25

Das letztemal, als ich zu Lilith ging, sagte sie, das nächstemal, wenn du kommst, laß uns etwas anderes machen, einverstanden?

Wir beide nackt nach der Liebe. Meine Wange auf ihren Brüsten.

Etwas anderes?

Nicht nur in der Wohnung sitzen. Einen Spaziergang machen als Tourist und Stockholm besichtigen. Das Androidenviertel. Sehen, wie die Leute leben, die Androiden. Die Gammas. Würdest du das nicht gerne tun?

Und ich sagte, ein wenig unsicher, warum sollte ich? Möchtest du nicht lieber die Zeit mit mir verbringen?

Sie spielte mit den Haaren auf meiner Brust. Welch ein Tier bin ich, so primitiv.

Wir leben so zurückgezogen hier. Du kommst, wir gehen miteinander ins Bett, du gehst. Wir gehen nie aus. Ich möchte, daß du mit mir ausgehst. Als Teil deiner Erziehung. Ich habe den Drang, Leute zu erziehen, wußtest du das, Manuel? Ihren Geist auftun für neue Dinge. Bist du je in einer Gammasiedlung gewesen?

Nein.

Weißt du, was das ist?

Ein Ort, an dem Gammas leben, nehme ich an.

Das stimmt. Aber In Wirklichkeit weißt du es nicht. Nicht bevor du dort gewesen bist.

Ist es gefährlich?

Nicht wirklich. Niemand wird Alphas in der Gammastadt belästigen. Sie machen sich manchmal einander das Leben schwer, aber das ist etwas anderes. Wir gehören der höchsten Kaste an, und sie halten sich von uns fern.

Ich sagte, einen Alpha werden sie vielleicht nicht belästigen. Aber wie ist es mit mir? Sie haben vielleicht etwas gegen menschliche Touristen.

Lilith sagte, sie würde mich verkleiden. Einen Alpha aus mir machen. Das hätte einen gewissen Reiz. Versuchung, Geheimnis. Es wäre vielleicht eine romantische Abwechslung für Lilith und mich, ein solches Spiel zu spielen. Ich fragte, werden sie nicht erkennen, daß ich nicht echt bin? Und sie sagte, sie betrachten Alphas nicht so genau. Sie haben eine anerzogene soziale Distanz. Gammas beachten diese Distanz, Manuel.

Gut, gehen wir in die Gammastadt.

Wir planten den Ausflug für die nächste Woche. Ich arrangierte alles mit Clarissa: Ich muß zum Mond, sagte ich, würde erst in zwei Tagen zurück sein. Kein Problem. Clarissa würde die Zeit mit ihren Freunden in Neuseeland verbringen. Ich frage mich manchmal, ob Clarissa irgend etwas ahnt. Oder was sie sagen würde, wenn sie alles wüßte. Ich bin versucht, zu ihr zu sagen, Clarissa, ich habe in Stockholm eine Androidin als Mätresse, sie besitzt seltene Qualitäten im Bett und einen phantastischen Körper, wie gefällt dir das? Clarissa ist keine Kleinbürgerin, aber sie ist empfindsam. Vielleicht fühlt sie sich überflüssig. Oder vielleicht sagt sie bei ihrer großen Liebe für die unterdrückten Androiden, wie nett von dir, Manuel, eine von ihnen glücklich zu machen. Ich habe nichts dagegen, deine Liebe mit einer Androidin zu teilen. Bring sie einmal mit zum Tee. Ich frage mich, wie sie sich verhalten würde.

Der Tag kommt. Ich gehe zu Lilith. Ich trete ein und sie ist nackt. Zieh deine Kleider aus, sagt sie. Ich lächle verlegen. Etwas plump. Gewiß. Gewiß. Ich ziehe mich aus und greife nach ihr. Sie macht einen kleinen Tanzschritt, und ich greife ins Leere.

Nicht jetzt, Dummkopf. Wenn wir zurückkommen. Wir müssen dich jetzt verkleiden.

Sie nimmt eine Spraytube. Sie stellt sie zuerst auf neutral ein und überdeckt die Spiegelplatte auf meiner Stirn. Androiden tragen so etwas nicht. Die Ohrläppchenpflöcke weg, befiehlt sie. Ich ziehe sie heraus, und sie füllt die Öffnung mit Gelatine. Dann beginnt sie, mich mit Rot einzusprühen. Muß ich meinen Körper rasieren, frage ich. Nein, sagt sie. Du wirst doch deine Kleider nicht in Gegenwart anderer ablegen. Sie färbt mich vollkommen ein mit einem mattschimmernden Rot. Ich sehe aus wie ein echter Android. Dann bedeckt sie mich von der Brust bis zu den Schenkeln mit einem Wärmespray. Es wird kalt draußen sein, sagt sie. Androiden tragen keine schweren Kleider. So, zieh dich an.

Sie reicht mir ein Gewand. Hochgeschlossenes Hemd, hautenge Hosen. Offensichtlich Androidenkleidung, und offensichtlich auch Alphastil. Legt sich an meinen Körper wie ein Trikot. Hoffentlich bekommst du keine Erektion, sagt sie. Du würdest dir die Hosen zerreißen. Sie lacht und streichelt mein Geschlecht.

Woher hast du die Kleider?

Ich habe sie mir von Thor Watchmann geliehen.

Hast du ihm gesagt, wofür du sie brauchst?

