders stark, und Eva-Lotte hatte sich mit ihren kleinen, harten Fäusten bald befreit. Sie eilte in dem langen, dunklen Gang, so schnell sie konnte, vorwärts, und Jonte blieb ihr eifrig auf den Fersen. Jetzt kam von der anderen Seite auch noch jemand, und Eva-Lotte schlug wild um sich, damit sie den Weg frei bekam. Aber dieser Gegner war stärker. Eva-Lotte spürte den Griff der Fäuste wie eine eiserne Zange um ihre Handgelenke – sicher war das Sixtus –, aber einen leichten Match wollte ihm Eva-Lotte bestimmt nicht gönnen, nein, bestimmt nicht! Sie spannte jeden Muskel ihres Körpers an und stieß zu einer Art gewaltigem Kinnhaken ihren Kopf unter das Kinn ihres Gegners.

»Ajajajaj!« stöhnte er, der Gegner. Und es war Kalles Stimme, die stöhnte.

»Was ist bloß los mit dir?« fragte Eva-Lotte. »Du bist so streitsüchtig.«

»Und warum prügelst du mich?« gab Kalle zurück. »Wenn man schon kommt, um dir zu helfen?«

Jonte grinste vor Behagen und bekam es mit der Eile, der gefährlichen Gesellschaft zu entkommen. Das war nichts für ihn: einsam mit zwei Weißen Rosen in einem dunklen Gang. Er rannte, so schnell er konnte, auf die helle Maueröffnung zu, um auf den Schloßhof zu kommen. Zum Abschied hetzte er:

»Wunderbar! Herrlich! Schlagt euch nur richtig zusammen!

Wir sparen dann viel Arbeit.«

»Ihm nach!« schrie Kalle, und sie rasten dem Ausgang zu.

Aber draußen im Schloßhof hatten sich nun die beiden Anführer getroffen und kämpften miteinander. Jeder mit seinem Holzschwert bewaffnet, fochten sie im Mondlicht gegenein-ander. Eva-Lotte und Kalle zitterten vor Spannung, als sie die schwarzen Schatten um den kreisförmigen Hof hasten sahen.

Ja, das war in Wahrheit der Krieg der Rosen! Gerade zwischen solchen mittelalterlichen Mauern mußten sich die Käm-pen in nächtlichem Streite treffen. So war es doch gewesen, als der richtige Krieg zwischen den richtigen Roten und Weißen Rosen getobt hatte und tausend und aber tausend Seelen in den Tod gegangen waren – hinein in die Nacht des Todes! Wie ein häßlicher kalter Luftzug streifte sie eine Ahnung, wie es wohl sein würde, wenn der Krieg der Rosen nicht mehr nur ein lustiges Spiel wäre. Denn dieses Duell im Mondschein war für sie plötzlich kein Spiel. Ein Kampf auf Leben und Tod war es, und er konnte damit enden, daß einer der schwarzen Schatten, die jetzt noch an der Burgmauer hin und her jagten, schließlich re-gungslos liegenblieb und nicht mehr aufstand.



»Tausend und aber tausend Seelen …« flüsterte Kalle vor sich hin.

»Ach, sei bloß ruhig«, sagte Eva-Lotte.

Ihre Augen hingen an den kämpfenden Schatten, sie flog am ganzen Körper vor Aufregung. Dicht bei ihr standen Benka und Jonte, und sie verfolgten genauso aufgeregt und atemlos den bewegten Kampf. Die Schatten machten Ausfälle, parierten und gingen in den Nahkampf, zogen sich zurück, um sofort wieder zur Attacke überzugehen. Sie waren völlig stumm. Man hörte nur das dumpfe Klappen, wenn sich die Schwerter kreuzten.

»Wiege sie zur ew’gen Ruh mit der Schwerter Wiegenlied«, deklamierte Benka. »Und gib’s ihm, daß es nur so hagelt«, fügte er hinzu, um die seltsame Verzauberung, die die gleitenden Schatten auf ihn ausübten, zu brechen.

Da erwachte Eva-Lotte, und befreit atmete sie auf. Quatsch, das waren doch bloß Anders und Sixtus, die da ihre hölzernen Klingen kreuzten.

»Jag ihn hinaus aus seiner Väter Burg!« rief Kalle seinem Chef aufmunternd zu.

Der Chef tat, was er konnte. Aus seiner Väter Burg konnte er Sixtus zwar nicht vertreiben, aber mit der Kraft seines Schwertes trieb er ihn rückwärts gegen die Pumpe in der Mitte des Schloß-hofes. Neben der Pumpe war eine alte Fontäne in einem schmutzigen Wasserbecken. Und etwas Besseres konnte es gar nicht geben, als was jetzt geschah: daß der Rote Chef durch einen unvor-sichtigen Schritt rückwärts in das Becken fiel.

Mit ihren Jubelschreien übertönten Kalle und Eva-Lotte die zornigen Protestrufe der Roten. Aber Sixtus erhob sich aus seinem Bad, und jetzt war er richtig wild. Wie ein gereizter Stier stürzte er sich auf Anders, der der Abwechslung halber kehrt-machte und ausrückte. Vor Lachen glucksend, sauste er auf die Schloßhofmauer zu und begann sie zu erklettern. Bevor er es aber geschafft hatte, war Sixtus bei ihm und kletterte ihm nach.

»Wohin mit dir?« reizte Anders und sah auf seinen Verfolger hinunter. »Du willst wohl zu dem Fest auf deiner Väter Burg?«

»Zuerst will ich dich aber skalpieren«, versicherte Sixtus.

Auf leichten Füßen sprang Anders auf der Mauer entlang. Er dachte allerdings verwundert daran, was wohl geschehen sollte, wenn Sixtus ihn erreichen würde. Hier oben kämpfen war ausgesprochen lebensgefährlich: An einer Seite der Burgmauer gähnte ein Abgrund. Sixtus brauchte ihn nur zwanzig Meter weit nach Osten zu jagen, und schon gab es nicht mehr die weiche Grasmatte in Mannshöhe unterhalb der Mauer, sondern nur noch die erschreckende Tiefe von mindestens dreißig Metern.

Diese zu erwartenden dreißig Meter konnten ja eigentlich Anders nicht daran hindern, von der Mauer zu klettern, bevor er über der grausigen Tiefe war; aber er hatte einfach keinen Gedanken dafür übrig. Was gefährlich war, machte Spaß, und diese Nacht war für Schrecken bestimmt. Vielleicht hatte ihn auch eine besondere Art von Mondwahnsinn gepackt, denn er spürte eine wilde Lust, Handlungen von äußerster Verwegenheit zu begehen. Er wollte etwas anstellen, was die Roten so richtig nach Luft schnappen ließ.

»Komm, komm, komm, kleiner Sixtus«, lockte er. »Wie wär’s mit einer netten Mondscheinpromenade?«

»Halt du bloß die Luft an! Ich komme schon«, brummte Sixtus. Er begriff sehr gut, was Anders vorhatte. Aber er war nicht einer von denen, die man so im Handumdrehen dazu bringen konnte, nach Luft zu schnappen.

Der Pfad auf der Mauer war ungefähr vierzig Zentimeter breit, also eine richtige Promenade für den, der es gewohnt war, in der Turnstunde auf dem viel schmaleren Schwebebalken zu balancieren.

Jetzt hatte Anders die östliche Ecke erreicht. Er stand auf einer kleinen runden Plattform, einer Schutzwehr, und von hier ab schwenkte die Mauer nach Süden und folgte der jähen Tiefe.

Anders machte einige Probeschritte. In diesem Augenblick hörte er in seinem Innern die Stimme der Vernunft, und noch war es nicht zu spät, ihr zu folgen. Sollte er – oder sollte er nicht?

Lieber nicht!



Sixtus hatte sich beunruhigend genähert. Er grinste entzückt, als er Anders zaudern sah.

»Hier naht einer, der dein Herzblut sehen will«, sagte er zartfühlend. »Du hast doch nicht etwa Angst?«

»Angst?« schrie Anders und bedachte sich nicht länger. Mit ein paar schnellen Schritten war er wieder draußen auf der Mauer. Ein Zurück gab es jetzt nicht mehr. Mindestens fünfzig Meter mußte er an der grauenhaften Tiefe entlangbalancieren.

Er versuchte, nicht hinunterzusehen, sah nur den Mauerpfad entlang, der sich wie ein Silberband im Mondlicht ausstreckte.

Ein sehr langes Silberband – und sehr schmal. Plötzlich so be-

ängstigend schmal! Hatte er deshalb so ein weiches Gefühl in den Beinen?

Gern hätte er sich umgedreht, um zu sehen, wo Sixtus war.

Aber er getraute es sich nicht.

Jetzt war es auch nicht mehr nötig, denn jetzt hörte er Sixtus’

Atemzüge dicht hinter sich. Sehr nervöse Atemzüge, stellte er fest. Sixtus war bestimmt ängstlich, er auch! Anders selbst schwebte jetzt in völliger Todesangst. Es war nutzlos, etwas anderes zu behaupten. Und hinten waren die anderen Rosen auf die Schutzwehr geklettert. Dort standen sie und starrten voller Entsetzen auf die Wahnsinnstat ihrer Anführer.

»Hier naht – ei – ner, der dei – n Herzblut – se – hen will«, murmelte Sixtus. Aber seine blutdürstigen Reden hörten sich nicht mehr sehr überzeugend an.

Anders überlegte. Natürlich konnte man noch in den Burghof springen. Das würde aber auf jeden Fall ein Sprung von drei Metern, hinunter auf unebene Steine. Man konnte sich nicht langsam und vorsichtig hinuntergleiten lassen, denn dazu wäre immer vorher auf der Mauer eine Kniebeuge nötig gewesen.

Und Anders verspürte wirklich keine Lust, in der Nähe einer gähnenden Tiefe Kniebeugen zu machen. Nein, es gab nur eine Möglichkeit: weiterzulaufen und die Augen eisern auf die rettende Schutzwehr am anderen Ende der Mauer zu richten.

Möglich, daß Sixtus doch gar nicht so ängstlich war. Er hatte noch etwas von seinem grausigen Humor übrig. Anders hörte dicht hinter sich seine Stimme.

»Ich komme näher«, sagte er. »Immer näher komme ich, und bald werde – ich – dir – ein – Bein stellen«.

Das war natürlich nicht ernst gemeint. Aber für Anders wurde es verhängnisvoll. Allein die Vorstellung, daß ihm jetzt jemand von hinten ein Bein stellen könnte, jagte ihm einen wahnsinnigen Schrecken ein. Er drehte sich halb zu Sixtus um –und wackelte.

»Paß auf!« schrie Sixtus unruhig.

Da wackelte Anders noch einmal – und von der Schutzwehr erklang in derselben Sekunde ein gellender Schrei. Zu ihrem Entsetzen sahen die Rosen den Weißen Chef in die Tiefe stürzen.

Eva-Lotte hatte die Augen geschlossen. Verzweifelte Gedanken rasten durch ihren Kopf. Wo, oh, wo gab es einen Menschen, der ihnen jetzt helfen konnte? – Wer würde zu Frau Bengtsson gehen und ihr erzählen, daß Anders tot war? – Was sollten sie zu Hause sagen?

Da hörte sie Kalles Stimme, schrill und grell vor Aufregung:

»Seht, er hängt im Busch!«

Eva-Lotte öffnete die Augen und starrte ängstlich in die Tiefe. Tatsächlich, dort hing Anders! Ein Busch hatte in der Berg-wand ein Stück unterhalb der Mauer Wurzeln geschlagen und hatte vorsorglich den Weißen Chef aufgefangen, als er so plötzlich in einen sicheren Tod fallen wollte.

Von Sixtus sah Eva-Lotte zuerst nichts. Der Schreck hatte auch ihn zu Fall gebracht. Aber mit viel Geistesgegenwart hatte er sich in den Burghof fallen lassen, wo er sich zwar Knie und Hände blutig geschlagen hatte, aber am Leben geblieben war.

Ob Anders am Leben bleiben würde, war mehr als zu bezweifeln. Der Busch bog sich beängstigend unter seiner Last. Eva-Lotte stöhnte.

»Was machen wir? Was in aller Welt sollen wir tun?« wimmerte sie und starrte Kalle mit verzweifelten Augen an.

Wie gewöhnlich mußte Meisterdetektiv Blomquist die Leitung übernehmen, wenn Gefahr drohte.

»Festhalten, Anders!« schrie er. »Ich hole ein Seil!«

In der vorigen Woche hatten sie hier oben bei der Schloßruine Lassowerfen geübt. Irgendwo mußte das Seil noch herumliegen. Es mußte.

»Beeil dich, Kalle!« rief Jonte, als Kalle aus der Burgpforte lief.

»Beeil dich, beeil dich, beeil dich!« Alle schrien sie diese eigentlich überflüssige Ermahnung. Kalle konnte sich nicht mehr beeilen, als er tat.

Unterdessen versuchte man, Anders den Mut zu stärken.

»Sei nur ruhig«, tröstete Eva-Lotte ihn. »Bald kommt ja Kalle mit einem Seil.«

Anders benötigte viel Trost. Seine Situation war wirklich gefährlich, wie er auf dem Busch ritt wie die Hexe auf ihrem Be-sen. Er getraute sich nicht, in die Tiefe zu sehen. Er getraute sich nicht, zu schreien. Er getraute sich nicht, sich zu bewegen.

Er getraute sich überhaupt nichts. Er konnte nur warten.

Er starrte an der Mauer hoch. Wenn Kalle das Seil nicht finden würde, konnten ihm diese kleinen Mauervorsprünge auch nicht viel helfen. Er starrte auf den Busch, der sich bog und knackte.

»Warum kommt er denn bloß nicht?« schluchzte Eva-Lotte.

»Warum beeilt er sich denn nicht?«

Sie hätten nur sehen sollen, wie sehr sich Kalle beeilte. Wie eine Wespe schwirrte er umher und suchte überall. Suchte, suchte, suchte … Aber es fand sich kein Seil.

»Hilfe!« murmelte Kalle ängstlich.

»Hilfe!« murmelte Anders mit bleichen Lippen und saß dort auf seinem Busch.

»Ojojojoj«, murmelte Sixtus oben auf der Schutzwehr, »ojo-jojoj!«

Aber da kam – endlich! – Kalle, und das Seil hatte er auch.

»Eva-Lotte, du bleibst dort oben und hältst Ausschau!« kommandierte er. »Ihr anderen kommt herunter!«

Jetzt muß alles schnell gehen. Kalle weiß, was er zu tun hat.

Einen Stein aussuchen und an einem Ende des Seiles festbinden.

Ihn dann über die Mauer schleudern, möglichst ohne Anders’

Schädel zu treffen. Hoffen, bitten, wünschen, daß Anders das Seil packen kann, ehe es zu spät ist. Hände und Finger werden so fahrig, wenn es eilig ist. So entsetzlich eilig …

Da unten klebt Anders an der Mauer und starrt mit brennenden Augen hoch. Wird die Rettung nicht endlich kommen?

Ja, sie kommt. Da fliegt das Seil über die Mauer. Viel zu weit weg. Unerreichbar für seine sehnsüchtigen Hände.

»Mehr nach rechts!« schreit Eva-Lotte von ihrem Aussichts-posten.



Kalle und die anderen unten an der Mauer reißen und zerren am Strick und versuchen, ihn dichter an Anders heranzube-kommen. Es ist unmöglich. Das Seil muß sich an irgendeiner Unebenheit auf dem Mauersims verfangen haben.

»Ich halte es nicht mehr aus«, flüsterte Eva-Lotte. »Ich halte es nicht mehr aus.«

Sie sieht, wie die Jungen vergeblich an dem Seil zerren. Sie sieht Anders in seiner Angst – – o Anders, weißeste Weiße Rose, Edelmann unserer Weißen Rose!

»Ich halte es keine Sekunde mehr aus!«

Mit schnellen, leichten nackten Füßen läuft sie auf die Mauer hinaus. Mut Eva-Lotte! Nicht nach unten sehen! Nur vorwärts laufen bis zu dem Seil und sich bücken ja, ja, sich bücken, wenn die Beine auch noch so sehr zittern! Das Seil lösen, es auf Anders zuschieben, sich auf der schmalen Mauer umdrehen und zur Schutzwehr zurücklaufen.

Das tut sie – und heult nachher los wie ein Schloßhund.

Die Jungen haben sie mit keinem Wort gestört. Jetzt läßt Kalle das Seil sachte abwärtsgleiten. Der Stein schaukelt vor Anders. Vorsichtig, ganz, ganz vorsichtig streckt er seine Finger danach aus, und Eva-Lotte verbirgt ihr Gesicht in den Händen.

Aber sie soll ja Ausschau halten. Sie muß sich zum Sehen zwingen. Und da – da hat Anders das Seil in den Händen.

»Er hat es!« schreit Eva-Lotte gellend. »Er hat es!«

Nachher stehen sie um Anders herum und haben ihn alle so gern und sind so froh, daß er gerettet ist. Er ist famos, dieser Anders! Auf jeden Fall ist es herrlich, daß er lebt!

»Was hattest du eigentlich unten im Busch zu tun?« fragt Sixtus. »Hast du Vogeleier gesucht?«

»Ja, ich dachte, daß du vielleicht einige Verlorene Eier zu dem Fest auf deiner Väter Burg brauchen könntest«, entgegnete Anders.

»Und da bist du beinahe selbst ein Verlorenes Ei geworden«, sagt Kalle. Und darüber lachen sie sehr: Haha, da wäre doch Anders beinahe ein Verlorenes Ei geworden! Sixtus schlägt sich beim Lachen auf die Knie. Da fühlte er, daß seine verwundeten Kniescheiben weh tun. Außerdem friert er in seinen nassen Kleidern.

»Kommt, Benka und Jonte, jetzt hauen wir ab!«

»Ja«, sagt Eva-Lotte. »Jetzt muß der Chef der Roten endlich trockengelegt werden. Hoffentlich bekommt ihm das Bad, das er auf seiner Väter Burg genommen hat!«

»Schlaft gut!« ruft Benka im Davonlaufen. »Und wenn wir wieder mal Verlorene Eier brauchen, wenden wir uns an euch.«

Sixtus legt ein schönes Tempo vor, und seine Getreuen folgen ihm zur Burghoftür. Im Tor dreht er sich um und winkt Kalle und Anders und Eva-Lotte zu.

»Hallo, ihr alle, ihr Würmchen der Weißen Rose«, ruft er zurück. »Morgen werden wir euch von der Erdoberfläche ver-tilgen!«

Hier irrt der Rote Chef. Es wird eine Zeit dauern, bis die Rosen sich wieder treffen werden.

DRITTES KAPITEL

Glücklich und zufrieden wanderten die drei Weißen Rosen heimwärts. Die Nacht hatte ihnen allerlei beschert, aber Anders’

Abenteuer hatte ihr Gleichgewicht nicht durcheinanderge-bracht. Solange Anders auf dem Busch gesessen hatte, waren sie vor Angst außer sich gewesen. Aber wozu mußte man hinterher noch Angst haben? Es war doch alles gutgegangen, und Anders hatte wahrhaftig keinen Nervenschock davongetragen. Er nahm sich gar nicht erst vor, wegen dieses kleinen Erlebnisses Alp-träume zu haben. Er gedachte, nach Hause zu gehen, ruhig zu schlafen und voller Vertrauen am nächsten gefährlichen Tag aufzuwachen. Aber in den Sternen stand geschrieben, daß keine der Weißen Rosen in dieser Nacht Schlaf finden sollte.

Im Gänsemarsch liefen sie den kleinen, schmalen Pfad zur Stadt zurück. Besonders müde waren sie nicht, aber Kalle gähnte doch sehr lange und laut und sagte, das Schlafen in der Nacht sei bei vielen Leuten tatsächlich richtig populär geworden, und man könnte es ja schließlich auch einmal versuchen, um zu sehen, was »da eigentlich dran« sei.

»Dem Rasmus gefällt es bestimmt«, flüsterte Eva-Lotte zärtlich und blieb stehen. Sie waren im Wald neben Eklunds Villa angelangt, kurz bevor der Pfad auf den Fahrweg mündete, und konnten das Haus durch die Bäume sehen. »Oh, wie wird Rasmus süß aussehen, wenn er schläft«, fuhr Eva-Lotte fort.

»Nein, nein, nein, Eva-Lotte«, sagte Anders beschwörend,

»fang doch bitte nicht wieder damit an!«

Sicher schliefen Rasmus und sein Vater um diese Zeit in ihrem einsamen Haus. Im oberen Stockwerk stand ein Fenster offen, und eine weiße Gardine wehte leicht, als wollte sie den drei Nachtwanderern unten auf dem Pfad nur schnell einmal zuwin-ken. So still, so leise war es, daß Anders unwillkürlich die Stimme gesenkt hatte, um die Menschen, die dort oben hinter der leicht wehenden Gardine schliefen, nicht zu wecken.

Aber es gab jemand, der weniger rücksichtsvoll war, wenn es anderer Menschen Schlaf galt. Jemand, der Auto fuhr. An- und abschwellendes Brummen fraß sich in die Stille, man konnte den Gangwechsel hören. Dann wurde nervenaufpeitschend ge-bremst – und dann war alles wieder wie zuvor: nur Stille.

»Wer, zum Teufel, kutschiert um diese Zeit mit dem Auto hier herum?« wunderte sich Kalle.

»Was geht’s dich an?« sagte Anders kurz. »Komm jetzt.

Worauf warten wir eigentlich?«

Aber tief, tief unten in Kalles Seele reckte Meisterdetektiv Blomquist hellwach seinen Kopf in die Höhe. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in welcher Kalle ausschließlich »Herr Karl Blomquist, Meisterdetektiv« gewesen war: der scharfsinnige, unbestechliche Meisterdetektiv, der über die Sicherheit der Stadt wachte und seine Mitmenschen hauptsächlich in zwei Ka-tegorien, »die Verhafteten« und »die noch nicht Verhafteten«, einteilte. Aber inzwischen war auch Kalles Verstand gewachsen, und jetzt kam es nur bei ganz bestimmten Begebenheiten vor, daß er sich wie ein Meisterdetektiv fühlte. Und hier war eine solche Begebenheit. Tatsächlich: Hier war eine solche Begebenheit!

Wo will er hin, der im Auto kommt? Hier oben gibt es nur ein Haus, Eklunds Villa. Wie ein vorgeschobener Posten liegt sie ein weites Stück über allen übrigen Häusern der Stadt. Es kann nicht sein, daß der Professor jetzt Besuch erwartet: Das Haus schläft doch. Kann in dem Auto ein verliebtes Paar sitzen?

Ein Paar, das hier heraufgefahren ist, um den Mond anzu-schwärmen? Lokalkenntnis fehlt ihnen dann aber. Der richtige Schwärmplatz der Stadt liegt genau in entgegengesetzter Richtung. Und man muß schon vor lauter Liebe geistig ziemlich umnachtet sein, wenn man sich diesen steilen, schmalen und krummen Weg zu einer Autoschwärmerei ausgesucht hat. Aber wer ist es dann, der mit dem Auto hier heraufkommt? Kein echter Detektiv kann diese Frage ungelöst liegenlassen. Das geht einfach nicht.

Sie waren an den Fahrweg gekommen.

»He, hört mal, können wir nicht noch ein Weilchen warten, um zu sehen, wer kommt?« fragte Kalle.

»Warum bloß?« fragte Eva-Lotte. »Glaubst du im Ernst, hier laufen Mondmörder herum?«

Sie hatte noch nicht ausgesprochen, als vor dem Zaun der Villa, ungefähr fünfundzwanzig Meter von ihnen entfernt, zwei Männer auftauchten. Man konnte die Gartentür schwach in ihren Angeln quietschen hören, als die beiden vorsichtig die Tür öffneten und hineingingen. Ja, sie gingen tatsächlich hinein!

»Runter mit euch in den Graben!« flüsterte Kalle erregt, und Sekunden später lugten die Köpfe der drei Rosen gerade noch so weit über den Grabenrand, daß ihre Augen verfolgen konnten, was im Garten des Professors geschah.

»Ach, so ein Quatsch – wenn die nun vom Professor eingela-den sind«, zischelte Anders.

»Denkst du«, sagte Kalle leise.



Wenn es tatsächlich Gäste des Professors waren, benahmen sie sich wahrhaftig eigentümlich. Wenn man ein gern gesehener Gast ist, schleicht man doch nicht, als sei man ängstlich, ertappt zu werden. Man umkreist nicht das Haus. Man geht nicht hin und her und betastet Türen und Fenster. Ein lieber Gast, der das Haus verschlossen findet, stellt doch wohl keine Leiter gegen ein offenes Fenster im oberen Stockwerk und klettert dort hinein! Aber gerade all diese Dinge taten die nächtlichen Besucher.

»Ich gehe ein«, keuchte Eva-Lotte. »Die klettern tatsächlich durchs Fenster!«

Und das taten die Männer zweifellos, soweit man seinen eigenen Augen trauen konnte. Die drei lagen im Graben und starrten erschrocken auf das offene Fenster mit seiner spielerisch gebauschten Gardine. Es dauerte eine Ewigkeit. Eine Ewigkeit an Warten. Eine Ewigkeit an Stille ohne andere Laute als ihre unruhigen Atemzüge und das schwache Rascheln des Nachtwindes in den Kirschbäumen.

Endlich kam einer der beiden wieder auf die Leiter. Er trug etwas im Arm. Um aller Barmherzigkeit willen – was trug er da?

»Rasmus«,flüsterte Eva-Lotte und wurde schneeweiß im Gesicht. »Seht, sie rauben Rasmus!«

Aber nein, dachte Kalle, das war ja unmöglich. So etwas konnte hier doch gar nicht passieren. Hier nicht! In Amerika vielleicht – davon hatte man ja schließlich schon einiges in den Zeitungen gelesen –, aber hier: nein! Aber anscheinend konnte es auch hier geschehen. Der Mann dort – trug Rasmus. Wahrhaftig, das war Rasmus. Er hielt ihn sorgfältig im Arm, und Rasmus schlief.

Als der Mann mit seiner kleinen Last den Fahrweg hinunter verschwunden war, begann Eva-Lotte leise zu wimmern. Sie wandte Kalle ihr leichenblasses Gesicht zu und beschwor ihn, genau wie vorhin, als Anders auf dem Busch gesessen hatte.



»Was machen wir? Was in aller Welt sollen wir tun, Kalle?«

Kalle war zu aufgewühlt, um eine vernünftige Antwort zu geben. Er fuhr sich mit den Fingern nervös durch das Haar und stammelte: »Ich weiß nicht. Wir … wir … müssen Schutzmann Björk holen … wir müssen …«

Wild kämpfte er gegen die furchtbare Lähmung in seinem Innern an. Er mußte doch klar denken! Irgend etwas mußte sofort geschehen, aber jetzt war er nicht der Mensch, zu bestimmen, was. Niemals würden sie es schaffen, die Polizei zu holen.

So viel konnte er noch begreifen. Die Banditen würden Zeit haben, noch ein Dutzend Kinder zu rauben, bevor die Polizei hier war.

Da kam der Mann zurück. Rasmus hatte er nicht mehr auf dem Arm.

»Natürlich in das Auto gelegt«, flüsterte Anders.

Eva-Lotte antwortete darauf mit einem erstickten Stöhnen.

Sie sahen dem Kindesräuber mit vor Schreck ganz runden Augen nach. Nein, daß es derartig verabscheuenswerte Menschen gab – solche satanischen Schurken …

Jetzt öffnete sich die Verandatür, und der andere wurde sichtbar. »Schnell, Nicke«, rief er mit tiefer Stimme. »Wir haben es bald geschafft!«

Der Mann, der Nicke hieß, war mit ein paar schnellen Schritten oben auf der Veranda, und dann verschwanden beide wieder in der Villa.

Jetzt kam Leben in Kalle. »Kommt«, flüsterte er hastig.

»Kommt, wir müssen Rasmus zurückrauben.«

»Wenn wir es schaffen«, sagte Anders.

»Wenn wir es schaffen, jaja, natürlich – wenn wir es schaffen«, erwiderte Kalle. »Los! Wo steht das Auto?«

Es stand gleich unterhalb einer steilen Stelle des Fahrweges und hatte dort gewendet. Sie rannten hin. Schnell und leise liefen sie in der Grabenvertiefung, und sie fühlten bei dem Gedanken, daß sie nun Rasmus den Klauen der Banditen entreißen würden, einen wilden Triumph. Einen wilden Triumph und eine gleich wilde Angst.

In diesem Augenblick entdeckten sie, daß das Auto bewacht wurde. An der gegenüberliegenden Straßenseite stand ein Mann. Er wandte ihnen glücklicherweise den Rücken zu und war in höchst privater Weise beschäftigt. Sie wären ihm sonst sicher nicht entgangen. Nun konnten sie sich blitzschnell hinter einige schützende Büsche werfen. Etwas Beunruhigendes hatte der Mann sicher gehört, denn er drehte sich um und kam auf ihre Straßenseite herüber. Mißtrauisch starrte er genau in die Büsche hinein, hinter denen sie lagen. Hörte er wirklich ihre hämmernden Herzen und ihren keuchenden Atem nicht?

Es kam ihnen wie ein Wunder vor, daß er es nicht tat. Er stand ein Weilchen und horchte, machte einen kleinen Gang zum Auto und sah durch ein Seitenfenster hinein. Schlenderte etwas aufgeregt auf der Straße hin und zurück. Blieb mal stehen und starrte wie gebannt zur Villa hinüber. Fand er, daß seine Kumpane zu lange blieben?

Hinter den Büschen herrschte Verzweiflung. Was konnte man schon für Rasmus tun, solange die Figur dort umherlief?

Eva-Lotte weinte. Kalle mußte ihr einen kräftigen Puff geben, um sie zum Schweigen zu bringen, und schließlich nahm er sich mit dem Puff auch etwas von seiner eigenen Angst.

»Jammer und Elend«, sagte Anders. »Was sollen wir denn bloß tun?«

Da schluckte Eva-Lotte energisch einen Schluchzer hinunter und sagte: »Ich, auf jeden Fall – ich muß zu Rasmus in das Auto.

Wird er geraubt, so werde ich auch geraubt! Er soll nicht ganz allein mit einem Haufen Räuber sein, wenn er aufwacht.«

»Ja aber …« wollte Kalle einwenden.

»Ruhig! Red nicht!« wehrte Eva-Lotte ab. »Geht und macht verdächtige Geräusche in den Büschen – etwas weiter weg natürlich –, damit der Kerl das Auto eine Weile vergißt.«

Anders und Kalle sahen sie erschrocken an, aber sie merkten, Eva-Lotte war entschlossen. Und wenn Eva-Lotte entschlossen war, konnte man nichts dagegen tun. Das wußten sie aus Erfahrung.

»Laß mich das für dich machen«, schlug Kalle vor, obwohl er genau wußte, daß es zwecklos war.

»Los, los, lauft schon!« sagte Eva-Lotte. »Beeilt euch! Beeilt euch!« Sie gehorchten ihr. Bevor sie verschwanden, hörten sie hinter sich noch Eva-Lottes flüsternde Stimme:

»Wie eine Mutter werde ich zu Rasmus sein. Und dann werde ich, wenn ich kann, Spuren zurücklassen. Ihr wißt doch: so wie in ›Hänsel und Gretel‹.«

»Fein«, sagte Kalle. »Wir werden dir wie zwei Bluthunde folgen.«

Sie winkten ihr noch einmal zu und liefen dann lautlos zwischen den Büschen fort.

Wie gut, wenn man bei solchen Gelegenheiten leise schleichen kann! Also ist er doch nicht nutzlos gewesen, der Krieg der Rosen. Man hat sich eine gewisse Übung darin erworben, Wacht-posten zu täuschen. Diesen Idioten auf der Straße zum Beispiel.

Er hat den Auftrag bekommen, Rasmus zu bewachen. Und treu und brav schlendert er nun auf der Straße um das Auto herum.

Hin und her. Hin und her. Dann aber hört er plötzlich weiter entfernt in den Büschen ein verdächtiges Geknacke. Und dann muß er natürlich dorthin und sehen, was das wohl sein kann.

Springt also resolut über den Graben und taucht hinein in die Haselnußsträucher. Sehr aufmerksam, sehr wachsam, klar, klar, er ist ja so wachsam! Aber es ist doch das Auto, auf das er achtgeben soll, der Dumme! Was kann nicht alles am Auto passieren, während er zwischen den Haselnußsträuchern sucht! Völlig sinnlos sucht. Denn er findet dort nichts, einfach gar nichts.

Freilich liegen da zusammengekauert hinter einem Gebüsch zwei Jungen versteckt, aber die sieht er natürlich nicht. Und in seiner Einfalt glaubt er, falsch gehört zu haben, oder er glaubt, daß da ein Tier zwischen den Büschen geraschelt hat. Er ist schon ein wachsamer Bursche! Er hat es jedenfalls bewiesen.

Und als er zum Auto zurückgeht, ist er richtig zufrieden mit sich selbst.

Und nun kommen auch endlich seine Kumpane. Die beiden Jungen, die vorsichtig aus dem Haselnußbusch hervorlugen, sehen sie auch.

»Guck, der Professor«, flüsterte Kalle. »Sieh bloß, die rauben auch den Professor!«

Ist das überhaupt wahr? Ist das alles nur ein Traum? Ist das wirklich der Professor, der da zum Auto gezerrt wird? Ein wilder, wütender, sich wehrender, widerspenstiger Professor mit auf dem Rücken gebundenen Händen und einem Knebel im Mund.

Es ist wie im Traum und unheimlich. Aber ist es denn ein Traum? Jetzt, da es anfängt hell zu werden, sieht man alles so entsetzlich klar. Der Staub, den der Professor mit seinen widerstrebenden Füßen aufwirbelt, der ist kein Traum. Der Knall, als die Autotür hinter ihm zugeworfen wird, ist auch Wirklichkeit.

Nun rast der Wagen die abschüssige Straße hinunter und verschwindet. In dem klaren Dämmerlicht liegt die Straße jetzt einsam und leer da. Es könnte alles ein Traum gewesen sein, wenn nicht noch ein schwacher Dunst von Benzin in der Luft hängen würde. Und wenn nicht dort am Straßenrand ein kleines feuchtes Taschentuch liegen würde. Eva-Lottes Taschentuch.

