Es ist wichtig, daß die Kinder Vertrauen zu ihren Eltern haben. Und sie müssen davon überzeugt sein, daß Vater und Mutter alles wissen. Letzthin wollte mich mein Sohn Amir wieder einmal auf die Probe stellen. Er stand vor meinem Schreibtisch. In der einen Hand hielt er das farbige Album „Die Wunder der Welt", in der anderen den Klebstoff, mit dem er die Bilder in die betreffenden Quadrate einkleben wollte.
„Papi" fragte er, „stimmt es, daß sich die Erde um die Sonne dreht?"
„Ja", antwortete ich, „natürlich. "
„Und woher weißt du das?" fragte er weiter.
„Jeder Mensch weiß das", erklärte ich ihm geduldig. „Das lernt man in der Schule. "
„Und was hast du darüber in der Schule gelernt", bohrte Amir weiter.
Da hatte ich es nun. Mir fiel beim besten Willen keine passende Antwort ein. Das einzige, woran ich mich noch aus meiner Schulzeit erinnerte, war, daß unser Physiklehrer immer eine Krawatte mit blauen Tupfen trug und daß er minutenlang ohne Pause reden konnte. Außerdem hatte er schadhafte Zähne. Seine obere Zahnreihe stand etwas vor, wir nannten ihn deswegen Pferd. „Also, woher weißt du das", fragte Amir beharrlich weiter. „Frag nicht so dumm" antwortete ich ihm. „Es gibt unzählige Beweise dafür. Würde sich die Sonne um die Erde drehen, dann hieße es nicht Sonnensystem, sondern Erdensystem. " Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn. Amir dagegen schien keineswegs von meiner Antwort überzeugt. Ich mußte ihm also eindrucksvollere Beweise liefern. Daher griff ich nach einem weißen Radiergummi und hielt ihn hoch. „Schau her, Amir. Nehmen wir an, das ist der Mond, und die Schachtel mit den Reißnägeln ist die Erde. Die Schreibtischlampe bleibt stehen, sie ist die Sonne. Mit dem Radiergummi und den Reißnägeln kreise ich jetzt langsam um die Sonne... Siehst du den Schatten? Wenn der Radiergummi gerade in der Mitte der Bahn ist, dann liegt die Schachtel mit den Reißnägeln im Schatten. « „So?" Die Stimme meines Sohnes klingt zweifelnd. „Die Schachtel liegt aber auch im Schatten, wenn du die Lampe hin und her drehst und die Schachtel auf dem Tisch liegen bleibt. " Man sollte nicht glauben, wie dumm ein Kind manchmal fragen kann. „Konzentrier dich gefälligst", fahre ich Amir an. „Du willst nicht verstehen, was ich meine!"
Da fällt mir die Schachtel mit den Reißnägeln aus der Hand. Ich bücke mich, um die überall verstreuten Nägel wieder aufzusammeln. Dabei fällt mein Blick auf Amirs Socken, die wie immer bis zu den Schuhen herunterhängen.
„Du siehst wieder wie ein Landstreicher aus", bemerke ich tadelnd. Wahrend ich mich weiter mit den am Boden liegenden Reißnägeln befasse, versuche ich, mich krampfhaft daran zu erinnern, wie das mit der Sonne und der Erde wirklich ist. Da mir nichts einfällt, schicke ich Amir aus dem Zimmer und empfehle ihm, über seine dumme Frage selbst nachzudenken. Amir geht beleidigt. Kaum ist er draußen, stürze ich zum Lexikon und beginne fieberhaft, nach einem einschlägigen Himmelsforscher zu blättern... Ko... Kopenhage... Kopernikus, Nikolaus, deutscher Astronom. Eine halbe Seite ist ihm gewidmet, aber über die Erddrehung steht nichts da. Überhaupt nichts. Offenbar haben die Herausgeber des Lexikons ihr Schulwissen ebenso vergessen wie ich. Ich gehe in das Zimmer meines Sohnes. Behutsam lege ich ihm meine Hand auf den Kopf und frage ihn, wie es ihm geht. „Du hast überhaupt keine Ahnung von Astronomie, Papi, stimmt's?" sagt er zu mir. Höre ich recht? Ich sollte keine Ahnung haben? Wie unverschämt diese Kinder heutzutage doch sind. „Und sie bewegt sich doch",
erkläre ich nachdrücklich. „Das hat Galileo Galilei vor seinen Richtern gesagt. Kapierst du wenigstens das?" . „In Ordnung", antwortet Amir. „Sie bewegt sich. Aber wieso um die Sonne?"
„Um was denn sonst? Vielleicht um deine Großmutter?" Kalter Schweiß stand auf meiner Stirn. Mein väterliches Ansehen schien immer mehr ins Wanken zu geraten. „Das Telefon. " Ich renne aus der Tür und in mein Zimmer, wo es in Wirklichkeit gar nicht geläutet hatte. Verzweifelt wähle ich die Nummer meines Freundes Bruno, er ist Biochemiker oder so etwas ähnliches und müßte es eigentlich wissen. „Bruno", flüstere ich in die Muschel. „Woher wissen wir, daß sich die Erde um die Sonne dreht?" Sekundenlang war es am anderen Ende der Leitung still. Dann höre ich Brunos gleichfalls flüsternde Stimme. Er fragt mich, warum ich flüstere. Ich antworte ihm, daß ich heiser bin und wiederhole meine Frage nach der Erddrehung. „Ach, das haben wir doch in der Schule gelernt", stotterte der Biochemiker. „Wenn ich nicht irre, wird es durch die vier Jahreszeiten bestimmt... besonders durch den Sommer... " „Eine schöne Auskunft gibst du mir da", zische ich ins Telefon. „Auf Wiedersehen. "
Als nächstes versuche ich es bei meiner Freundin Dolly. Sie hatte einmal Jura studiert und könnte von damals noch etwas wissen. Dolly erinnert sich auch wirklich an das entsprechende Experiment aus dem Physikunterricht. Doch was das alles bedeuten sollte, konnte sie mir auch nicht erklären. Mühsam schleppe ich mich an meinen Schreibtisch zurück. „Papi!" Amir steht schon wieder da. „Also bitte, was dreht sich?" Ich bin müde, mein Kopf tut weh. Man sollte nicht gegen seine eigenen Kinder kämpfen. „Alles dreht sich", murmele ich. „Was geht es dich an?" „Du meinst, die Sonne dreht sich?"
„Darüber streiten sich die Gelehrten. Heutzutage ist alles möglich. Und nun gib Ruhe und zieh dir endlich die Socken hinauf. " Ermattet sinkt mein Kopf auf den Schreibtisch. Ich gebe auf. Vielleicht dreht sich die Sonne wirklich und die Lehrer haben es nur nicht gewußt?