Nein, sagt sie, natürlich nicht. Ich sagte nur, ich brauche sie. Laß uns jetzt sehen, wie du aussiehst! Wunderbar, wunderbar! Ein vollkommener Alpha. Geh durchs Zimmer. Komm zurück. Gehe etwas stolzer. Bedenke, du bist das Endprodukt der menschlichen Evolution, die perfekteste Version des homo sapiens, die je aus einer Retorte gekommen ist, mit all den Stärken eines Menschen und ohne eine seiner Schwächen. Du bist ein Alpha… hm. Wir brauchen einen Namen, für den Fall, daß dich jemand fragt. Lilith denkt eine Weile nach. Alpha Leviticus Leaper, sagt sie. Wie heißt du?

Alpha Leviticus Leaper, sage ich.

Nein, wenn jemand dich fragt, sagst du Leviticus Leaper. Man kann sehen, daß du ein Alpha bist. Andere Leute werden dich Alpha Leaper nennen. Klar?

Klar!

Sie zieht sich an. Zuerst ein Wärmespray, dann eine Art von goldenem Netz über die Brüste bis hinunter zur Mitte der Sehenkel. Sonst nichts. Die Brustwarzen sind sichtbar durch die Maschen des Netzes. Auch unten ist nicht viel verborgen. Das entspricht nicht ganz meiner Vorstellung von Winterkleidung. Androiden müssen den Winter mehr genießen als wir Menschen.

Willst du dich selbst sehen, bevor wir gehen, Alpha Leaper?

Ja.

Sie wirft Spiegelstaub in die Luft. Nachdem die Moleküle sich geordnet haben, sehe ich mich in meiner ganzen Größe vor mir. Eindrucksvoll. Ein richtiger Alphastutzer, ein roter Teufel, der sich zurecht gemacht hat, auszugehen. Lilith hat recht. Kein Gamma würde es wagen, mich zu belästigen oder mir auch nur In die Augen zu schauen.

Gehen wir, Alpha Leaper! Machen wir einen Bummel durch die Gammastadt!

Wir gehen hinaus. Wir gehen bis zum Rand der City, schauen auf windgepeitschtes Wasser. Schaumkronen selbst im Hafen. Früher Nachmittag, doch bereits hereinbrechende Nacht. Eine schmutzige, graue Tageszeit, tiefhängende Wolken. Der trübe Schimmer von Straßenlaternen. Andere Lichter schimmern schmutzig an den Gebäuden oder schweben in der Luft: rote, grüne, blaue, orangefarbene, aufleuchtend und verlöschend, Beachtung heischend, ein Pfeil hier, das Zeichen einer Trompete dort. Erschütterungen. Dämpfe. Gerüche. Geräusche. Die Nähe vieler Leute. Ein Kreischen im grauen Zwielicht. Fernes Gelächter, gedämpft. Gesprächsfetzen dringen durch den Nebel:

»Laß los, oder…«

»Zurück in die Retorte! Zurück in die Retorte!«

»Traumpillen, wer nimmt Traumpillen?«

»Stacker können es dir nicht sagen.«

»Traumpillen!«

»Huuh! Huuh!«

Stockholm ist fast ganz von Androiden bevölkert. Warum drängen sie sich hier zusammen wie in den neun anderen Städten? Gettos? Sie haben es nicht nötig. In der Transmatwelt heißt es: wohne, wo du willst, arbeite, wo es dir gefällt.

Aber wir lieben es, unter uns zu sein, sagt sie.

So schließen sie sich in Klassen ab in ihren Gettos. Die Alphas am Rand des Viertels in den schönen alten Häusern, die Betas im zerfallenden Zentrum. Und dann die Gammas. Die Gammas! Willkommen in der Gammastadt.

Nasse, schlüpfrige, schlammige Kopfsteinpflasterstraßen. Mittelalter? Verwitterte graue alte Häuser, schmale Gassen. Im Rinnstein fließt träge kaltes schmutziges Wasser. Fenster aus Glas und dennoch ist nicht alles archaisch hier: eine Mischung von Stilen, alle Arten von Architektur, alle Stufen des Fortschritts, zweiundzwanzigstes, zwanzigstes, neunzehntes, sechzehntes, vierzehntes Jahrhundert durcheinander gewürfelt. In der Luft hängen die Netze von wettersicheren Hochstraßen, verrostete Rollwege in einigen wenigen der winkligen Straßen. Das Summen von Klimaanlagen, die defekt sind und grünliche Nebel in die Winterluft blasen. Dickwandige Barockkeller. Lilith und ich gehen durch die in verrücktem Zickzackmuster verlaufenden Gassen. Ein Dämon muß diese Stadt entworfen haben. Ein Werk der Perversion.

Gestalten huschen vorbei, Gesichter.

Gammas! Gammas überall. Sie starren dich an. Schauen weg, starren dich wieder an. Kleine trübe Augen, vogelähnlich, erschreckt, flackernd. Sie haben Angst vor uns. Die soziale Distanz? Sie wahren die soziale Distanz. Sie schleichen, sie starren, doch wenn wir näher kommen, versuchen sie, unsichtbar zu sein. Den Kopf gesenkt. Die Augen abgewandt. Alphas, Alphas, Alphas. Nehmt euch in acht, ihr Gammas.