»Ob sie Eva-Lotte rauswerfen, wenn sie sie entdecken?« fragt Anders.

»Die werden sich hüten«, murmelt Kalle, »den einzigen Augenzeugen, den es ihrer Meinung nach gibt, in Freiheit zu setzen.«

Unten schläft die Stadt. Sie wird bald erwachen. Die ersten Sonnenstrahlen blitzen bereits auf den vergoldeten Turmspitzen des Rathauses.

»Guter Moses!« sagt Kalle und schüttelt sich.

»Ja, du guter Moses!« sagt Anders. »Worauf wartest du noch, Kalle? Bist du nun Meisterdetektiv Blomquist oder nicht?«

VIERTES KAPITEL

In Windungen und Bogen tastet sich die Straße weich durch die grüne Sommerlandschaft. Zwischen weißen Birkenstämmen läuft sie vorbei an kleinen, runden Hügeln, an kleinen, blitzen-den Seen, an kleinen Kieferngehölzen, an blühenden Waldlich-tungen, an grünen Wiesen und an sich wiegenden Kornfeldern.

Auf vielen krummen Wegen kommt sie so langsam an die Küste zum Meer. Diese Straße entlang rast an diesem herrlichen Sommermorgen ein großes schwarzes Auto, das mit wilder Geschwindigkeit um die Kurven schleift und Steinchen und Staub über die gelben Blumen an den Straßenkanten wirft. Es ist ein ganz gewöhnliches Auto. Aber ein aufmerksamer Beobachter könnte doch eine Besonderheit an dem Wagen finden. Er hinterläßt nämlich so merkwürdige Spuren – und nicht von den Reifen.

Durch das offene Seitenfenster reckt sich dann und wann eine Mädchenhand, und später kann man auf dem kiesigen Straßen-grund kleine rote Papierstückchen oder auch manchmal weiße Milchbrötchenkrümel entdecken. Ja, haargenau: Milchbrötchenkrümel! Denn Eva-Lotte ist ja nicht für nichts und wieder nichts die Tochter eines Bäckers. Sie hat sich, bevor sie wegging, ein paar Milchbrötchen in die Kleidertaschen gesteckt. Die roten kleinen Papierstückchen sind Teile eines Plakates. Sie hat es von einem Telegraphenmast heruntergerissen, bevor sie zu dem schlafenden Rasmus in das Auto schlüpfte. GROSSES SOM-MERFEST stand in schwarzen Buchstaben auf dem Plakat.

TOMBOLA TANZ KAFFEEPAUSE. Gott segne Kleinköpings Sportverein für dieses Plakat!

Die Fahrt wird lang werden, und wie lange reichen denn einige Milchbrötchen? Bald muß Eva-Lotte anfangen, sie und die Plakatstückchen zu rationieren. Bei jeder Weggabelung muß ein leuchtendroter Zettel liegen. Wie können wohl sonst die Retter wissen, welchen Weg sie nehmen sollen?

Werden übrigens Retter kommen? Wenn nicht, wie wird dann dieses Abenteuer enden? O Anders! O Kalle …

Eva-Lotte sieht sich im Auto um und macht sich innere No-tizen. Dort neben ihr im hinteren Sitz hockt immer noch gebunden und mit einem Knebel im Mund der Professor, und seine Augen sind voller Verzweiflung. Neben ihm sitzt der, der das Auto so treu und brav bewacht hat. Im Vordersitz sieht sie den sogenannten Nicke mit dem schlafenden Rasmus im Arm. Am Steuerrad neben ihm sitzt der andere Fassaden-kletterer – Blom heißt er, Eva-Lotte hat es schon gehört. Sie nimmt alles mit ihren Augen auf und läßt die Blicke dann durch die Fensterscheibe weiterwandern. Sie rasen durch eine schwedische Sommerlandschaft, da gibt es keinen Zweifel.

Die reifen Roggenfelder mit den Kornblumen und dem Mohn darin, das ist ja wohl schwedisch. Und die weißen Birkenstämme auch. Nur dieses Auto und seine wunderlichen Passa-giere gehören nicht hierher. Die gehören in einen amerikani-schen Gangsterfilm.

Eva-Lottes Herz klopft tatsächlich etwas schneller, wenn sie daran denkt, daß die drei fremden Männer im Auto wirklich und wahrhaftig Kidnapper[1] sind – es wirkt direkt lächerlich in dieser sonnigen schwedischen Landschaft! Kidnapper, die fahren ja doch wohl ausschließlich in strömendem Regen und an dunklen Herbstabenden in Chicago herum!

Nicke fühlt sicher ihren mißbilligenden Blick im Nacken, denn er dreht sich um und glotzt sie unzufrieden an.

»Wer, zum Donnerwetter, hat dich eigentlich gebeten, sich in unsere Angelegenheiten zu mischen?« sagt er. »Warum bist du in das Auto gekrochen, dummes Lamm, du?«

Eva-Lotte hat Angst. Größer aber ist ihre Wut. Und sie denkt nicht daran, einen solchen Hundsfott merken zu lassen, wie groß ihre Herzensangst ist.

»Kümmere dich nicht um mich«, sagt sie. »Es ist ratsamer für dich, du überlegst, was du sagen wirst, wenn die Polizei kommt, um dich zu schnappen.«

Der Professor bekommt aufmunternde Augen, und das stärkt ihren Mut. Sie ist dankbar, daß er hier ist, wenn er auch hilflos ist. Auf jeden Fall ist er ein Erwachsener, der auf ihrer Seite steht.

Nicke verzieht den Mund, aber er sagt nichts und dreht sich wieder um. Er hat einen dicken Nacken und helles Haar, das geschnitten werden müßte, denkt Eva-Lotte. Ganz feine helle Härchen wachsen bis unter den Hemdkragen. Wie sieht er übrigens sonst aus? Personalbeschreibung, denkt Eva-Lotte. Kalle, wenn er hier wäre, hätte sofort damit angefangen. Am besten, sie macht es jetzt für ihn. Dann kann sie damit der Polizei helfen. Das heißt, wenn sie jemals Gelegenheit haben wird, ihre Beobachtungen an die Polizei weiterzugeben.

Er hat ein Paar gutmütige Augen, dieser Nicke, und ein häßliches, sommersprossiges Gesicht. Jawohl, die Augen sind gutmütig, wenn er auch gerade jetzt recht mürrisch dreinblickt. Er sieht nicht besonders ungezogen aus und nicht besonders begabt, denkt Eva-Lotte weiter und schmeichelt sich, daß ihre Personalbeschreibung viel ausführlicher ist als eine von Kalle, der nur von der Augenfarbe spricht, aber niemals vom Charakter. Na, und die beiden anderen dann? Blom ist dunkel und sieht schlapp aus, bleich und finnig, ein richtiger Heini, denkt Eva-Lotte, macht für Geld sicher alles, was man von ihm will.

Und der im Rücksitz ist dem Idiotenstadium wohl am nächsten.

Er ist ein vollkommenes Nichts mit fast gar keinem Kinn und weniger Intelligenz, als auf dem Nagel eines kleinen Fingers Platz hat. Was in aller Welt hat diese drei Unterweltler dazu gebracht, sich auf Menschenraub zu legen? Irgendein Gedanke muß schon dahinterstecken, obwohl keiner der drei aussieht, als könne er überhaupt denken. Aber es kann ja hinter ihnen einer stehen, der für sie denkt, ein anderer, der woanders wartet.

So – nun schwenkt das Auto plötzlich in einen holprigen kleinen Waldweg ein. Eva-Lotte hat es sehr eilig, eine ganze Menge Zettelchen und Krümel zu verstreuen. (Oh, daß bloß keiner der Gauner es sieht!) Denn hier könnten die Retter leicht auf einen falschen Weg kommen. Wo sie jetzt fahren, ist nämlich gar kein richtiger Weg mehr, und sicher ist hier auch noch kein Auto gefahren. Wie das Auto auf dem unebenen Pfad hopst, und wie es gerüttelt wird! Es wird so gerüttelt, daß Rasmus aufwacht. Zuerst öffnet er nur halb die schläfrigen dunklen Augen, dann aber setzt er sich auf und starrt Nicke an.

»Wolltest du nicht zu uns kommen und unseren Küchenherd in Ordnung bringen, oder … oder …?«

Hilflos bricht er ab. Eva-Lotte streckt die Hand vor und streichelt ihm das Kinn.

»Ich bin ja hier«, sagt sie. »Bist du nicht froh, daß ich hier bin? Dein Vater ist auch hier, wenn er auch …«

»Wohin fahren wir denn, Eva-Lotte?« fragt Rasmus.

Nicke antwortet für Eva-Lotte. »Wir machen eine kleine Autofahrt«, sagt er mit einem breiten Lachen. »Nur eine kleine Autofahrt.«

»Wolltest du nicht zu uns kommen und unseren Küchenherd in Ordnung bringen?« will Rasmus noch immer wissen. »Vati, ist er das?« Aber Vati antwortet nicht – er kann ja nicht.

Nicke findet die Frage einfach köstlich. Er lacht noch lauter.

»Küchenherd in Ordnung bringen … Nee, Häschen, diesmal nicht.«

Es ist, als hätte ihn Rasmus’ Frage in gute Laune gebracht. Er setzt Rasmus bequemer auf sein Knie und fängt plötzlich an zu singen:


»Der Graf hatte einen kleinen Hund.

Trülle war sein Name und …«


»Und du, wie heißt du?« wundert sich Rasmus.

»Ich heiße Nicke«, sagt Nicke mit einem Grinsen. »Nicke ist mein Name, und …« singt er donnernd los.

»Ich finde, du könntest endlich unseren Herd heil machen«, sagt Rasmus. »Aber wie Vater ja immer gesagt hat – nur Versprechungen und Versprechungen; aber daß mal was daraus wird …!«

Eva-Lotte sieht bekümmert zum Professor. Er denkt sicher an andere Sachen als an kaputte Küchenherde. Sie klopft ihm ermunternd auf den Arm, und er dankt ihr mit den Augen.

Dann wirft sie vorsichtig den letzten roten Zettel aus dem Fenster. Er flattert so spielerisch im Sonnenschein, bevor er zur Erde fällt und liegenbleibt. Wird ihn jemand finden? Und wann?



FÜNFTES KAPITEL

»Nein, nein, nicht zur Polizei rennen«, sagte Kalle. »Dazu haben wir jetzt keine Zeit. Wir müssen zuerst die Kerle verfolgen und sehen, wo sie bleiben.«

»Fein«, sagte Anders, »und logisch! So ein Auto hat ja gar keine Chance, wenn ein Sprinter wie du ihm nachsetzt.«

Kalle beantwortete diese dumme Bemerkung nicht. Er lief durch den Garten und zu dem Motorrad des Professors.

»Komm!« rief er. »Das hier nehmen wir!«

Anders sah ihn mit schreckgemischter Bewunderung an.

»Wir können doch nicht …« fing er an, aber Kalle unterbrach ihn.

»Wir müssen«, sagte er kurz. »Das hier ist eine sogenannte Notlage. Da kann man sich nicht hinsetzen und lange über Füh-rerscheine grübeln. Es gilt doch Menschenleben, Anders!«

»Hm, und übrigens fährst du ja fast besser als dein alter Herr!« sagte Anders.

Sie schoben das Rad auf die Landstraße. Dort waren im Sand noch einige undeutliche Abdrücke von Autoreifen zu sehen, die einzige Spur, die von den Kidnappern hinterlassen worden war.

Das schwarze Auto war lange fort.

»Eva-Lotte sagte ja, sie würde es wie Hänsel und Gretel machen«, schrie Kalle, als das Motorrad die Straße hinunterraste.

»Wie haben das Hansel und Gretel übrigens gemacht?«

»Streuten Brotkrümel hinter sich«, schrie Anders. »Und auch Kieselsteine.«

»Ja, wenn Eva-Lotte Kieselsteine mit in das Auto genommen hat, ist sie noch seltsamer, als ich dachte«, rief Kalle. »Aber irgendwie sieht es ihr auch wieder ähnlich. Sie denkt sich immer so etwas aus.«

Sie kamen zur ersten Wegkreuzung, und Kalle bremste.

Welchen Weg? Welchen Weg?

Dort war ein roter Zettel zu sehen. Das Stückchen Papier hatte sich im Gras an der Straßenkante verfangen. TANZ stand darauf.

Nun liegen ja aber immer allerlei Papierfetzen an den Straßenkanten, und deshalb beachteten sie diesen nicht besonders. Ein Stück weiter lag etwas anderes. Ein Stück Weißbrot, aus einem Milchbrötchen herausgebrochen. Mit einem Triumphgeschrei zeigte Anders darauf. Eva-Lotte machte es wirklich wie Hansel und Gretel! Da lag, einige Meter weiter, noch ein rotes Papierstück.



Dann mußten diese Schnitzel ja wohl auch etwas bedeuten.

Sehr ermuntert steuerten sie auf die Straße, die sich bergab schlängelte. Ihre Müdigkeit hatten sie vergessen. Es wäre un-ehrlich zu sagen, daß sie bei guter Laune waren, aber in all ihrer Unruhe und Angst fand sich auch eine merkwürdige, fast heitere Anspannung. Das Motorrad knatterte so wunderbar gleichmä-

ßig unter ihnen und schluckte ohne Zaudern Kilometer nach Kilometer des geschlängelten Weges, der sie einem geheimnisvollen Ziel entgegenführte, einem Ziel, an dem unbekannte Gefahren lauerten. Die Gefahr in Verbindung mit der Freude an der Fahrt bewirkte sicher diese seltsame Anspannung bei ihnen.

Sie starrten auf die Straße vor sich. Hier und dort lag ein rotes Zettelchen wie ein kleiner freundlicher Gruß von Eva-Lotte.

An der Abzweigung des Waldweges wäre es beinahe schiefge-gangen. Sie erreichten ihn und fuhren an ihm vorbei. Er war ja auch so unbedeutend, daß man ihn leicht übersehen konnte.

Aber Anders entdeckte einen wohlbekannten roten Zettel, der durch die Kiefern winkte.

»Stopp, stopp«, schrie er, »wir fahren falsch! Unsere Gangster sind in den Wald hinein!«

Einen freundlicheren Waldweg konnte es wirklich nicht geben. Zwischen den Bäumen huschten die Strahlen der Morgensonne hindurch. Sie schienen auf das dunkelgrüne Moos des Bodens und auf die kleinen Blumen dazwischen. In der Nähe, auf einer Tannenspitze, trillerte ein Vogel seinen Morgengruß so entzückt in die Welt hinein, als gäbe es keine Bosheit.

Als aber Kalle und Anders zwischen die Kiefern hineinsteuer-ten, spürten sie deutlich, daß der Vogel unrecht hatte. Sie spürten in jeder Fiber ihres Körpers, daß sie sich schnell etwas Bösem und Drohendem näherten. Dieses Böse und Drohende hatte mit Sonne, Blumen und Vogelsang nichts zu tun.

Es ging abwärts. Abwärts. Abwärts. Da schimmerte etwas Blaues zwischen den Bäumen hindurch: das Meer! Dann kam ihnen eine alte verfallene Landungsbrücke entgegen, und – ihre Fahrt war zu Ende. Am äußersten Ende der Brücke fanden sie den letzten Gruß von Eva-Lotte, ihre rote Haarspange.

Sie standen da und sahen nachdenklich über den Fjord hinaus. Die dünnen Morgennebel hoben sich, und die Sonne spielte auf der Wasserfläche, die der Morgenwind sacht kräuselte.

Wie still hier alles war! Wie tot. So leer wie am ersten Schöp-fungstag, bevor sich Menschen auf der Welt einfanden.

Grüne Inseln und kahle Klippen beengten den Blick zum Horizont. Man hätte glauben können, diese kleine, schmale blaue Meeresbucht sei ein Binnensee. Einige hundert Meter vor der Brücke lag eine große Insel und verdeckte die Ausfahrtrinne zum offenen Meer. Eine große, bergige Insel mit Wäldern. Sie schien vollkommen unbewohnt. Nein, unbewohnt war sie nicht.

Ein dünner, leichter Rauch stieg über die Baumspitzen in den Himmel hinauf.

»Da hast du das Wespennest!« sagte Kalle.

»Ersticken sollen sie!« antwortete Anders.

»Was glaubst du, schaffen wir es, so weit zu schwimmen?«

»Pfff«, sagte Anders, »das ist doch wohl ’ne Kleinigkeit. Und wenn sich hier kein Boot findet …«

Neben der Brücke lag ein Schuppen. Kalle ging hin und fühlte an der Tür. Geschlossen! Konnte da drinnen ein Boot sein? Auf jeden Fall ist ein Auto in dem Schuppen, dachte er, als er Spuren im taufrischen Gras sah. Daß dort drinnen das schwarze Auto versteckt war, wußte er plötzlich ganz sicher. Und er empfand eine tiefe Zufriedenheit darüber, daß es ihnen gelungen war, den Kinderräubern zumindest bis hierher zu folgen. Es war richtig gewesen, ihnen sofort zu folgen, das wußte er jetzt. Die Zettelspuren und die Krümelchen von Eva-Lotte hätten der Wind und die Vögel bald vertilgt, und wer hätte später daran gedacht, ausgerechnet hier in dieser öden, menschenleeren Gegend zu suchen.

Kalle warf noch einen abschätzenden Blick auf die Insel. Ja, sie waren gezwungen hinüberzuschwimmen, aber es war nicht so weit, daß sie es nicht hätten schaffen können. Das Motorrad mußten sie zuerst noch im Wald verstecken.

Wie Entdeckungsreisende, die an einer unbekannten Küste an Land gehen, fühlten sie sich, als sie nach der langen Schwimm-tour blaugefroren das Ufer erreichten. Eine fremde Küste split-terfasernackt zu entdecken, war auch keine reine Freude. Man fühlte sich ohne Kleider noch hilfloser und ausgelieferter.

Feinde waren nicht zu sehen. Deshalb setzten sie sich auf eine besonnte Klippe, um trocken zu werden und etwas Wärme in den Körper zu bekommen. Dann lösten sie die Knoten ihrer Kleiderbündel und stellten fest, daß ihre Hemden und Hosen auf keinen Fall zu naß waren, um angezogen zu werden.

»Ich möchte wissen, was die Roten wohl sagen würden, wenn sie von dieser Sache wüßten«, sagte Kalle, den Kopf irgendwo innen in seinem Hemd.

»Die würden sagen, typisch Meisterdetektiv Blomquist«, sagte Anders. »Du stolperst über Strolche und Banditen wie gewöhnlich Menschen über Baumwurzeln.«

Kalle hatte das Hemd nun endlich anbekommen. Nachdenklich den Kopf zur Seite geneigt, stand er vor Anders. Unter dem kurzen Hemd ragten ein Paar lange braune Beine hervor, und der ganze Junge sah sehr kindlich und gar nicht nach Meisterdetektiv aus.



»Ja, sag mal, ist das nicht wirklich eigenartig?« sagte er. »Wo wir immer hineingeraten, unausgesetzt, unausgesetzt …!«

»Ja«, sagte Anders, »was uns passiert, passiert sonst nur in Büchern.«

»Du, Anders, Junge, Junge – vielleicht ist das hier alles ein Buch«, überlegte Kalle.

»Sag mal, du bist wohl nicht ganz bei Troste?«

»Aber, Anders, stell dir doch bloß vor – wir sind nicht da«, sagte Kalle träumend. »Mit einemmal sind wir nur ’n paar Jungs in einem Buch, das sich einer ausgedacht hat.«

»Ja, du vielleicht«, sagte Anders ärgerlich. »Würde mich gar nicht wundern, wenn du überhaupt nur ein Druckfehler wärst. Aber ich nicht. Ich mach’ da nicht mit, verstehst du? Das will ich dir noch ganz deutlich gesagt haben.«

»Kannst du gar nicht wissen«, hielt ihm Kalle entgegen.

»Möglicherweise bist du nur in einem Buch, das ich mir ausgedacht habe.«

»Oho«, sagte Anders. »Wenn es so aussieht, bist du in einem Buch, das ich mir aus gedacht habe, und ob du es glaubst oder nicht – es tut mir schon beinahe leid, daß ich dich überhaupt ausgedacht habe.«

»Übrigens habe ich Hunger!« sagte Kalle.

Sie begriffen gut, daß es fortgeworfene Zeit war, herumzu-hocken und die eigene Existenz zu bezweifeln. Auf sie warteten wirkliche, wichtige und gefährliche Aufträge. Irgendwo dort, hinter all den Tannen und Kiefern, mußte sich ein Haus befinden und ein Schornstein, der einen schmalen Streifen Rauch in die Luft blasen konnte. Irgendwo mußten sich Menschen befinden. Irgendwo mußte Eva-Lotte sein und der kleine Rasmus und der Professor. Es war also notwendig, sie zu finden.

»Da gehen wir entlang«, sagte Kalle und zeigte in den Wald hinein. »Da hinten haben wir nämlich den Rauch gesehen.«

Zwischen dichten Tannen, kleinen, kugeligen Moosrücken, durch Blaubeergestrüpp, über Sandhügel, an Ameisenhaufen vorbei und zwischen Distelbüschen lief ein kleiner Pfad, dem sie folgten. Sie waren sehr still und wachsam, jederzeit bereit, zu fliehen, wenn es nötig sein sollte. Sie fühlten, es wurde gefährlich.

Und als Kalle, der vorausging, sich plötzlich hinter eine Tanne warf, wurde Anders blaß vor Angst. Er folgte ihm blitzschnell und ohne Zeit für Fragen zu verschwenden.

»Da!« flüsterte Kalle und zeigte zwischen die Tannen. »Da sieh mal!«

Aber es war nichts Entsetzliches zu sehen, als Anders langsam, ganz langsam und vorsichtig hinter den Tannen hervorlugte, im Gegenteil. Ein Wochenendhaus, ein wirklich vornehmes Wochenendhaus, und eine offene, sonnenbeschienene Grasfläche davor. Eine schöne kleine Fläche mit samtweichem grünem Gras, ringsum gegen harte Winde durch dichte Tannen geschützt. Und mitten auf der Grasfläche saß der Professor und hatte Rasmus auf dem Knie. Ja, tatsächlich, da saßen sie. Rasmus und der Professor und noch irgend so ein anderer.

»Ich finde, Sie sind sehr unvernünftig, Herr Professor Rasmusson«, sagte der andere.

Besonders vernünftig wirkte der Professor im Augenblick wirklich nicht. Er schien in allernächster Zeit vor Wut explodie-ren zu wollen. Deutlich war auch, daß er sich am liebsten auf sein Gegenüber gestürzt hätte. Nur die Tatsache, daß er gebundene Hände hatte, schien ihn daran zu hindern.

»Wirklich, riesig unvernünftig«, sprach der andere weiter.

»Jaja, ich gebe zu, mein Vorgehen ist etwas ungewöhnlich. Aber war ich nicht dazu gezwungen? Es war sehr wichtig. Ich mußte mich einmal mit Ihnen aussprechen.«

»Nun aber Schluß!« sagte der Professor. »Sie haben sicher zu viele Groschenhefte gelesen. Oder Sie sind nicht richtig klug.«

Der andere lachte, ein trockenes, überlegenes, kurzes Lachen, und begann, auf dem Gras hin und her zu promenieren.

Es war ein großer Mann mit einer guten Figur, wohl in den Vierzigern, und sein Gesicht hätte man schön nennen können, wenn nicht ein unmenschlich harter Zug darin gewesen wäre.

»Es braucht Sie nicht zu interessieren, ob ich klug bin oder nicht«, sagte er. »Mich aber interessiert: Nehmen Sie meinen Vorschlag an?«

»Und das einzige, was mich interessiert, ist, wann und wo ich Ihnen aufs Maul schlagen kann.«

»Ich finde, das sollte er gleich machen«, flüsterte Kalle hinter der Tanne, und Anders nickte zustimmend.

Der Fremde sah den Professor an, als sähe er auf ein kleines unvernünftiges Kind.

»Warum wollen Sie eigentlich hunderttausend Kronen wegwerfen, völlig unnötig wegwerfen?« sagte er. »Ich biete Ihnen für die Formeln hunderttausend – der Preis ist doch wohl mehr als anständig. Dabei brauchen Sie mir die Papiere, falls es Ihr Gewissen zu sehr belastet, nicht einmal selbst in die Hände zu geben. Ein kleiner Hinweis, wo ich sie finde, genügt, und die Auszahlung kann beginnen.«

»Hören Sie, Ingenieur Peters, oder wie zum Teufel Sie sich nennen, Ihr Spatzengehirn hat wohl noch nicht begriffen, daß diese Formeln Eigentum des schwedischen Staates sind.«

Peters zuckte ungeduldig mit den Schultern. »Niemand braucht zu wissen, daß es Ihre Erfindung ist, die aus dem Lande geht. Verstehen Sie doch, man wird bald auch in anderen Ländern unzerstörbares Leichtmetall herstellen können. Das ist nur noch eine Frage der Zeit. Nur um Zeit zu gewinnen, will ich die Formeln jetzt von Ihnen kaufen.«

»Nun aber Schluß«, sagte der Professor wieder.

Peters’ Augen wurden schmal.

»Ich muß sie haben«, sagte er. »Ich muß Ihre Formeln haben.«

Rasmus hatte bis jetzt stillgesessen, nun aber mischte er sich in das Zwiegespräch. »›Muß haben‹ und ›muß haben‹, so sagt man doch wohl nicht. ›Ich bitte sehr darum‹, sagt man.«

»Ruhig, Rasmus«, sagte der Professor.

Der Ingenieur Peters sah die beiden nachdenklich an.

»Netten kleinen Jungen haben Sie«, meinte er. »Ihn möchten Sie sicher nicht gern verlieren?« Der Professor schwieg.

Voller Abscheu sah er den Mann an, der vor ihm stand. »Wollen wir nicht trotzdem einen kleinen Kuhhandel miteinander machen?« fuhr Peters fort. »Berichten Sie mir, wo sich diese Papiere befinden. Ich schicke einen Mann los und lasse sie holen. Sie bleiben so lange hier, bis ich mich davon überzeugt habe, daß die Dokumente echt sind, und dann sind Sie frei und außerdem um hunderttausend Kronen reicher.«

»Halten Sie den Mund«, sagte der Professor. »Ich will nichts mehr hören.«

»Wie gesagt, um hunderttausend Kronen reicher«, fuhr Peters unberührt fort. »In Ihrem eigenen Interesse rate ich Ihnen, auf meinen Vorschlag einzugehen. Denn wenn Sie das nicht tun …«

Es entstand eine kleine, gehässige Pause.

»Ja, denken Sie doch einmal an, wenn ich es nun nicht tue«, sagte der Professor höhnisch. »Was wird dann?«

Der Schimmer eines Lächelns, eines häßlichen kleinen Lächelns, flog über Peters’ Gesicht. »Dann haben Sie Ihren Sohn zum letztenmal gesehen«, sagte er.

»Sie sind wirklich verrückter, als ich glaubte«, sagte der Professor. »Bilden Sie sich tatsächlich ein, daß mich Ihre kindischen Drohungen erschrecken können?«

»Das werden wir ja sehen. Es wäre jedenfalls gut für Sie, wenn Sie sich an den Gedanken gewöhnen könnten, daß Sie es nicht mit leeren Drohungen zu tun haben.«

»Und für Sie wäre es gut, wenn Sie sich an den Gedanken gewöhnen könnten, daß ich niemals erzählen werde, wo ich meine Papiere aufbewahre.«



Rasmus setzte sich kerzengerade auf seines Vaters Knie hoch und beobachtete Peters.

»Nein, und ich werde auch niemals etwas von den Papieren erzählen«, sagte er triumphierend, »obwohl ich weiß, wo sie sind.« Der Professor zuckte vor Unbehagen zusammen.

»Was redest du da für Dummheiten«, sagte er. »Das weißt du doch gar nicht.«

»Weiß ich nicht?« sagte Rasmus. »Wollen wir wetten?«

»Sei ruhig, du weißt ja nicht einmal, wovon wir sprechen!«

sagte der Professor kurz.

»Natürlich weiß ich das«, trumpfte Rasmus auf, der es nicht leiden mochte, wenn jemand daran zweifelte, daß er einem Gespräch folgen konnte. »Ihr sprecht von den Papieren mit all den vielen kleinen roten Zahlen darauf. Und die Zahlen, sagtest du einmal, seien geheim, so geheim, so geheim, so …«

»Ja, gerade davon haben wir gesprochen«, sagte Peters eifrig.

»Aber wo die Papiere mit den Zahlen sind, das kannst du doch wohl nicht wissen. Dafür bist du doch zu klein!«

Der Professor unterbrach ihn wütend. »Das führt doch zu nichts. Begreifen Sie doch, daß ich aus Sicherheitsgründen jede einzelne Seite der Dokumente in ein Bankfach gelegt habe.«

Rasmus sah seinen Vater vorwurfsvoll an. »Jetzt schwindelst du aber, Vater!« sagte er streng. »Die Papiere sind doch gar nicht in ein, wie du gesagt hast, Bankfach gelegt.«

»Schweig, Rasmus!« schrie der Professor außergewöhnlich heftig.

Kalles Herz klopfte, daß er es bis in den Hals hinauf spürte, und er fuhr sich voller Verzweiflung in die Haare. Anders sah aus, als wolle er am liebsten hinstürzen und den Kleinen am Weiterreden hindern. Aber Rasmus glaubte sicher, noch über die Papiere sprechen zu müssen, zumal es ja aussah, als hätte sein Vater ganz vergessen, wie es gewesen war.

»Die sind ganz bestimmt nicht in einem Bankfach, denn das weiß ich«, sagte er überzeugend. »An dem Abend, Vater, als du dachtest, ich liege in meinem Bett und schlafe, habe ich dich nämlich gesehen. Ich stand auf der Treppe in der Diele, und du stecktest …«

»Schweig, Rasmus!« schrie der Professor noch heftiger.

»Warum schreist du denn so?« fragte Rasmus gekränkt. »Ich werde nicht sagen, wo sie sind.« Dann sah er mitleidig zu Peters.

»Aber ich könnte ihm doch schließlich sagen, ob es ›Feuer‹ ist, oder ›Kohle‹ oder ›Wasser‹ – so macht man es doch!«

Der Professor schüttelte ihn sehr unsanft.

»Wirst du wohl endlich ruhig sein!« schrie er.

»Ja, ja, ja, ich werde«, sagte Rasmus ungeduldig. »Habe ich denn schon etwas gesagt?« Er schob überlegend die Unterlippe vor und dachte nach, dann blieb sein Blick an Peters hängen.

»Also ›Kohle‹ ist es auf keinen Fall«, sagte er. »Und ›Wasser‹

auch nicht!« Triumphierend sah er seinen Vater an.

Eva-Lotte sah sich in ihrem Gefängnis um. In ihrem, ehrlich gesagt, recht netten Gefängnis. Wenn dieser Nicke nicht ein paar dicke Latten über die Fensteröffnung genagelt hätte, die Einbildung, sie sei ein sehnsüchtig erwarteter Gast auf der Insel, wäre vollkommen gewesen. Hatte sie nicht wirklich das allersüßeste kleine Gasthaus nur für sich ganz allein bekommen?

Wie gemütlich: vier Sitzbänke an den Seitenwänden, mit ka-riertem Baumwollstoff bezogen, ein Vorhang über der Wasch-gelegenheit, am Fenster ein kleiner Tisch mit Zeitungen und Büchern für die Unterhaltung des Gastes. Von allen Kidnapperwohnungen auf der Welt war diese sicher die eigentümlichste, dachte Eva-Lotte. Viele Kidnapperwohnungen mit einer solchen Aussicht gab es sicher schon gar nicht. Hinter den auf-genagelten Latten stand das Fenster offen, und durch die Zwischenräume sah man auf eine Sommerlandschaft von überwältigender Schönheit. Der Fjord lag im glitzernden Sonnenschein und hielt kleine grüne Inselchen in seinen blauen Armen. Eva-Lotte holte tief Luft. Denkt nur, jetzt den nadeldünnen Pfad zwischen den Tannen entlang zur Brücke laufen können, kopf-

über in das kristallklare Wasser tauchen, auf der Brücke liegen und sich sonnen, die Augen schließen und nur noch das gleichmäßige, leise Schwabben hören, wenn die Boote an ihrer Vertäuung zerren!

Ja, die Boote, die Boote der Kinderräuber! Sie hatten mehrere. Eva-Lotte konnte das Motorboot sehen, in dem man sie über den Sund gebracht hatte. Ganz nahe schaukelten in der schwachen Dünung drei Ruderboote. Auf der Brücke lag außerdem ein großes kanadisches Kanu.

Die Insel muß für Kinderräuber höchst bequem sein, dachte Eva-Lotte. Und Platz war hier, wenn es nötig sein sollte, für eine ganze Schwadron. Zu drängen brauchte sich hier niemand.

Viele kleine Häuschen lagen wie spielerisch hingeworfen im Gelände. Alle hatten den rechten Abstand zu dem großen, feinen, wo der Kidnapperchef residierte. Vielleicht wohnten in all den vielen kleinen Häuschen Kidnapper. Jeder für sich sein eigenes kleines Bienennest. Klopfte man gegen die Tür, kam möglicherweise ein aufgeregter kleiner Kidnapper herausgesurrt und erschreckt einen zu Tode!

Als Eva-Lotte so weit gedacht hatte, machte sie den Nacken steif und sah sehr bestimmt aus. Sie würde sich nicht erschrek-ken lassen. Niemand dürfte hier kommen und sich auf die Nase von Eva-Lotte Lisander setzen! Dieser Nicke sollte wissen, daß Eva-Lotte lebendig war. Mit ihren Fäusten ging sie auf die verschlossene Tür los.

»Nicke«, schrie sie. »Nicke, herkommen! Ich will etwas zu essen haben. Sonst kippe ich das Haus um!«

Anders und Kalle, die unter den Bäumen dem Gespräch zwischen dem Professor und Peters zuhörten, nahmen den Lärm mit Zufriedenheit zur Kenntnis. Gott sei Dank! Eva-Lotte war am Leben und, wie zu hören war, in keiner Weise angebrochen!

