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18. Oktober 2218

Der Turm hat die Höhe von 280 Meter erreicht und wächst sichtlich mit jeder Stunde. Bei Tage funkelt und glänzt er selbst im bleichen Licht der arktischen Sonne und sieht aus wie ein schimmernder Speer, den ein Riese in die Tundra gestoßen hat. Bei Nacht leuchtet er noch greller, denn er reflektiert das Licht der Myriaden Scheinwerfer, in deren Licht die Nachtschichten arbeiten.

Seine wirkliche Schönheit wird sich erst später offenbaren. Was bis jetzt existiert, ist notwendigerweise die breite und dickwandige Basis. Justin Maledettos Plan sieht einen sich elegant nach oben verjüngenden Turm vor, einen schlanken Glasobelisken, der bis in die Stratosphäre ragen soll, und die Linie der Verjüngung wird eben erst sichtbar, um schließlich in einer dünnen Spitze auszulaufen.

Obwohl er erst weniger als ein Fünftel seiner vorgesehenen Höhe erreicht hat, ist Krugs Turm bereits das höchste Gebäude in den nordwestlichen Territorien und wird nördlich des sechzigsten Breitengrades nur von dem 320 Meter hohen Chase/Krug-Building in Fairbanks übertroffen und der alten 300 Meter hohen, die Behringstraße überschauenden Kotzebue-Nadel. Die Nadel wird in einem Tag oder zwei überholt werden, das Chase/Krug-Gebäude wenige Tage später. Ende November wird der Turm mit 500 Metern das höchste Gebäude im Sonnensystem sein. Und selbst dann wird er erst ein Drittel seiner vorgesehenen Höhe erreicht haben.

Die Trupps von Androiden arbeiten planmäßig und emsig. Bis auf die unglückliche Panne im September hat es bis jetzt keine tödlichen Unfälle gegeben. Die Technik des Befestigens der großen Glasblöcke an den Greifern der Aufzüge und ihres Hochhievens zur Spitze des Turms ist für sie Routine geworden. Auf allen acht Seiten steigen gleichzeitig Blocke hoch, werden gemäß Bauplan verlegt, während die nächste Serie von Blöcken bereits in die Aufzüge verladen wird.

Der Turm ist nicht länger eine hohle Schale. Der Innenausbau hat bereits begonnen – die Unterteilung in die Räume für den Tachyonstrahlsender, mittels dem, mit einer Geschwindigkeit, welche die des Lichts weit übersteigen wird, Botschaften zu dem planetarischen Nebel NGC 7293 gefunkt werden sollen. Justin Maledettos Plan sieht horizontale Unterteilungen in Abständen von jeweils zwanzig Meter vor, ausgenommen in fünf Bereichen des Turmes, wo die Größe der Sendeanlagen es erfordert, daß die Fußböden in Abständen von 60 Metern eingezogen werden, die fünf untersten Räume sind weitgehend fertig, die Tragbalken für den sechsten, siebten und achten Abschnitt bereits montiert.

Die Zwischendecken des Turms bestehen aus dem gleichen klaren Glas, das für die Außenmauern verwendet wird. Nichts darf die Durchsichtigkeit des Gebäudes beeinträchtigen. Maledetto hat ästhetische Gründe, hierauf zu bestehen; die Tachyonstrahl-Fachleute teilen die Forderung des Architekten nach freiem Durchgang des Lichts aufgrund wissenschaftlicher Überlegungen.

Wenn man den unvollendeten Turm jetzt aus einer Entfernung von etwa einem Kilometer betrachtet, ist man betroffen von dem Eindruck der Zerbrechlichkeit und Verletzlichkeit, den er macht. Man sieht die Strahlen der funkelnden Morgensonne durch die Mauern tanzen und springen wie durch das Wasser eines seichten, kristallklaren Sees, man kann die winzigen dunklen Gestalten der Androiden ausmachen, die sich wie Ameisen auf den fast unsichtbaren Zwischendecken bewegen, man hat das Gefühl, ein plötzlicher scharfer Windstoß von der Hudson Bay her könnte den Turm in einer Sekunde in einen Splitterhaufen verwandeln. Erst wenn man näher kommt, wenn man erkennt, daß diese unsichtbaren Zwischendecken dicker sind, als ein Mann groß ist, wenn man sieht, wie massiv die äußere Haut des Turmes in Wirklichkeit ist, wenn man das unvorstellbare, auf dem gefrorenen Grund lastende Gewicht des Kolosses ahnt, hört man auf, an tanzende Sonnenstrahlen zu denken und begreift, daß Simeon Krug das mächtigste Bauwerk in der Geschichte der Menschheit errichtet.

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