Wir blickten von hoch oben auf sie herab. Ich habe nie gewußt, wie stämmig Gammas sind, wie klein, wie breit. Und wie stark. Diese Schultern. Diese knotigen Muskeln. Jeder von Ihnen könnte mich in Stücke reißen. Auch die Frauen sehen stark aus, obwohl sie anmutiger gebaut sind. Mit einem Gammamädchen ins Bett gehen? Sind sie feuriger als Lilith… Ist das möglich? Sie prügeln sich, sie springen wild umher, brüllen sich an, keine Hemmungen! Und der Geruch von Knoblauch. Denke nicht mehr daran. Roh sind sie. Roh. Es wäre wie Quenelle mit meinem Vater! Vergiß sie! Es ist genug Leidenschaft in Lilith und sie ist rein. Es lohnt sich nicht, darüber nachzudenken. Die Gammas halten sich fern von uns. Zwei elegante Alphas auf dem Bummel. Wir haben lange Beine. Wir haben Stil. Wir besitzen Anmut. Sie fürchten uns.

Ich bin Alpha Leviticus Leaper.

Der Wind ist rauh hier. Er kommt direkt vom Wasser, scharf wie eine Messerklinge. Er wirbelt Staub und Abfälle auf in den Straßen. Staub! Abfälle! Wann habe ich je so schmutzige Straßen gesehen? Kommen die Reinigungsroboter nie hierher? Warum halten die Gammas nicht selbst ihre Straßen sauber? Sie legen keinen Wert auf solche Dinge, sagt Lilith. Es ist eine Sache der Kultur. Sie sind stolz darauf, keinen Stolz zu haben. Es ist ein Ausdruck ihres Status. Boden der Androidenwelt, Boden des Bodens der menschlichen Welt, und sie wissen es, und sie lieben ihn, und der Schmutz ist für sie ein Statussymbol. Warum nicht? Sie sagen, wenn ihr wollt, daß wir Dreck sind, dann wollen wir auch im Dreck leben, in ihm wühlen, uns in ihm wälzen. Wenn wir nicht Menschen sind, brauchen wir nicht sauber zu sein. Früher kamen Reinigungsroboter hierher, und die Gammas haben ihnen die Metallschädel eingeschlagen. Dort liegt einer, siehst du? Liegt hier, seit mindestens zehn Jahren. Roboterteile, verrostet, verbogen, zusammengeschlagen, liegen auf einem Haufen. Reste eines metallenen Menschen. Blaues Metall schimmert durch den Rost. Sind das Magnetspulen? Relais! Akkumulatoren, Minicomputer? Die verschlungenen Drahteingeweide der Maschine. Boden des Bodens des Bodens, ein rein mechanisches Objekt, zerstört, weil es den heiligen Schmutz unserer aus der Retorte geborenen Parias angriff. Eine grauweiße Katze pißt zusammengeduckt auf die Eingeweide des Roboters. Herumstehende Gammas lachen. Dann sehen sie uns und ziehen sich scheu zurück. Sie machen schnelle, nervöse Gesten mit ihren linken Händen… berühren die Stelle des Geschlechts, die Brust, die Stirn, eins-zwei-drei, sehr schnell. Automatisch, wie ein Reflex, wie das Zeichen des Kreuzes. Was bedeutet das? Eine Art Ehrenbezeugung? Eine Huldigung an die vorübergehenden Alphas? Etwas ähnliches, sagt Lilith. Doch nicht ganz. Es ist nur eine Geste des Aberglaubens.

Um den bösen Blick abzuwehren.

Ja. Berühre die Hauptpunkte, beschwöre den Geist der Genitalien, der Seele und der Intelligenz, Geschlecht, Brust, Stirn. Hast du nie zuvor Androiden dieses Zeichen machen sehen?

Mag sein, nicht bewußt.

Sogar Alphas machen es, sagt Lilith. Eine Gewohnheit. Zur Entspannung. Manchmal mache ich es sogar.

Warum aber die Genitalien? Wo Androiden nicht zeugen?

Eine symbolische Geste, sagt sie. Wir sind zwar steril, doch die Zeugungsorgane sind immer noch tabuisiert als Erinnerung an den Ursprung von uns allen. Das menschliche Gen kommt aus den Lenden, und wir sind nach diesem Gen entworfen und aus ihm gezüchtet. Es gibt sogar eine Philosophie darüber.

Ich mache das Zeichen. Eins, zwei, drei. Lilith lacht, aber sie scheint verärgert, als hätte ich das nicht tun sollen. Zum Teufel, ich laufe doch heute abend als Androide verkleidet herum? Dann kann ich mich auch wie ein Androide benehmen. Eins, zwei, drei.

Die an der Wand stehenden Gammas erwidern das Zeichen. Eins, zwei, drei. Geschlecht, Brust, Stirn.

Einer von ihnen sagt etwas, das wie ›Krug sei gepriesen‹ klingt.

Was war das? frage ich Lilith.

Ich habe nichts gehört.

Hat er nicht gesagt, ›Krug sei gepriesen‹?

Gammas sagen manchmal dummes Zeug.

Ich schüttle den Kopf. Vielleicht erkennt er mich, Lilith?

Keine Chance, absolut nicht. Wenn er etwas über Krug gesagt hat, meint er deinen Vater.

Ja, ja. Das ist wahr. Er ist Krug. Ich bin Manuel, nur Manuel.

Psst! Du bist Alpha Leviticus Leaper!

Richtig. Tut mir leid. Alpha Leviticus Leaper. Abgekürzt Lev. Krug sei gepriesen? Vielleicht habe ich nicht richtig gehört.

Vielleicht, sagt Lilith.