Nicke hörte den Lärm natürlich auch. Bei ihm war die Zufriedenheit darüber wesentlich geringer. Verärgert brummend, machte er sich auf, den Lärm zu beenden. Eva-Lotte wurde still, als sie den Schlüssel im Schloß hörte. Nicke kam näher, bereit, sie ordentlich abzukanzeln. Aber seine Zunge war nicht besonders schnell, und Eva-Lotte kam ihm zuvor.

»Die Bedienung in diesem Hotel läßt aber zu wünschen übrig!« sagte sie mit spitzer Betonung jedes einzelnen Wortes.

Nicke hatte plötzlich alles vergessen, was er ihr hatte sagen wollen. Er glotzte Eva-Lotte an, erstaunt und beinahe ein wenig verletzt.

»Nee du, hör du mal«, sagte er. »Nee du, hör …«

»Ja du, hör du mal«, sagte Eva-Lotte. »Reiner Mist ist das hier mit der Bedienung in diesem Hotel. Ich will mein Essen haben! Essen! Falls du Schwedisch verstehst!«

»Dich haben wir unserer Sünden wegen bekommen«, sagte Nicke bitter. »Und daran hat der zweimal dumme Svanberg schuld, der nicht richtig auf das Auto achten konnte. Es wird wirklich interessant sein zu hören, was der Chef davon hält.«

»Na, mit mir habt ihr schließlich einen guten Fang gemacht«, sagte Eva-Lotte. »Für einen Kinderräuber muß es doch wundervoll sein, plötzlich an zwei Kinder zu kommen, wo er nur mit einem gerechnet hat.«

»Nee du, hör du mal«, sagte Nicke wieder. »Der Quatsch gefällt mir nicht. Für dich bin ich noch lange kein Kinderräuber.«

»Bist du nicht? Ja, aber genau bist du für mich der Kinderräuber Nicke. Wenn man Kinder klaut, ist man ein Kinderräuber, das ist dir doch wohl klar. Oder ein Kidnapper. Aber das ist dasselbe auf englisch.«

Wieder sah Nicke so erstaunt und zugleich verletzt aus. Von dieser Seite hatte er das alles vorher sicher nicht angesehen, und er hatte auch jetzt nicht die Absicht, es zu tun.

»Ich bin aber kein Kinderräuber für dich«, sagte er etwas unsicher. »Und übrigens hörst du jetzt auf, solchen Lärm zu machen«, schrie er los, plötzlich überwütend. Er packte Eva-Lotte an den Armen und schüttelte sie. »Hörst du, du hörst auf, solch einen Lärm zu machen, sonst bekommst du eine Tracht Prügel von mir, daß es nur so hagelt.«

Eva-Lotte sah ihm schnurgerade in die Augen. Ihr schwebte unklar vor, so täte man, wenn man wilde Bestien zähmte.

»Ich will etwas zu essen haben«, sagte sie bestimmt. »Bald wird es sich hier anhören, als fordere eine ganze Schulklasse ihr Essen, wenn ich nicht mein Essen kriege.«

Nicke fluchte und ließ sie los. Er ging auf die Tür zu.

»Jaja, du sollst zu essen haben«, sagte er. »Haben die Gnä-digste besondere Wünsche?«

»Hm, na – Schinken und Ei vielleicht«, sagte Eva-Lotte. »So etwas mag ich zum Frühstück recht gern. Und die Eier auf beiden Seiten gebraten, bitte sehr! Und vor allem: schön mit Tempo, etwas schneller, wenn ich bitten darf.«

Nicke schlug die Tür mit einem lauten Knall hinter sich zu.

Eva-Lotte hörte, wie der Schlüssel im Schloß umgedreht wurde.

Und sie hörte, wie Nicke in ganzen Serien fluchte.

Bald danach aber hörte sie etwas anderes, etwas, was sie mit grenzenloser Freude erfüllte. Sie hörte, wie ganz leise vor ihrem Fenster das Signal der Weißen Rosen gepfiffen wurde. Ganz leise – aber herrlicher als alle Harfentöne des Himmels.

SECHSTES KAPITEL

Kalle wachte mit einem Ruck auf. Ziemlich verwirrt sah er sich um. Wo war er? War es Abend oder Morgen? Und warum lag dort Anders?

Langsam begann es sich in seinem Gehirn zu klären: Es war Abend. Er lag in einer Hütte, die er zusammen mit Anders gebaut hatte. Die letzten Strahlen der Sonne färbten draußen die Kiefern bei den Felsen rot. Und Anders lag einfach dort, weil er übermüdet war. Was für ein Tag! Strenggenommen, hatte er ja bereits gestern abend in der Schloßruine begonnen. Und jetzt war wieder Abend. Fast den ganzen Nachmittag hatten Anders und er geschlafen. Der Schlaf war nötig gewesen. Vorher aber hatten sie sich noch diese wunderbare Hütte gebaut.

Kalle streckte seine Hand aus und betastete die Wand aus Tannenzweigen. Ja, er liebte diese Hütte! Sie war jetzt ihr Zu-hause, ein kleiner Ort des Friedens, den sie sich, so weit als irgend möglich von den Kidnappern entfernt, geschaffen hatten.

Hier konnte keiner sie finden. Die Reisighütte lag eingebettet in einer Mulde zwischen zwei Felsen. Wenn man nicht direkt auf sie zukam, war es sehr schwer, sie zu entdecken. Hier war Schutz vor allen Winden und weiches Tannengrün, darauf zu schlafen. Die Felsen hatten noch viel von der Sonnenwärme des Tages aufgespeichert; zu frieren brauchten sie in der Nacht nicht. Ja, es war eine wunderbare Hütte.

»Bist du hungrig?« fragte Anders. Es kam so unerwartet, daß Kalle zusammenzuckte.

»Bist du aufgewacht?«

Anders setzte sich auf seinem Bett aus Tannenzweigen auf.

Seine Haare waren struwwelig, und auf einer Backe zeigte sich ein zierliches rotes Tannenzweigmuster.

»Ich bin so hungrig, ich glaube, ich könnte jetzt sogar gekochten Schellfisch essen«, stöhnte er.

»Sprich nicht davon, Anders«, sagte Kalle. »Ich wollte gerade hinausgehen, um etwas Borke von den Bäumen abzunagen.«

»Ja, ja, wenn man einen langen Tag von Blaubeeren gelebt hat, möchte man ja schließlich abends etwas Hartes zwischen die Zähne kriegen«, gab Anders zu.

Eva-Lotte war ihre einzige Hoffnung. Sie hatte ihnen versprochen, etwas zu essen zu beschaffen. »Ich werde Nicke um den Verstand bringen«, hatte sie gesagt. »Ich werde ihm erzählen, daß der Doktor mir verordnet hat, jede, aber auch jede Stunde zu essen. Ihr werdet schon nicht verhungern, keine Angst! Kommt zurück, wenn es dunkel wird.«

Das war am Morgen gewesen. Sie hatten vor Eva-Lottes Fenster gestanden und gepfiffen, bereit, beim ersten Zeichen von Gefahr zu fliehen. Und als Nicke mit Eva-Lottes Frühstück zurückkam, hatten sich Anders und Kalle davongeschlängelt wie zwei aufgescheuchte Eidechsen. Im Nu waren sie verschwunden, obwohl ihnen der Duft von dem gebratenen Schinken nicht aus der Nase ging. Sie hörten nur noch Eva-Lottes bitteren Vorwurf gegen Nicke: »Glaubst du, ich bin hierhergekommen, um Hunger-kuren mitzumachen?« Nickes Antwort ging ihnen verloren. Die Eidechsen waren bereits tief im Wald verschwunden.

Sie waren dann zur anderen Seite der Insel übergewechselt.

Dort hatten sie den Tag damit zugebracht, ihre Hütte zu bauen, bei den Felsen zu baden, zu schlafen und Blaubeeren zu essen.

Viel zuviel Blaubeeren. Und jetzt waren sie hungriger, als sie je für menschenmöglich gehalten hatten.

»Aber wir müssen ja warten, bis es dunkel wird«, sagte Anders finster.

Sie krochen aus der Hütte und kletterten auf den Felsen. In einer Spalte machten sie es sich bequem, um die Nacht und das Dunkel, die Rettung vor dem Hungertod, abzuwarten. Da saßen sie nun und beobachteten mit sauren Gesichtern den schönsten Sonnenuntergang ihres Lebens und empfanden wirklich deutlich nur die Ungeduld darüber, daß es so langsam ging. Wie eine Feuersbrunst leuchtete drüben der Himmel über den Baumspitzen des Festlandes. Noch war ein Stück der roten Sonnen-scheibe zu sehen, aber bald würde auch dieses in den dunklen Wäldern dort drüben verschwinden. Die Finsternis, die gute, die gesegnete Finsternis, würde sich dann über Land und Wasser und über alle senken, die Schutz vor Kidnappern brauchten.

Wenn es bloß etwas schneller gehen würde!

Der Felsen fiel steil zum Wasser ab, und unten, wo Fels und Wellen sich trafen, konnte man ein kleines spielerisches Schwabben hören. Irgendwo draußen über dem Fjord schrie wild und melancholisch ein Seevogel, sonst war alles still.

»Es geht mir langsam auf die Nerven«, stellte Kalle fest.

»Und ich denke gerade daran, was die zu Hause wohl sagen«, meinte Anders. »Glaubst du, wir werden schon vom Radio gesucht?«

Anders hatte es kaum ausgesprochen, als sie sich beide des Zettels erinnerten, den Eva-Lotte gestern abend »als Beruhigungspille« zu Hause auf ihr Kopfkissen gelegt hatte. »Stellt Euch bloß jetzt nicht an, ich komme bald zurück, glaube ich.«

Selbst wenn die Eltern in diesem Falle ziemlich ärgerlich und sicher auch über ihr Verschwinden beunruhigt waren, so war damit noch lange nicht gesagt, daß sie nach dem Bescheid von Eva-Lotte Hals über Kopf die Polizei alarmiert hatten. Und wenn Anders’ und Kalles Eltern sich erst einmal mit Bäckermeister Lisander besprochen hatten, so würden sie ja wohl, wenn auch mit einigem Zorn über die vielen dummen Streiche der Weißen Rosen, Ruhe geben. Das war vielleicht auch gut so.

Wer weiß, ob es sehr klug sein würde, die Polizei in diese Angelegenheit hineinzuziehen? Kalle hatte ausreichend viele Kidnapper-Geschichten gelesen, um zu wissen, wie gefährlich das werden konnte. Auf jeden Fall sollte man doch zuerst auf irgendeine Weise mit dem Professor reden.

Bei dem Ingenieur Peters war Licht. Überall sonst war es dunkel. Und still. Es war eine so tiefe Stille, daß man sie fast hören konnte. Alle Menschen hier mußten wohl schlafen.

Nein, es schliefen nicht alle! Schmerzhaft wach lag der Professor auf seinem Bett und quälte sich selbst in endlosem Gegrü-bel. Seit vielen Jahren war er es gewohnt, eine Lösung für die Probleme, die ihn beschäftigten, zu finden. Das Problem, mit dem er sich jetzt zu befassen hatte, war so außerordentlich ver-worren, daß er über alles nur hilflos den Kopf schütteln konnte.

Es gab für ihn keine Möglichkeit, etwas zu tun, – er mußte es sich in ohnmächtiger Wut eingestehen. Er konnte nur warten.

Worauf konnte er warten? Daß ihn jemand vermissen und suchen würde? In Kleinköping bestimmt nicht. Die alte Villa dort hatte er ja gerade deshalb gemietet, weil er allen Menschen fern sein und Ruhe für seine Arbeit haben wollte, bis seine Frau zurückkam. Nur mit Rasmus wollte er dort den Sommer verbringen. Es konnte wirklich noch sehr lange dauern, bis überhaupt jemand bemerkte, daß er verschwunden war.

Als der Professor in seinen Gedanken so weit gekommen war, sprang er heftig von seinem Bett auf. Es war unmöglich einzuschlafen! Kreuz, wenn man doch nur diesen Peters in winzig kleine Stückchen hauen könnte!

Eva-Lotte schlief auch nicht. Sie saß an ihrem Fenster und horchte angespannt auf jeden Laut von draußen. War es nur der Nachtwind, der in den Zweigen raschelte, oder kamen sie nun doch endlich, Kalle und Anders?

Der Tag war lang gewesen, furchtbar lang. Für den, der die Freiheit liebt, ist es unerträglich, einen ganzen Tag lang eingesperrt zu sein. Mit einem Schütteln dachte Eva-Lotte an all die Armen, die in Gefangenschaft schmachten mußten. Sie hätte am liebsten in der ganzen Welt umherlaufen und die Gefängnisse öffnen mögen, um alle Gefangenen aus ihren Löchern zu befreien. Sie wußte ganz gut, daß man nicht alle hätte befreien dürfen – diese Kidnapper hätte sie ja selbst gern hinter Schloß und Riegel gesetzt –, aber jetzt eben spürte sie diesen unsinnigen Wunsch. Denn das war ja das Schlimmste von allem: nicht hinaus dürfen, wenn man gerade wollte!

Etwas wie eine Panik ergriff sie, und sie sprang wild auf das Fenster mit den übergenagelten Latten zu, das sie von der Freiheit trennte. Da fiel ihr Rasmus ein – sie mußte sich beherrschen. Rasmus durfte sie nicht wecken. Er schlief ruhig und zufrieden auf seiner Bank. Sie hörte im Dunkeln seine regelmäßi-gen Atemzüge. Ihre panikartige Angst ging zurück. Sie war ja nicht allein.

Aus der Stille von draußen kam nun endlich das erwartete Signal, das Signal der Weißen Rosen, und bald darauf die hastig gezischte Frage: »Eva-Lotte, hast du was zu essen für uns?«

»Und wie!« sagte Eva-Lotte.

Sie beeilte sich, zwischen den Latten Butterbrote und kalte Kartoffeln und kalte, fettige Wurstscheiben und kalte Schinken-stücke hindurchzuschieben. Sie bekam nicht das kleinste »Danke«

von denen da draußen, denn es war technisch unmöglich, mehr als ein zufriedenes Grunzen während des Kauens auszustoßen.

Nun, da sich Eßbares in Reichweite befand, war ihr Hunger noch rasender als zuvor, und so stopften sie alle Delikatessen, die ihnen Eva-Lotte aus dem Fenster reichte, in sich hinein.

Schließlich mußten sie aber einmal Atem holen, und Kalle murmelte: »Ich hatte völlig vergessen, daß Essen so gut sein kann.«

Eva-Lotte lachte im Dunkeln. Sie war glücklich wie eine Mutter, die ihren hungrigen Kindern Brot gibt. Aber sie flüsterte: »Steckt den Rest in die Taschen. Haltet euch nicht auf.«

»Ja, tatsächlich«, sagte Anders. »Das wäre das beste …«

Kalle unterbrach ihn: »Du, Eva-Lotte, weißt du, wo der Professor ist?«

»Er sitzt eingesperrt in dem Häuschen oben auf dem Felsen«, erwiderte Eva-Lotte. »In dem Häuschen, das der See am nächsten liegt.«

»Glaubst du, daß Rasmus auch dort ist?«

»Nein, Rasmus ist hier bei mir. Er schläft.«

»Ja, ich schlafe«, sagte ein zartes Stimmchen aus der Dunkelheit.

»Ach so, du bist wach«, wunderte sich Eva-Lotte.

»Da soll man wohl aufwachen, wenn Leute so laut schmat-zend Butterbrote essen.« Er kam leise zu Eva-Lotte und kletterte auf ihre Knie. »Sind da wirklich Kalle und Anders gekommen?« fragte er begeistert. »Wollt ihr kämpfen? Darf ich nicht auch eine Weiße Rose werden?«

»Das kommt darauf an, ob du schweigen kannst«, sagte Kalle mit tiefer Stimme. »Du darfst vielleicht eine Weiße Rose werden, wenn du versprichst, niemand zu erzählen, daß du Anders und mich gesehen hast.«

»Mache ich«, sagte Rasmus bereitwillig.

»Du darfst mit keinem Wort gegen Nicke oder irgendeinen anderen erwähnen, daß wir hier gewesen sind. Verstehst du das?«

»Warum eigentlich? Kann Nicke euch nicht leiden?«

»Nicke weiß doch nicht, daß wir hier sind«, sagte Anders.

»Und er darf es niemals wissen. Nicke ist ein Kidnapper, verstehst du?«

»Sind Kidnapper nicht nett?« fragte Rasmus.

»Nein«, sagte Eva-Lotte.

» Ich finde, sie sind nett«, versicherte Rasmus. »Ich finde, Nicke ist sooo nett. Warum dürfen Kidnapper keine Geheimnisse erfahren?«

»Weil sie das nicht dürfen«, sagte Kalle kurz. »Und du darfst nie eine Weiße Rose werden, wenn du nicht schweigen kannst.«

»Ja, ja, das kann ich«, rief Rasmus eifrig. Er war bereit, bis an das Ende seines Lebens zu schweigen, wenn er eine Weiße Rose werden durfte.

Schwere Schritte kamen auf das Haus zu, und Eva-Lottes Herz schlug vor Schreck einen kleinen Purzelbaum.

»Verschwindet!« flüsterte sie. »Beeilt euch! Nicke kommt.«

Einen Augenblick später drehte sich der Schlüssel im Schloß.

Der Schein einer Taschenlampe erhellte das Zimmer, und Nik-ke fragte mißtrauisch: »Mit wem sprichst du?«

»Dreimal darfst du raten«, sagte Eva-Lotte. »Hier sitzen Rasmus und ich und dann ich und Rasmus. Mit mir selbst pflege ich nicht zu sprechen. Nun rate, mit wem habe ich wohl gesprochen?«

»Aber du bist ein Kidnapper, und Kidnapper dürfen niemals Geheimnisse erfahren«, sagte Rasmus voller Mitleid.

»Nee du, hör du mal«, sagte Nicke und machte einen heftigen, schnellen Schritt auf Rasmus zu. »Fängst du auch schon an, mich Kidnapper zu schimpfen?«

Rasmus nahm Nickes große Hand und sah vertrauensvoll auf in das wütende Gesicht.

»Ja, aber ich finde doch, daß Kidnapper nett sind«, beteuerte er. »Ich finde, du bist sehr, sehr nett, kleiner Nicke!«

Nicke murmelte etwas Unverständliches und wollte gehen.

Da hielt Eva- Lotte ihn zurück. »Ist das Absicht, daß man hier in diesem Hause zu Tode gehungert werden soll?« fragte sie laut. »Warum bekommt man hier kein Nachtessen?«

Nicke drehte sich um und sah Eva-Lotte aufrichtig erstaunt an. »Deine armen Eltern«, sagte er schließlich. »Die müssen ja Millionäre sein, um dich satt zu kriegen.«

Eva-Lotte grinste. »An Appetit fehlt es mir nie«, stellte sie zufrieden fest.

Nicke sagte nichts. Er hob Rasmus von ihrem Knie und trug ihn zur Bank. »Ich glaube, Häschen, du mußt jetzt schlafen«, sagte er.

»Müde bin ich nicht«, versicherte Rasmus. »Ich habe ja den ganzen Tag geschlafen.« Nicke drückte ihn wortlos in das Kissen, das auf der Bank lag. »Willst du mir, bitte, die Füße noch gut einwickeln«, bat Rasmus. »Ich finde es nämlich so unordentlich, wenn die Zehen herausgucken.«

Kichernd und mit einem recht erstaunten Ausdruck im Gesicht tat Nicke, worum er gebeten worden war. Dann stand er da und sah nachdenklich auf Rasmus hinab.

»Du bist mir schon eine nette kleine Ordnung«, sagte er. Der dunkle Kopf des Jungen ruhte auf dem Kissen. Im schwachen Schein der Taschenlampe sah er unwahrscheinlich zart und lieblich aus. Seine Augen waren blank, und sie lachten Nicke freundlich an.

»Oh, wie bist du doch nett, kleiner Nicke«, sagte er, »komm, ich will dich umfassen und drücken. Aber genau so, wie ich Vati immer drücke.« Nicke kam gar nicht dazu, sich zu wehren.

Rasmus legte einfach die Arme um seinen Hals, und dann drückte er Nicke so kräftig, wie seine kleinen fünfjährigen Ärm-chen es erlaubten.

»Tut es weh?« fragte er stolz.

Zuerst konnte Nicke gar nichts sagen. Dann schluckte er, und dann murmelte er undeutlich: »Nee, das tut nicht weh …

Das nicht …«

SIEBTES KAPITEL

Oben auf einem Felsen lag das Häuschen, wo der Ingenieur Peters seinen kostbaren Gast einquartiert hatte. Es lag dort wie ein Adlernest und war nur von einer Seite zugänglich. Die Rückwand schloß mit dem Felsen ab, der ziemlich senkrecht zum Strand abfiel.

»Wir müssen dort hinaufklettern«, sagte Kalle und zeigte mit dem fettigen Zeigefinger zu dem Fenster des Professors hinauf.

»Wenigstens einer von uns.«

Nach seinem Abenteuer in der Schloßruine war Anders nicht besonders darauf aus, an steilen Klippen herumzuklettern, wenn es auch diesmal lange nicht so beängstigend hoch war.

»Können wir nicht den richtigen Weg an der Vorderseite hochschleichen wie normale Sterbliche?« schlug er vor.

»Ja, und genau Nicke oder jemand anders in die Arme laufen.

Niemals!«

»Klettere du«, sagte Anders. »Ich bleibe hier unten und passe auf.«

Kalle bedachte sich keinen Moment. Er leckte das letzte Schinkenfett von den Fingern und begann zu klettern.

Es war inzwischen nicht mehr so dunkel. Die runde Scheibe des Mondes stieg langsam empor. Noch wußte Kalle nicht, ob er dafür dankbar sein sollte. Es war zwar leichter, im Mondschein zu klettern, aber es war auch leichter, den zu sehen, der kletterte. Vielleicht war es besser, dafür dankbar zu sein, daß der Mond schien und sich dann und wann einmal hinter einer ziehenden Wolke versteckte. Kalle atmete ruhig und kletterte. An und für sich war es bestimmt keine besonders gefährliche Berg-steigerangelegenheit, aber der Gedanke, ganz plötzlich vielleicht eine Koppel Kidnapper an den Fersen kleben zu haben, trieb ihm doch den Angstschweiß auf die Stirn.

Vorsichtig tasteten sich seine Füße und Hände vor. Langsam arbeitete er sich empor. Manchmal war es nicht leicht. Es konnte ihm schon einige schwindelnde Augenblicke lang geschehen, daß er gleichsam wie im leeren Nichts schwebte und es schwer hatte, das Feste zu fassen. Aber anscheinend besaßen seine Füße doch die instinktive Begabung, sich zwischen lockerem Gestein, Spalten und Wurzeln zurechtzufinden, und so fand sich immer wieder eine Stelle, an die er sich klammern konnte.

Nur einmal verließ der Instinkt seinen großen Zeh, und er stieß einen Stein ab, der mit großem Getöse die Steilung hinun-terrollte. Kalle war vor lauter Aufregung dicht daran, selbst hin-terherzurollen, aber eine Baumwurzel, die er noch fassen konnte, rettete ihn. Zitternd klammerte er sich an ihr fest und wagte lange Zeit nicht, sich zu rühren.

Anders hörte den Lärm, als der Stein herunterkam. Um ihn nicht auf den Schädel zu bekommen, sprang er blitzschnell zur Seite und murmelte wütend in sich hinein: »Am besten bläst er noch auf der Posaune, damit sie ja sicher hören, daß er kommt!«

Aber anscheinend hatte niemand außer Anders den Krach gehört. Und als Kalle mit klopfendem Herzen noch einige Minuten lang gewartet hatte, ohne daß etwas geschah, ließ er die rettende Wurzel los und kletterte weiter.

In seinem dunklen Zimmer lief der Professor auf und ab wie ein Tier im Käfig. Es war nicht auszuhalten, einfach nicht auszuhalten! Man wurde verrückt davon. Ganz sicher würde er verrückt werden, so verrückt, wie dieser Peters wohl schon lange war. Er war also einem Geistesgestörten ausgeliefert. Er wußte nicht, was man mit Rasmus machte. Er wußte nicht, ob er jemals wieder hier herauskam. Und hier war es so dunkel wie in einer Grabkammer. Tausend Flüche über diesen Peters! Ein Licht hätte er ihm wohl zumindest geben können. – Wenn man diesen Strolch doch nur einmal zwischen die Finger bekommen könnte!

– Ruhig! – Was war das? Der Professor blieb steif stehen. Waren es nur seine aufgepeitschten Nerven, die ihm einen Streich spielten, oder war wirklich etwas da, was an das Fenster klopfte? Aber dieses Fenster, durch dessen Gitter er den ganzen siebenfach verdammten Tag gestarrt hatte, dieses Fenster lag doch über dem Abgrund – dort konnte doch wohl kein Mensch … Himmel, da klopfte es wieder. Es war tatsächlich jemand da!

Mit einem Gefühl, das aus wildem Hoffen und Verzweiflung gemischt war, lief er zum Fenster und öffnete es. Der Bauherr dieses Wochenendhauses mußte wohl eine Vorliebe für Gefängnisgitter gehabt haben – wie hätte er sonst dieses uner-reichbare Fenster vergittern lassen können! Aber wenn es auch vielleicht als skurriler Einfall für ein Wochenendhaus gedacht war, ein starkes Eisengitter blieb es trotzdem.

»Ist jemand dort?« flüsterte der Professor. »Wer ist da?«

»Ich bin es bloß. Kalle Blomquist.«

Das war ganz leise gesprochen, aber es ließ den Professor vor Aufregung erzittern. Seine Hände krampften sich um das Gitter.

»Kalle Blomquist? Wer – ach so, jaja, jetzt erinnere ich mich.

Gesegneter kleiner Kalle, weißt du etwas von Rasmus?«

»Er ist in einem Häuschen drüben bei Eva-Lotte. Ihm geht es ausgezeichnet.«

»Gott sei Dank!« flüsterte der Professor erleichtert. »Peters sagte, ich hätte Rasmus zum letztenmal gesehen …«

»Herr Professor, ich hole die Polizei!« sagte Kalle.

Der Professor griff sich an die Stirn: »Nein, nein, nicht die Polizei. Wenigstens jetzt noch nicht. Auf keinen Fall! Rasmus ist in größter Gefahr. Ich weiß weder ein noch aus … Ich glaube, dieser Peters meint ernsthaft, was er sagt … Hast du nicht gelesen, daß geraubte Kinder von den Kidnappern umgebracht worden sind, als die Polizei eingriff? Dieser Peters droht … Ich habe Angst um Rasmus … Nein, nein, nicht die Polizei – nicht, bevor ich Rasmus in Sicherheit habe.«

Er packte das Gitter und flüsterte schnell: »Das Schlimmste ist: Rasmus weiß, wo ich die Papiere mit den Formeln aufbewahre. Von der Erfindung, wenn du dich erinnerst. Und dieser Peters weiß das. Es wird nicht lange dauern, und er hat Rasmus gezwungen, das Versteck zu verraten.«

»Wo sind sie?« fragte Kalle. »Können Anders und ich sie nicht in Sicherheit bringen?«

»Glaubst du?« Der Professor erregte sich so sehr, daß ihm fast die Stimme fortblieb. »Großer Gott, wenn ihr das wirklich fertigbringen könntet! Ich habe sie … Meint ihr wirklich … Sie stecken hinter …«

Aber Kalle erfuhr das kostbare Geheimnis nicht. Der Professor mußte schweigen, weil hinter ihm die Tür aufging. Noch eine Sekunde, und er hätte sagen können, was er sagen wollte!

Peters aber stand bereits auf der Schwelle. Er hatte eine Petroleumlampe in der Hand. Er grüßte sehr höflich.

»Guten Abend, Herr Professor Rasmusson!« Der Professor schwieg. »Hat Ihnen der verdammte Nicke nicht einmal eine Lampe hiergelassen?« fuhr Peters fort. »Bitte sehr, ich stelle Ihnen natürlich diese hier zur Verfügung.« Freundlich lächelnd stellte er die Petroleumlampe auf den Tisch. Der Professor sagte noch immer kein Wort.



»Ich soll Sie von Rasmus grüßen«, sagte Peters, während er den Docht etwas niedriger schraubte. »Ich glaube fast, ich bin gezwungen, den Kleinen ins Ausland zu schicken.« Der Professor machte eine Bewegung, als wolle er sich auf seinen Quälgeist stürzen, aber Peters wehrte kurz mit der Hand ab.

»Nicke und Blom stehen draußen«, sagte er. »Wenn Sie schlagen wollen, schlagen wir zurück. Und – vergessen Sie nicht: Wir haben Rasmus.«

Der Professor setzte sich auf das Bett und preßte die Hände vors Gesicht. Sie hatten Rasmus! Sie hatten jeden Trumpf in der Hand! Er hatte nur Kalle Blomquist. Blomquist war seine einzige Hoffnung, und er mußte deshalb ruhig bleiben. Er mußte … Er mußte …

Peters ging durch das Zimmer. Dann stellte er sich mit dem Rücken ans Fenster.

»Gute Nacht, mein Freund«, sagte er leichthin. »Sie haben ja noch Zeit, sich die Angelegenheit zu überlegen. Allerdings nicht mehr sehr lange, fürchte ich.«

Draußen preßte sich Kalle fest gegen die Wand. Er konnte Peters’ Stimme hören, als sei er selbst der Angesprochene, und ängstlich versuchte er, etwas auszuweichen. Dabei setzte er seinen Fuß auf einen Grasbüschel – und mit laut vernehmbarem Krach rutschte Meisterdetektiv Blomquist die steile Wand hinunter und knallte, bedeutend schneller als vorgesehen, Anders vor die Füße. Kalle stöhnte, und Anders beugte sich beunruhigt über ihn.

»Hast du dich gestoßen? Tut es weh?«

»Nein, keine Sorge, es ist ein herrliches Gefühl«, versicherte Kalle, noch einmal aufstöhnend. Es blieb ihm aber keine Zeit, an seine blauen Flecke zu denken. Oben vom Haus her war Peters’ Stimme zu hören. Er schrie:

»Nicke! Blom! Wo seid ihr! Durchsucht sofort mit euren Lampen das Gelände unten am Haus! Sofort! Rasch!«

»Du guter Moses«, flüsterte Anders.

»Genau das«, sagte Kalle. »Jetzt können wir uns ganz schön leid tun.«

Bevor sie überhaupt an Flucht denken konnten, begannen die Strahlen der Taschenlampen schon zwischen den Bäumen zu spielen. Jeden Moment konnten sie sich mitten im Lichtke-gel befinden. Es war unangenehm, auch nur daran zu denken!

Nicke und Blom kamen angerast. Kalle und Anders hörten, wie sie sich näherten. Sie wollten weglaufen, aber die Angst lähmte sie. Als Nicke kaum fünfzig Schritte von ihnen entfernt war, drückten sie sich endlich in eine Spalte zwischen zwei großen Steinen. Es war die engste kleine Schlucht, und sie klemmten sich in sie hinein, als wollten sie die Steine ausein-anderpressen. So fühlt man sich sicherlich als armes geplagtes Tier, wenn in der Nähe die Bluthunde keuchen, dachte Kalle verzweifelt.

Und dann waren die Bluthunde über ihnen. Das Scheinwerferlicht flatterte umher, zuckte hierhin und dorthin. Krampfhaft klammerte Kalle und Anders sich aneinander. Sie dachten plötzlich beide an ihre Mütter. Der Mond leuchtete boshaft zwischen die Bäume, gerade als reichten die Lampen noch nicht aus.

»Hierher, Nicke!« schrie Blom. Seine Stimme klang entsetzlich laut und nahe. »Wir wollen einmal zwischen die dichten Tannen dort sehen. Ist jemand hier, so ist er dort.«

»Er kann ja wohl nicht gleichzeitig hier und dort sein«, grunzte Nicke. »Außerdem glaube ich, daß der Chef phantasiert.«

»Das werden wir bald genau wissen«, sagte Blom grimmig.

»Mutter, Mutter, Mutter«, dachte Kalle, »jetzt kommen sie –jetzt ist es mit uns zu Ende – zu Ende für immer …«

Ganz, ganz dicht waren sie nun herangekommen, und für den Bruchteil einer Sekunde leuchtete Nickes Lichtstrahl in das Versteck der Jungen hinein.

Aber manchmal geschehen Wunder.



»Was denn, was denn? Was ist denn mit meiner Taschenlampe?« sagte Nicke. Dank und Preis und Dank und Lob –

Nickes Lampe war erloschen. Und um das Wunder noch vollkommener zu machen, verschwand gleichzeitig der Mond hinter einer großen Wolke. Blom kroch eifrig in allernächster Nähe zwischen dichten Tannen umher. Nicke folgte ihm. Er versuchte, seine Lampe klar zu bekommen.

»Ist jemand hier, so ist er dort«, brummelte er, Bloms Sprache nachahmend, vor sich hin. »Soso, nun geht sie wieder«, fuhr er zufrieden fort und ließ den Lichtstrahl zwischen den Tannen umherhuschen. Es war aber niemand zu finden, und Nicke gab Blom einen Puff in die Seite und sagte: »Na, was hab’

ich gesagt? Der Chef phantasiert. Mit seinen Nerven ist was nicht in Ordnung. Hier findet sich keine Schnauze.«

»Nee, hier ist alles leer«, bestätigte Blom mißlaunig.

»Aber wir gehen noch’n Stück weiter – zur Sicherheit.«

»Jaja«, dachte Kalle, »macht das mal – zur Sicherheit«.

Und wie auf Kommando flitzten er und Anders lautlos die paar Meter, die sie von den Bäumen trennten, und schlüpften unter den allerdichtesten. Die Erfahrung im Krieg der Rosen hatte sie gelehrt, daß es nirgends sicherer ist als in dem Versteck, das gerade untersucht worden ist.

Nicke und Blom kamen schnell zurück. Sie gingen so dicht an den Tannen vorbei, daß Kalle, wenn er die Hand ausgestreckt hätte, von ihnen gestreift worden wäre. Sie gingen auch an der kleinen Mulde zwischen den Steinen vorbei, und Blom leuchtete dort besonders sorgfältig. Aber dort war niemand mehr.

