Niccis Hand glitt vom Pfosten und fiel herab, als sie weitergingen. Böden, Wände und Decke des stillen, sich in der Ferne verlierenden Flurs bestanden ausschließlich aus polierten Platten weißen Marmors, durchzogen von zarten grauen und goldenen Adern, die dem gesamten Gang ein leicht ungeordnetes Aussehen verliehen.
Die in gleichmäßigen Abständen entlang den Wänden angebrachten Fackeln in Eisenhalterungen tauchten den noblen Flur in ein flackerndes Licht. Ein aufdringlicher Geruch von Pech hing in der stehenden Luft, sowie ein kaum merklicher Anflug beißenden Rauchs. An verschiedenen Stellen des Flures gingen andere Gänge ab, die zu den Grabstätten führten.
»Wir leben in gefährlichen Zeiten«, meinte Ann. Ihre Schritte hall ten auf dem Steinboden wider. »Wir nähern uns der gefährlichsten mir bekannten Stelle in den Prophezeiungen, einer Stelle, die unseren möglichen Untergang bedeuten könnte.«
Nicci sah die alte Prälatin an. »Deswegen muss ich Zedd helfen, Richard zu finden, während Sechs gleichzeitig unbedingt daran gehindert werden muss, alle drei Kästchen der Ordnung zusammenzubringen. Sie hat mir ihre Gefährlichkeit bereits bewiesen, gelingt es uns aber, sie zu finden, könnte Zedd uns helfen, mit ihr fertigzuwerden.
Noch wichtiger könnte es sein, dass ich an Schwester Ulicia und Armina herankomme, die die beiden anderen Kästchen haben. Haben sie erst alle drei zusammen, werden sie Richard mit dem Öffnen eines der Kästchen wohl kaum bis zum ersten Tag des nächsten Winters Zeit lassen, sondern sie sofort zu öffnen versuchen. Ich werde das unangenehme Gefühl nicht los, dass uns die Zeit davonläuft.«
»Der Meinung bin ich auch«, sagte Ann, als sie eine der zischenden Fackeln passierten. »Deswegen ist es ja so wichtig, dass Ihr für Richard da seid und ihn unterstützt.«
»Aber das will ich doch.«
Ann sah zu ihr hoch. »Ein Mann braucht eine Frau, um seine Entscheidungen mit ihr abzustimmen, erst recht, wenn diese den Lauf des Lebens verändern können.«
Nicci beobachtete, wie ihre Schatten sich um sie drehten, als sie eine weitere Fackel passierten. »Ich bin nicht sicher, ob ich weiß, wovon Ihr sprecht.«
»Nur eine Frau, die ihn liebt, die ihm zur Seite steht und sein uneingeschränktes Vertrauen genießt, ist in der Lage, günstig auf ihn einzuwirken.«
»Ich liebe ihn doch und werde ihm zur Seite stehen.«
»Ihr werdet mehr als das tun müssen, Nicci, wenn Ihr die Frau sein wollt, die ihn in der erforderlichen Weise beeinflussen kann.«
Nicci schielte aus dem Augenwinkel zu ihr hinüber. »Und welcher Einfluss genau wäre Eurer Meinung nach vonnöten?«
»Ein Kind bedarf ebenso der Strenge des Vaters wie der feinfühligen Erziehung der Mutter.« Sie hielt ihre beiden ersten Finger fest aneinandergepresst in die Höhe. »Das Männliche und das Weibliche zusammen formen uns, bestimmen uns und weisen uns den Weg. In diesem Fall verhält es sich nicht anders. Ein Mann benötigt das weib liehe Element in seinem Leben, um ein wahrer Herrscher zu sein, der die Geschicke der Menschheit lenkt.
Ein mächtiger, aber frauenloser General ist durchaus in der Lage, Schlachten zu schlagen und Kriege zu gewinnen. Jagang ist imstande, jeden zu vernichten, der sich ihm in den Weg stellt, zu mehr aber auch nicht - jedenfalls zu nichts, was die Mühe lohnte.
In unserem Fall verhält es sich anders. Es gehört mehr dazu, nicht nur einen Krieg zu gewinnen, wie wir ihn derzeit gewärtigen, sondern auch die Zukunft, die wir uns danach erhoffen. Richard braucht nicht einfach nur jemanden, der ihn liebt, sondern jemanden, den er lieben kann. Ein Leben mit dem Schwert allein reicht nicht, was er braucht, ist gefühlsmäßige Anteilnahme. Er muss Liebe nicht nur empfangen, sondern auch geben können.«
Nicci mochte diese Diskussion nicht noch einmal führen. »Diese Frau bin ich nicht.«
»Aber Ihr könntet es sein«, hakte Ann mit sanfter Beharrlichkeit nach.