Wir gehen um eine Ecke und lösen dabei eine Reklameautomatik aus. Indem wir das Rasterfeld der Automatik betreten, bewirken wir, daß vielfarbiger Staub aus Öffnungen in einer Wand herausgeblasen wird und durch elektrostatische Anziehung ein Muster von Worten in der Luft bildet, das selbst im Nebel hell leuchtet. Vor einem silbrigen Hintergrund sehen wir:


!ARZT! ALPHA POSEIDON MUSKETIER

!ARZT!

SPEZIALIST FÜR GAMMABESCHWERDEN ER HEILT

SOLIDIFIERS SLOBIESÜCHTIGE

STACKER

ER BEZWINGT

METABOLISCHE FÄULNIS

UND ANDERE PROBLEME

!ANGESEHENE FACHKRAFT!

KLINGELN ERSTE TÜRE RECHTS


Ich frage, ist er wirklich ein Alpha?

Natürlich.

Wozu wohnt er hier in der Gammastadt?

Irgend jemand muß hier Arzt sein. Glaubst du, ein Gamma kann einen medizinischen Grad erhalten?

Er preist sich aber an wie ein Quacksalber. Sich so eine pompöse Reklameautomatik bauen zu lassen! Welcher richtige Arzt würde so um Patienten werben!

Ein Arzt in der Gammastadt. So macht man das hier. Auf alle Fälle ist er ein Quacksalber. Ein guter Arzt, aber ein Quacksalber. Er war vor einigen Jahren in einen Organregenerationsskandal verwickelt, als er eine Alphapraxis hatte. Er hat seine Lizenz verloren.

Braucht man hier keine Lizenz?

Man braucht nichts hier. Sie sagen, er ist tüchtig. Exzentrisch, aber aufopfernd für seine Patienten. Möchtest du ihn kennenlernen?

Nein. Nein. Was sind Slobiesüchtige?

Slobie ist eine Droge. Du wirst bald eine Süchtige sehen.

Und Stacker?

Eine Verkrustung im Kleinhirn, eine Abnutzungserscheinung, die bei Gammas auftritt; führt zu geistiger Umnachtung.

Und Solidifier?

Eine Muskelkrankheit. Versteifung des Gewebes oder etwas ähnliches. Ich bin nicht sicher. Nur Gammas bekommen sie. Vielleicht ein Konstruktionsfehler.

Ich runzle die Stirn. Weiß mein Vater davon? Er steht hinter der Integrität seiner Produkte. Wenn Gammas anfällig sind für geheimnisvolle Krankheiten…

Da ist ein Slobiesüchtiger, sagt Lilith.

Ein Android kommt die Straße herauf auf uns zu, schwebend, gleitend, tanzend, gespenstisch langsam, wie in einem Film, der in Zeitlupe abläuft, die Augen nur einen Spalt geöffnet, das Gesicht wie im Traum verzückt, die Arme ausgestreckt, die Finger locker hängen lassend. Er sucht tastend seinen Weg, als ginge er durch die dichte Atmosphäre des Jupiters. Er trägt nur ein Stück Stoff um die Hüften, doch er schwitzt in der eisigen Luft. Mit rauher, summender Stimme spricht er zu sich selbst. Nach einer Zeit, die mir wie vier Stunden erscheint, erreicht er uns, pflanzt sich vor uns auf, lehnt den Kopf zurück, stemmt die Hände in die Hüften, schweigend, eine Minute lang. Schließlich sagt er mit tiefer rauher Stimme und mit entsetzlicher Langsamkeit, Al… al… lo… Al… phas… schö… ne… Al… phas

Lilith sagt ihm, er soll weitergehen.

Zunächst keine Reaktion. Dann fällt sein Gesicht in sich zusammen. Unaussprechliche Traurigkeit. Er hebt die linke Hand in einer unbeholfenen klauenartigen Geste, berührt die Stirn, läßt die Hand auf die Brust sinken, auf das Geschlecht. Er macht das Zeichen umgekehrt… Was bedeutet das? Er sagt in tragischem Ton, ich… liebe… die… schö… nen… Al… phas.

Ich sage zu Lilith, was ist das für eine Droge?

Sie verlangsamt das Zeitempfinden. Eine Minute wird eine Stunde für sie. Das verlängert ihre Freizeit. Natürlich bewegen wir uns wie Wirbelwinde um sie. Gewöhnlich bleiben die Süchtigen beisammen, im gleichen Zeitschema. Es gibt ihnen die Illusion von Tagen zwischen jeder Arbeitsschicht.

Eine gefährliche Droge?

Sie sagen, sie beraubt einen um eine Stunde der Lebenserwartung für die zwei Stunden, die man unter ihrem Einfluß steht. Doch die Gammas halten das für ein gutes Geschäft. Verzichte auf eine objektive Stunde und gewinne zwei oder drei subjektive Tage… Warum nicht?

Doch es schwächt die Arbeitskraft!

Gammas haben das Recht, mit ihrem Leben zu tun, was sie wollen, ist das nicht so, Alpha Leaper? Du bist doch nicht etwa auch der Ansicht, daß sie nur Eigentum sind und daß jede Art von Selbstzerstörung, die der Gamma betreibt, ein Verbrechen gegen seinen Besitzer ist?

Nein. Nein. Natürlich nicht, Alpha Meson.

Ich habe auch nicht geglaubt, daß du so denkst, sagt Lilith.