»Ist jemand hier, so ist er auf gar keinen Fall dort.« Nicke lachte und leuchtete noch einmal pedantisch genau die Mulde ab.

»Na, stell dir vor, er ist hier, weil er nicht dort ist«, flüsterte Kalle mit einem Seufzer der Erleichterung.

ACHTES KAPITEL

Ein neuer Tag stieg empor, und wie immer schien die Sonne wieder über die Bösen und die Guten. Sie weckte Kalle und Anders, die friedlich auf den Tannenzweigen in ihrer Hütte schlum-merten.

»Was wollen wir denn heute essen?« fragte Anders ironisch.

»Frühstück: Blaubeeren«, sagte Kalle. »Mittagessen: Blaubeeren – und zum Abendbrot, na, was denkst du: Wollen wir da nicht zur Abwechslung mal ein paar Blaubeeren mehr essen?«

»Nein, nein, für das Abendbrot muß Eva-Lotte sorgen«, sagte Anders voller Überzeugung.

Sie erinnerten sich an gestern und seufzten sehnsuchtsvoll bei dem Gedanken an alles, was sie da gegessen hatten. Aber sie be-sannen sich auch auf die schauerlichen Erlebnisse, und es lief ihnen unangenehm den Rücken hinunter. Sie wußten, heute abend mußten sie alles noch einmal mitmachen. Es war unabän-derlich. Der Professor erwartete sie. Das konnten sie gut verstehen. Einer mußte also wieder zu seinem Fenster hochklettern, um zu hören, wo sich diese Papiere befanden. Wenn sie die Dokumente des Professors retten konnten, hatten sie eine wirklich gute Tat in ihrem Leben vollbracht.

Kalle betastete seine zerschrammten Arme und Beine.

»Es ist wohl besser«, sagte er, »wenn ich es mache. Blaue Flecke gehören zu blauen Flecken. Aber jetzt wäre ein kleines flottes Frühstück nicht zu verachten.«

»Die Zubereitung des Essens liegt in meiner Hand«, sagte Anders dienstbereit. »Bleib bitte hier. Du bekommst deine Blaubeeren ans Bett.«

Rasmus und Eva-Lotte bekamen ihr Frühstück auch ans Bett, nur war ihr Frühstück wesentlich stabiler. Nicke hatte sich anscheinend entschlossen, den vorlauten Mädchenmund auf diese Weise zu stopfen. Triumphierend hielt er der halbwachen Eva-Lotte ein Tablett unter die Nase: Schinken und Rührei, dicke süße Haferflocken mit kühler Sahne und belegte Butterbrote. Es sah aus wie ein Frühstück für ein Regiment.

»Auf, auf, essen, Mädchen! Damit du nicht verhungerst!«

drängte er. Eva-Lotte blinzelte mit einem Auge auf das Tablett.

»Es macht sich«, sagte sie anerkennend. »Aber morgen könntest du getrost noch einige gebackene Waffeln dazulegen. Voraus-gesetzt, daß dich bis dahin die Polizei noch nicht geschnappt hat.«

Rasmus setzte sich hastig auf.

»Die Polizei darf Nicke nicht schnappen«, sagte er, und seine Stimme zitterte ein wenig. »Die dürfen doch wohl nicht nette Leute mitnehmen.«

»Nette Leute nicht, aber Kidnapper nehmen sie«, sagte Eva-Lotte kühl und griff zu einem Wurstbrot.

»Nee du, hör du mal«, sagte Nicke. »Jetzt langt mir das Ge-fasel vom Kidnapper aber bald.«

»Und mir langt es bald, immer noch gekidnappt zu sein. Das gleicht sich also aus.«

Nicke glotzte sie böse an: »Dich hat niemand gebeten herzu-kommen. Ohne dich wäre hier die schönste Sommerfrische.« Er ging zu Rasmus und setzte sich neben ihn. Rasmus reckte seine kleine warme Hand und streichelte Nickes Kinn.

»Ich finde, Kidnapper sind nett«, stellte er fest. »Was machen wir heute, Nicke?«

»Zuerst wollen wir einmal herrlich frühstücken«, erwiderte Nicke. »Dann werden wir weitersehen.«

Die Auffassung, daß Nicke ein netter Kerl sei, hatte Rasmus schon seit den ersten Stunden auf der Insel.

Von Anfang an war Rasmus der Meinung gewesen, daß diese ganze Reise ein wunderbarer Einfall seines Vaters war. Es machte Spaß, Auto zu fahren, es war schön, im Motorboot zu sitzen, und an der Anlegestelle auf dieser Insel lagen so viele Boote! Er wollte Vati auch noch bitten, daß er baden durfte. Aber dann war dieser dumme Onkel gekommen und hatte alles in Unordnung gebracht.

Er hatte so seltsam mit Vati gesprochen, und Vati war böse geworden und hatte seinen Rasmus angeschrien, und dann war Vati verschwunden und hatte sich nicht mehr bei Rasmus sehen lassen.

Und langsam waren ihm Zweifel gekommen, ob alles wirklich so wunderbar war. Er hatte versucht, gegen seine Tränen, die hervor wollten, anzukämpfen, aber schnell waren die ersten unterdrückten Schluchzer in einen Sturzbach von Tränen über-gegangen. Peters hatte ihn unsanft zu Nicke geschoben und gesagt: »Übernimm du den Jungen.«

Das war ein schwerer Auftrag für Nicke gewesen. Er hatte sich kummervoll den Kopf gekratzt. Wußte er, wie man mit weinenden Kindern umzugehen hatte? Aber er war bereit gewesen, alles zu tun, um die Heulerei zu beenden.

»Soll ich dir einen Flitzbogen machen?« hatte er in seiner Not vorgeschlagen. Das hatte wie eine Zauberformel gewirkt.

Die Tränen hatten so schnell aufgehört, wie sie begonnen hatten, und Rasmus’ Glaube an die Menschheit war wiederhergestellt gewesen. Dann hatten sie zwei Stunden lang Zielschießen mit dem neuen Flitzbogen geübt – und für Rasmus stand fest: Nicke war nett. Und wenn nun Eva-Lotte sagte, daß Nicke ein Kidnapper war, dann waren Kidnapper eben nett.

Genau wie zu erwarten gewesen war, stieg die Sonne höher und höher und schien weiterhin über die Bösen und über die Guten.

Sie schien und erwärmte die Klippen, auf denen Kalle und Anders badend den Tag verbrachten. Sie schien auf Nicke, der auf Eva-Lottes Treppe saß und Borkenboote schnitzte, und auf Rasmus, der die fertigen Boote in der Regentonne an der Hausecke probe-fahren ließ. Sie spielte in Eva-Lottes blondem Haar, während diese auf ihrer Bank im Zimmer saß und Nicke, der sie nicht hinaus-lassen wollte, haßte. Und die Sonne ärgerte Peters, weil sich Peters an diesem schönen Sommertag über alles ärgerte und deshalb bei der Sonne keine Ausnahme machte. Aber ohne sich um den Ärger von Peters zu kümmern, verfolgte die Sonne ruhig ihre Bahn und ging schließlich – wie zu erwarten gewesen war – im Westen hinter den Wäldern drüben auf dem Festland unter.

Damit war nun der zweite Tag auf der Insel auch zu Ende.

Nein, nicht zu Ende! Jetzt fing er erst an!

Es begann damit, daß Peters zu Eva-Lotte kam. Eva-Lotte beachtete er allerdings nicht. Mit ihr war er fertig. Sie hatte gesehen, wie Rasmus und der Professor geraubt wurden. Sie hatte sich in das Auto geschmuggelt, weil dieser Idiot von Svanberg nicht ordentlich genug aufgepaßt hatte. Sie war der einzige Augenzeuge und durfte nicht frei umherlaufen. Es war zwar beschwerlich, sie hier auf der Insel zu haben, aber es war nicht zu ändern. Möglicherweise konnte sie den Kleinen beruhigen, bis dessen dickschä-deliger Vater Vernunft angenommen hatte. Mehr war von Peters’

Seite über Eva-Lotte nicht zu sagen. Um sie brauchte er sich nicht mehr zu kümmern. Er wollte mit Rasmus sprechen.

Rasmus lag bereits in seinem Bett auf der Bank. Vor sich auf der Decke hatte er fünf kleine Borkenboote liegen. An der Wand hing sein Flitzbogen. Er fühlte sich reich und war glücklich. Es machte Spaß, auf dieser Insel zu sein, wirklich Spaß, und Kidnapper waren nett.



»Hör mal, kleiner Mann«, sagte Peters und setzte sich zu Rasmus, »was würdest du sagen, wenn du den ganzen Sommer auf der Insel bleiben müßtest?«

Ein Lächeln huschte über Rasmus’ Gesicht: »Den ganzen Sommer! Du bist aber nett! Dann können Vati und ich also bei dir die Sommerferien verbringen?«

»Eins zu null für Rasmus«, dachte Eva-Lotte und lächelte boshaft. Aber sie sagte nichts. Dieser Peters war nicht der Mann, zu dem man so ohne weiteres sprach. Nicke saß auf einem Stuhl am Fenster und war sehr zufrieden. Endlich war das großschnäuzige Mädchen gezwungen zu schweigen.

Peters war nicht so zufrieden. »Hör mal, Rasmus«, fing er an, aber Rasmus unterbrach ihn freudestrahlend.

»Dann können wir jeden Tag baden, nicht?« fragte er. »Ich kann schon fünf Stöße schwimmen. Willst du mal sehen, wie ich fünf Stöße schwimme?«

»Jaja«, sagte Peters, »aber …«

»Oh, das wird lustig werden«, redete Rasmus weiter. »Paß auf: Einmal im Sommer, als wir badeten, kam Marianne unter das Wasser. Blupp, blupp, blupp, sagte es. Aber dann kam sie wieder hoch. Marianne kann nämlich bloß vier Stöße schwimmen!«

Peters stöhnte nervös: »Ich pfeife auf deine Schwimmstöße.

Ich will wissen, wo dein Vater diese Papiere mit den roten Zahlen versteckt hat.«

Rasmus hob die Augenbrauen und betrachtete ihn ungnädig.

»Pfui Blase, was bist du dumm«, sagte er. »Hast du denn nicht gehört, wie Vati zu mir gesagt hat, daß ich es dir nicht erzählen darf?«

»Dein Vater interessiert uns jetzt gar nicht. Außerdem sollte so ein kleiner Rotzjunge nicht du zu älteren Personen sagen.

Nenne mich Herr Peters, verstanden?«

»Heißt du etwa so?« fragte Rasmus und streichelte sein schönstes Borkenboot.

Peters schluckte heftig. Er sah ein, daß man sich beherrschen mußte, wenn man Erfolg haben wollte. »Rasmus, du bekommst etwas Wundervolles, wenn du es mir erzählst«, sagte er mild.

»Du bekommst eine Dampfmaschine!«

»Dampfmaschine? Habe ich schon«, sagte Rasmus. »Bor-kenboote sind besser.« Er hielt Peters sein schönstes Borkenboot dicht unter die Nase: »Na, hast du schon jemals ein so schönes Boot gesehen, Peters?« Dann ließ er es auf der Decke hin und her fahren. Er fuhr über den Ozean nach Amerika, zu den Indianern. »Wenn ich groß bin, will ich Indianerhäuptling werden und alle schlechten Menschen totschlagen«, versicherte er.

Auf diese sensationelle Mitteilung antwortete Peters nicht. Er bemühte sich, ruhig zu bleiben, und suchte nach einer Möglichkeit, Rasmus dorthin zu bekommen, wohin er ihn haben wollte.

Das Borkenboot glitt über die Decke. Eine kleine braune und ziemlich schmutzige Hand bewegte es.

»Du bist ein Kidnapper«, sagte Rasmus, während seine Augen dem Weg des Bootes über den Ozean folgten. Und auch seine Gedanken waren bei dem Boot, als er wie geistesabwesend fortfuhr: »Du bist ein Kidnapper, deshalb darfst du keine Geheimnisse erfahren. Sonst könnte ich dir ja erzählen, daß Vati sie mit Reißzwecken hinter dem Bücherregal festgemacht hat.

Aber das erzähle ich dir nicht … Oh, nun habe ich es aber gesagt«, stellte er erstaunt fest.

»Rasmus, Rasmus«, jammerte Eva-Lotte.

Peters sprang auf.

»Hast du gehört, Nicke?« rief er und lachte laut und zufrieden. »Hast du das gehört? Mensch, das ist zu schön, um wahr zu sein! ›Hinter dem Bücherregal‹, hat er gesagt! Wir holen sie noch heute nacht. Halte dich in einer Stunde bereit!«

»Okay, Chef«, sagte Nicke.

Peters eilte zur Tür, völlig ungerührt von Rasmus’ wildem Schreien: »Nein, wieder zurück! Das gilt nicht, wenn man sich so vergißt. Es gilt nicht! Es gilt nicht! Wieder zurück!«

NEUNTES KAPITEL

Die Weiße Rose verfügte über geheime Signale und Warnungs-zeichen der verschiedensten Art. So gab es nicht weniger als drei verschiedene Signale für »Gefahr«. Entweder die schnelle Berührung der Nasenspitze – ein Zeichen, das angewandt wurde, wenn Bundesgenossen und Feinde gleichzeitig zusammen waren und man auf unbemerkbare Weise den Bundesgenossen ermah-nen wollte, sich in acht zu nehmen. Oder den Eulenschrei, der heimlich alle im Gelände umherirrenden Weißen Rosen anrief, unmittelbar zur Hilfe herbeizueilen. Schließlich den großen Katastrophenschrei, der nur angewandt werden durfte, wenn tödliche Gefahr drohte und man sich in höchster Not befand.

Jetzt befand sich Eva-Lotte in höchster Not. Sie mußte Kalle und Anders sprechen – sofort. Sie ahnte, daß die beiden gleich hungrigen Wölfen hier in der Gegend umherstrichen, nur darauf bedacht, endlich das brennende Licht in ihrem Fenster zu sehen zum Zeichen, daß die Küste klar war. Aber die Küste war nicht klar. Nicke wollte nicht gehen. Er saß und saß und erzählte Rasmus Geschichten, wie er als junger Seemann über alle blauen Ozeane der Welt gesegelt wäre. Und Rasmus, diese kleine Nuß, ermunterte ihn nur noch mit vielen Fragen und wollte immer mehr hören. Dabei war es so eilig, eilig, eilig! In einer Stunde wollten Peters und Nicke schon unterwegs sein, um im Schutz der Nacht die wertvollen Papiere zu holen.

Für Eva-Lotte gab es nur einen Ausweg und – schon stieg er in die Luft, der große Katastrophenschrei. Er hörte sich genauso entsetzlich an, wie er gemeint war. Nicke und Rasmus traf fast der Schlag. Als Nicke wieder zu sich kam, schüttelte er den Kopf und sagte:

»Die scheint fertig zu sein. So schreit ein normaler Mensch nicht!«

»So schreien die Indianer«, erklärte Eva-Lotte. »Ich dachte mir, es würde vielleicht allgemein interessieren … Falls etwas noch nicht klargeworden ist, so hört es sich an.« Und noch einmal stieg der durchdringende Katastrophenschrei aus ihrer Kehle.

»Danke, danke, es reicht!« beteuerte Nicke.

Und damit hatte er recht. Irgendwo draußen im Dunkeln krächzte ein Kolkrabe. Nun ist es zwar nicht üblich bei den Kolkraben, sich nach Eintritt der Dunkelheit hören zu lassen, aber Nicke zeigte darüber kein Erstaunen und Eva-Lotte schon gar nicht. Sie wurde nur sehr glücklich über die Antwort des Kolkraben Anders: »Wir haben gehört!«

Wie sollte nun aber die wichtige Mitteilung über die Papiere zu ihnen hinaus? Ah, ein Ritter der Weißen Rose weiß immer Rat. Die Geheimsprache, die Räubersprache, war mehr als einmal nützlich gewesen und wurde es auch jetzt.

Nicke und Rasmus bekamen daher einen neuen Schreck, als Eva-Lotte plötzlich und ganz ohne vorherige Warnung in einen lauten und klagenden Gesang ausbrach:

»Ror e tot tot e tot dod i e pop a pop i e ror e dod e sos pop ror o fof e sossos o ror sos hoh i non tot e ror dod e mom bob ü choch e ror ror e gog a lol!« sang sie ununterbrochen, ohne sich um Nickes deutliche Mißbilligung zu kümmern.

»Nee du, hör du mal«, sagte er schließlich, »stell mal die Platte ab. Warum blökst du bloß so?«

»Das ist doch ein indianisches Liebeslied«, sagte Eva-Lotte.

»Ich dachte, es würde allgemein …«

»Ich glaube, dir tut es irgendwo allgemein weh«, unterbrach Nicke sie.

»E sos e i lol tot sos e höh ror!« sang Eva-Lotte, bis Rasmus die Hände auf die Ohren preßte und geradezu beschwörend sagte:

»Eva-Lotte, können wir nicht lieber ›Kleine Frösche, kleine Frösche‹ singen?«

Draußen in der Dunkelheit aber standen Kalle und Anders und hörten Eva-Lottes aufregende Botschaft: »Rettet die Papiere des Professors hinter dem Bücherregal! Es eilt sehr!«

Wenn Eva-Lotte sagte, daß es sehr eilte, und den großen Katastrophenschrei gebrauchte, konnte es nur bedeuten, daß Peters auf irgendeine Weise herausbekommen hatte, wo die Dokumente mit den Formeln waren. Es kam also darauf an, vor ihm dort zu sein.

»Schnell!« sagte Anders. »Wir borgen uns ein Boot aus!«

Und ohne weitere Worte rannten sie den kleinen Steg zur Anlegestelle hinunter. Sie stolperten im Dunkeln, sie rissen sich an Ästen und Sträuchern wund, sie waren hungrig und ängstlich und glaubten immerfort, einen Verfolger zu sehen, aber das machte ihnen alles nichts aus. Für sie gab es nur eines: Die Geheimnisse des Professors durften nicht in unrechte Hände fallen. Und deshalb mußten sie die ersten sein.

Sie erlebten einige schreckliche Minuten, bevor sie ein Boot fanden, das nicht angekettet war. Jeden Augenblick rechneten sie damit, Blom oder Nicke aus dem Dunkel auftauchen zu sehen, und als Kalle das Boot leise ins Wasser schob und die Ruder ergriff, dröhnte es in seinen Ohren: »Jetzt kommen sie, jetzt kommen sie bestimmt!«

Es kam aber niemand, und Anders ruderte aus Leibeskräften.

Bald waren sie außer Hörweite der Insel, und nun legte sich Anders in die Riemen, daß das Wasser nur so zischte. Still saß Kalle auf der Steuerbank und dachte daran, wie sie herüberge-kommen waren. War das wirklich erst gestern früh gewesen?

Ihm kam es vor, als sei seitdem ein halbes Jahr vergangen.



Sie versteckten das Boot im Schilf und rannten umher und suchten das Motorrad. Sie hatten es in einem Wacholderstrauch versteckt, aber wo, um der Barmherzigkeit willen, war dieser Wacholderstrauch geblieben, und wie sollte man ihn jetzt im Dunkeln finden? Etliche kostbare Minuten gingen in verzwei-feltem Suchen dahin. Anders war so aufgeregt, daß er beinahe seine Finger aufgegessen hätte. Wo war das verflixte Rad nur?

Und Kalle kroch in den Sträuchern herum. Ja, da war es, er hatte es endlich gefunden! Liebevoll umschlossen seine Hände die Lenkstange, und eilig schob er das Rad auf den Waldweg hinaus.

Ein Fahrweg von ungefähr fünfzig Kilometern lag vor ihnen.

Kalle sah auf seine Armbanduhr. Die Zeiger leuchteten in der Dunkelheit.

»Es ist halb elf«, sagte er zu Anders, der gar nicht nach der Uhrzeit gefragt hatte. Es hörte sich irgendwie verhängnisvoll an.

Im selben Augenblick sagte Peters zu Nicke: »Es ist halb elf.

Es wird Zeit für uns, über das Wasser zu kommen!«

50 km – 40 km – 30 km noch bis Kleinköping!

Mit der in Jahren erworbenen Sicherheit der Weißen Rosen fanden sie den Rückweg durch die Dunkelheit. Sie flogen fast durch die laue Julinacht, aber der Weg kam ihnen endlos lang vor. Mit angespannten Nerven horchten sie auf ein Geräusch des Autos, das sie hinter sich wußten. Jeden Moment erwarteten sie, vom Scheinwerferlicht, das sich ihnen von hinten nähern mußte, erfaßt zu werden, dachten daran, wie dieses Licht dann an ihnen vorbeigleiten würde, um vor ihnen auf der Straße zu verschwinden und alle Hoffnung auf die Papiere, die so viel be-deuteten, mit sich zu nehmen.

»Kleinköping 20 km«, las Anders auf einer Wegtafel. Jetzt näherten sie sich dem heimatlichen Gebiet.

Ungefähr gleichzeitig kam ein schwarzes Auto an einer anderen Wegtafel vorbei.

»Kleinköping 36 km«, las Nicke. »Geben Sie man noch’n bißchen Gas, Chef!«

Aber Peters fuhr, wie es ihm behagte. Er nahm eine Hand vom Steuerrad, um Nicke eine Zigarette anzubieten, und sagte zufrieden: »Wenn ich so lange gewartet habe, kann ich ja auch noch die halbe Stunde warten!«

Kleinköping! Da liegt die Stadt und schläft so ruhig, wie sie es gewohnt ist. Es ist beinahe aufregend, denken Kalle und Anders. Das Motorrad fährt sie durch wohlbekannte Straßen, nimmt den Weg hinauf zur Schloßruine und bleibt endlich draußen vor Eklunds Villa stehen und wird in den Schuppen geschoben.

Das schwarze Auto hat nur noch einige Kilometer bis zu der kleinen Tafel am Wegrand, die freundlich verkündet: »Will-kommen in Kleinköping!«

»Das ist das Alleraufregendste, was ich jemals mitgemacht habe«, flüstert Anders, als sie auf die Veranda schleichen. Vorsichtig drückt er auf den Türgriff. Nicht abgeschlossen! Kann nicht viel Verstand in den Kidnapperköpfen sitzen, wenn sie nicht hinter sich zuschließen, denkt Kalle. Kann man die Türen offenlassen, wenn in dem Haus Papiere im Wert von hunderttausend Kronen versteckt sind? Aber um so besser – das spart Zeit! Kalle fühlt am ganzen Körper: Zeit ist jetzt kostbar.

»Hinter dem Bücherregal« – welchem Bücherregal? Doktor Eklund, der die Villa für den Sommer an den Professor vermie-tet hat, ist ein Mann mit vielen Büchern und mit vielen Bücherregalen. Im Wohnzimmer sind Bücherregale an jeder Wand.

»Das wird uns die ganze Nacht kosten«, sagt Anders. »Wo sollen wir anfangen zu suchen?«

Kalle denkt – trotz der kostbaren Zeit – nach. Manchmal aber lohnt es sich, ein wenig Zeit für das Nachdenken zu opfern.

Was hatte Rasmus zu seinem Vater gesagt? »Ich stand auf der Treppe in der Diele, und du stecktest …« Wo stand Rasmus, als er das sah? Kalle läuft in die Diele, und auf welcher Stufe der Treppe er auch steht, es gibt nur ein Bücherregal, das Kalle durch die offene Tür des Wohnzimmers sehen kann, das Regal neben dem Schreibtisch.

Er rast zurück ins Wohnzimmer, und mit vereinten Kräften ziehen sie das Regal von der Wand. Das Regal quietscht dabei nervenzerreißend auf dem Fußboden. Es ist ein sehr störendes Geräusch. Es ist gerade jetzt das einzige Geräusch, das in ihre Ohren dringt. Das Auto, das auf dem Weg vor der Villa anhält, hören sie nicht.

»So – so – so«, noch ein kräftiger Zug, dann können sie hinter das Regal sehen! Guter Moses – da ist es! Ein brauner Umschlag, sauber mit Heftzwecken an der Rückwand des Bücherregals festgemacht. Kalles Finger tanzen vor Aufregung, als er sein Taschenmesser hervorsucht und die Heftzwecken lockern will.

»Daß wir es doch geschafft haben«, keucht Anders, vollkommen blaß vor Spannung. »Daß wir es doch noch geschafft haben!«

Kalle hält den kostbaren Umschlag in seiner Hand. An-dachtsvoll sind seine Augen auf das braune Papier gerichtet –dafür ist es aber auch hunderttausend Kronen wert. Ja, mit Geld ist es wohl überhaupt nicht zu bewerten. Welch eine Stunde!

Welch ein Triumph, welch ein süßes, warmes, durchdringendes Gefühl von Zufriedenheit!

Da hören sie etwas! Etwas Furchtbares. Schleichende Schritte auf der Veranda. Eine Hand am Türgriff. Die Haustür öffnet sich langsam. Das Licht der Schreibtischlampe fällt auf ihre bleichen Gesichter. Verzweifelt starren sie sich an; der Schreck läßt sie kaum atmen. In einigen winzigen Sekunden wird die Tür dort aufgehen, und dann ist alles verloren. Sie werden gefangen sein wie zwei kleine Ratten in der Falle. Einer wird den Eingang bewachen. Einer wird sie niemals mit dem kostbaren braunen Umschlag im Wert von hunderttausend Kronen entkommen lassen.

»Schnell, schnell«, haucht Kalle, »die Treppe hinauf!«

Die Beine versagen fast den Dienst, aber auf irgendeine übernatürliche Weise gelingt es ihnen, die Diele und die Treppe zu erreichen. Dann geschieht alles in so rasender Eile, daß die Gedanken und jede Vernunft verschwinden, untergehen in einem Chaos aus Lärm und Krach: aufgeregten Stimmen, schlagenden Türen, lautem Gerufe, Flüchen und dem Tappen wild die Treppe hinaufhetzender Schritte, ja – Hilfe! – Hilfe! – wild hinaufhetzender Schritte dicht hinter ihnen!

Da ist das Fenster mit der Gardine, die ihnen so spielerisch in einer Nacht vor tausend Jahren zugewinkt hat. Draußen steht eine Leiter – vielleicht, vielleicht ist sie der Rettungsweg. Sie wälzen sich über das Fensterbrett auf die Leiter hinaus, klettern, rutschen, nein: sausen an ihr hinunter und laufen, laufen, wie sie in ihrem jungen Leben bisher noch nie gelaufen sind. Sie laufen, obgleich sie die eiskalte Stimme oben im Fenster hören, die Stimme von Peters, der ihnen nachruft: »Wenn ihr nicht ste-henbleibt, schieße ich!«

Aber alle Vernunft ist verschwunden. Sie laufen weiter, weiter, immer weiter, als hätten sie nicht verstanden, daß es vielleicht ihr Leben gilt. Sie laufen und laufen, bis sie glauben, die Brust platze ihnen auseinander.

Und sie hören sie wieder, springende Füße, die sich nähern –wo in aller Welt gibt es ein Versteck vor diesen springenden, verfolgenden Füßen? Sie laufen auf die Stadt zu. Weit ist es bis dahin nicht mehr, aber ihre Kräfte gehen zu Ende. Und unbarmherzig nähern sich die Verfolger. Es gibt keine Rettung, alles ist verloren – in wenigen Augenblicken ist alles vorbei!

Da sehen sie ihn! Beide sehen ihn. Dort blinkt die erste Straßenlaterne, und ihr Schein fällt auf eine wohlbekannte, lange Gestalt in der Uniform eines Polizisten.

»Onkel Björk, Onkel Björk, Onkel Björk!«



Sie schreien, als wären sie in Seenot, und Onkel Björk winkt ihnen abwehrend zu – wer wird auch nachts ein solches Geschrei loslassen! Als er ihnen entgegengeht, ahnt er nicht, daß die beiden Jungen ihn jetzt mehr lieben als seine eigene Mutter.

Kalle stürzt sich auf ihn und schlingt keuchend die Arme um ihn.

»Bester, bester Onkel Björk – verhaften Sie diesen Schurken dort!«

Er dreht sich um und zeigt. Aber die springenden Schritte haben aufgehört. So weit man in das Dunkel hineinsehen kann –kein Mensch ist zu entdecken. Kalle seufzt, er weiß selbst nicht, ob vor Erleichterung oder aus Bedrängnis. Hier lohnt es nicht, Kidnapper zu jagen. Er sieht das ein. Gleichzeitig sieht er aber auch etwas anderes ein. Er kann Schutzmann Björk gar nicht erzählen, wie alles vor sich ging, was geschehen ist, warum sie geschrien haben, weshalb sie jetzt hier stehen. »Nein, nicht die Polizei, nicht, bevor ich Rasmus in Sicherheit habe.« Davor hatte der Professor deutlich gewarnt. Peters ist von der Finsternis verschluckt worden. Sicher ist er bereits auf dem Weg zu seinem Auto, das ihn schnell zu der Insel bringt – und zu Rasmus!

Nein, man darf die Polizei nicht hineinziehen, man darf nicht gegen den Professor handeln. Wenn man auch tief in seinem Innern glaubt, daß es sicher das klügste wäre. Der Professor als Erwachsener muß es doch wissen, und er hat ausdrücklich verboten, die Polizei zu holen. Und er sagt, Rasmus würde durch das Eingreifen der Polizei gefährdet. Und das stimmt … Nein, man darf nichts gegen den Willen des Professors tun … Ver-flucht, wie ist das alles schwer!

»Soso, der Meisterdetektiv ist wieder an der Arbeit«, sagt Björk lächelnd. »Wo hast du denn deine Schurken gelassen, Kalle?«

»Die sind entwischt«, keucht Anders, und Kalle tritt ihm warnend auf die Zehen. Die Warnung ist aber unnötig. Anders weiß, wenn es die Kriminalistik betrifft, führt Kalle das Wort.

»Die kriechen gerade durch die Röhre.« So wischt Kalle alles mit einem Witz weg, und Björk beginnt sofort, von etwas anderem zu reden.

»Ihr seid mir schon Helden«, sagt er. »Heute morgen habe ich deinen Vater getroffen, Kalle, und er war ziemlich wütend, glaub mir das. Daß ihr euch nicht schämt, einfach von zu Hause wegzulaufen! Es war wirklich Zeit, daß ihr zurückgekommen seid!«

Wäre jemand in dieser Nacht gegen zwei Uhr an Viktor Blomquists Lebensmittelgeschäft vorbeigegangen, er hätte denken müssen, im Laden seien Einbrecher am Werke. Hinter den Tischen wurde mit einer Taschenlampe geleuchtet, und ab und zu konnte man zwei Schatten am Schaufenster vorbeihuschen sehen.

Die beiden Schatten wurden nicht entdeckt, weil kein Mensch dort nachts vorbeiging. Der Lebensmittelhändler Blomquist und seine Frau, die in ihren Betten lagen, genau über dem Laden, hörten auch nichts, denn die Schatten verstanden die Kunst, sich lautlos zu bewegen.

»Ich will mehr Wurst haben«, sagte Anders mit vollem Mund. »Mehr Wurst will ich haben und mehr Käse!«

»Nimm nur, greif zu«, sagte Kalle. Er hatte genügend damit zu tun, selbst in sich hineinzustopfen.

Und sie aßen. Sie schnitten dicke Scheiben von dem geräu-cherten Schinken herunter und aßen. Sie hieben mächtige Stük-ke von der Salamiwurst und aßen. Sie zogen ein großes, weiches, duftendes Weißbrot hervor und aßen. Sie pulten das Stanniolpapier von den kleinen dreieckigen Käsestückchen und aßen. Sie steckten die Hände in die Rosinenkiste und aßen. Sie aßen und aßen und aßen – es war die Mahlzeit ihres Lebens.

»Etwas weiß ich ganz bestimmt«, sagte Kalle schließlich.

»Niemals, solange ich lebe, kommt noch eine Blaubeere über meine Lippen.«

Mit einem wunderbaren Gefühl von grenzenloser Sattheit schlich Kalle die Treppe hinauf. Es kam darauf an, alle Stufen, die knarrten, auszulassen, denn seine Mutter hatte im Laufe der Jahre die bemerkenswerte Begabung entwickelt, gerade von diesem Knarren aufzuwachen. Aber es mußte Kalle sein, der die Stufen zum Knarren brachte, sonst wachte sie nicht auf

– ein absolut übernatürliches Phänomen, für das sich die psy-chologische Forschung, wie Kalle dachte, eigentlich näher interessieren sollte.

Im Augenblick lag ihm nichts daran, seine Mutter – und seinen Vater noch weniger – zu wecken. Er wollte nur seinen Rucksack, die Schlafsäcke und einige andere Campingutensili-en holen. Wenn seine Eltern erst aufwachten, würde viel zuviel kostbare Zeit mit nutzlosen Erklärungen verschwendet werden.

Im übrigen hatte sich auch Kalles Fähigkeit, den bewußten Treppenstufen auszuweichen, im Laufe der Jahre erstaunlich vervollkommnet, und so kam er vollbepackt und unbeschädigt unten wieder an.

Gegen halb vier Uhr morgens nahm ein Motorrad in guter Fahrt Kurve um Kurve des Weges, der sich zum Meer schlängelte.

Auf dem Tisch in Viktor Blomquists Laden lag ein abgerisse-nes Stück weißes Einwickelpapier, auf dem sich folgende Mitteilung befand:

»Lieber Vater, Du kannst meinen Lohn für diesen Monat einbehalten, denn ich habe entnommen:

Salami ............................ 1 kg

Wiener Würstchen .............. 1 kg

ger. Schinken .................... ½ kg

von den kleinen Käsen

(Du weißt schon)............... 10 Stück

Brote............................... 4 Stück

Geheimratskäse................... ½ kg

Butter............................... 1 kg

Streichhölzer ...................... 1 Paket

von den 50-Öre-Schokoladentafeln ....... 10 Stück

Benzinkanister (draußen vom Lager)

1 Stück............................... = 10 Liter

Kakao................................. 2 Pakete

Trockenmilch ....................... 2 Pakete

Zucker (fein)....................... 1 kg

Kaugummi............................ 5 Pakete

Spiritustabletten.................... 10 Schachteln


Möglicherweise noch das eine oder andere, wovon ich gerade im Augenblick nichts mehr weiß. Ich verstehe, daß Du böse bist, aber wenn Du wüßtest, wie es war, würdest Du nicht böse sein, das weiß ich genau. Willst Du Onkel Lisander und Anders’ Vater bitte sagen, sie sollten sich beruhigen. Sei nicht böse, dann bist Du lieb – ich bin Dir doch immer ein guter Sohn gewesen.