»Ich bin sicher, dass Kahlan seiner Liebe würdig ist; auf mich trifft das nicht zu. Ich habe Schreckliches getan, Dinge, die ich nie wieder gutmachen kann. Ich habe einen sehr finsteren Pfad beschritten und kann jetzt nichts weiter tun, als die üblen Ideen zu unterbinden, für die ich einst gekämpft habe. Gelingt mir das, kann ich die Erlösung meines Herzens erlangen. Aber Richards Liebe könnte ich mir nie verdienen. Sie steht allein Kahlan zu, nicht mir.«
»Nicci, Kahlan ist für uns keine Möglichkeit. Es ist sinnlos, es als eine Entscheidung zwischen Euch und der Bereitschaft Kahlans, für ihn da zu sein, darzustellen. Diese Rolle kann sie nicht mehr erfüllen. Der Feuerkettenbann hat sich ihrer bemächtigt. Diese Rolle könnt jetzt nur noch Ihr ausfüllen. Ihr müsst Richard ehelichen und ihm diese Frau sein.«
»Ihn heiraten!« Nicci entfuhr ein kurzes, bitteres Lachen. Sie schüttelte den Kopf. »Aber er liebt mich nicht. Er hätte gar keinen Grund, mich zu heiraten.«
»Habt Ihr im Palast der Propheten denn gar nichts gelernt?« Ann schnalzte ungeduldig mit der Zunge. »Wie habt Ihr es nur bis zur Schwester gebracht?«
Nicci warf die Hände in die Höhe. »Wovon redet Ihr denn nun?«
»Männer haben Bedürfnisse.« Ann drohte ihr mit erhobenem Finger.
»Bedient sie mit all Eurem Geschick als Frau - der schönen Frau, zu der der Schöpfer Euch gemacht hat -, und er wird nach mehr verlangen. Er wird Euch heiraten, um es zu bekommen.«
Nicci hätte sie am liebsten geohrfeigt. Stattdessen sagte sie: »Richard ist nicht so. Er weiß, dass nur die Liebe der Leidenschaft zwischen Mann und Frau Bedeutung verleiht.«
»Die wird er am Ende auch bekommen. Ihr würdet dieser bedeutungsvollen Leidenschaft nur ein wenig auf die Sprünge helfen. Das Herz eines Mannes folgt seinen Bedürfnissen. Oder seid Ihr so altmodisch zu glauben, alle Paare heirateten aus Liebe? Die Weisheit der Älteren erwirkt oftmals eine bessere Partie. Und da Kahlan nicht zur Verfügung steht, ist dies der gebotene Weg.
Es ist Eure Aufgabe, ihn in Euer Bett zu bekommen und ihm zu zeigen, dass Ihr ihm geben könnt, was er braucht. Nehmt Ihr Euch seiner Leidenschaft an, wird sein Herz Euch gehören - und am Ende wird er diese bedeutungsvolle Leidenschaft erfahren.«
Nicci fühlte, wie ihr Gesicht tiefrot anlief. Sie konnte kaum fassen, dass sie diese Unterhaltung führten. Sie musste unbedingt das Thema wechseln, aber offenbar hatte es ihr die Sprache verschlagen. Natürlich besaß sie Richards Vertrauen und Freundschaft, aber Anns Vorschlag zu befolgen, hieße diese zu verletzen und das Vertrauen zu zerstören. Ihre Freundschaft gab Richard Sicherheit, und ihre beschützende Aufrichtigkeit qualifizierte sie in gewisser Weise für seine Liebe. Griffe sie dagegen Anns Anregung auf, würde dies sein Vertrauen in ihre Freundschaft erschüttern und ihr die Berechtigung absprechen, ihr jemals würdig gewesen zu sein.
»Ihr dürft diese Gelegenheit nicht an Euch vorübergehen lassen, meine Liebe. Oder an uns.«
Nicci fasste sie beim Arm, so dass sie stehen bleiben musste. »An uns vorübergehen lassen?«
Ann nickte. »Ihr seid unsere Verbindung zu Richard.«
Niccis Blick verengte sich. »Was denn für eine Verbindung?«
Anns Züge spannten sich, und sie wurde mehr und mehr zu der Prälatin, die Nicci in Erinnerung hatte. »Die Verbindung, welche diejenigen unter uns, die junge Zauberer ausbilden, mit solchen Männern haben müssen.«
»Richard ist unser Anführer - nicht aufgrund seiner Geburt, sondern aufgrund seiner Talente und der Willenskraft, dies bis zum Ende durchzustehen. Es mag nicht von Anfang an sein Ziel gewesen sein, Lord Rahl zu werden, aber mit der Zeit ist er in die Rolle hineingewachsen. Er hat sich entschieden, dass ihm das Leben wichtig genug ist, um für ein selbstbestimmtes Dasein zu kämpfen, und dadurch hat er andere begeistert, die ebenso empfinden. Nur deswegen haben wir es überhaupt so weit gebracht.