Der Slobiesüchtige umkreist uns mit entnervender Langsamkeit, singt etwas so langsam, daß ich unfähig bin, die einzelnen Silben miteinander zu verbinden und einen Sinn herauszuhören. Er bleibt stehen. Ein eisiges Lächeln breitet sich unendlich langsam auf seinem Gesicht aus. Er gibt ein grollendes Knurren von sich. Er sinkt ungelenk in Hockstellung. Seine Hand hebt sich mit gekrümmten Fingern wie eine Klaue. Sie ist offensichtlich auf Liliths Brust gerichtet. Keiner von uns bewegt sich.

Jetzt verstehe ich das Singsang des Gammas:

A…A…A…A…A…G…A…A…

C…A…A…U…

Was versucht er zu sagen?

Lilith schüttelt den Kopf. Es ist nicht wichtig, sagt sie.

Sie tritt zurück, als die zeigende Hand nur noch zehn Zentimeter von ihrem Busen entfernt ist. Auf dem Gesicht des Gammas beginnt Unmut an die Stelle des Lächelns zu treten. Er scheint verletzt. Sein Gesang nimmt einen fragenden Ton an:

A…U…A…A…U…G…A…

U…C…A…U…U…

Das Geräusch langsamer, schleppender Schritte näherte sich von hinten. Es ist ein zweiter Slobiesüchtiger: ein Mädchen, bekleidet mit einem zerfetzten, langen Mantel, der von ihrer Schulter herabhängt, und den sie wie eine Schleppe mehrere Meter hinter sich herschleift. Er ist vorn geöffnet, ihre Schenkel und Lenden sind nackt. Sie hat ihr Haar grün gefärbt und es in Form einer Tiara hochgebunden. Ihr Gesicht ist verwüstet und bleich und ihre Augen sind kaum geöffnet. Ihre Haut ist naß vor Schweiß. Sie schwebt auf unsern Freund zu und sagt etwas zu ihm mit einer verblüffenden Baritonstimme. Er antwortet wie im Traum. Ich kann nichts von dem verstehen, was sie sagen. Ist es wegen der verlangsamenden Droge oder sprechen sie einen Gammadialekt? Etwas Häßliches scheint sich anzubahnen. Ich nicke Lilith zu, schlage ihr mit einer Geste vor, daß wir gehen sollen, doch sie schüttelt den Kopf. Bleibe. Beobachte sie.

Die Süchtigen vollführen einen grotesken Tanz, sich mit den Fingerspitzen berührend, heben sie die Knie und lassen sie wieder sinken. Eine Gavotte für Marmorstatuen. Ein Menuett für ausgestopfte Elefanten.

Sie singen einander an. Sie umkreisen einander. Die Füße des Mannes verwickeln sich in den nachschleifenden Mantel des Mädchens. Sie bewegt sich. Er bleibt stehen. Der Mantel fällt von ihren Schultern. Das Mädchen steht nackt auf der Straße. Zwischen ihren Brüsten hängt an einer grünen Schnur ein Messer. Ihr Rücken ist kreuz und quer mit Narben bedeckt. Ist sie gegeißelt worden? Ihre Nacktheit erregt mich. Ich sehe, wie sich ihre Brustwarzen langsam aufrichten. Der Mann nähert sich der Frau. Mit schmerzlicher Langsamkeit hebt er die Hand und greift nach dem Messer. Ebenso langsam läßt er es sinken und berührt mit dem kalten Metall die Lenden des Mädchens, ihren Bauch, ihre Stirn. Das heilige Zeichen. Lilith und ich stehen an der Mauer, nahe dem Eingang zu der Praxis des Arztes. Das Messer bereitet mir Unbehagen.

Laß mich es ihm wegnehmen, sage ich.

Nein. Nein. Du bist nur Besucher hier. Das geht dich nichts an.

Dann laß uns gehen, Lilith.

Warte, schau zu.

Unser Freund singt wieder. Eine wirre Folge von Buchstaben, wie zuvor. U…C…A…U…C…G…U…C…C…

Sein Arm holt aus, bewegt sich wieder nach vorn. Die Spitze des Messers zielt auf den Magen des Mädchens. An der Spannung seiner Muskeln sehe ich, daß der Stoß volle Kraft haben wird. Dies ist kein Tanzschritt. Die Klinge ist nur noch wenige Zentimeter von ihrem Leib entfernt, als ich vorstürze und sie ihm aus der Hand schlage.

Er beginnt zu stöhnen. Die Frau begreift noch nicht, daß sie gerettet worden ist. Sie gibt ein tiefes dröhnendes Bellen von sich, das vielleicht ein Schrei sein soll. Sie fällt zu Boden, umfaßt ihre Brüste mit der einen Hand, stößt die andere zwischen ihre Schenkel. Sie windet sich in langsamen Bewegungen.

Du hättest dich nicht einmischen sollen, sagt Lilith wütend. Komm jetzt, es ist besser, wir gehen.

Aber er hätte sie getötet!

Nicht deine Sache. Nicht deine Sache.

Sie packt mich beim Handgelenk. Ich drehe mich um. Wir entfernen uns. Aus den Augenwinkeln sehe ich, daß die Frau aufsteht. Das grelle Licht der Reklame des Arztes Poseidon Musketier schimmert auf ihren nackten Hüften. Lilith und ich machen zwei Schritte. Dann hören wir ein Grunzen. Wir schauen zurück. Das Mädchen ist aufgestanden, hat das Messer in der Hand, und hat es in den Bauch des Mannes gestoßen. Langsam zieht sie es durch sein Fleisch von der Hüfte bis zur Brust. Seine Eingeweide quellen hervor, und er wird sich dessen nur langsam bewußt. Er setzt zu einem gurgelnden Schrei an.