Nein, jetzt will ich schließen, sonst werde ich noch gerührt.

Herzliche Grüße, auch an Mama, von Kalle

P. S.: Du bist doch nicht wütend?«


In dieser Nacht schlief Eva-Lotte sehr unruhig und wachte mit dem Gefühl auf, daß sich etwas Unangenehmes vorbereitete. Sie ängstigte sich wegen Kalle und Anders. Wie war es ihnen wohl ergangen, und wie war es mit den Papieren des Professors? Die Ungewißheit war entsetzlich, und sie beschloß, eine Attacke gegen Nicke zu unternehmen, sobald er sich mit dem Frühstück sehen ließ. Aber als Nicke endlich kam, sah er so böse aus, daß Eva-Lotte zögerte. Rasmus zwitscherte ein fröhliches »Guten Morgen«, aber Nicke beachtete ihn nicht, sondern ging direkt auf Eva-Lotte zu.

»Satansbalg«, sagte er mit Nachdruck.

»Aha«, sagte Eva-Lotte.

»Du lügst ja, daß es eine Sünde und Schande ohnegleichen ist«, fuhr Nicke fort. »Hast du nicht zum Chef gesagt, als er dich verhört hat, daß du allein warst – damals in der Nacht, als du in das Auto gekrochen bist?«

»Du meinst, als ihr Rasmus geraubt habt«, sagte Eva-Lotte.

»Ja, genau damals, als wir … ah, zieh Leine«, brummte Nik-ke. »Hast du nicht gesagt, daß du damals allein warst?«

»Ja, das habe ich gesagt!«

»Und das ist gelogen.«

»Warum denn?« fragte Eva-Lotte.

»Warum denn«, äffte Nicke ihr nach und lief vor Wut rot an.

»Warum denn? Weil du noch einige Strolche bei dir hattest! Sag die Wahrheit!«

»Na, bitte, stell dir vor, das hatte ich«, sagte Eva-Lotte zufrieden.

»Ja, das waren, soviel ich weiß, Anders und Kalle«, mischte Rasmus sich ein. »Denn die sind genau wie Eva-Lotte in der Weißen Rose. Und ich werde auch eine Weiße Rose werden, bitte sehr!«

Eva-Lotte fing plötzlich an, vor Unruhe zu frösteln. Bedeuteten Nickes Worte etwa, daß Kalle und Anders gefangen worden waren? Wenn das so war, dann konnten sie getrost alle zusammen Abschiedspostkarten schreiben. Sie mußte es sofort und genau wissen! Keine Minute länger hielt sie die Ungewißheit aus!

»Woher weißt du übrigens, daß ich welche bei mir hatte?«

fragte sie so gleichgültig wie möglich.

»Weil diese verdammten Rotzlöffel die Dokumente gestohlen haben – genau vor der Nase vom Chef – einfach ihm wegge-stohlen!« schrie Nicke und glotzte sie dann böse an.

»Hurra!« schrie Eva-Lotte. »Hurra, Hurra!«

»Hurra!« kam es als Echo von Rasmus. »Hurra!«

Nicke wandte sich ihm zu, und in seinen Augen war Sorge, Sorge und Unruhe.

»Ja, du hast gerade Grund, Hurra zu schreien, gerade du!«

sagte er. »Ich glaube, dein Hurra wird bald sehr leise werden.

Wenn sie dich ins Ausland gebracht haben, wird dein Hurra hier nicht mehr zu hören sein.«

»Was sagst du da?« schrie Eva-Lotte.

»Ich sagte, daß sie kommen werden, um Rasmus ins Ausland zu bringen – sagte ich. Ein Flugzeug landet morgen abend hier und holt ihn ab. Denn jetzt wird es hier brenzlig. Die Polizei sitzt uns im Nacken. Deine Freunde werden schon dafür sorgen.«

Eva-Lotte schluckte heftig. Dann schrie sie los und sprang auf Nicke zu. Mit geballten Fäusten schlug sie auf ihn ein, sie schlug, wohin sie treffen konnte, und rief: »Das ist gemein! Das ist gemein! Oh, was seid ihr für schändliche – schändliche, gemeine Kidnapper!«

Nicke verteidigte sich nicht. Er ließ Eva-Lottes Fäuste auf sich herumtrommeln. Stand nur da und sah plötzlich so müde aus. Aber vielleicht hatte er in der Nacht auch nur sehr wenig geschlafen …

»Konnten es deine verdammten Freunde nicht bleibenlassen, mußten sie ihre Nase in den Dreck stecken«, sagte er schließlich. »Konnte nicht der Chef diese verdammten Dokumente kriegen, um die er so ein Wesen macht! Dann wäre doch dieses ganze traurige Elend endlich zu Ende gewesen.«

Inzwischen war Rasmus mit allem, was Nicke vom Flugzeug, das mit ihm ins Ausland fliegen sollte, erzählt hatte, fertig geworden. Er hatte zwei Möglichkeiten abgewogen. Was war besser: mit einem Flugzeug ins Ausland zu fliegen oder eine Weiße Rose zu werden? Als er seine Überlegungen beendet hatte, verkündete er seinen Beschluß.

»Nein, Nicke«, sagte er, »ich werde nicht mit dem Flugzeug ins Ausland fliegen, denn ich will eine Weiße Rose werden.«

Er ging zu Nicke, der auf der Bank saß, kletterte auf seine Knie und erklärte ihm genau, warum er eine Weiße Rose sein wollte. Alles, wie man nachts umherschlich und mit den Roten kämpfte, wie man Kriegsschreie ausstieß und alles, alles andere, was nötig war, um Nicke klarzumachen, warum es ein so großes wunderbares Abenteuer war, eine Weiße Rose zu sein. Nun mußte er doch begreifen, daß man nicht ins Ausland fliegen konnte. Als er damit fertig war, sah er Nicke strahlend an. Nicke schüttelte nur traurig den Kopf und sagte:

»Nein, nein, Häschen, du wirst niemals eine Weiße Rose.

Dazu ist es jetzt zu spät.« Da rutschte Rasmus von seinen Knien herunter und ging von ihm weg.

»Pfui Blase, wie dumm du bist, Nicke«, sagte er. »Ich werde bestimmt eine Weiße Rose, bitte sehr.«

Nicke ging zur Tür. Jemand hatte nach ihm gerufen. Rasmus sah ihn gehen, und er wußte, daß er sich beeilen mußte, wenn er Antwort auf die Frage, die ihn sehr beschäftigte, haben wollte.

»Du, Nicke«, sagte er, »wenn man aus einem Flugzeug spuckt, wie lange dauert es dann, bis die Spucke unten ankommt?«

Nicke drehte sich um und sah bekümmert in das fragende Jungengesicht. »Ich weiß es nicht genau«, sagte er ernst. »Du kannst es ja morgen abend selbst ausprobieren.«

ZEHNTES KAPITEL

Eva-Lotte saß auf ihrer Bank und dachte nach, biß auf eine Strähne ihres blonden Haares und dachte völlig verzweifelt nach. Und sie kam zu dem Schluß, daß alles hoffnungslos war. Wie sollte sie, eingesperrt in diesem Käfig, verhindern, daß man Rasmus in ein Flugzeug steckte und aus Schweden wegbrachte? Wer wußte etwas von den heimlichen Plänen, die Peters hatte? Sicher war doch, daß die Hoffnung, die wertvollen Papiere hier im Lande zu erwischen, für ihn erledigt war. Nun wollte er also den Professor zwingen, die Berechnungen noch einmal, in irgendeinem Laboratorium des Aus-landes, zu machen. Und Rasmus war sein Geisel. Armer kleiner Rasmus, noch hatte er keine Not leiden müssen, aber wie sollte es wohl mit ihm unter einem Haufen von Banditen und Verbrechern im Ausland gehen? Vor ihrem geistigen Auge sah sie den Professor an einem Tisch sitzen und Berechnungen anstellen, während ein greulicher Gefangenenaufseher seine Peitsche über Rasmus knallen ließ und dazu schrie: »Erfinde! Erfinde oder …!«

Der Anblick war quälend, und Eva-Lotte stöhnte auf.

»Was jammerst du denn da?« fragte Rasmus. »Warum kommt Nicke nicht, um mich rauszuholen? Ich will meine Borkenboote schwimmen lassen.«

Eva-Lotte wurde nachdenklich. Langsam nahm eine Idee in ihrem Gehirn Form an. Als die Idee fertig war, sprang sie auf und lief zu Rasmus.

»Rasmus«, begann sie, »findest du nicht, daß es heute sehr warm ist?«

»Doch«, sagte Rasmus zustimmend.

»Glaubst du nicht, daß es herrlich wäre, baden zu gehen?«

Rasmus fing Feuer. »Au ja«, rief er und stieß entzückte Schreie aus, »ja, wir gehen zusammen baden, Eva-Lotte! Ich kann schon fünf Stöße schwimmen.«

Bewundernd schlug Eva-Lotte die Hände zusammen.

»Das muß ich sehen«, rief sie. »Dann beeile dich und brülle kräftig nach Nicke Sonst dürfen wir ja nicht.«

»Klar«, sagte Rasmus mit großer Zuversicht. Er wußte, was er in dieser Beziehung leisten konnte, wenn es nötig war.

Und als Nicke angelaufen kam, warf sich Rasmus unmittelbar auf ihn: »Nicke dürfen wir nicht baden gehen?«

»Baden gehen?« fragte Nicke. »Wozu soll das gut sein?«

»Es ist aber doch so furchtbar warm«, sagte Rasmus. »Wir dürfen doch wohl baden gehen, wenn es so warm ist?«

Eva-Lotte sagte nichts. Sie wußte, daß es klüger war, diese Angelegenheit völlig Rasmus zu überlassen.

»Ich kann fünf Stöße schwimmen«, erklärte Rasmus. »Willst du gar nicht sehen, wenn ich fünf Stöße schwimme, Nicke?«

»Na ja, sicherlich«, sagte Nicke. »Aber baden gehen. Nein, ich glaube nicht, daß der Chef das so ohne weiteres erlaubt.«

»Aber ich kann doch keine fünf Stöße schwimmen, wenn ich nicht baden gehe«, sagte Rasmus mit tödlicher Logik. »Ich kann doch nicht trockenschwimmen.«

Damit war für ihn alles klar. Nicke war sicher nicht so dumm, freiwillig darauf zu verzichten, Rasmus fünf Stöße schwimmen zu sehen. Also steckte er seine kleine Hand in Nickes große Faust und sagte: »Komm also, gehen wir schon!«

Nicke sah mißbilligend zu Eva-Lotte. »Du gehst nicht mit«, sagte er barsch.

»Doch, Eva-Lotte soll mit, damit sie sehen kann, wie ich fünf Stöße schwimme.«

Es war schwer für Nicke, sich gegen die hartnäckige Kinder-stimme zu wehren. Er verachtete sich selbst wegen seiner Schwäche, aber so weit war es gekommen, daß Rasmus ihn lenkte, wohin er wollte, einfach indem er seine kleine Hand in die seine legte und ihn mit seinen hoffnungsvollen Augen ansah.

»Also gut, von mir aus – kommt!« brummte Nicke.

Davon also hatte sie geträumt: den schmalen Steg zur Anlegestelle hinunterzulaufen, die Kleider hinter einen Busch zu werfen, denn den Luftanzug trug sie immer darunter, sich kopf-

über in das klare Wasser, das im Sonnenschein glitzerte und schimmerte, zu werfen und auf der kleinen Brücke zu liegen, die Augen zu schließen und an nichts zu denken. Jetzt aber, als sie das alles durfte, war es für sie nur ein qualvoller Aufschub, der ihren großen Plan hinauszögerte.

Rasmus dagegen war toll vor Begeisterung. Wie ein fröhlicher kleiner Frosch sprang er in dem Wasser am Strand umher.

Nicke saß auf der kleinen Anlegebrücke und paßte auf, und Rasmus bespritzte ihn tüchtig mit Wasser und lachte und schrie und sprang auf und nieder, so daß es um ihn her sprühte. Er schwamm auch, aber dabei war er todernst und hielt die Luft an, bis er knallrot im Gesicht war. Danach atmete er mit großem Geschnaufe und brüllte Nicke entzückt zu: »Hast du es jetzt gesehen? Hast du gesehen, daß ich fünf Stöße schwimmen kann?«

Vielleicht hatte Nicke es gesehen, vielleicht aber auch nicht.

»Du bist schon eine lustige kleine Ordnung, du«, sagte er.

Mehr sagte er nicht zu Rasmus’ großartiger Fertigkeit im Schwimmen – aber war das etwa kein Lob?

Eva-Lotte lag auf dem Rücken und ließ sich von den Wellen tragen. Sie starrte in den Himmel hinein und wiederholte sich immer wieder: »Ruhig bleiben! Nur ruhig bleiben! Alles geht gut!«

Richtig überzeugt war sie davon aber nicht, und als Nicke rief, jetzt wäre Schluß mit dem Baden, fühlte sie, wie sie vor Spannung blaß wurde.

»Ein wenig dürfen wir doch noch im Wasser bleiben, Nik-ke«, sagte Rasmus bittend.

Eva-Lotte aber hielt es nicht länger aus. Deshalb nahm sie Rasmus auf den Arm und sagte: »Nein, Rasmus, komm, wir gehen!«

Rasmus strampelte und zappelte und sah hilfesuchend zu Nicke. Aber einmal waren Nicke und Eva-Lotte derselben Meinung.

»Beeilt euch jetzt«, sagte Nicke. »Es wäre gut, wenn der Chef erst gar nichts davon wissen würde.«

Eva-Lotte zog den sich sträubenden Rasmus hinter einige dichte Büsche. In fliegender Hast zog sie sich an. Dann kniete sie neben Rasmus nieder, um ihm zu helfen. Seine kleinen Finger hatten so große Schwierigkeiten mit den Knöpfen.

»Das ist auch gar nicht so leicht, glaub es mir«, sagte Rasmus. »Es ist schwer, wo die Knöpfe doch hinten sitzen, und ich bin hier vorn.«

»Ich werde sie zuknöpfen«, sagte Eva-Lotte. Mit leiser Stimme fuhr sie fort: »Rasmus, du willst doch gern eine Weiße Rose werden?«

»Ist doch klar«, sagte Rasmus. »Und Kalle hat gesagt, daß …«

»Ja, aber du mußt dann auch jetzt genau machen, was ich dir sage«, unterbrach ihn Eva-Lotte.

»Was soll ich denn machen?«

»Du sollst mir deine Hand geben, und dann laufen wir hier weg, so schnell wir überhaupt können.«

»Da wird sich aber Nicke ärgern«, wandte Rasmus bekümmert ein.

»Jetzt kümmern wir uns einmal nicht um Nicke«, flüsterte Eva-Lotte. »Wir wollen rasch fort und die Hütte suchen, die Kalle und Anders gebaut …«

»Kommt ihr bald oder muß ich euch holen?« rief Nicke von der Anlegestelle herüber.

»Immer ruhig!« schrie Eva-Lotte. »Wir kommen – wann wir kommen!« Dann nahm sie Rasmus’ Hand und flüsterte aufgeregt: »Lauf, Rasmus, lauf!«

Und Rasmus lief, so schnell ihn seine fünfjährigen Beinchen tragen konnten. Mitten zwischen die Tannen liefen sie. Rasmus strengte sich sehr an, mit Eva-Lotte gleichen Schritt zu halten.

Sie sollte doch sehen, welch eine gute Weiße Rose er war. Und er keuchte, während er rannte:

»Na, jedenfalls war es gut, daß Nicke gesehen hat, daß ich fünf Stöße schwimmen kann!«

ELFTES KAPITEL

Die Sonne begann zu sinken, und Rasmus war müde. Seit mehreren Stunden tat er nun schon etwas, was ihm gar nicht gefiel.

»Es sind viel zu viele Bäume in diesem Wald«, sagte er mißmutig. »Und wann kommen wir bloß zu der Hütte?«

Eva-Lotte wünschte nichts mehr, als ihm darauf antworten zu können. Sie war einer Meinung mit Rasmus: Es gab zu viele Bäume in diesem Wald. Und zu viele kleine Felsen, über die man klettern mußte, zu viele Kuhlen, in die man hineinstolper-te, und allen möglichen anderen Kram, der einem den Weg versperrte, zu viele Zweige und Äste und Büsche, die einem die Beine zerkratzten. Und dann viel zuwenig kleine selbstgebaute Hütten. Zwar war es nur eine einzige kleine Hütte, nach der sie sich sehnte, aber die war ja nicht zu finden. Eva-Lotte fühlte den Mißmut in sich aufsteigen. Sie hatte es sich so einfach vorgestellt, die Hütte zu finden, aber jetzt zweifelte sie daran, ob sie sie jemals finden würde. Und wenn sie sie fand – waren Anders und Kalle überhaupt da? Waren sie zur Insel zurückgekommen, nachdem sie die Geheimdokumente gefunden hatten? Tausend Dinge konnten inzwischen passiert sein, tausend Dinge konnten sie an der Rückkehr gehindert haben. War es nicht möglich, daß sie ganz allein auf der Insel waren, Rasmus und sie – und die Kidnapper? Eva-Lotte fror bei dem Gedanken. Lieber, lieber Anders, bester guter Kalle, seid doch bitte in der Hütte, betete sie leise und verzweifelt. Und laß sie mich endlich finden, endlich.

»Nur Blaubeeren und Blaubeeren«, sagte Rasmus und sah böse auf das Blaubeerenkraut, das ihm weit über die Knie reichte. »Ich möchte etwas gebratenen Speck haben.«

»Ich begreife dich«, sagte Eva-Lotte, »aber in den Wäldern wächst noch kein gebratener Speck.«

»Sssss«, machte Rasmus und drückte damit sein Mißfallen an der jetzigen Ordnung der Dinge aus. »Und dann möchte ich meine Borkenboote haben.« Und damit war er bei einem Thema, das ihn bereits den ganzen Weg beschäftigt hatte. Warum hatte er nicht seine Borkenboote mitnehmen dürfen?

»Kleines Untier«, dachte Eva-Lotte. Hatte sie sich deswegen in wilde Gefahren gestürzt, wollte sie ihn unter furchtbaren Abenteuern retten, nur damit er hier neben ihr hertrabte und nach gebratenem Speck und seinen Borkenbooten jammerte?

Aber schon bevor sie diese Gedanken zu Ende gedacht hatte, tat es ihr leid, und impulsiv nahm sie Rasmus in die Arme. Er war doch noch so klein … und so müde und hungrig – ganz natürlich, daß er da quengelte.

»Versteh doch bitte, Rasmus«, sagte sie zärtlich. »Deine Borkenboote habe ich wirklich vergessen.«

»Dann finde ich, daß du blöd bist!« sagte Rasmus unbarmherzig.

Und dann setzte er sich einfach zwischen die Blaubeersträucher. Er wollte nicht mehr weitergehen. Kein Flehen half. Vergeblich bettelte Eva-Lotte – vielleicht lag die Hütte schon ganz in der Nähe, sagte sie, vielleicht brauchten sie nur noch ein kleines, kleines Stück zu gehen!

»Ich will nicht«, sagte Rasmus, »meine Beine sind so schläfrig.«

Einen Augenblick lang überlegte Eva-Lotte, ob sie den Tränen, die irgendwo in ihrer Kehle bereitsaßen, freien Lauf lassen sollte. Dann biß sie die Zähne zusammen. Sie setzte sich auch, lehnte den Rücken an einen großen Stein und zog Rasmus an sich.

»Setz dich zu mir und ruh dich ein wenig aus, Rasmus«, sagte sie.

Mit einem Seufzer streckte sich Rasmus in dem weichen Moos aus und legte seinen Kopf in Eva-Lottes Schoß. Müde blinzelte er Eva-Lotte an. Es sah aus, als habe er die Absicht, sich nie mehr von der Stelle zu rühren. Eva-Lotte dachte: Laß ihn ein Weilchen schlafen, dann geht es nachher sicher besser vorwärts! Sie nahm seine Hand, und er überließ sie ihr, ohne etwas zu sagen. Dann begann sie, ihm etwas vorzusingen. Er versuchte zwinkernd, die Augen aufzubehalten, und folgte mit den Blicken einem Schmetterling, der über den Sträuchern da-hinschwebte.

»Blaubeeren wachsen in unserem Wald, Blaubeeren …« sang Eva-Lotte leise.

Aber da protestierte Rasmus. »Es wäre besser, wenn du singen würdest: Gebratener Speck wächst in unserem Wald, gebratener …« Und dann schlief er ein.

Eva-Lotte seufzte. Sie wünschte, auch schlafen zu können.

Sie wünschte einzuschlafen und dann zu Hause in ihrem Bett aufzuwachen, um zu entdecken, daß all das Furchtbare nur ein Traum gewesen war. Voller Sorge und unruhig saß sie da und fühlte sich sehr, sehr einsam.

Da hörte sie in der Entfernung Stimmen. Stimmen, die sich näherten und die sie kannte, und kurz danach den Laut von zer-brechenden Ästen, die jemand zertrat. Daß man einen solchen Schreck bekommen konnte! Ohne davon zu sterben! Nein, man starb nicht, wurde vom Schreck nur so gelähmt, daß man kein Glied rühren konnte und nur fühlte, wie das Herz wild und quälend in der Brust trommelte. Es waren Nicke und Blom, die zwischen den Bäumen näher kamen. Dieser Svanberg war sicher auch dabei.

Es gab nichts, was sie hätte tun können. Rasmus schlief. Sie konnte ihn nicht wecken und davonlaufen. Damit war nichts erreicht. Weit würden sie nicht kommen. Man konnte also ebensogut sitzenbleiben und abwarten, daß man gefangen würde.

Jetzt waren sie so dicht herangekommen, daß Eva-Lotte verstehen konnte, was sie redeten.

»Noch nie habe ich Peters so rasend gesehen«, sagte Blom.

»Und das wundert mich gar nicht. Du bist eine ziemliche Nuß, Nicke.«

Nicke brummte. »Das war dieses Mädchen«, sagte er. »Mit der möchte ich jetzt mal ein passendes Wörtchen reden. Warte nur, bis ich sie erwischt habe.«

»Das kann ja nicht mehr so lange dauern«, meinte Blom.

»Auf der Insel müssen die beiden ja noch sein.«

»Sei nur ruhig«, sagte Nicke. »Ich werde sie schon finden, und wenn ich jeden Busch einzeln durchsuchen sollte.«

Eva-Lotte schloß die Augen. Zehn Schritte waren sie noch von ihr entfernt, und sie wollte sie nicht sehen. Sie hielt die Augen geschlossen und wartete. Wenn sie sie doch nur schnell packen würden, dann konnte sie doch endlich losweinen – darauf hatte sie schon so lange gewartet.

Sie saß, mit dem Rücken an den großen moosbewachsenen Stein gelehnt, hielt die Augen geschlossen und hörte hinter diesem Stein die Stimmen. So nahe! Bald darauf nicht mehr ganz so nahe, gar nicht mehr so nahe.

Gingen sie fort? Schwächer und schwächer wurden die Stimmen, bis sie schließlich nicht mehr hörbar waren und es so verwunderlich still um sie her wurde. Nur ein kleiner Vogel zwitscherte einsam in einem Busch. Lange, lange saß sie im Moos. Sie wagte nicht, sich zu rühren. Sie wollte nur noch sitzenbleiben, ohne jede Bewegung, und sich in diesem Leben nichts mehr vornehmen.

Schließlich wachte Rasmus auf, und Eva-Lotte begriff, daß sie sich zusammennehmen mußte.

»Komm jetzt, Rasmus«, sagte sie, »wir können nicht länger hier sitzen bleiben.«

Unruhig sah sie sich um. Die Sonne schien nicht mehr. Gro-

ße, dunkle Wolken segelten am Himmel dahin. Es zog sich wohl zu einem Abendregen zusammen. Die ersten schwachen Tropfen fielen bereits.

»Ich will zu meinem Vati«, sagte Rasmus. »Ich will nicht mehr im Wald bleiben, ich will zu meinem Vati gehen!«

»Wir können jetzt nicht zu deinem Vati«, sagte Eva-Lotte verzweifelt. »Wir müssen versuchen, Kalle und Anders zu finden, sonst weiß ich nicht, wie es mit uns weitergehen soll!«

Sie bahnten sich ihren Weg durch die Blaubeersträucher, und Rasmus folgte ihr knurrend wie ein kleiner Hund.

»Ich will was zu essen haben«, schimpfte er. »Und dann will ich meine Borkenboote haben.«

Eva-Lotte sagte nichts mehr, sie schwieg. Da hörte sie hinter sich bitterliches Schluchzen. Sie wandte sich um und sah die kleine unglückliche Gestalt, die dort zwischen den Blaubeeren stand und mit zitterndem Mund große Tränen weinte.

»O Rasmus, weine bitte nicht«, bat Eva-Lotte, obwohl sie selbst nichts lieber getan hätte. »Weine nicht! Lieber kleiner Rasmus, warum weinst du denn?«

»Ich weine, weil …« schluckte Rasmus. »Ich weine, weil doch … weil doch Mutti in Indien ist!«

Auch wer eine Weiße Rose werden wollte, durfte ja schließlich weinen, wenn die Mutti in Indien war.

»Ja, aber sie kommt doch bald wieder«, sagte Eva-Lotte tröstend.

»Deshalb weine ich aber trotzdem«, schrie Rasmus trotzig.

»Weil ich vergessen habe, schon früher deswegen zu weinen, dumme Eva-Lotte!«

Der Regen nahm zu. Unbarmherzig und kalt strömte er herunter und hatte bald ihre dünnen Kleider durchnäßt. Gleichzeitig wurde es immer dunkler. Die Schatten zwischen den Bäumen waren tief. In Kürze würden sie keinen Schritt weit mehr sehen können. Sie stolperten weiter, naß, ohne Hoffnung, hungrig und verzweifelt.

»Ich will nicht im Wald sein, wenn es dunkel ist«, weinte Rasmus. »Stell dir vor, daß ich das nicht will …«

Eva-Lotte strich sich ein paar Wassertropfen aus dem Gesicht. Vielleicht waren auch Tränen dabei. Sie blieb stehen. Sie drückte Rasmus an sich und sagte mit zitternder Stimme:

»Rasmus, eine Weiße Rose muß doch tapfer sein. Jetzt sind wir beide Weiße Rosen und wollen zusammen etwas Großartiges machen.«

»Was denn?« fragte Rasmus.

»Wir werden unter eine Tanne kriechen und dort bis zum Morgen schlafen.«

Der kleine zukünftige Ritter der Weißen Rose schrie, als säße ein Messer in ihm.

»Ich will nicht im Wald sein, wenn es dunkel ist! Hörst du es, dumme Eva-Lotte, ich will nicht! – Ich will nicht! Ich will nicht.«

»Aber in unserer Hütte möchtest du doch sicher sein?«

Kalles Stimme sagte das. Kalles ruhige, sichere Stimme. Sie war schöner als die eines Erzengels, fand Eva-Lotte. Nicht weil sie schon einen Erzengel gehört oder gesehen hätte, nein, weil sie sicher war, daß er, trotz all seiner Größe und Herrlichkeit, sich niemals mit Kalle, der ihnen dort mit einer Taschenlampe aus dem Dunkel entgegenkam, messen konnte.

Die Tränen drängten sich aus Eva-Lottes Augen. Aber nun durften sie gerne kommen.

»Kalle, bist du es … bist du es wirklich … wirklich du?« sagte sie schluchzend.

»Wie in aller Welt seid ihr hierhergekommen?« fragte Kalle.

»Seid ihr geflohen?«

»Und ob«, sagte Eva-Lotte. »Den ganzen Tag lang!«

»Ja, wir sind geflohen, damit ich eine Weiße Rose werden kann«, versicherte Rasmus.

»Anders!« schrie Kalle. »Anders, komm her, ich will dir ein Wunder zeigen! Eva-Lotte und Rasmus sind hier!«

Sie saßen in der Hütte auf den Tannenzweigen und waren sehr glücklich. Es regnete noch immer, und das Dunkel zwischen den Bäumen draußen war noch schwärzer geworden.

Aber was tat das? Hier drinnen war es mollig und warm, sie hatten trockene Kleider: Das Leben war nicht mehr so sauer und widerwärtig wie noch vor kurzem. Das kleine blaue Feuer von Kalles Spirituskocher flackerte munter unter dem Topf mit hei-

ßem Kakao, und Anders schnitt Brot zu ganzen Scheibenbergen.

»Es ist so schön, daß man es gar nicht glaubt«, sagte Eva-Lotte mit einem zufriedenen Seufzer. »Ich bin trocken, mir ist warm, und wenn ich noch so drei, vier, fünf, sechs Butterbrote essen darf, werde ich auch satt sein.«

»Aber ich möchte mehr gebratenen Speck haben«, sagte Rasmus. »Und mehr Kakao.«

Er streckte seinen Becher vor und bekam ihn nachgefüllt. Er trank den warmen Kakao in tiefen, genießerischen Schlucken, ohne mehr als einige Tropfen auf Kalles Trainingsoverall zu verschütten. Der Overall, den er bekommen hatte, war ihm viel zu groß, und er verschwand fast in der schönen wolligen Wärme. Zufrieden zog er die Zehen ein, damit auch nicht das kleinste Stück von ihm draußen war und etwa frieren mußte. Oh, wie war das alles herrlich, diese Hütte und der Overall und die Schinkenbrote – alles war herrlich.



»Jetzt bin ich wohl beinahe eine Weiße Rose?« fragte er neugierig zwischen dem Kauen.

»Na, viel fehlt da nicht«, versicherte Kalle.

Er selbst war in diesem Moment so zufrieden und glücklich, wie nur ein Mensch sein konnte. Unvorstellbar, wie sich alles eingerenkt hatte! Rasmus gerettet, die Papiere gerettet, bald sollte der ganze Alpdruck vorbei sein.

»Morgen früh nehmen wir das Boot und rudern Rasmus zum Festland«, sagte er. »Dann rufen wir Onkel Björk an, damit die Polizei den Professor rettet. Dann bekommt der Professor seine Geheimpapiere …«

»Und dann sollen die Roten davon zu hören bekommen, daß ihnen die Ohren abfallen«, ergänzte Anders.

»Wo sind die Geheimpapiere übrigens?« fragte Eva-Lotte neugierig.

»Ich habe sie versteckt«, sagte Kalle. »Und ich denke nicht daran zu erzählen, wo.«

»Warum denn?«

»Es ist besser, wenn nur einer das weiß«, sagte Kalle. »Noch sind wir nicht ganz in Sicherheit. Und solange wir das nicht sind, sage ich auch nichts.«

»Ja, und das ist gut so«, sagte Anders. »Morgen werden wir es erfahren. Stellt euch vor, morgen sind wir zu Hause! Das wird sehr schön sein, tatsächlich!«

Rasmus war anderer Meinung.

»Es wäre viel schöner, hier in der Hütte zu sein«, sagte er.

»Ich möchte immer, immer und immer hierbleiben. Einige Tage könnten wir doch noch hierbleiben.«

»Nein, danke bestens«, sagte Eva-Lotte und entsann sich mit einem Schaudern der Minuten im Wald mit Nicke und Blom hinter sich. Es kam darauf an, sobald es hell wurde, schnellstens von der Insel fortzukommen. Jetzt waren sie noch durch die Dunkelheit geschützt. Kam erst der Tag, waren sie vogelfrei.

Nicke hatte doch gesagt, daß er jeden Busch auf der Insel durchsuchen wollte, und Eva-Lotte hatte nicht die geringste Lust zu bleiben, bis er zu Ende gesucht hatte.

Langsam hörte der Regen auf, und das kleine Stück Himmel, das durch die Öffnung in der Hütte sichtbar war, überzog sich mit Sternen.

»Ich brauche noch etwas frische Luft, bevor ich einschlafe«, sagte Anders und kroch hinaus. Kurze Zeit danach rief er die anderen. »Kommt, dann könnt ihr etwas sehen!«

»Du kannst doch wohl im Dunkeln nichts sehen«, rief Eva-Lotte.

»Ich sehe die Sterne«, sagte Anders.

Eva-Lotte und Kalle sahen sich an.

»Er ist doch nicht etwa sentimental geworden?« fragte Kalle beunruhigt. »Es ist besser, wir kümmern uns um ihn.«

Sie zwängten sich durch die enge Öffnung nach draußen.

Rasmus zögerte. Hier in der Hütte war es hell. Kalle und Anders hatten ihre Taschenlampen an die Decke gehängt. Hier war es hell und warm, draußen war es dunkel, und vom Dunkel hatte er genug. Aber er zögerte nicht lange. Wo Eva-Lotte und Kalle waren, da wollte er auch sein. Auf allen vieren kroch er durch die Öffnung. Wie ein kleines Tierchen sah er aus, wie ein Tierchen, das in der Nacht vorsichtig seine Nase aus dem Nest steckt.

Draußen standen sie dicht beieinander und ganz still. Still standen sie unter den Sternen, die dort oben auf einem tief-schwarzen Himmel brannten. Sie hatten kein Verlangen zu reden, standen nur beieinander und horchten in die Dunkelheit hinein. Das dumpfe Säuseln der schlafenden Wälder hatten sie nie zuvor gehört. Es war eine seltsame Melodie, und ihnen war wunderlich zumute.

Rasmus schob seine Hand in Eva-Lottes Hand. Das hier war etwas, was er noch nie erlebt hatte, und es machte ihn froh und ängstlich zugleich. So ängstlich, daß er eine Hand in seiner Hand spüren wollte. Aber plötzlich fühlte er, wie ihm alles gefiel. Ihm gefielen die Wälder, auch wenn es dunkel war und so eigenartig in den Bäumen rauschte, ihm gefielen die kleinen Wellen, die an die Klippen schlugen, und ihm gefielen die Sterne. Die Sterne am allerbesten. Er bog seinen Kopf nach hinten und starrte gerade hinauf zu den freundlichen Sternen. Und er drückte Eva-Lottes Hand und sagte mit träumerischer Stimme:

»Denk nur, wie schön es im Himmel sein muß, wenn er schon auf der Außenseite so schön ist!«

Niemand antwortete. Niemand sagte ein einziges Wort. Nur Eva-Lotte beugte sich zu Rasmus und schlang die Arme um ihn.