Jetzt müssen wir gehen, sagt Lilith. Wir eilen zu der Ecke. Als wir sie erreichen, drehe ich mich noch einmal um. Die Tür des Alpha Musketier hat sich geöffnet. Eine hagere Gestalt, groß wie ein Alpha, mit einer Mähne wilden grauen Haars und hervorstehenden Augen, steht in ihr. Ist es der berühmte Arzt? Er läuft zu den Slobiesüchtigen. Die Frau kniet vor ihrem Opfer, das noch nicht gefallen ist. Sein Blut färbt ihre schimmernde Haut purpurn. Sie singt: G! A! A! G! A! G! G! A! C!

Hier hinein, sagt Lilith, und wir betreten einen niedrigen dunklen Gang.

Eine Treppe. Trockener Geruch von Fäulnis und Verwesung. Spinnweben. Wir tauchen in unbekannte Tiefen. In der Ferne, tief unten, glühen gelbe Lichter. Wir gehen hinunter und hinunter und hinunter.

Wo sind wir? frage ich.

Ein Sicherheitstunnel. Gebaut während des Gesundheitskrieges vor zweihundert Jahren, Teil eines Systems, das unter ganz Stockholm verläuft. Die Gammas haben es übernommen.

Eine Kloake.

Ich höre kurze Ausbrüche von Gelächter, Gesprächsfetzen. Es gibt Läden hier unten, vergitterte Schaufenster, hinter denen kleine Lampen qualmen und flackern. Gammas laufen hin und her. Einige von ihnen machen das Eins-zwei-drei-Zeichen, als sie an uns vorübergehen. Getrieben von einer Furcht, die ich nicht verstehe, zieht Lilith mich hastig mit sich. Wir gehen durch weitere Tunnel, betreten einen Durchgang, der zu einem anderen Tunnel führt.

Drei Slobiesüchtige tanzen vorbei. Ein männlicher Gamma, das Gesicht mit roten und blauen Streifen bemalt, macht Halt und beginnt zu singen. Singt er für uns:

Wen soll ich heiraten?

Wer wird mich heiraten?

Feuer in der stinkenden Retorte

Frei fliegendes Feuer.

Mein Kopf mein Kopf mein Kopf mein Kopf

Mein Kopf

Er kniet nieder und würgt. Eine blaue Flüssigkeit tritt auf seine Lippen, er spuckt sie uns vor die Füße.

Wir gehen weiter. Wir hören einen hallenden Schrei:

Al-pha! Al-pha! Al-pha! Al-pha!

Zwei Gammas begatten sich in einem Alkoven. Ihre Körper sind schweißnaß. Gegen meinen Willen beobachte ich die stoßenden Hüften und lausche dem Klatschen von Fleisch gegen Fleisch. Die Frau trommelt mit den Fäusten auf dem Rücken ihres Partners. Protestiert sie gegen eine Vergewaltigung? Oder ist es Ausdruck ihres Entzückens? Ein Slobie stolpert aus dem Schatten, fällt über sie, und die drei bilden einen Haufen verschlungener Glieder. Lilith zieht mich weg. Ich bin plötzlich voller Verlangen nach ihr. Ich denke an ihre festen Brüste, ihre Hüften, ihren Leib. Ist es möglich? Ich bin plötzlich versessen darauf, einen Alkoven zu suchen und mich mit ihr mitten unter den Gammas zu kopulieren. Ich versuche sie zu umarmen, doch Lilith entzieht sich meiner Berührung. Nicht hier, sagt sie. Nicht hier. Wir müssen die soziale Distanz wahren.

Blendende Lichtkaskaden fallen von der Decke des Tunnels herab. Rosa Blasen erscheinen und zerplatzen, sauren Geruch verbreitend. Ein Dutzend Gammas stürzen aus einem Seitengang, bleiben bestürzt stehen, als sie begreifen, daß sie beinahe mit zwei Alphas zusammengestoßen wären, machen Zeichen der Verehrung und rennen weiter, rufen, lachen, singen.

Ich schmelze dich und du schmilzt mich,

Und wir schmelzen dahin und sind glücklich.

Stoß zu! Stoß zu! Stoß zu, mein Schatz!

Ja! Ja! Ja! Ja! Ja!

Sie scheinen glücklich zu sein, sage ich. Lilith nickt. Sie sind vollkommen betrunken, sagt sie. Wahrscheinlich auf dem Weg zu einer Strahlenorgie.

Einer was?

Eine Lache gelber Flüssigkeit läuft unter einer geschlossenen Tür hervor. Scharfe Dämpfe steigen. Urin? Die Tür fliegt auf. Eine Gammafrau mit leuchtenden Brüsten, einer hellen Narbe am Bauch, kichert uns an. Sie macht einen höflichen Knicks. Mylady, Mylord, wollen sie mit mir? Sie kichert. Hockt nieder. Sie taumelt umher in irrem Tanz. Krümmt den Rücken, klatscht auf ihre Brüste, macht die Beine breit. Grüne und goldene Lichter flammen auf in dem Raum, aus dem sie gekommen ist. Eine Gestalt erscheint.

Was ist das, Lilith?

Normale Höhe, doch doppelt so breit wie ein Gamma und bedeckt mit einem dicken rauhen Fell. Ein Affe? Das Gesicht ist menschlich. Das Wesen hebt die Hände. Kurze stumpfe Finger, zwischen ihnen Schwimmhäute! Es zerrt das Mädchen wieder zurück In den Raum. Die Tür schließt sich.

Eine Mißgeburt, sagt Lilith. Es gibt viele von ihnen hier. Es sind Androiden, die dem Standard nicht entsprechen. Genetische Pannen, vielleicht Schmutz in der Nährflüssigkeit. Manchmal haben sie keine Arme, keine Beine, keine Köpfe, keine Verdauungsorgane. Fabrikationsfehler aus Krugs Retorte. Ausschuß.

Werden sie nicht automatisch vernichtet in der Fabrik?

Lilith lächelt. Sie werden nicht vernichtet, man hält sie verborgen. Diejenigen, die nicht lebensfähig sind, sterben ohnehin sehr bald. Manche werden von den Gammas hinausgeschmuggelt, wenn die Aufseher nicht aufpassen, und in einen der Unterstände mitgenommen, meistens hierher. Hier halten sie sie zum Spaß oder aus Mitleid. Wir können unsere idiotischen Brüder nicht töten, Manuel!

Leviticus, sage ich. Alpha Leviticus Leaper.

Schau, dort ist noch einer.

Eine Gestalt aus einem Alptraum hüpft ausgelassen durch den Gang. Sie sieht aus wie etwas, das in einen Ofen geschoben wurde, bis das Fleisch zu zerfließen begann. Der Umriß ist menschlich, die Konturen jedoch nicht. Die Nase ist ein Klumpen, die Lippen sind tassenförmig, die Arme verschieden lang, Finger wie Tentakeln, aber die Genitalien sind monströs: Pferdepenis, Stierhoden.

Er wäre besser tot, sage ich zu Lilith.

Nein. Nein. Er ist unser Bruder. Unser bemitleidenswerter Bruder, den wir lieben.

Das Monstrum bleibt zehn Meter vor uns stehen. Seine schlangenartig beweglichen Arme machen das Zeichen: Eins-zwei-drei.

Mit klarer und überraschend wohlklingender Stimme sagt er, der Friede Krugs sei mit euch, Alphas, geht mit Krug. Geht mit Krug. Geht mit Krug.

Krug sei mit dir, antwortet Lilith.

Das Monstrum watschelt weiter, ein glückliches Lächeln auf seinem entsetzlichen Gesicht.

Der Friede Krugs? Geht mit Krug? Krug sei mit euch? Lilith, was bedeutet das alles?

Höflichkeit, sagt sie. Ein freundlicher Gruß.

Krug? Krug hat uns doch alle geschaffen, sagt sie.

Ich erinnere mich an Dinge, die gesagt wurden, als ich mit meinen Freunden in dem Egotauschraum war. Du weißt, alle Androiden lieben deinen Vater? Ja. Manchmal glaube ich, es muß fast wie eine Religion sein für sie. Die Religion Krugs. Nun, es hat doch einen gewissen Sinn, seinen Schöpfer anzubeten. Lache nicht.

Der Friede Krugs. Geht mit Krug. Krug sei mit euch.

Lilith, halten die Androiden meinen Vater für Gott?

Lilith weicht der Frage aus.

Wir können darüber ein anderes Mal sprechen, sagt sie. Die Leute hier haben Ohren. Es gibt gewisse Dinge, über die wir hier nicht sprechen können.

Aber…

Ein anderes Mal!

Ich lasse das Thema fallen. Der Tunnel weitet sich jetzt zu einem großen, hell erleuchteten, überfüllten Raum. Ein Marktplatz? Geschäfte, Stände, Gammas überall. Wir werden angestarrt. Es gibt zahlreiche Mißgeburten hier, eine grauenhafter als die andere. Es ist schwer zu begreifen, wie so verstümmelte und mißlungene Geschöpfe überleben können.

Gehen sie je an die Oberfläche?

Nie. Sie könnten von Menschen gesehen werden.

In der Gammastadt?

Sie gehen kein Risiko ein. Sie würden sofort abgeholt werden und auf Nimmerwiedersehen verschwinden.

Im Gedränge der überfüllten Halle rempeln sich die Androiden an, schimpfen, zanken sich. Irgendwie aber lassen sie stets einen freien Raum um uns. Zwei Messerduelle werden ausgetragen. Niemand schenkt ihnen Beachtung. Man benimmt sich schamlos lasziv. Es stinkt ranzig und faul. Eine Frau mit funkelnden Augen nähert sich mir und flüstert, Krug segne dich! Krug segne dich! Sie drückt mir etwas in die Hand und läuft davon.

Ein Geschenk.

Ein kleiner kühler Würfel mit abgerundeten Kanten, ähnlich dem Spielzeug in dem Psychotauschraum in New Orleans. Sendet er Botschaften? Ja. In seinem milchigen Kern bilden sich Worte, zerfließen wieder und verschwinden:


EIN STOSS ZUR RECHTEN ZEIT RETTEN DIE DEINE

*

SEINE SEINE SEINE SEINE IHRE SEINE SEINE SEINE

*

O LEER IST DEINE SCHALE, SCHMUTZIGES GESCHÖPF!

*

SLOBIE REGIERT, ES LEBE SLOBIE!

*

PLIT PLIT! PLIT! PLIT! PLACK!

*

UND GEBE KRUG WAS KRUG GEHÖRT


Alles Unsinn. Pornographie? Lilith, verstehst du das?