So standen sie still.

»Jetzt, Rasmus, sollst du schlafen«, sagte Eva-Lotte endlich.

»Du sollst in einer kleinen Hütte im großen Wald schlafen.

Wird das nicht wunderbar sein?«

»Klar!« sagte Rasmus aus tiefster Überzeugung.

Und als er etwas später zu Eva-Lotte in den Schlafsack gekrochen war und dalag und sich erinnerte, daß er beinahe schon eine Weiße Rose war, seufzte er tief auf vor innerer Zufriedenheit. Er bohrte seine Nase in Eva-Lottes Arm und fühlte, daß er jetzt schlafen wollte. Er würde Vati genau erzählen, wie schön es doch war, nachts in Hütten aus Tannenreisig zu schlafen. Es war jetzt dunkel. Kalle hatte die Taschenlampen ausgelöscht, aber Eva-Lotte war dicht bei ihm, und die freundlichen Sterne dort draußen blinkten sicher weiterhin am Himmel.

»Wie wäre es doch bequem in diesem Schlafsack, wenn du nicht hier liegen und drängeln würdest«, sagte Anders und gab Kalle einen Puff.

Kalle gab den Puff zurück. »Wie traurig, daß wir nicht daran gedacht haben, für dich ein Doppelbett mitzunehmen«, sagte er. »Aber trotzdem gute Nacht!«

Fünf Minuten später schliefen sie alle, tief und sorglos und ohne Angst vor dem kommenden Tag.

ZWÖLFTES KAPITEL

Bald würden sie hier fort sein. In einigen Minuten nur würden sie hier fort sein und diese Insel nie mehr sehen. Kalle wartete einen Augenblick, bevor er in das Boot sprang. Er blickte sich um. Das also war ihre Heimat während einiger unruhiger Tage und Nächte gewesen. Dort war ihre Badeklippe, sie sah so einladend aus im ersten Frühlicht. In der Mulde dort hinten lag die Hütte. Sehen konnte er sie von hier aus nicht, aber er wußte, daß sie dort lag und daß sie leer und verlassen war und ihnen niemals mehr ein Heim sein sollte.

»Kommst du irgendwann einmal?« sagte Eva-Lotte nervös.

»Ich möchte hier wegfahren. Das ist das einzige, was ich will.«

Sie saß auf dem Steuersitz, und Rasmus saß neben ihr. Schneller als jeder andere wollte sie von hier weg. Jede Sekunde war kostbar, das wußte sie. Sie konnte sich gut vorstellen, wie wütend Peters über ihre Flucht sein mußte und daß er das Letzte versuchen würde, sie wieder in seine Hände zu bekommen. Deshalb war Eile nötig, das wußten sie alle, Kalle auch. Mit einem Sprung war er im Boot, wo Anders schon fertig zum Rudern saß.

»Na also dann«, sagte Kalle. »Dann sind wir wohl klar.«

»Ja, wir sind klar«, sagte Anders und begann zu rudern. Aber schnell bremste er wieder ab und machte eine kummervolle Miene. »Es ist nur bloß … na ja, kurz und gut, ich habe meine Taschenlampe vergessen«, sagte er. »Ja, ja, ja, ich weiß, daß ich schlampig bin. Aber es genügen einige Sekunden, dann habe ich sie wieder.«

Er sprang bei der Badeklippe an Land und verschwand.

Sie warteten. Sehr unruhig zuerst. Und nach einem Weilchen außergewöhnlich unruhig. Nur Rasmus saß vollkommen ungerührt da und spielte mit den Fingern im Wasser.

»Wenn er nicht gleich kommt, schreie ich«, sagte Eva-Lotte.

»Sicher hat er ein Vogelnest oder so etwas gefunden«, sagte Kalle bitter. »Du, Rasmus, lauf und sag ihm, das Boot fährt ab!«

Gehorsam kletterte Rasmus aus dem Boot. Sie sahen, wie er mit kurzen kleinen Sprüngen den Felsen emporlief.

Sie warteten. Warteten und warteten und starrten ungeduldig auf den Felsbuckel, wo wohl bald die Verschwundenen auftauchen mußten. Es kam aber niemand. Der Felsen lag öde vor ihnen, als hätte noch nie ein menschlicher Fuß ihn betreten. Ein morgenfrischer Barsch stand dicht am Boot, und es raschelte leise im Schilf am Ufer. Sonst war alles still. Unheilverkündend still, fanden sie plötzlich.

»Um des lieben Friedens willen, was machen die beiden nur?«

fuhr Kalle unruhig auf. »Ich glaube, ich muß hin und nachsehen.«

»Dann gehen wir beide«, sagte Eva-Lotte. »Ich traue mich nicht, hier allein zu sitzen und zu warten.«

Kalle machte das Boot fest, und sie sprangen an Land. Liefen den Felsen hinauf, wie Anders es getan hatte. Und wie Rasmus es getan hatte. Dort lag die Hütte in der Mulde. Kein Mensch war zu sehen, keine Stimme zu hören. Nur diese unheimliche Stille …

»Wenn das einer der üblichen Scherze von Anders ist«, sagte Kalle und kroch in die Hütte, »dann schlage ich ihn kurz und …«

Mehr sagte Kalle nicht. Eva-Lotte, zwei Schritte hinter ihm, hörte nur einen halb erstickten Ruf, und sie schrie wild und verzweifelt: »Was ist los, Kalle, was ist los?«

Im selben Augenblick fühlte sie eine harte Hand im Genick und hörte eine wohlbekannte Stimme im Ohr:

»Satansbalg, nun hast du wohl fertig gebadet, was?«

Es war Nicke, puterrot im Gesicht vor Wut. Und aus der Hütte kamen Blom und Svanberg. Drei Gefangene brachten sie mit, und Eva-Lottes Augen füllten sich mit Tränen, als sie sie sah. Das war das Ende. Alles war jetzt vorbei. Alles war vergebens gewesen. Jetzt konnte man sich ebensogut ins Moos legen und sofort sterben.

Es schnitt ihr ins Herz, als sie Rasmus sah. Er war vollkommen wild und machte verzweifelte Anstrengungen, einen Stoff-lappen, der ihn am Schreien hinderte, aus seinem Mund herauszubekommen. Nicke sprang hinzu, um ihm zu helfen, aber er fand keinen Dank dafür bei Rasmus. Sobald er den Mund frei hatte, spuckte er wütend nach Nicke und schrie:

»Du bist blöd, Nicke! Pfui Blase, wie bist du doch blöd! Pfui Blase!«

Es wurde eine bittere Rückkehr. So mußten sich geflohene Kettensträflinge im Dschungel fühlen, wenn sie zur Teufelsinsel zurückgeschleppt wurden, dachte Kalle und ballte die Fäuste. Es war auch ein richtiger Gefangenentransport. Sie waren alle mit einem Strick aneinandergebunden, er und Eva-Lotte und Anders.

Neben ihnen ging Blom, ein Gefangenenaufseher von der aller-

übelsten Sorte, und hinter ihnen Nicke. Er trug Rasmus, der nicht aufhörte zu versichern, daß er Nicke entsetzlich blöd fände.

Svanberg hatte ihre Sachen aus dem Boot genommen, und nun waren sie auf dem Weg zurück in das Lager der Kidnapper.

Nicke schien bei sehr schlechter Laune zu sein. Dabei hätte er doch eigentlich zufrieden sein müssen, mit seinem Fang zu Peters zurückzukommen. Aber er ging hinter ihnen und schimpfte und fluchte vor sich hin.



»Verflixtes Görenzeug! Warum habt ihr das Boot genommen? Habt wohl gedacht, wir merken es nicht, wie? Und wenn ihr nun schon das Boot hattet, warum seid ihr auf der Insel geblieben, ihr Idioten?«

Ja, warum hatten sie das getan? dachte Kalle bitter. Warum waren sie nicht schon gestern abend, obschon Rasmus müde war und es regnete und dunkel war, zum Festland hinübergerudert?

Warum waren sie nicht rechtzeitig von dieser Insel verschwunden? Nicke hatte recht – sie waren schon Idioten. Aber es war doch seltsam, daß ausgerechnet er sich darüber ärgerte und es ihnen vorhielt. Er schien wirklich nicht besonders erfreut davon, sie wieder eingefangen zu haben.

»Ich finde, Kidnapper sind überhaupt nicht nett«, sagte Rasmus.

Nicke antwortete nicht, guckte nur böse und schimpfte weiter.

»Und warum habt ihr die Papiere genommen, wie? Ihr beiden Schafsköpfe da vorne, warum habt ihr die Papiere gestohlen?«

Die beiden Schafsköpfe antworteten nicht. Und sie schwiegen auch später, als Peters sie dasselbe fragte.

Sie saßen jeder auf einer Bank in Eva-Lottes Häuschen und waren so niedergeschlagen, daß sie nicht einmal mehr Angst vor Peters hatten, obwohl er alles versuchte, um sie zu ängstigen.

»Das sind Sachen, von denen ihr nichts versteht«, sagte er,

»und ihr hättet euch niemals einmischen dürfen. Es wird euch sehr schlechtgehen, wenn ihr nicht erzählt, wo ihr die Papiere gestern abend gelassen habt.« Seine schwarzen Augen sahen sie kalt an, und er zischte: »Na, wird’s bald! Heraus damit! Wo habt ihr die Dokumente gelassen?«

Sie antworteten nicht. Das schien gerade die richtige Art und Weise zu sein, um Peters zur Raserei zu bringen, denn er stürzte sich auf Anders, als ob er ihn ermorden wollte. Mit beiden Händen faßte er ihn am Kopf und schüttelte ihn wild. »Wo sind die Papiere?« schrie er. »Antworte, sonst drehe ich dir das Genick um!«

Da griff Rasmus ein. »Jetzt bist du doch aber reichlich blöde«, sagte er. »Anders weiß ja gar nicht, wo die Papiere sind. Das weiß nur Kalle. Es ist nämlich besser, sagt Kalle, wenn es nur einer weiß.«

Peters ließ Anders los und sah Rasmus an.

»Soso, meinst du«, sagte er. Dann wandte er sich an Kalle.

»Kalle, glaube ich, bist ja wohl du! Und nun hör mal zu, mein lieber Kalle! Du bekommst eine Stunde Bedenkzeit. Eine Stunde und keinen Fatz mehr. Danach wird etwas überaus Unangenehmes mit dir geschehen. Schlimmer als alles, was du jemals vorher erlebt hast, verstehst du das?«

Kalle sah so überlegen aus, wie Meisterdetektiv Blomquist immer in derartigen Situationen auszusehen pflegte. »Versu-chen Sie nur nicht, mich zu erschrecken, denn das können Sie gar nicht«, sagte er. In Gedanken sprach er für sich selbst weiter: »Denn ich bin bereits so erschrocken, wie man nur sein kann.«

Peters zündete sich eine Zigarette an, und seine Hände zitterten dabei. Prüfend sah er Kalle an, bevor er weitersprach:

»Ich weiß nicht, ob du intelligent genug bist, mir zu folgen.

Solltest du es sein, dann wende von mir aus deine Intelligenz an.

Vielleicht begreifst du dann, worum es geht. Es handelt sich um folgendes: Aus gewissen Gründen, die ich dir nicht näher erläu-tern will, habe ich mich auf eine Sache geworfen, die so unge-setzlich ist, wie etwas nur sein kann. Ich rechne mit lebensläng-lichem Gefängnis, wenn ich in Schweden bleibe, und deshalb gedenke ich nicht eine Sekunde länger, als nötig ist, hier zu bleiben. Ich werde mich ins Ausland begeben, und ich will diese Geheimdokumente mit mir nehmen. Begreifst du jetzt? Du bist doch wohl nicht zu dumm, um zu verstehen, daß ich alles, aber auch alles – sei es, was es sei – tun werde, um aus dir herauszu-pressen, wo die Papiere sind.«

Kalle nickte. Er verstand sehr gut, daß Peters vor nichts zurückschrecken würde. Und er verstand auch, daß er selbst bald gezwungen sein würde, aufzugeben und das Geheimnis zu verraten. Wie sollte auch ein Junge wie er sich auf die Dauer gegen einen so vollkommen gewissenlosen Gegner wie Peters halten können? Aber eine Stunde Bedenkzeit hatte er bekommen, und die wollte er ausnutzen. Er wollte nicht aufgeben, bevor er alle Möglichkeiten erwogen hatte.

»Ich will mir die Sache überlegen«, sagte er kurz, und Peters nickte.

»Gut«, sagte er. »Überlege eine Stunde! Und wende deine Intelligenz an, wenn du welche hast!«

Er ging, und Nicke, der die ganze Zeit mit bitterer Miene dagestanden und die Gespräche angehört hatte, folgte ihm zur Tür. Aber als Peters verschwunden war, drehte sich Nicke um und ging zu Kalle. Er sah nicht länger verbittert aus. Beinahe bittend sah er Kalle an und sagte mit leiser Stimme: »Erzähl doch dem Chef, wo die Papiere sind, ja. Damit endlich einmal Schluß wird mit diesem ganzen Elend hier. Kannste doch machen, wie? Schon wegen Rasmus, wie?«

Kalle antwortete nicht, und Nicke ging. In der Tür drehte er sich um und sah betrübt zu Rasmus hinüber.

»Ich will dir nachher ein neues Borkenboot schnitzen«, sagte er. »Ein viel, viel größeres …«

»Ich will kein Borkenboot haben«, sagte Rasmus erbarmungslos. »Und ich finde auch nicht, daß Kidnapper nett sind.«

Dann waren sie sich selbst überlassen. Sie hörten, wie Nicke den Schlüssel im Schloß umdrehte. Dann hörten sie nur noch von draußen her das Rauschen in den Kronen der Bäume.

»Toll, wie der Wind stärker wird«, sagte Anders, als sie eine lange Zeit stumm dagesessen hatten.

»Ja, ganz schöner Wind«, sagte Eva-Lotte und sah zu Kalle.

»Eine Stunde«, sagte sie. »In einer Stunde wird er wieder hier sein. Was sollen wir tun, Kalle?«

»Du wirst erzählen müssen, wo du sie versteckt hast«, sagte Anders. »Sonst bringt er dich um.«

Kalle zog sich an den Haaren. »Wende deine Intelligenz an«, hatte Peters gesagt. Kalle war entschlossen, es zu tun. Möglich, daß man – wenn man den Verstand ordentlich anstrengte –doch etwas ausdenken konnte, um aus dieser Falle zu schlüpfen.

»Wenn ich fliehen könnte«, sagte er nachdenklich. »Es wäre gut, wenn ich fliehen könnte …«

»Ja, und wenn du den Mond herunterholen könntest, das wäre auch gut«, sagte Anders.

Kalle antwortete nicht. Er dachte nach. »Hört mal«, sagte er schließlich. »So um diese Zeit kommt doch Nicke immer mit dem Essen!«

»Gewiß«, sagte Eva-Lotte. »Zumindest bekamen wir immer Frühstück um diese Zeit. Kann aber auch sein, daß der Peters uns jetzt tothungern will.«

»Uns vielleicht, aber Rasmus nicht«, sagte Anders. »Nicke läßt doch Rasmus nicht verhungern!«

»Stellt euch vor, wenn wir uns alle auf Nicke stürzen – alle auf einmal«, sagte Kalle. »Wenn er mit dem Essen kommt.

Glaubt ihr nicht, daß ihr euch so lange an ihn klammern könnt, bis ich geflohen bin?«

Eva-Lottes Gesicht leuchtete auf. »Das geht«, sagte sie. »Ich bin sicher, daß es geht. Oh, ich werde endlich Nicke auf den Schädel schlagen! Wie habe ich mich danach gesehnt!«

»Ich werde Nicke auch auf den Schädel schlagen«, sagte Rasmus entzückt. Als er sich aber an den Flitzbogen und an die Borkenboote erinnerte, setzte er nachdenklich hinzu: »Trotzdem, so doll werde ich ihn trotzdem nicht schlagen. Er ist ja doch nett …«

Die anderen hörten nicht auf ihn. Nicke konnte jederzeit kommen, und es galt, bereit zu sein.

»Was willst du nachher machen, Kalle?« fragte Eva-Lotte aufgeregt. »Ich meine, wenn du geflohen bist?«

»Ich werde zum Festland schwimmen und die Polizei holen.

Der Professor kann sagen, was er will. Wir müssen die Polizei zur Hilfe holen! Das hätten wir schon viel eher tun müssen!«

Eva-Lotte schauderte zusammen. »Jaja«, sagte sie. »Nur weiß keiner, was Peters tun wird, bevor die Polizei die Insel erreicht hat.«

»Schsch!« machte Anders warnend. »Jetzt kommt Nicke.«

Lautlos sprangen sie zur Tür und stellten sich neben ihr zu beiden Seiten auf. Sie hörten Nickes Schritte näher kommen, und sie hörten das Klappern des Blechtabletts, das er trug. Sie hörten, wie sich der Schlüssel im Schloß drehte, und sie spannten jeden Nerv und jeden Muskel in ihrem Körper. Jetzt – jetzt galt es!

»Hier bringe ich Rührei für dich, kleiner Rasmus«, rief Nik-ke, während er öffnete. »Das magst du doch …«

Er bekam nie heraus, ob Rasmus Rührei mochte. Denn in dieser Sekunde stürzten sie sich über ihn. Das Blechtablett fiel polternd zu Boden, und das Rührei spritzte umher. Sie hängten sich an seine Arme und Beine, warfen ihn um, schlugen ihn, krabbelten über ihn, saßen auf ihm, zogen ihn an den Haaren und drückten seinen Kopf auf den Boden. Nicke brummte wie ein verwundeter Löwe, und mit kleinen, kurzen Freudenschrei-en hüpfte Rasmus um die Kämpfenden herum. Das war ja schon fast der Krieg der Rosen, und er sah es als seine Pflicht an mitzumachen.

Er zögerte etwas, denn Nicke war ja trotz allem sein Freund.

Aber nach kurzer Überlegung ging er vor und gab ihm einen ordentlichen Tritt in den Hintern. Anders und Eva-Lotte kämpften wie nie zuvor, und Kalle sprang blitzschnell aus der Tür. Alles war in wenigen Sekunden vor sich gegangen. Nicke hatte Riesenkräfte, und als er sich von der Überraschung erholt hatte, brauchte er nur mit den Armen zu schütteln, um wieder frei zu sein. Verwirrt und böse stand er auf und sah sofort, daß Kalle verschwunden war. Er sprang zur Tür und wollte sie öffnen. Aber die Tür war verschlossen.



Einen Augenblick stand er da und starrte wie blöde die Tür an.

Dann warf er sich mit seinem ganzen Körper gegen die Türfül-lung, aber die war stabil und bewegte sich nicht um Haaresbreite.

»Wer zum Teufel hat die Tür abgeschlossen?« schrie er wild.

»Welcher Satan hat …«

Immer noch hüpfte Rasmus umher, froh und munter jubelte er seine kleinen spitzen Entzückungsschreie hervor.

»Das war ich«, schrie er. »Das war ich! Kalle lief raus, und dann habe ich abgeschlossen.«

Nicke packte ihn fest am Arm. »Wo hast du den Schlüssel, kleiner Lümmel?«

»Au, das tut weh«, sagte Rasmus. »Laß mich los, dummer Nicke!«

Nicke schüttelte ihn noch einmal. »Wo du den Schlüssel hast, will ich wissen!«

»Den Schlüssel, den habe ich aus dem Fenster geschmissen, bitte sehr!« sagte Rasmus.

»Bravo, Rasmus!« schrie Anders.

Eva-Lotte lachte laut und zufrieden auf.

»Jetzt kannst du mal sehen, kleiner Nicke, wie es ist, wenn man gefangen ist«, sagte sie.

»Ja, und es muß außerdem sehr lustig sein, zu hören, was der Peters dazu sagen wird«, meinte Anders kichernd.

Nicke setzte sich schwer auf die nächste Bank. Es war deutlich zu sehen, daß er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Als er das getan hatte, brach er in ein plötzliches und unerwartetes schallendes Gelächter aus.

»Ja, das wird lustig werden, zu hören, was der Chef dazu sagen wird.« Er lachte. »Das wird sicher lustig werden!« Dann wurde er wieder ruhig. »Aber das ist ja ein großes Unglück! Ich muß den Bengel erwischen, ehe er irgend etwas anstellen kann.«

»Bevor er die Polizei holen kann, meinst du!« sagte Eva-Lotte. »In dem Fall mußt du dich schon etwas beeilen, kleiner Nicke.«

DREIZEHNTES KAPITEL

Ein frischer westlicher Wind, der von Minute zu Minute stärker wurde, fegte dumpf brausend über die Tannenspitzen und trieb kleine, zitternde, schaumige Wellen durch den Sund, der die Insel vom Festland trennte. Kalle, der nach dem schweren Kampf mit Nicke und dem rasenden Lauf immer noch schwer atmete, stand am Ufer und sah verzweifelt auf das wild bewegte Wasser.

Ohne sein Leben aufs Spiel zu setzen, konnte hier ein Sterblicher nicht hinüberschwimmen. Selbst mit einem kleinen Ruderboot wäre es eine heikle Angelegenheit gewesen. Außerdem hatte er kein Boot. Im vollen Tageslicht wagte er sich auch nicht zur Anlegestelle, und sicher lag dort auch kein Boot, das nicht angeschlossen war.

Wieder einmal war Kalle völlig ratlos. Er begann, all die vielen Widerstände, die sich vor ihm aufhäuften, langsam satt zu haben. Hier gab es keine Möglichkeit als abzuwarten, bis der Wind zurückging – und das konnte Tage dauern. Wo sollte er während dieser Zeit bleiben, und wovon sollte er leben? In die Hütte konnte er nicht zurück. Dort würden sie zuerst nach ihm suchen. Nahrungsmittel hatte er auch nicht mehr, die hatten die Kidnapper beschlagnahmt. Schlimmer konnte es wirklich nicht mehr werden, dachte Kalle, während er ängstlich und unentschlossen zwischen den Bäumen umherirrte. Jederzeit konnte Nicke hinter ihm her sein.

Da hörte er durch den Wind laute Hilferufe aus Eva-Lottes Häuschen. Der kalte Angstschweiß legte sich auf seine Stirn.

Bedeuteten die Rufe, daß Peters gerade jetzt auf irgendeine teu-flische Weise sich an den anderen für seine Flucht rächte? Der Gedanke daran machte ihn knieschwach. Er mußte herausbekommen, was dort oben geschah.

Auf Schleichwegen kehrte er dorthin zurück, woher er eben gekommen war. Je mehr er sich dem Haus näherte, desto besser konnte er die Stimmen unterscheiden, und zu seinem Erstaunen hörte er, daß es Nicke war, der um Hilfe rief. Nicke und manchmal Rasmus. Was in aller Welt taten Anders und Eva-Lotte nur mit Nicke, daß er auf diese Weise schrie? Kalles Neugierde trieb ihn, das zu erfahren, selbst wenn es sehr riskant war. Zum Glück ging ja der Wald bis zum Haus. Mit etwas Geschick konnte man bis vor Eva-Lottes Fenster schleichen, ohne gesehen zu werden.

Kalle schlängelte sich zwischen den Tannen vorwärts. Jetzt war er schon so dicht heran, daß er Nicke über irgend etwas im Haus toben und fluchen hören konnte. Er hörte auch die zufriedenen Stimmen der anderen. Nicke, das war klar, wurde nicht mehr mißhandelt – weshalb war er also so wild? Und warum blieb er in dem Haus, anstatt draußen nach Kalle zu suchen?

Und was lag dort vor Kalles Nase und glänzte aus den Tannen-nadeln hervor? Es war ein Schlüssel. Kalle hob ihn auf und betrachtete ihn genau. Konnte es der Schlüssel zu Eva-Lottes Haus sein? Wie war er hierhergekommen? Ein neues Geschrei von Nicke beantwortete Kalles Fragen.

»Peters, Hilfe!« schrie Nicke. »Die haben mich eingeschlossen. Kommen Sie, schließen Sie auf!«

Kalle lachte leise. Nicke war mit seinen Gefangenen eingeschlossen. Das war ein Punkt für die Weiße Rose. Zufrieden steckte Kalle den Schlüssel in die Hosentasche.

Da hörte er auch schon, wie Peters, Blom und Svanberg an gelaufen kamen. Er wurde steif vor Schreck. In einigen Minuten würden sie Wettjagen auf ihn machen, und sie würden ihn suchen wie nie zuvor. Denn das mußte Peters einen entsetzlichen Stich geben – daß Kalle wieder auf freiem Fuß war. Es würde ihm sofort klar sein, daß Kalle mit allen Mitteln versuchen würde, Hilfe herbeizuschaffen. Deshalb gab es für Peters nichts Wichtigeres, als um jeden Preis zu verhindern, daß Kalle die Insel verließ. Er würde diesmal vor nichts zurückschrecken, das wußte Kalle, und diese Gewißheit ließ ihn unter der Sonnenbräune blaß werden. Da lag er und horchte voller Angst auf die laufenden Männer, die sich näherten. Er mußte ein Versteck für sich finden, er mußte es sofort finden, innerhalb weniger kostbarer Sekunden.

Da sah er es, gerade vor seinen Augen. Ein märchenhaftes Versteck. Dort würde man ihn vorerst nicht suchen. Unter dem Haussockel war eben so viel Platz, daß man einigermaßen bequem liegen konnte. Nur hier auf der Rückseite war der Haussockel so hoch, weil das Haus auf einem Abhang, gegen die See zu, lag. Am Sockel wuchs hohes Gras und große Mengen von rotem Phlox, die einen recht gut davor schützten, gesehen zu werden, falls doch jemand den Einfall bekam, auf der Rückseite des Hauses zu suchen. Flink wie ein Wiesel kroch Kalle, so weit er kommen konnte, unter den Sockel. Wenn sie hier nach mir suchen, sind sie nicht normal, dachte er. Wenn sie nur etwas Verstand im Kopf hatten, dann suchten sie doch wohl einen Flüchtling so weit wie möglich von seinem Gefängnis entfernt und nicht direkt unter seinem Gefängnisfußboden.

Er lag da und hörte das Erdbeben, das losbrach, als Peters die Zusammenhänge begriffen hatte: daß Nicke eingeschlossen und Kalle verschwunden war.

»Lauft!« schrie Peters wie ein Wahnsinniger. »Lauft und packt ihn! Kommt mir nicht ohne ihn zurück, oder ich übernehme keine Verantwortung für das, was ich tun werde!«

Blom und Svanberg liefen los, und Kalle hörte, wie Peters fluchend einige Schlüssel probierte und dann mit einem die Tür zu den Gefangenen öffnete. Und dann gab es über seinem Kopf ein noch größeres Erdbeben. Der arme Nicke verteidigte sich standhaft, aber Peters war nicht zu halten. Eine Schimpfkano-nade von solchem Ausmaß hatte Nicke sicher noch nie über sich ergehen lassen müssen. Sie nahm und nahm kein Ende, jedenfalls nicht, bevor sich Rasmus einmischte.

»Daß du so ungerecht sein kannst, Peters«, sagte er. Kalle konnte die kleine feste Stimme so deutlich hören, als wäre er selbst im Zimmer. »Immer und immer bist du ungerecht. Nicke kann doch wohl nichts dafür, wenn ich die Tür abgeschlossen und den Schlüssel zum Fenster rausgeworfen habe.«

Peters antwortete nur mit einem dumpfen Gebrüll. Dann schrie er Nicke an: »Raus mit dir und den Kerl gesucht! Ich werde sehen, ob ich den Schlüssel finde.«

Kalle zuckte zusammen. Wenn Peters den Schlüssel suchte, konnte er seinem Versteck gefährlich nahe kommen, ganz gefährlich nahe.

Es war wirklich ein Hundeleben. Praktisch mußte man jeden Augenblick mit neuen Gefahren rechnen. Kalle dachte und handelte schnell. Er hörte, wie Nicke fortrannte und Peters die Tür abschloß. Zur selben Zeit verließ er sein Versteck und sprang hinter einen dicken Baum. Und als er Peters um die Hausecke biegen sah, lief er lautlos zum Eingang, den Peters gerade verlassen hatte. Kalle nahm den Türschlüssel aus der Hosentasche, und zum unvorstellbaren Erstaunen von Eva-Lotte und Anders kam er durch die Tür, keine ganze Minute später, nachdem sie Peters und Nicke dort hatten verschwinden sehen.



»Nun bist du ruhig«, sagte Eva-Lotte mit leiser Stimme zu Rasmus, denn es sah aus, als wolle er sich zu Kalles unerwarteter Rückkehr äußern.

»Ich habe doch gar nichts gesagt«, brummelte Rasmus beleidigt. »Aber wenn Kalle …«

»Sch«, sagte Anders und zeigte warnend auf Peters, der draußen in allernächster Nähe des Fensters herumwühlte und deutlich verärgert war, dort keinen Schlüssel zu finden.

»Eva-Lotte, singe«, flüsterte Kalle, »damit Peters nicht hört, wenn ich die Tür zuschließe.«

Und Eva-Lotte stellte sich vor dem Fenster auf und sang aus vollem Hals:

»Glaubst du denn, daß ich ver-lo-o-o-ren bin, Noch lange nicht, oh-ho-ho nein, no-o-och lange nicht …«

Dieser schöne Gesang schien Peters keine rechte Freude zu bereiten. Er sah irritiert zum Fenster. »Ruhe mit dir!« schrie er und suchte dann weiter.

Mit einem Ast stöberte er im Gras unter dem Fenster herum und bog die Blumen beiseite. Sie konnten ihn still vor sich hin fluchen hören, denn einen Schlüssel fand er nicht. Dann gab er das Suchen auf und verschwand. Atemlos standen sie da. Horchten und warteten. Würde er nach Haus gehen oder zu ihnen zurückkommen und Kalle finden? Sie horchten, bis sie das Gefühl hatten, ihre Ohren stächen wie Hörrohre aus ihren Schädeln.

Horchten und hofften schon … Aber dann hörten sie doch Peters’ Schritte vor der Tür. Er kam zurück, o du guter Moses, er kam zurück! Sie starrten sich an, vollkommen aufgelöst, vollkommen bleich, vollkommen außerstande, einen klaren Gedanken zu fassen.

Kalle bekam zuerst seine Fassung wieder. Mit einem Schritt sprang er hinter den großen Vorhang, der die Waschgelegen-heit verdeckte, gleich danach wurde die Tür geöffnet, und Peters kam herein. Eva-Lotte blieb stehen und schloß die Augen.

Nimm ihn fort, dachte sie, nimm ihn fort, oder ich überlebe es nicht … Und wenn Rasmus jetzt anfängt zu reden …

»Ihr sollt Schläge kriegen, sobald ich Zeit habe«, sagte Peters. »Schläge sollt ihr bekommen, daß es nur so pfeift. Aber erst, wenn ich zurückkomme. Und wenn ihr euch bis dahin nicht völlig ruhig verhaltet, sollt ihr noch einmal so viel Schläge haben. Habt ihr verstanden?«

»Ja, vielen Dank«, sagte Anders.

Rasmus kicherte. Er hatte gar nicht auf das gehört, was Peters gesagt hatte. Er war nur von einem Gedanken besessen – daß Kalle hinter dem Vorhang stand! War das nicht das allerschönste Versteckspiel? Eva-Lotte folgte ängstlich seinem Mienenspiel.

Schweig, Rasmus, schweig, bat sie beschwörend in sich selbst.

Aber Rasmus hatte ihr inneres Gebet wohl nicht gehört. Er kicherte unheilverkündend.

»Warum kicherst du?« fragte Peters böse.

Rasmus sah ihn froh und geheimnisvoll an.

»Das wirst du niemals raten können …« fing er an.

»Diesmal wachsen aber besonders viele Blaubeeren hier auf der Insel!« schrie Anders mit hoher, sich beinahe überschlagen-der Stimme. Er hätte so gern mehr geschrien, aber in seiner Seelennot fiel ihm nichts mehr ein. Peters sah ihn voller Abscheu an.

»Willst du witzig sein?« fragte er. »Das kannst du dir sparen.«

»Haha, Peters«, fuhr Rasmus unbeirrt fort, »du weißt nicht, wer …«

»Ich finde, es gibt nichts Schmackhafteres als Blaubeeren«, schrie Anders noch lauter. Peters schüttelte den Kopf.

»Ganz klug scheinst du nicht zu sein«, sagte er. »Aber das macht nicht viel aus. Ich gehe jetzt. Ich will euch nur noch einmal warnen: Stellt nicht noch mehr Unfug an.« Er ging zur Tür. Aber er zögerte, bevor er ging. »Ist ja wahr«, sprach er halblaut zu sich selbst. »Vielleicht sind hier ein paar Rasierklingen im Toilettenschrank.«

Toilettenschrank – der war an der Wand. Hinter dem Vorhang.

»Rasierklingen!« brüllte Eva-Lotte. »Rasierklingen – ist ja ulkig, die habe ich – alle aus Versehen aufgegessen – ich meine –ich – ach ja, ich habe sie verschluckt, bestimmt. Und dann habe ich auf den Rasierpinsel gespuckt.«

Peters starrte sie mit gesenktem Kopf an. »Eure Eltern, die können einem leid tun«, sagte er leise, drehte sich um und verschwand.

Wieder waren sie allein. Sie saßen zu dritt auf einer Bank und unterhielten sich mit leiser Stimme über das, was geschehen war. Auf dem Boden vor ihnen hockte Rasmus und ließ sich kein Wort entgehen.

»Es stürmt zu sehr«, sagte Kalle. »Wir können nichts anfangen, bevor es sich aufgeklärt hat.«

»Manchmal gibt es sogar Windstärke neun«, sagte Anders als kleine Ermunterung.

»Was willst du tun, während du wartest?« fragte Eva-Lotte beunruhigt.

»Ich werde wie eine Kröte unter dem Haussockel liegen«, sagte Kalle. »Und wenn Nicke den letzten Rundgang gemacht hat, komme ich zu euch, esse und schlafe hier.«

Anders lachte: »Wenn wir das alles doch bloß einmal mit den Roten machen könnten, es wäre zu schön.«

So saßen sie lange Zeit. Aus dem Wald klang das Rufen und Schreien von Peters, Nicke und Blom, die dort nach Kalle suchten.

»Ja, sucht nur«, sagte Kalle grimmig. »Mehr als Blaubeeren werdet ihr dort nicht finden.«

Es wurde Abend, und es wurde dunkel. Kalle konnte schon nicht mehr in der Enge unter dem Sockel liegen. Er mußte raus und sich bewegen, bevor ihm Arme und Beine endgültig ein-schliefen. Zu den anderen hineinzugehen, war es noch zu früh.

Nicke hatte die Abendrunde noch nicht gemacht. Leise und vorsichtig ging Kalle im Dunkeln auf und ab.

Er sah im Hause bei Peters Licht. Das Fenster war offen, und er hörte ein schwaches Gemurmel von Stimmen. Wor-

über sprachen sie da drinnen? Wenn man sich ganz, ganz leise heranschlich und unter das Fenster stellte, vielleicht konnte man das eine oder andere Nützliche hören. Er schlich näher.

Immer einen Schritt nach dem anderen. Horchte immer zwischen zwei Schritten und stand dann endlich unter dem Fenster.

»Ich habe das Ganze satt«, hörte er Nicke mit unwirscher Stimme sagen. »Ich habe das alles bis in die Fußspitzen satt, ich will nichts mehr damit zu tun haben.«

Und dann Peters ruhig und eiskalt: »Aha, du willst nichts mehr damit zu tun haben! Und warum, wenn ich fragen darf?«

»Weil es nicht recht ist, mit Kindern so umzuspringen.«

»Sieh dich vor, Nicke«, sagte Peters. »Ich brauche dir wohl nicht erst zu schildern, wie es dir ergehen wird, wenn du versuchst abzuspringen.«

Eine Weile war es still. Dann sagte Nicke schließlich gräm-lich: »Na ja, natürlich, ich weiß schon.«

»Na also«, fuhr Peters fort. »Und ich warne dich, noch mehr Dummheiten zu machen. Du sprichst so närrisch, daß man dich fast im Verdacht haben könnte, du hättest den Jungen absichtlich laufenlassen.«

»Nu hör aber mal, Chef«, fuhr Nicke auf.

»Sicher, sicher, so dumm kannst ja nicht einmal du sein«, sagte Peters. »Sogar du müßtest doch verstehen, was es für uns bedeutet, wenn er geflohen ist.« Nicke antwortete nicht. »Nie in meinem Leben habe ich solche Angst ausgestanden«, sprach Peters weiter. »Wenn das Flugzeug nicht bald kommt, wird alles schiefgehen, davon kannst du überzeugt sein.«

Flugzeug? Kalle spitzte die Ohren. Was für ein Flugzeug sollte da kommen? Sein Nachdenken wurde unterbrochen. Durch die Dunkelheit kam jemand, jemand mit einer Taschenlampe. Er kam aus dem kleinen Haus, das vor dem Felsen lag, auf dem das Haus des Professors stand. Sicher ist es Blom oder Svanberg, dachte Kalle, als er sich fest gegen die Hauswand preßte. Aber er brauchte keine Angst zu haben. Der Mann hatte es eilig, und einen Augenblick später hörte Kalle, wie er im Haus zu den anderen sprach.

»Das Flugzeug trifft morgen früh sieben Uhr hier ein«, hörte er ihn sagen und erkannte Bloms Stimme.

»Gott sei Dank!« sagte Peters. »Ich bin froh, hier wegzukommen. Hoffentlich wird das Wetter so, daß sie landen können.«

»Doch, sicher, das Wetter klärt sich weiter auf«,beruhigte Blom. »Die wollen einen neuen Bericht haben, bevor sie starten.«

»Gib ihn durch«, sagte Peters. »Hier in der Bucht wird das Wetter ja auf jeden Fall so sein, daß sie auf das Wasser runtergehen können. Und du, Nicke, sieh zu, daß du den Kleinen bis sieben Uhr fertig hast!«

Kleinen – damit war natürlich Rasmus gemeint! Kalle ballte die Fäuste. Aha, nun sollte alles beendet werden. Rasmus sollte fort von hier. Er würde weit weg sein, bevor es Kalle gelang, ir-gendwelche Hilfe herbeizuholen. Armer kleiner Rasmus, wo will man mit dir hin? Und was werden sie mit dir machen? Es war eine Schweinerei!

Man konnte denken, Nicke habe Kalles Gedanken gehört.

»Schweinerei!« sagte er. »Das ist eine Schweinerei. Ein armer kleiner Junge, der nichts Böses getan hat. Ich habe absolut keine Lust, dabei zu helfen. Den setzen Sie man selbst ins Flugzeug, Chef!«

»Nicke«, sagte Peters, und seine Stimme war beängstigend scharf und schneidend, »ich habe dich gewarnt, und jetzt warne ich dich zum letzten Mal. Sieh zu, daß der Junge morgen früh um sieben Uhr fertig ist!«

»Zum Teufel!« sagte Nicke. »Chef, Sie wissen ebenso gut wie ich, daß das Wurm dabei umkommen kann, und Sie wissen auch, daß der Professor vor die Hunde geht!«

»Oh, das weiß ich noch nicht so genau«, sagte Peters leichthin. »Wenn der Professor sich vernünftig benimmt … übrigens gehört das nicht hierher.«

»Zum Teufel!« sagte Nicke noch einmal.

Kalle hatte einen Kloß im Hals. Er war so traurig, alles war so ohne Hoffnung. Sie hatten versucht, wirklich versucht, mit all ihren Kräften versucht, Rasmus und dem Professor zu helfen.

Aber es hatte nichts genützt. Diese bösen Menschen gewannen das Spiel. Armer, armer Rasmus.

Kalle stolperte voller Verzweiflung durch die Dunkelheit. Er mußte versuchen, den Professor zu sprechen. Er mußte ihn auf das Flugzeug vorbereiten, das sich morgen früh wie ein großer Raubvogel auf die Insel stürzen wollte, um die Klauen in Rasmus zu schlagen. Das auf dem Wasser in der Bucht landen würde, sobald Blom durchgegeben hatte, daß sich das Wetter hin-reichend aufklärte.

Kalle blieb plötzlich stehen. Wie gab Blom das eigentlich weiter? Donnerwetter, wie tat er das nur? Kalle pfiff durch die Zähne. Natürlich! Es mußte hier irgendwo auf der Insel eine Sendestation geben! Alle Spione und Schurken, die mit dem Ausland in Verbindung standen, benutzten dazu den Äther.

Ein kleiner Gedanke begann in Kalles Gehirn zu arbeiten. Eine Radioanlage – ein Sender, das war genau das, was er selbst jetzt brauchte. Himmel, wo war dieser Sender? Er mußte ihn finden. Vielleicht, vielleicht gab es doch noch eine ganz winzig kleine Chance, etwas Hoffnung. Dort aus dem kleinen Haus war Blom gekommen! Dort lag es vor ihm. Ein schwaches Licht drang aus dem Fenster. Kalle zitterte vor Aufregung. Wie oft hatte diese Insel ihn nicht schon zum Zittern gebracht, dachte er,

schlich sich vor und sah durch das Fenster. Er sah keinen Menschen. Aber – größere Wunder waren auf dieser Welt nicht mehr möglich – die Sendestation sah er. Ja, sie war in dem Haus.



Kalle fühlte am Türgriff. Unverschlossen – danke sehr, lieber, guter Blom. Vielen Dank, auch wenn du ein Kidnapper bist. Mit einem Satz war Kalle am Sender und ergriff das Mikrophon. Gab es einen Menschen auf dieser großen, weiten, runden Welt, der ihn hören würde? Gab es einen, der sein verzweifeltes Rufen hörte?

»Hilfe! Hilfe!« bat er mit leiser, zitternder Stimme. »Hilfe!

Hier spricht Karl Blomquist. Wenn mich jemand hört, rufe er sofort Onkel Björk an – ich meine, sofort die Polizei von Kleinköping anrufen und dort sagen, daß sie zur Kalvö kommen und uns retten sollen. – Kalvö heißt die Insel, und sie liegt ungefähr fünfzig Kilometer südöstlich von Kleinköping – und es ist sehr dringend, denn wir sind gekidnappt worden. Beeilt euch und kommt hierher, sonst sind wir verloren. Kalvö heißt die Insel.

Anzurufen ist bei der Polizei von Kleinköping und …«

Gab es jemanden auf der weiten Welt, der gerade diesen Sender hörte? Jemanden, der gerade jetzt zuhörte und sich wunderte, warum alles im Äther plötzlich wieder still war?

Kalle selbst wunderte sich nur, woher die Lokomotive gekommen war, die ihn überfahren hatte. Er wunderte sich, warum es plötzlich in seinem Kopf so weh tat. Dann versank er in einer grenzenlosen Finsternis und brauchte sich über nichts mehr zu wundern. Mit dem letzten kleinen Rest seines Verstandes hörte er von weit her die seltsam hohl klingende, gehässige Stimme seines großen Feindes Peters:

»Ich bringe dich um! Verdammter Lümmel! Nicke, los, trag ihn zu den anderen!«

VIERZEHNTES KAPITEL

»Jetzt müssen wir scharf nachdenken«, sagte Kalle und befühlte vorsichtig die riesige Beule an seinem Hinterkopf. »Genauer gesagt: ihr müßt nachdenken. Mein Schädel sitzt nämlich nicht mehr sicher auf seinem Stengel, glaube ich.«

Eva-Lotte kam mit einem feuchten Handtuch, das sie um Kalles Kopf wickelte.

»So«, sagte sie, »und nun liegst du ganz ruhig und bewegst dich nicht!«

Kalle hatte gar nichts dagegen, still zu liegen. Nach den Stra-pazen der letzten vier Tage und Nächte war es für seinen Körper eine wahre Wohltat, zu liegen. Es war herrlich, wenn auch etwas albern, dazuliegen und von Eva-Lotte bemuttert zu werden.

»Ich sitze schon und denke scharf nach«, sagte Anders. »Ich sitze da und denke darüber nach, ob es irgendeinen Menschen gibt, den ich noch mehr hasse als diesen Peters, aber ich finde keinen in meinem Gedächtnis. Nicht einmal den Bastellehrer, den wir im vorigen Jahr hatten. Und der war ja bestimmt seltsam.«

»Armer Rasmus«, sagte Eva-Lotte. Sie nahm den Lichthalter und ging zu Rasmus und leuchtete ihn an. Da lag er und schlief so ruhig und zufrieden, als gäbe es keine Bosheit auf der Welt.

Im flackernden Lichtschein sieht er wie ein Engel aus, dachte Eva-Lotte. Sein Gesicht war mager geworden, die Backen, die von langen dunklen Augenwimpern beschattet wurden, waren hohl, und der weiche, kindliche Mund, der so viel dummes Zeug zu plappern pflegte, war jetzt unbeschreiblich rührend. Er sah so klein und wehrlos aus, daß Eva-Lottes ganze Mütterlichkeit schmerzhaft zu ihrem Herzen strömte, als ihr das Flugzeug einfiel, das morgen früh kommen sollte.

»Können wir wirklich nichts tun?« fragte sie mutlos.

»Oh, ich möchte gern Peters irgendwo mit einer Höllenmaschine einsperren«, sagte Anders und kniff blutrünstig seine Lippen zusammen. »Eine nette kleine Höllenmaschine, die so mit einemmal ›Klick‹ sagt – und dann wäre es endlich aus mit dem Knilch!«

Kalle lachte leise vor sich hin. »Weil du sagt: einsperren – wir sind ja eigentlich nicht im geringsten eingesperrt. Habe ich denn nicht den Schlüssel? Wir können doch fliehen, wann wir wollen.«

»Mensch, guter Moses«, sagte Anders überrascht. »Richtig, du hast ja den Schlüssel! Worauf warten wir noch! Kommt, sausen wir los!«

»Nein, Kalle muß ruhig liegenbleiben«, sagte Eva-Lotte besorgt. »Nach so einem Sternenfall darf er nicht einmal den Kopf anheben.«

»Wir warten einige Stunden«, sagte Kalle. »Wenn wir Rasmus jetzt in den Wald bringen, brüllt er los, daß man es über die ganze Insel hört. Und hier schlafen wir besser als unter irgendeinem Busch im Wald.«

»Du redest so klug, man könnte beinahe glauben, daß dein Gehirn schon wieder funktioniert«, bestätigte Anders. »Ich weiß, was wir machen. Zuerst einige Stunden schlafen und dann so gegen fünf Uhr früh von hier weg. Und dann wollen wir hoffen, daß es sich unterdessen so weit aufgeklärt hat, daß einer von uns zum Festland hinüberschwimmen kann, um Hilfe zu holen.«

»Ja, sonst platzt nämlich bestimmt alles«, sagte Eva-Lotte. »Lan-ge Zeit können wir uns auf der Insel nicht versteckt halten. Außerdem weiß ich, wie es mit Rasmus im Wald ist – und ohne Essen.«

Anders kroch in seinen Schlafsack, den ihm Nicke gnädigerwei-se gelassen hatte. »Frühstück bitte Punkt fünf Uhr – ans Bett«, sagte er. »Nun möchte ich schlafen.«

»Gute Nacht«, sagte Kalle. »Ich spüre in meinen Knochen, daß morgen allerhand passieren wird.«

Eva-Lotte legte sich auf ihre Bank. Sie legte die Hände unter den Kopf und starrte an die Decke, wo eine dumme Fliege umher-surrte und jedesmal, wenn sie anstieß, kleine Bumserchen zustande brachte, »Übrigens kann ich Nicke ganz gut leiden«, sagte Eva-Lotte. Dann rollte sie sich auf die Seite und pustete das Licht aus.

Für den, der umherirrt und nach einer kleinen Hütte im Walde sucht, ist Kalvö, 53 Kilometer südöstlich von Kleinköping, groß und langgestreckt. Für den, der sich ihr in einem Flugzeug nähert, ist die Insel nichts weiter als ein kleiner, kleiner grüner Punkt in einem blauen Meer, das mit vielen ähnlichen Punkten angefüllt ist. Irgendwo, weit fort, ist gerade jetzt ein Flugzeug gestartet, um die kleine Insel, die dort zwischen vielen ähnlichen im Meer liegt, zu erreichen. Das Flugzeug hat starke Motoren und braucht nur wenige Stunden, um sein Ziel zu erreichen. Sie brummen unaufhörlich und eintönig, die Motoren, und bald kann man auf Kalvö

das gleichmäßig mahlende Geräusch hören, das an Stärke zu-nimmt und zu einem betäubenden Donnern wird, als die Maschine auf dem Sund niedergeht. Der Sturm hat sich gelegt, und in der Bucht gleiten die Wellen friedlich dahin, als die Maschine mit einem letzten, erschreckenden Gedröhne über die Wasserfläche dahinrast und dann ruhig vor der Anlegestelle liegenbleibt.

Da erwacht Kalle endlich. Und im selben Moment begreift er, daß das Gedröhne nicht vom geträumten Niagarafall her-stammt, sondern von dem Flugzeug, das Rasmus und den Professor holen soll.

»Anders! Eva-Lotte! Wacht auf!«

Es klingt wie ein Jammerruf und schreckt die anderen augenblicklich aus dem Schlaf.

Sie erkennen sofort die ganze Größe des Unglücks. Jetzt müßten sie zaubern, um noch rechtzeitig verschwinden zu können. Kalle wirft einen Blick auf die Uhr und weckt Rasmus. Es ist erst fünf. Was ist das nun wieder für eine neue Mode, zwei Stunden vor der festgesetzten Zeit zu kommen! Selbst auf Flug-zeuge kann man sich nicht verlassen.

Rasmus ist müde und will nicht aufstehen, aber sie kümmern sich nicht um seine Proteste. Eva-Lotte streift ihm wenig zart den Overall über, und Rasmus zischt wie ein wütendes Kätz-chen. Anders und Kalle sehen mit ungeduldigen Augen zu.

Rasmus wehrt sich kräftig und fängt an zu heulen, bis ihn Anders schließlich am Genick packt und flüstert:

»Bilde dir nur nicht ein, daß so ein Heulaugust wie du jemals eine Weiße Rose wird!«

Das hilft. Rasmus wird still, und Eva-Lotte zieht ihm schnell und geistesgegenwärtig seine Turnschuhe an. Kalle beugt sich zu ihm und sagt schmeichelnd: »Rasmus, wir wollen doch schön fliehen! Vielleicht sind wir bald wieder in der kleinen hübschen Hütte – du weißt doch noch. Und jetzt mußt du laufen, so schnell du nur kannst!«

Sie sind fertig. Kalle springt zur Tür und horcht gespannt.

Aber alles ist ruhig. Es sieht aus, als sei der Weg frei. Er sucht in der Hosentasche nach dem Schlüssel. Sucht und sucht …

»Nein, nein, nein«, jammert Eva-Lotte, »komm mir jetzt nur nicht damit, daß du den Schlüssel verloren hast!«

»Er muß hier sein«, sagt Kalle und ist so aufgeregt, daß seine Hände fliegen. »Er muß hier sein.«

Aber soviel er auch wühlt, seine Hosentasche bleibt leer. Er hat nie etwas Leereres gefühlt als diese Hosentasche. Anders und Eva-Lotte schweigen. Sie beißen auf ihren Fingern herum und warten. Die Sekunden gehen. Diese kostbaren Sekunden.

Fieberhaft suchen sie den Fußboden ab.

»Vielleicht ist er herausgefallen, als man mich gestern abend hierhergetragen hat«, meint Kalle.

»Ja, warum sollte er nicht herausgefallen sein«, sagt Eva-Lotte verbittert. »Diese Insel sollte ›Insel der Zufälle‹ heißen.

Was soll man hier schon anderes erwarten, als daß ein Schlüssel, den man dringend braucht, so einfach zufällig herausfällt!«

Sie suchen weiter. Nur Rasmus sucht nicht mit. Er hat angefangen, mit seinen Borkenbooten zu spielen. Sie fahren über Kalles Bank, und diese Bank ist jetzt der »Große Stille Ozean«. Im Großen Stillen Ozean schwimmt ein Schlüssel, und Rasmus nimmt ihn heraus und läßt ihn Kapitän auf einem Schiff werden, das »Hilda von Göteborg« heißt. Nicke hat dem Boot diesen wundervollen Namen gegeben. So hieß nämlich auch das Schiff, auf dem Nicke vor langer, langer Zeit einmal Leichtmatrose war.

Die Sekunden gehen dahin. Kalle, Anders und Eva-Lotte suchen verzweifelt und sind so fertig, daß sie vor Nervosität schreien möchten. Aber Rasmus und der Kapitän auf der »Hilda von Göteborg« sind nicht ein bißchen nervös. Sie segeln über den Großen Stillen Ozean und finden alles herrlich, bis Eva-Lotte mit einem Aufschrei den Kapitän von der Kommando-brücke reißt und die »Hilda von Göteborg« herrenlos ihrem Schicksal in der schweren Brandung überläßt.

»Schnell, weg!« ruft Eva-Lotte und gibt Kalle den Schlüssel.

Bevor er ihn in das Schloß stecken kann, hört er etwas und wirft einen entsetzten Blick auf die anderen.

»Es ist zu spät, sie kommen«, sagt er nur.

Eigentlich eine überflüssige Erklärung, denn die Gesichter von Anders und Eva-Lotte zeigen deutlich, daß sie es genauso gut gehört haben wie er selbst. Die Schritte, die sich nähern, haben es eilig, sehr eilig.

Die Tür fliegt auf, Peters steht da. Abgehetzt sieht er aus. Er stürzt herein und reißt Rasmus an sich.

»Komm«, sagt er brüsk, »komm, beeil dich!«

Aber jetzt wird Rasmus über alle Begriffe böse. Was wollen die eigentlich alle, was reißen die nur so herum heute früh? Zuerst den Kapitän von der »Hilda« und jetzt ihn.

»Stell dir vor, daß ich das aber nicht will!« schreit er wütend.

»Hau ab, blöder Peters!«

Da beugt sich Peters zu ihm, und mit einem harten Griff hebt er ihn hoch. Er geht zur Tür. Die Aussicht, von Eva-Lotte, Kalle und Anders weg zu müssen, erschreckt Rasmus maßlos. Er strampelt und schreit: »Ich will nicht – ich will nicht – ich will nicht!«

Eva-Lotte schlägt die Hände vors Gesicht und weint. Es ist so fürchterlich. Auch Kalle und Anders können sich kaum beherrschen. Regungslos stehen sie da und sind verzweifelt, und sie hören, wie Peters die Tür abschließt, sie hören ihn gehen und hören das Schreien von Rasmus, das leiser wird, immer leiser und leiser …

Aber dann kommt Leben in Kalle. Noch hat er seinen Schlüssel. Sie haben nichts mehr zu verlieren. Sie müssen wenigstens das traurige Ende der Geschichte mit ansehen, um nachher der Polizei davon berichten zu können. Dann, wenn es zu spät ist und Rasmus und der Professor verschwunden sind – irgendwohin, wo die schwedische Polizei sowieso nichts mehr ausrichten kann.

Sie liegen hinter dichtem Gebüsch an der Anlegestelle. Dort ist das Wasserflugzeug. Und dort kommen Blom und Svanberg mit dem Professor. Der Gefangene, dem die Arme auf dem Rücken gebunden sind, leistet keinen Widerstand. Er wirkt beinahe apathisch. Er läßt sich in das Boot stoßen, das ihn zum Flugzeug bringt, klettert ins Flugzeug, setzt sich und starrt aus-druckslos vor sich hin. Dort kommt Peters aus seinem Haus gelaufen. Er trägt immer noch Rasmus, und Rasmus strampelt und schreit noch genauso laut und herzzerreißend wie vorher.

»Ich will nicht – ich will nicht – ich will nicht!«

Schnell läuft Peters über den Steg auf das Boot zu, das sie zum Flugzeug bringen soll. Als der Professor seinen Sohn sieht, zeigt sein Gesicht so viel Verzweiflung, wie es die unsichtbaren Zuschauer nicht für möglich gehalten hätten.

»Ich will nicht – ich will nicht!« brüllt Rasmus. In rasender Wut schlägt Peters ihm ins Gesicht, um ihn zum Schweigen zu bringen, aber wilder und lauter als zuvor brüllt jetzt Rasmus:

»Ich will nicht – ich will nicht!«

Da steht plötzlich Nicke auf dem Steg. Sie haben gar nicht gesehen, woher er kam. Er ist rot im Gesicht, und seine Hände sind zu Fäusten geballt. Aber er rührt sich nicht, steht nur still und sieht Rasmus mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von Sorge und Mitleid in den Augen nach.

»Nicke!« schreit Rasmus. »Hilf mir, Nicke! Nicke, hörst du mich denn nicht?« Die kleine schreiende Stimme bricht; er weint haltlos und reckt die Hände zu seinem Nicke, der so nett war und so schöne Borkenboote für ihn geschnitzt hat.

Und dann geschieht es. Wie ein großer, wilder, rasender Stier stürmt Nicke über den Steg. Kurz vor dem Boot hat er Peters eingeholt, und mit einem Stöhnen reißt er Rasmus an sich.

Er gibt Peters einen Schwinger unter das Kinn, und Peters tau-melt. Bevor er zu sich kommt, ist Nicke mit großen Sprüngen auf und davon. Peters schreit ihm nach, und Eva-Lotte schaudert zusammen, denn so einen Schrei hat sie noch nie gehört.

»Bleib stehen, Nicke! Sonst schieße ich dich über den Haufen!«



Aber Nicke bleibt nicht stehen. Er drückt Rasmus nur noch fester an sich und läuft auf den Wald zu.

Da fällt ein Schuß. Und noch einer. Aber Peters ist wohl zu aufgeregt, um richtig zielen zu können. Nicke läuft weiter und ist bald zwischen den Bäumen verschwunden. Der Wutschrei, den Peters ausstößt, ist kaum noch menschlich zu nennen. Er winkt Blom und Svanberg. Zusammen rennen sie dann dem Ge-flohenen nach.

Kalle, Anders und Eva-Lotte bleiben hinter dem Gebüsch liegen und starren entsetzt zum Wald. Was geschieht dort zwischen den Bäumen? Ein schreckliches Gefühl, nichts sehen zu können – nur Peters’ schauderhafte Stimme zu hören, die flucht und schreit und langsam immer tiefer im Walde verklingt.

Kalle sieht in die andere Richtung. Zum Flugzeug. Immer noch sitzt der Professor mit dem Piloten, der ihn bewacht, in der Maschine. Sonst ist niemand mehr da.

»Anders«, flüstert Kalle, »borg mir dein Messer.«

Anders zieht das Lappenmesser aus dem Gürtel.

»Was hast du vor?« flüstert er zurück.

Kalle betastet prüfend die Messerschneide.

»Sabotage!« sagt er. »Sabotage am Flugzeug. Habe ich mir gerade eben ausgedacht.«

»O ja, du, mit dem buckligen Schädel ist das tadellos ausgedacht«, flüstert Anders ermunternd.

Kalle hat die Kleider ausgezogen.

»In einer Minute oder so – einige kräftige Schreie«, sagt er zu den anderen, »damit der Pilot abgelenkt wird.«

Kalle macht sich auf den Weg. In weitem Bogen schleicht er zwischen den Bäumen zur Anlegestelle. Und als Eva-Lotte und Anders ihren Indianerschrei ausstoßen, springt er die freiliegen-den Meter bis zum Steg und schlüpft ins Wasser. Er hat richtig gerechnet, der Pilot blickt wachsam in die Richtung, aus der der Schrei kam, und sieht deshalb den schlanken Jungenkörper nicht, der wie ein Blitz vorbeischießt.

Kalle schwimmt unter der Brücke. Lautlos, wie es so oft im Krieg der Rosen geübt worden ist. Dann von der Brücke aus noch einige Schwimmstöße unter Wasser, und er hat das Flugzeug erreicht. Vorsichtig sieht er nach oben. Der Pilot ist durch die offene Kabinentür zu sehen. Er sieht auch den Professor, und, was mehr ist, der Professor sieht ihn. Noch immer starrt der Pilot zum Wald hin, ohne etwas zu entdecken. Kalle hebt das Messer und macht einige stechende Bewegungen in die Luft hinein, damit der Professor versteht, was er vorhat.

Der Professor versteht. Er begreift sofort, was er selbst zu tun hat. Wenn Kalle mit dem Messer am Flugzeug etwas vorhat, wird ohne Zweifel einiges Geräusch entstehen, das dem Piloten nicht entgehen kann, falls er nicht von einem noch stärkeren Geräusch abgelenkt wird. Der Professor übernimmt also die

»noch stärkeren Geräusche«, Er fängt an zu schreien und zu lärmen und stampft mit den Füßen auf dem Kabinenboden herum. Der Pilot mag gerne glauben, daß der Professor verrückt geworden ist – daß er es noch nicht ist, wundert ihn selbst.

Beim ersten lauten Schrei seines Gefangenen fährt der Pilot erschrocken hoch. Es erschreckt ihn, weil es so unerwartet kommt. Und weil er einen Schreck bekommen hat, wird er böse.

»Halt’s Maul!« sagt er in einem eigentümlich fremden Tonfall. Er kann nicht viel Schwedisch. Aber so viel kann er jedenfalls. »Halt’s Maul, du!« sagt er noch einmal, und der eigentümliche Tonfall macht, daß es eigentlich recht gemütlich wirkt.

Aber der Professor schreit und trampelt nur noch heftiger.

»Ich mache Lärm, so viel ich will!« schreit er, und er empfindet es jetzt als etwas sehr Schönes, zu trampeln und Krach zu machen. Es erleichtert die Anspannung seiner Nerven.

»Halt’s Maul, du«, sagt der Pilot, »oder ich schlage Nase ab von dir!«

Der Professor aber schreit, und unten im Wasser arbeitet Kalle, schnell und mit Methode. Genau vor sich hat er den linken Schwimmer, und er stößt das Messer wieder und wieder durch das leichte Metall, bohrt und stößt überall dort, wo er hinlangen kann. Und bald sickert das Wasser durch die vielen kleinen Löcher. Kalle ist mit seiner Arbeit zufrieden.

»Ja, ja, ihr hättet schon Nutzen von dem unzerstörbaren Leichtmetall«, denkt er. »Jedenfalls hier hättet ihr es gut gebrauchen können.« Dann schwimmt er wieder zurück.

»Halt’s Maul, du!« sagt der Pilot. Und diesmal gehorcht sein Gefangener.



FÜNFZEHNTES KAPITEL

Es ist sechs Uhr morgens, ein Dienstag und laut Kalender der erste August. Über Kalvö scheint die Sonne, das Wasser ist blau, das Heidekraut beginnt schon zu blühen, und das Gras ist feucht vom Tau. Da hören sie einen Schuß! Irgendwo im Wald hat jemand geschossen. Weit weg, sehr weit weg. Aber in der Stille des Morgens ertönten der Schuß und das Echo laut und unheilverkündend, und der Knall traf die Trommelfelle so schmerzhaft deutlich und scharf, daß einem davon himmelangst wurde.

Man wußte ja nicht, welches Ziel diese Kugel getroffen hatte.

Man wußte nur, daß Rasmus und Nicke sich dort mit einem furchtbaren Menschen, der bewaffnet war, aufhielten. Und man konnte nichts dagegen tun. Nur warten, wenn man auch nicht wußte, worauf. Warten, daß irgend etwas geschah, was diese entsetzliche Situation veränderte. Warten in alle Ewigkeit! Es war, als ginge eine Lebenszeit vorbei. Sollte es immer so bleiben: frühe Morgensonne über einer Anlegestelle, ein Wasserflugzeug, das auf den Wellen schaukelt, eine kleine Bachstelze, die zwischen dem Heidekraut einhertrippelt, Ameisen, die über einen Stein kriechen – und man liegt auf dem Bauch und wartet? Soll das wirklich bis in alle Ewigkeit so bleiben?

Anders hat gute Ohren, er hört es zuerst.

»Ich höre etwas«, sagt er. »Würde mich sehr wundern, wenn das kein Motorboot ist.«

Die anderen lauschen. Tatsächlich – ein ganz schwaches Geknatter ertönt irgendwo draußen auf dem Wasser. In diesen verlassenen Schären, die von Gott und den Menschen vergessen scheinen, ist das schwache Knattern der erste Laut, der von der Außenwelt zu ihnen dringt. In den fünf Tagen, die sie nun auf der Insel sind, haben sie keinen fremden Menschen, kein Motorboot, nicht einmal einen Kahn mit einem Fischer gesehen.

Jetzt ist dort irgendwo ein Motorboot, das fährt. Kommt es hierher? Wer weiß?

Hier sind so viele Buchten, es gibt tausend Möglichkeiten, daß das Boot woanders hin will. Aber wenn es kommt – kann man dann nicht auf den Steg laufen und mit aller Kraft seiner Lungen schreien: »Kommt her, kommt her, bevor es zu spät ist!« Wenn es aber nun eine kleine Urlaubsgesellschaft ist, die mit dem Boot vorbeifährt, die winkt und lacht und weiterfährt und gar nicht daran denkt, näher zu kommen und zu fragen, was los ist?

Die Ungewißheit und Spannung wird jeden Augenblick schwerer zu ertragen. Sie lauschen angestrengt auf das Geknatter drau-

ßen auf dem Wasser. Und es kommt näher. Bald können sie das Boot weit, weit draußen sehen. Das Boot? Es sind doch wohl zwei!

Aber aus dem Wald kommt auch etwas. Es ist Peters. Dicht hinter ihm Blom und Svanberg. Sie rennen zur Anlegestelle, als gälte es das Leben. Vielleicht haben sie auch die Motorboote gehört und haben jetzt Angst. Nicke und Rasmus sind nicht zu sehen. Bedeutet das – nein, sie wagen nicht, daran zu denken, was es bedeuten könnte! Ihre Augen verfolgen Peters. Er ist in das Ruderboot gesprungen und rudert auf das Flugzeug zu.

Dann klettert er in die Kabine hinauf und wendet sich zu Blom und Svanberg, die verlassen am Steg stehen – für sie ist in der kleinen Kabine wohl kein Platz mehr. »Versteckt euch im Wald! Ihr werdet abends abgeholt!«

Der Propeller dreht sich. Das Flugzeug fängt an auf dem Wasser zu gleiten, dann beginnt es zu kreiseln, und Kalle beißt sich vor Aufregung auf die Lippen. Jetzt wird es sich zeigen, ob seine Sabotage geglückt ist. Das Flugzeug zieht Kreise auf dem Wasser.

Immer nur Kreise. Aber es erhebt sich nicht. Schwer neigt es sich auf die linke Seite, neigt sich tiefer und tiefer und kippt um.

»Hurra!« schreit Kalle, alles andere vergessend. Aber dann denkt er an den Professor, der sich ja auch in dem Flugzeug befindet, und als er sieht, wie es sinkt, wird er unruhig. »Kommt!«

schreit er den anderen zu. Und sie stürzen aus dem Gebüsch, eine wilde kleine Heerschar, die lange im Hinterhalt gelegen hat.

Das Flugzeug ist draußen im Sund gesunken. Es ist nicht mehr zu sehen. Einige Menschen schwimmen im Wasser. Aufgeregt zählt Kalle. Ja, es sind drei.

Und ganz plötzlich sind die Motorboote da. Die Motorboote, die sie beinahe vergessen hatten. Und, guter Moses, wer ist es, der dort vorn im ersten steht?

»Onkel Björk! Onkel Björk! Onkel Björk!« Sie schreien, daß ihnen fast die Stimmbänder platzen.



»Oh, es ist Onkel Björk«, schluchzt Eva-Lotte, »oh, wie gut, daß er hier ist!«

»Und die vielen Polizisten, die er bei sich hat!« schreit Kalle begeistert und erleichtert zugleich.