Einiges davon. Die Gammas haben ihren eigenen Slang. Doch schau her, wo es heißt…

Ein männlicher Gamma mit verschrumpelter purpurfarbener Haut schlägt uns den Würfel aus den Händen. Er rollt über den Boden. Kriechend sucht er nach ihm in dem Gewirr von Füßen. Ein allgemeiner Aufruhr bricht los. Man stößt sich, fällt übereinander. Der Dieb löst sich aus der Masse und rennt davon. Die Gammas streiten weiter, wälzen sich in wirrem Durcheinander auf dem Boden. Eine Frau steigt auf den Haufen. Sie hat ihre wenigen Kleiderfetzen in dem Handgemenge verloren, und ihre Brüste und Schenkel sind mit blutigen Wunden bedeckt. In der Hand hält sie den Würfel. Ich erkenne sie wieder. Es ist die Frau, die ihn mir gegeben hat. Jetzt schneidet sie mir eine dämonische Fratze, bleckt die Zähne. Sie hält den Würfel hoch, dann klemmt sie ihn zwischen die Beine. Ein stämmiger, mißwachsener Mann stürzt auf sie zu und zerrt sie von dem Menschenhaufen. Er hat nur einen Arm, doch dieser ist so dick wie ein Baum! Grig! schreit sie. Prot! Gliss! Sie verschwinden.

Die Menge murmelt enttäuscht. Ich stelle mir vor, daß sie sich gegen uns wenden, uns die Kleider herunterreißen werden, den haarigen menschlichen Körper unter meinem falschen Alphakostüm enthüllen. Die soziale Distanz wird uns dann nicht mehr schützen.

Komm, sage ich zu Lilith. Ich denke, ich habe genug.

Warte.

Sie wendet sich an die Gammas. Sie hebt die Hände, die Handflächen einander zugekehrt, etwa einen halben Meter voneinander entfernt, als zeige sie die Länge eines Fisches an, den sie gefangen hat. Dann verrenkt sie ihren Körper, windet sich in einer spiralförmigen Bewegung. Die Geste beruhigt die Menge sofort. Die Gammas treten beiseite, senken die Köpfe demütig, als wir durch die entstandene Gasse gehen. Alles ist in Ordnung.

Genug, sage ich zu Lilith. Es wird spät. Wie lange sind wir jetzt hier?

Wir können jetzt gehen.

Wir fliehen durch das Labyrinth der Gänge. Gammas, auf tausendfache Weise entstellt, begegnen uns. Wir sehen Slobies in ihren langsamen, verzückten Bewegungen vorüberschweben und Mißgeburten. Geräusche, Gerüche, Farben – ich bin verwirrt und betäubt. Stimmen in der Dunkelheit. Gesang.

Seid getrost

Der Tag der Freiheit kommt

Der Tag der Freiheit kommt

Fort mit den Slobies, sei du selbst…

Und steige auf in die Freiheit!

Stufen. Aufwärts. Kalter Wind. Atemlos stürzen wir hinauf und befinden uns wieder auf den abgetretenen Kopfsteinpflasterstraßen in den gewundenen Gassen der Gammastadt, wahrscheinlich nur wenige Meter von dort entfernt, wo wir hinunterstiegen. Die Praxis von Alpha Poseidon Musketier muß direkt um die Ecke sein.

Die Nacht ist hereingebrochen. Die Lichter der Gammastadt knistern und flackern. Lilith will mich in eine Taverne führen. Ich weigere mich. Nach Hause. Nach Hause. Genug. In meinem Kopf wirbeln die Bilder der Androidenwelt. Ein Alptraum. Ich wußte nicht…

Deshalb habe ich es dir gezeigt. Auch das ist Krugs Welt.

Wir gehen weiter. Wie weit müssen wir gehen, bis wir eine Transmatkabine erreichen?

Wir springen. Ihre Wohnung erscheint mir jetzt so warm und hell. Wir entledigen uns unserer Kleider. Unter dem Doppler reinige ich mich von meiner roten Farbe und meinem Wärmespray.

War es interessant?

Überwältigend, sage ich. Und da ist so vieles, das du mir erklären mußt, Lilith. Bilder schwimmen in meinem Kopf, ich brenne, ich bin wie betäubt.

Natürlich wirst du niemand erzählen, daß ich dich mitgenommen habe, sagt sie. Es bleibt unter uns.

Komm näher, Alpha Leaper.

Manuel.

Manuel, komm.

Sage mir zuerst, was es bedeutet, wenn sie sagen, Krug sei…

Später. Mir ist kalt. Wärme mich, Manuel.

Ich nehme sie in meine Arme. Die schweren Hügel ihrer Brüste erregen mich. Ich bedecke ihren Mund mit dem meinen. Ich stoße meine Zunge zwischen ihre Lippen. Wir sinken zusammen auf den Boden. Ich bin verrückt nach ihr, kann es nicht erwarten. Ohne Zögern dringe ich ein. Ich tue ihr weh. Sie zittert, beißt die Zähne zusammen, trommelt mit den Fäusten auf meinen Rücken.

Als ich die Augen schließe, sehe ich Slobies und Mißgeburten.

Lilith.

Lilith.

Lilith.

Lilith ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich Lilith Lilith!

Der große Bottich brodelt. Die feuchten roten Geschöpfe kriechen heraus. Gelächter. Blitze. So leer ist deine Schale, schmutziges Geschöpf! Mein Fleisch klatscht gegen das ihre. Plit! Plit! Plit! Plit! Plack! Mit demütigender Schnelligkeit gießt der überreizte Leviticus Leaper eine Milliarde Kinder in den sterilen Leib seiner Geliebten.

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