Draußen im Sund herrscht ein einziges Durcheinander. Sie sehen nur ein Gewimmel von Uniformen und Rettungsringen, die ausgeworfen werden, und Menschen, die aus dem Wasser gezogen werden. Zumindest sehen sie zwei, die herausgefischt werden. Aber wo ist der dritte?

Der dritte schwimmt auf das Ufer zu. Es scheint, als habe er keine Hilfe nötig. Er will sich selbst retten. Ein Motorboot nimmt Kurs auf ihn. Aber der Mann hat schon einen zu großen Vorsprung. Er erreicht den Anlegesteg. Klettert daran hoch und kommt mit langen, weiten Sätzen genau auf die Stelle zu, wo Anders, Kalle und Eva-Lotte sind. Sie haben sich wieder hinter den Büschen versteckt, denn der Näherkommende sieht an-griffslustig aus, und sie haben Angst vor ihm.

Nun ist er schon dicht bei ihnen, und sie können seine Augen sehen, die voller Raserei, Angst und Haß sind. Aber er sieht nichts. Er sieht die kleine Heerschar hinter dem Busch nicht. Er weiß nicht, daß seine erbittertsten Feinde in allernächster Nähe sind. Und wie er an ihnen vorüberläuft, streckt sich ein Jungen-bein vor seine Füße. Mit einem Fluch fällt er kopfüber nach vorn.

Und dann sind sie über ihm, seine Feinde, alle drei zu gleicher Zeit. Sie werfen sich auf ihn, halten seine Arme und Beine fest, drücken seinen Kopf in den weichen Sand und brüllen:

»Onkel Björk, Onkel Björk, schnell, helfen Sie uns!«

Und Björk kommt. Natürlich kommt er. Er hat noch nie seine Freunde, die tapferen Ritter der Weißen Rose, im Stich gelassen.

Auf dem Moosboden im Wald liegt zusammengekrümmt ein Mann. Bei ihm sitzt ein kleiner Junge und weint.

»Nicke, du blutest ja«, sagt Rasmus. Ein roter Fleck, der immer größer wird, ist auf dem Hemd des Mannes zu sehen. Rasmus zeigt mit einem schmutzigen Finger darauf. »Pfui Blase, wie ist er blöde, dieser Peters! Hat er auf dich geschossen, Nicke?«

»Ja«, sagt Nicke, und seine Stimme ist so schwach und seltsam. »Ja, er hat auf mich geschossen … Aber deshalb mußt du nicht weinen, Häschen … Hauptsache, dir ist nichts passiert!«

Er ist ein armer, einfältiger Seemann und liegt nun hier und glaubt, daß er sterben muß. Aber er ist zufrieden. Er hat so viele dumme Sachen in seinem Leben gemacht und ist jetzt froh, daß das letzte, was er getan hat, gut war – und richtig. Er hat Rasmus gerettet. Er weiß es nicht genau, wie er so daliegt, aber er weiß, er hat es versucht. Er weiß, daß er gelaufen ist, bis sein Herz wie ein Blasebalg pumpte und er fühlte, daß er nicht mehr weiter konnte.

Er weiß, daß er Rasmus an sich gepreßt hielt, bis diese Kugel kam und er zu Boden fiel. Und er weiß, daß Rasmus wie ein aufgescheuchtes kleines, ängstliches Häschen zwischen die Bäume lief und sich versteckte. Nun aber ist das Häschen wieder bei ihm, und Peters ist verschwunden. Der hatte es plötzlich sehr eilig wegzukommen. Sicher getraute er sich nicht, länger zu bleiben und nach Rasmus zu suchen. Jetzt sind sie beide allein hier. Das kleine Kerlchen, das bei ihm sitzt und weint, ist das einzige Wesen, um das sich Nicke in seinem Leben gekümmert hat.

Wie es dazu gekommen ist, begreift er selber nicht. Er weiß nicht, wie es anfing – vielleicht damals am ersten Tag, als Rasmus den Flitzbogen bekam und dankbar seine Arme um Nickes Hals schlug und sagte: »Ich finde, du bist sehr, sehr nett, kleiner Nicke!«

Und jetzt hat Nicke große Sorgen. Wie soll er Rasmus von hier wegbekommen, zurück zu den anderen? Etwas muß dort unten an der Anlegestelle passiert sein. Das Flugzeug ist nicht abgeflogen, und das Motorboot hatte sicher auch etwas zu bedeuten. Irgendwie ist jetzt das Ende dieser elenden Geschichte nahe, und Peters ist erledigt – so erledigt wie er. Nicke ist zufrieden. Alles wäre jetzt gut, wenn nur Rasmus schnellstens zu seinem Vater zurückkäme. Ein kleiner Junge darf doch nicht im Wald sitzen und zusehen, wie ein Mensch stirbt. Das möchte Nicke seinem kleinen Freund ersparen, aber er weiß nicht, wie er es machen soll. Er kann ihm doch nicht einfach sagen: »Geh jetzt, der alte Nicke will sterben, und dabei will er allein sein, will hier allein liegenbleiben und froh darüber sein, daß du wieder ein freier, glücklicher Junge bist, der mit dem Flitzbogen und den Borkenbooten spielen kann, die Nicke für dich geschnitzt hat!« Nein, das kann man nicht sagen!

Und jetzt legt Rasmus den Arm um seinen Hals und sagt in zärtlichstem Tonfall: »Komm jetzt, kleiner Nicke, wir wollen gehen! Wir gehen zu meinem Vati!«

»Nein, Rasmus«, sagt Nicke schwer, »ich kann jetzt nicht gut gehen. Laß mich, bitte, hierbleiben. Aber du sollst gehen – ich will, daß du gehst!«

Rasmus schiebt die Unterlippe vor. »Stell dir vor, daß ich das nicht tun werde«, sagt er bestimmt. »Ich warte, bis du mit-kommst. Bitte sehr!«

Nicke antwortet nicht. Seine Kräfte verlassen ihn, und er weiß auch nicht, was er sagen soll. Und Rasmus bohrt seine Nase in Nickes Backe und flüstert: »Denn ich hab’ dich so lieb …«

Da weint Nicke. Seit er ein Kind war, hat er nicht mehr geweint. Aber jetzt weint er. Weil er so müde ist und weil das er-stemal in seinem Leben ein Mensch so etwas zu ihm sagt.



»So, hast du das?« brummt er. »Denk mal an, daß du einen alten Kidnapper gern haben kannst, wie?«

»Ja, aber ich finde wirklich, daß Kidnapper nett sind«, versichert Rasmus.

Nicke nimmt all seine Kraft zusammen. »Rasmus, jetzt mußt du tun, was ich dir sage. Du mußt zu Kalle und Anders und Eva-Lotte gehen. Ich denke, du willst eine Weiße Rose werden! Das willst du doch?«

»Ja, natürlich … aber …«

»Na also! Dann mach schon! Ich glaube, die warten schon auf dich!«

»Und du, Nicke? Was …«

»Ach, Blödsinn! Ich liege hier so schön weich im Moos, mir fehlt nichts. Ich bleibe hier und ruhe mich aus und will mir anhören, wie die Vögel Musik machen.«

»Aber …« sagt Rasmus und spricht nicht weiter, denn er hört jemanden in der Ferne rufen. Jemand ruft seinen Namen. »Das ist ja Vati«, sagt er dann und lacht.

Da weint Nicke wieder, aber ganz leise, den Kopf in das Moos gedrückt. Ja, manchmal ist Gott einem armen Sünder gnädig – jetzt braucht er sich um Rasmus keine Sorgen mehr zu machen. Und er weint vor Dankbarkeit – und weil es so schwer ist, der kleinen Gestalt Adieu zu sagen, die da in dem schmutzigen Overall steht und nicht weiß, ob sie zu Vati gehen oder bei Nicke bleiben soll.

»Geh nur, und sag deinem Vater, daß da im Wald ein alter kaputter Kidnapper herumliegt«, sagt Nicke leise.

Da schlingt Rasmus wieder die Arme um seinen Hals und schluchzt: »Du bist aber kein alter kaputter Kidnapper, Nicke!«

Nicke hebt mühsam eine Hand und streichelt Rasmus das Gesicht. »Adieu, Häschen«, flüstert er. »Geh jetzt und werde eine Weiße Rose, die feinste kleine Weiße Rose …«

Rasmus hört, wie wieder sein Name gerufen wird. Er steht schluchzend auf, bleibt unentschlossen stehen und sieht Nicke an. Dann geht er langsam weg. Dreht sich ein paarmal um und winkt. Nicke hat keine Kraft mehr zu winken, aber seine einfältigen Augen folgen der Kindergestalt, und diese Augen sind voller Tränen.

Jetzt gibt es keinen Rasmus mehr. Nicke schließt die Augen.

Er ist zufrieden – und müde. Es wird schön sein, endlich zu schlafen.

SECHZEHNTES KAPITEL

»Georg Louis Peters«, sagte der Kommissar der Staatspolizei, »es stimmt genau! Endlich! Finden Sie nicht selbst, daß es endlich Zeit wurde, Sie einmal zu erwischen?«

Peters gab darauf keine Antwort. »Geben Sie mir eine Zigarette«, sagte er ungnädig.

Schutzmann Björk ging auf ihn zu und steckte ihm eine Zigarette in den Mund. Peters saß auf einem Stein bei der Anlegestelle. Seine Hände waren mit Handschellen zusammengefes-selt. Hinter ihm standen seine Kumpane, Blom und Svanberg und der Pilot.

»Sie wissen doch, daß wir schon eine ganze Weile hinter Ihnen her sind«, fuhr der Polizeikommissar fort. »Ihren Sender hatten wir schon vor zwei Monaten angepeilt, aber bevor wir zugreifen konnten, waren Sie uns entwischt. Haben Sie die Spionage aufgegeben? Sie sind ja jetzt statt dessen anscheinend unter die Menschenräuber gegangen?«

»Das eine kann ein so gutes Geschäft sein wie das andere«, sagte Peters mit offenherzigem Zynismus.

»Möglich«, sagte der Kommissar. »Aber jetzt ist es auf jeden Fall sowohl mit dem einen als mit dem anderen für Sie zu Ende.«

»Ja, man ist wohl fertig«, gab Peters bitter zu. Er zog kräftig an seiner Zigarette. »Etwas möchte ich gern noch wissen«, sagte er. »Wie haben Sie herausbekommen, daß ich auf Kalvö war?«

»Das haben wir erst bemerkt, als wir hierherkamen«, erwiderte der Kommissar. »Und wir kamen her, weil ein Funkama-teur eine Nachricht auf der Kurzwelle auffing, die er telefonisch an uns weitergab. Eine Nachricht, die unser Freund Kalle Blomquist gestern abend durchgab.«

Peters warf einen gehässigen Blick auf Kalle. »Konnte ich mir denken«, sagte er. »Wäre ich nur zwei Minuten zeitiger gekommen, dann wäre er erledigt gewesen! Verdammte Gören!

Sie sind schuld an all meinem Pech. Ich schlage mich lieber mit der ganzen schwedischen Staatspolizei herum als noch einmal mit den dreien.«

Der Kommissar ging zu den drei Weißen Rosen, die auf dem Steg saßen. »Die Polizei kann froh sein, so tadellose Mitarbeiter zu haben«, sagte er.

Die drei schlugen bescheiden die Augen nieder. Und Kalle dachte, daß es ja eigentlich nicht die Polizei war, der sie hatten helfen wollen, sondern, genauer genommen, Rasmus.

Peters drückte den Zigarettenstummel mit dem Absatz aus.

»Worauf warten wir eigentlich noch?« fragte er eisig. »Ich habe hier nichts mehr verloren.«

Eine kleine grüne Insel zwischen vielen anderen in einem blauen Sommermeer. Die Sonne scheint auf die kleinen Häuser, auf die Anlegestelle und auf die Boote, die dort liegen und auf den Wellen schwappen. Hoch über den Tannenspitzen segeln auf weißen Schwingen die Möwen. Ab und zu taucht eine blitzschnell ins Wasser und erscheint wieder mit einem kleinen Ukelei im Schnabel. Die Bachstelze trippelt noch immer geschäftig durch das Heidekraut, und die Ameisen klettern weiterhin über ihren Stein. So wird es heute sein und morgen und alle Tage bis zum letzten Sommertag. Aber niemand wird es beachten, denn niemand wird hier sein. In einigen wenigen Minuten wird diese Insel sich selbst überlassen sein, ihren Blicken entzogen, und sie werden sie nie wiedersehen.

»Jetzt kann ich Eva-Lottes Häuschen nicht mehr sehen«, sagte Kalle.

Sie hockten achtern im Motorboot und sahen zu der Insel zurück, die sie jetzt verließen. Sie dachten zurück und schüttelten sich. Sie waren froh, dieses sonnige grüne Gefängnis endlich hinter sich zu wissen.

Rasmus sah nicht zurück. Er saß auf den Knien seines Vaters und war besorgt, weil sein Vater so viel Bart im Gesicht hatte.

Wenn der nun weiterwuchs und länger und länger wurde und sich dann eines Tages, wenn Vati Motorrad fuhr, im Vorderrad verhedderte? Noch etwas beunruhigte ihn.

»Vati, warum schläft Nicke eigentlich mitten am Tage? Ich will, daß er wach wird und mit mir spricht.«

Der Professor warf einen besorgten Blick zur Bahre, auf welcher der besinnungslose Nicke lag. Würde er jemals Gelegenheit bekommen, diesem Mann dort für das zu danken, was er für seinen Sohn getan hatte? Sicher nicht. Es stand schlecht um Nicke, er hatte wenig Chancen, am Leben zu bleiben. Mindestens zwei Stunden würde es noch dauern, bis er auf dem Ope-rationstisch lag, und dann war es vielleicht zu spät. Es war ein Wettlauf mit dem Tode. Schutzmann Björk tat sicherlich alles, um das Letzte aus den Motoren herauszuholen, aber …

»Jetzt sehe ich die Anlegestelle nicht mehr«, sagte Eva-Lotte.

»Und das ist gut so«, sagte Kalle. »Aber sieh mal, Anders, dort hinten ist unsere Badeklippe.«

»Und unsere Reisighütte«, murmelte Anders.

»In Hütten zu schlafen, macht aber Spaß, Vati, das kannst du glauben«, versicherte Rasmus.

Kalle dachte plötzlich an etwas, worüber er mit dem Professor sprechen mußte. »Ich hoffe, Herr Professor, daß Ihr Motorrad noch da ist, wo wir es versteckt haben. Hoffentlich hat es niemand gestohlen.«

»Wir fahren mal an einem Tag hin und suchen«, sagte der Professor. »Meine Geheimdokumente machen mir mehr Kummer.«

»Pfff!« Kalle winkte ab. »Die habe ich doch an einer ganz sicheren Stelle versteckt.«

»Na, jetzt kannst du uns ja wohl erzählen, wo«, sagte Eva-Lotte neugierig.

Kalle lächelte geheimnisvoll. »Rate mal! Im Kommodenschubfach auf dem Bäckereiboden natürlich!«

Eva-Lotte schrie erschrocken auf. »Bist du wahnsinnig?«

kreischte sie. »Stell dir vor, wenn die Roten sie geklaut haben –was dann?«

Der Gedanke schien Kalle zu beunruhigen. Aber das ging schnell vorbei. »Pfff«, sagte er, »dann klauen wir sie einfach zurück.«

»Ja«, rief Rasmus eifrig. »Wir stoßen Kriegsschreie aus und klauen sie wieder zurück. Ich werde auch eine Weiße Rose, Vati!«

Diese Mitteilung tröstete seinen Vater nur wenig.

»Kalle, du machst mich weißhaarig«, rief der Professor.

»Gewiß, ich stehe zeit meines Lebens in tiefer Dankesschuld bei dir, aber das sage ich dir, wenn die Papiere weg sind …«

Schutzmann Björk unterbrach ihn: »Regen Sie sich nicht auf, Herr Professor! Wenn Kalle Blomquist sagt, daß Sie ihre Papiere wiederbekommen, bekommen Sie sie auch!«

»Nun ist jedenfalls Kalvö ganz und gar verschwunden«, stellte Anders fest und spuckte in das strudelnde Kielwasser.

»Und Nicke, der schläft bloß, schläft und schläft«, brummte Rasmus.

Das alte gute Hauptquartier – niemand hat jemals ein besseres gehabt als die Weiße Rose! Der Bäckereiboden ist groß und geräu-mig, und es gibt dort viele schöne Sachen. Wie die Eichhörnchen das Gute in ihr Nest tragen, so haben die Weißen Rosen im Lauf der Jahre hierher alle ihre Kostbarkeiten eingesammelt. Die Wände sind mit Bogen, Schilden und Schwertern geschmückt. Am Dachbalken hängt ein Trapez. Tischtennisbälle, Boxhandschuhe und alte illustrierte Wochenzeitschriften häufen sich in den Ecken.

Und an einer Wand steht Eva-Lottes zerkratzte Kommode, in der die Weißen Rosen ihren geheimen Reliquienschrein verwahren. In diesem Schrein liegen die Papiere des Professors. Besser gesagt: lagen. Er hat sie zurückbekommen, diese wertvollen Dokumente, die so viel Sorgen und Kummer verursacht haben und nun in Zukunft in einem sicheren Bankfach eingesperrt liegen werden.

Nein, die Roten hatten sie nicht genommen. Eva-Lottes düstere Prophezeiung hatte nicht gestimmt.

»Hätten wir geahnt, daß die Papiere in deiner Kommode liegen, wir hätten sie sicher in unser Hauptquartier gebracht«, sagte Sixtus, als sämtliche Ritter der Weißen und Roten Rose die abenteu-erlichen Erlebnisse besprachen. Sie saßen im Garten des Bäckermeisters, und Anders begleitete seine schauerliche Erzählung mit gewaltigen Gesten.

»Es fing an, als ich auf dem Busch an der Ruinenwand saß. Seitdem hatte man nicht eine ruhige Minute«, versicherte er.

»Ihr habt immer ein Schwein«, sagte Sixtus verbittert. »Warum konnten die Kidnapper nicht einige Minuten früher kommen, als wir an Eklunds Villa vorbeigingen?«

»Du drehst ganz schön auf«, wehrte Eva-Lotte ab. »Armer Peters, wenn er euch auf dem Hals gehabt hätte – lebenslänglich wäre dann zuviel gewesen.«

»Bettelst du um Schläge?« fragte Sixtus.

Das war am ersten Tag nach der Rückkehr gewesen. Seitdem waren einige Tage vergangen. Und jetzt sind die Weißen Rosen in ihrem Hauptquartier auf dem Bäckereiboden versammelt.

Vor ihnen steht ihr Anführer und erhebt seine mächtige Stimme: »Ein edler Mann und tapferer Krieger soll nun zum Ritter der Weißen Rose geschlagen werden. Ein Kämpfer, dessen Name weithin gefürchtet ist: Rasmus Rasmusson – tritt vor!«

Der gefürchtete Kämpfer tritt vor. Sicher ist er klein und nicht besonders erschreckend anzusehen, aber auf seiner Stirn brennt das Feuer der Begeisterung, das einen Ritter der Weißen Rose kennzeichnet. Er erhebt seinen Blick zu dem Anführer. In seinen dunkelblauen Augen ist ein Licht, das deutlich verrät: Jetzt erfüllt sich ein tiefer und inbrünstiger Wunsch. Endlich wird er ein Ritter der Weißen Rose, endlich!

»Rasmus Rasmusson, erhebe deine rechte Hand und schwöre den heiligen Eid. Schwöre, daß du nun und immerdar der Wei-

ßen Rose die Treue hältst, daß du keine Geheimnisse verraten willst und daß du die Roten Rosen bekämpfen willst, wo du nur ihre Nasen siehst.«

»Ich will es versuchen«, sagte Rasmus Rasmusson. Er hob seine Hand und begann: »Ich schwöre, nun und immerdar eine Weiße Rose zu sein und alle Geheimnisse zu verraten, wo meine Nase nur zu sehen ist, pfui Blase, ja, das schwöre ich.«

»Alle Geheimnisse verraten – ja, das glaube ich ihm sicher«, flüsterte Kalle Eva-Lotte zu. »Ich habe noch nie ein Knäblein gesehen, das so geschickt an seinem eigenen Mund vorbeireden kann wie er.«

»Ja, aber er ist auf jeden Fall in Ordnung!« sagte Eva-Lotte.

Rasmus sah erwartungsvoll seinen Anführer an. Was würde nun noch geschehen?

»Na, du hast es nicht ganz richtig gesagt«, sagte Anders lächelnd. »Aber das macht schließlich nicht viel aus. Rasmus Rasmusson, knie nieder!« Und Rasmus fiel auf dem abgenutzten Fußboden in die Knie. Wie war er glücklich, oh, er hatte Lust, die Bohlen zu streicheln! Bald war dies hier auch sein Hauptquartier!

Der Anführer nahm ein Schwert von der Wand. »Rasmus Rasmusson«, sagte er. »Nachdem du nun der Weißen Rose durch deinen Eid die Treue gelobt hast, schlage ich dich hiermit zum Ritter der Weißen Rose.« Er schlug Rasmus leicht mit dem Holzschwert auf die Schulter, und dann sprang Rasmus freudestrahlend vom Boden auf.

»Ist es nun auch wirklich wahr, daß ich eine Weiße Rose bin?« fragte er.

»Weißer als die meisten«, sagte Kalle.



Im selben Moment flog durch die offene Bodenluke ein Stein. Mit einem Knall landete er auf dem Fußboden. Anders beeilte sich, ihn aufzuheben. »Nachricht vom Feind«, rief er und machte das Papier ab, das um den Stein gewickelt war.

»Was schreiben diese kleinen Rötlichen?« wollte Eva-Lotte wissen.

»Ihr Läusepudel der Weißen Rose!« las Anders. »Alte Papiere hinter alten Bücherregalen hervorkramen, das könnt Ihr wohl, aber den Großmummrich werdet Ihr nie bekommen.

Denn seht, er befindet sich im Haus des großen wilden Tieres, und dessen Name ist GEHEIM. Beißt Euch das große wilde Tier, wenn Ihr verbotener weise Karten spielt, nicht in die Hosen, habt Ihr den höchsten Trumpf für Euch und schon den halben Namen. Dann schreitet suchend durch des Namens Rest besucht das große Tier, wenn Ihr das ganze Rätsel überhaupt versteht – Ihr Läusepudel!«

»Stoßen wir jetzt einen Kriegsschrei aus?« fragte Rasmus voller Hoffnung, als der Chef zu Ende gelesen hatte.

»Noch nicht, erst müssen wir nachdenken«, sagte Eva-Lotte.

»Nachdenken! Worüber?« fragte Anders.

»Ja«, sagte Kalle, »sie lassen merklich nach, die Roten. Gro-

ßes wildes Tier. In Kleinköping gibt es doch wohl keine Löwen, Panther, Gorillas, Elefanten. Die Schafe können sie nicht meinen. Was also bleibt?«

»Pferde, Hunde und Katzen«, sagte Eva-Lotte.

»Bei uns im Garten sind viele Regenwürmer«, ergänzte Rasmus.

»Aber die sind nicht wild und groß schon gar nicht«, meinte Eva-Lotte.

»Pferde können wir auch streichen, bleiben Hunde und Katzen. So leicht ist das Rätsel übrigens gar nicht, finde ich«, sagte Anders nachdenklich.

»Jaja, etwas Gehirn muß man schon haben. Ich jedenfalls kenne keine einzige Katze in ganz Kleinköping, die wild ist«, sagte Eva-Lotte.

»Und damit sind wir bei den Hunden angelangt«, sagte Kalle lachend. »Angestrengt haben sich die Roten wirklich nicht – ich tippe auf Doktor Hallberg!«

Die anderen sahen Kalle verdutzt an. Was meinte er nur?

Wenn Doktor Hallberg auch kein Kinderfreund war – ein gro-

ßes wildes Tier war er ja wohl auch nicht gerade. Plötzlich leuchtete es in Eva-Lottes Augen auf. Sie stieß Anders in die Seite und lachte. »Anders, Anders, wo ist dein Kopf? Ich hab’s!

Er meint nicht Hallberg – er meint – – na?«

Anders runzelte die Stirn, dann lachte auch er: »Ich meine, Kalle meint in Wirklichkeit den Hund, meinst du, Eva-Lotte.«

»Richtig, endlich!« rief Kalle. »Jetzt ist es nur noch ein Kin-derspiel. Der höchste Trumpf: das AS, und wenn wir ihn besu-chen wollen, schreiten wir durch das TOR, das ist der Rest des Namens: ASTOR. Astor ist Doktor Hallbergs Hund.«

»Aber wie in aller Welt haben sie den Großmummrich zu Astor in die Hundehütte legen können?« überlegte Eva-Lotte.

»Sie müssen ihn vorher chloroformiert haben.«

»Wen – den Großmummrich?« fragte Anders gereizt.

»Quatsch, den Astor natürlich!«

Astor war der Schäferhund vom Oberarzt des Krankenhauses, und er war genauso bösartig wie der Oberarzt, und das wollte etwas heißen.

»Die Roten haben sicher aufgepaßt, als Doktor Hallberg den Hund ausgeführt hat«, sagte Kalle.

»Und was machen wir jetzt?« fragte Eva-Lotte.

Sie setzten sich auf den Fußboden und hielten Kriegsrat. Rasmus auch. Seine Augen waren groß wie Teller und die Ohren ganz rot. Jetzt endlich sollten also die Abenteuer beginnen! Anders sah zu Rasmus, und in seinen Augen lag ein Lächeln. Nun hatte Rasmus so lange und so ergeben darauf gewartet, eine Wei-

ße Rose zu werden, konnte man da das Herz haben, es ihm abzu-schlagen? Eigentlich war es ja recht beschwerlich, einen so kleinen Knirps die ganze Zeit am Bein hängen zu haben. Man mußte versuchen, irgendeine Beschäftigung für ihn zu finden, damit man sich in Ruhe mit den Problemen des Rosenkrieges befassen konnte ohne allzu große Einmischung von Ritter Rasmus.

»Du, Rasmus«, sagte Anders. »Sause los zum Krankenhaus und sieh nach, ob Astor in seiner Hütte liegt.«

»Darf ich dann einen Kriegsschrei ausstoßen?« fragte Rasmus.

»Natürlich, das darfst du«, sagte Eva-Lotte. »Sause nur los.«

Und Rasmus sauste. Mehrere Stunden hatte er geübt, an dem Seil hochzuklettern, das die Weißen Rosen gebrauchten, um in ihr Hauptquartier und hinaus zu kommen. Raufklettern konnte er noch nicht, aber runterrutschen, das konnte er. Nun sprang er auf das Seil zu und stieß den wildesten Kriegsruf aus, der jemals durch den Garten des Bäckermeisters geschallt war.

»Schön«, sagte Anders, als er verschwunden war. »Jetzt können wir wenigstens über Sachen und Dinge reden. Zuerst – aus-spionieren, wann Doktor Hallberg mit seinem Astor auf Promenade geht. Das ist deine Aufgabe, Eva-Lotte.«

»Wird geschehen«, sagte Eva-Lotte.

Rasmus trabte zum Krankenhaus. Er wußte den Weg, er hatte Nicke dort schon einmal besucht. Die Villa des Oberarztes lag neben dem Krankenhaus. »Privatbesitz« und »Achtung, bissiger Hund« stand auf den Tafeln, die neben dem Tor, das in den Garten führte, angebracht waren. Aber Rasmus konnte glücklicherweise nicht lesen, und deshalb ging er in den Garten hinein. Astor lag in seiner Hütte. Er knurrte böse, als er Rasmus sah, böse und sehr gefährlich. Rasmus blieb stehen. Er hatte seinen Auftrag, den ihm der Chef gegeben hatte, falsch aufgefaßt. Er glaubte, es wäre seine Pflicht, den Großmummrich in das Hauptquartier zu bringen. Aber wie konnte er es wagen, wenn Astor ihn so unheimlich anknurrte und die Zähne zeigte? Hilfesuchend sah er sich um und bemerkte zu seiner Freude, daß ein Onkel auf ihn zukam. Derselbe Onkel übrigens, der Nicke operiert hatte.

Doktor Hallberg war auf dem Weg zum Krankenhaus, als er den kleinen Ritter der Weißen Rose vor Astors Hütte stehen sah.

Selbstverständlich wußte der Doktor nicht daß er einen Ritter vor sich hatte. Er konnte sehr wütend werden, wenn die Kinder den Astor reizten, und deshalb beschleunigte er seine Schritte, um einzugreifen. Aber Rasmus, der in dem Glauben lebte, daß nicht nur Kidnapper, sondern auch Oberärzte nette Menschen seien, sah bittend zu dem strengen Gesicht hinauf und sagte:

»Hör mal, nimm doch mal deinen Hund da raus, ich will nämlich den Großmummrich holen!« Und als der Doktor nicht sofort tat, worum er gebeten worden war, nahm Rasmus ihn bei der Hand und zog ihn sanft, aber bestimmt zur Hundehütte.

»Komm, beeil dich«, sagte er, »denn ich habe keine Zeit!«

»Hast du nicht?« sagte Doktor Hallberg und lächelte. Jetzt erkannte er Rasmus – das war doch der kleine Junge, der entführt worden war und von dem so viel in den Zeitungen gestanden hatte.

»Willst du nicht mitkommen und Nicke guten Tag sagen?«

fragte der Doktor.

»Ja, aber erst, wenn ich den Großmummrich habe«, sagte der kleine Ritter unerschütterlich.

Nicke erfuhr alles über den Großmummrich. Er durfte ihn sogar sehen. Rasmus hielt ihn ihm stolz unter die Nase. Und er stieß einen Kriegsschrei aus, damit Nicke hören konnte, wie das war.

»Jetzt bin ich nämlich eine Weiße Rose, verstehst du, Nik-ke?« erklärte Rasmus. »Vor einer Stunde habe ich darauf einen Eid geschworen.«

Nicke sah ihn mit Stolz in den Augen an. »Ja, und eine feinere Weiße Rose hätten die nie kriegen können«, sagte er zufrieden.

Rasmus streichelte ihm die Hände. »Schön, daß du nicht mehr schläfst, Nicke«, sagte er.

Nicke fand das auch. Sicher würde es noch eine ganze Zeit dauern, bis er das Krankenhaus verlassen durfte. Aber er wußte, er würde gesund werden, und was dann kam, sollte wohl auf irgendeine Art in Ordnung gebracht werden. Sowohl Doktor Hallberg als der Professor hatten versprochen, ihm zu helfen, soviel sie konnten. Nicke sah also der Zukunft in Ruhe entgegen.

»Und es ist gut, daß du nicht mehr blutest«, sagte Rasmus und zeigte auf Nickes schneeweißes Hemd. Das fand Nicke auch. Er war vorher nie krank gewesen und besaß noch die tiefe Bewunderung des Naturkindes für die seltsamen Einfälle der Medizinmänner. Das mit der Bluttransfusion zum Beispiel – davon mußte er Rasmus doch noch erzählen.

»Stell dir vor, die Doktoren nahmen Blut von einem anderen Menschen und pumpten es mir dann ein, weil ich auf Kalvö so viel davon verloren hatte.«

Rasmus fand auch, daß es ganz merkwürdig war, was die Ärzte sich so ausdachten.

Aber er hatte es plötzlich sehr eilig. Eigentlich durfte man ja keine Krankenbesuche machen, wenn man mit dem Krieg der Rosen zu tun hatte. Er drückte den Großmummrich in seiner Hand und lief zur Tür.

»Hallo, Nicke«, sagte er, »bis dann. Ich komme mal einen anderen Tag wieder zu dir.« Bevor Nicke antworten konnte, war er verschwunden.

»Du kleines Häschen«, flüsterte Nicke ganz leise vor sich hin.

Kalle und Anders und Eva-Lotte saßen noch immer auf dem Bäckereiboden. Bäckermeister Lisander war gerade mit frischen Schnecken bei ihnen gewesen.

»Eigentlich dürftet ihr ja keine Schnecken haben«, brummte er, »bei so viel Ärger, den man durch euch hat. Aber«, und er streichelte Eva-Lottes Backen, »genaugenommen habt ihr natürlich trotzdem Schnecken verdient.«

Als er wieder in seine Backstube gegangen war, hörte man von draußen einen Kriegsschrei. Der ausgesandte Kundschafter kam zurück. Mit dem Gepolter einer ganzen Heerschar kletterte er die Bodentreppe hinauf.

»Hier«, sagte er und schleuderte den Großmummrich auf den Fußboden.

Kalle, Anders und Eva-Lotte starrten ihn an. Sie starrten den Großmummrich an. Und dann begannen sie zu lachen.

»Die Weiße Rose besitzt eine Geheimwaffe«, jubelte Anders.

»Wir besitzen Rasmus!«

»Ja, nun können die Roten baden gehen und endgültig Feier-abend machen«, sagte Kalle.

Rasmus sah unruhig von dem einen zum anderen. Die lachten doch wohl nicht über ihn? Er hatte doch hoffentlich alles richtig gemacht?

»Ich hab’s doch wohl richtig gemacht?« fragte er ängstlich.

Eva-Lotte gab seinem Näschen einen kleinen Stups.

»Natürlich«, sagte sie und lachte. »Das hast du großartig gemacht, Ritter Rasmus!

Kalle-Blomquist-Song

Text: Kurt Reiß

Musik: Erich Bender



Wird etwas gestohlen

an irgendeinem Ort,

dann muß man sich holen

unbedingt sofort:

Kalle Blomquist, den Meisterdetektiv,

Kalle Blomquist, den Meisterdetektiv.

Alle Diebe zittern

am Tage und zur Nacht,

sehn sich hinter Gittern,

und wer hat dies vollbracht:

Kalle Blomquist, der Meisterdetektiv,

Kalle Blomquist, der Meisterdetektiv

Alle Leute sprechen

davon in jeder Stadt,

es gibt kein Verbrechen,

das aufgeklärt nicht hat:

Kalle Blomquist, der Meisterdetektiv,

Kalle Blomquist, der Meisterdetektiv.

Darum laßt die Finger

von fremden Sachen weg,

schon wartet der Bezwinger

heimlich im Versteck:

Kalle Blomquist, der Meisterdetektiv,

Kalle Blomquist, der Meisterdetektiv.


© 1955 by Kurt Reiß und Erich Bender, Hamburg



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