Er ist kein halbwüchsiger Knabe im Palast der Propheten mit einem Rada’Han um den Hals, er ist sein eigener Herr.«
»Ist er das? Tretet einen Schritt zurück, meine Liebe, und versucht den größeren Zusammenhang zu erkennen. Richtig, Richard ist unser Anführer - und das meine ich vollkommen ernst -, aber gleichzeitig ist er jemand, der die Gabe besitzt, ohne etwas über sie zu wissen. Mehr noch, er ist ein Zauberer, der über beide Seiten der Gabe verfügt. Der Mann ist eine wandelnde Naturgewalt. Worin besteht die Aufgabe einer Schwester des Lichts, wenn nicht darin, solche Männer in der Beherrschung ihrer Talente zu unterweis-«
»Ich bin keine Schwester des Lichts.«
Ann machte eine wegwerfende Handbewegung. »Worte. Spielereien. Es abzustreiten, ändert nichts daran.« »Ich bin kei-«
»Doch, das seid Ihr.« Ann stieß ihr einen Finger gegen die Brust. »Dort drinnen seid Ihr es. Ihr seid ein Mensch, der, durch welche Fügung auch immer, das Leben mit offenen Armen angenommen hat. Das ist die Berufung des Schöpfers. Nennt Euch wie Ihr wollt, Schwester des Lichts oder einfach Nicci, es spielt keine Rolle und ändert nichts. Ihr kämpft für unsere Sache - den Kampf des Schöpfers um das Leben an sich. Und Ihr seid eine Schwester, eine Hexenmeisterin, die einen Mann in den Dingen, die er tun muss, unterweisen kann.«
»Ich bin niemandes Hure, weder Eure noch die eines anderen.«
Ann verdrehte die Augen. »Habe ich Euch etwa gebeten, mit einem Mann ins Bett zu gehen, den Ihr nicht liebt? Nein. Habe ich Euch gebeten, ihn durch Täuschung um etwas zu bringen? Nein. Ich habe Euch lediglich gebeten, einen Mann aufzusuchen, den Ihr liebt, ihm Liebe zu schenken und ihm die Frau zu sein, die er so dringend braucht, die Frau, die seine Liebe empfangen kann. Denn das braucht er, eine Frau, die ihn mit seinem Bedürfnis nach Liebe verbindet. Das ist letztlich die Verbindung zu seiner Menschlichkeit.«
Nicci wurde langsam wütend. »Eine Aufseherin aus dem Palast der Propheten, das ist es, was ich in Wirklichkeit für Euch sein soll.«
Ann murmelte ein Gebet um Stärke Richtung Decke. »Meine Liebe«, sagte sie, als sie den Blick endlich wieder senkte und auf Nicci heftete, »ich bitte Euch lediglich, nicht länger Euer Leben zu vergeuden. Offenbar ist Euch nicht wirklich klar, was Ihr überseht. Ihr denkt womöglich, hier ginge es um Liebe, dabei wisst Ihr im Grunde gar nicht, was das ist, hab ich recht? Ihr kennt nur ihren Beginn: das Verlangen. Die Umstände mögen vielleicht nicht so sein, wie man sie sich in einer vollkommenen Welt wünschen würde, gleichwohl ist dies die Chance, die Euch der Schöpfer gegeben hat, Eure Chance, die größte Freude zu erleben, die uns in diesem Leben vergönnt sein wird -Liebe. Bedingungslose Liebe. Derzeit ist Eure Liebe noch einseitig, unvollständig, unzulänglich, sie besteht nur aus süßem Verlangen und vorgestellter Wonne. Was sie wirklich bedeutet, könnt Ihr erst ermessen, wenn die Gefühle in Eurem Herzen erwidert und befreit werden. Erst dann ist es wahre, bedingungslose Liebe. Erst dann kann sich das Herz wirklich befreien. Noch ist Euch das Glücksgefühl dieser menschlichsten aller Empfindungen fremd.«
Nicci war von lüsternen Rohlingen geküsst worden, und das war alles andere als ein Glücksgefühl gewesen. Ann hatte recht: Sie konnte wirklich nicht verstehen, was es hieß, von einem Mann geküsst zu werden, der sie liebte, der ihre Liebe erwiderte und sie von Herzen schätzte. Eine solche Wonne war für sie bestenfalls in der Phantasie vorstellbar. Welch ein Jammer für all jene, die den Unterschied nicht kannten.
Ann öffnete die Hand in einer bittenden Geste. »Wenn Ihr aus dem Glücksgefühl bedingungsloser Liebe heraus dazu beitragen könnt, dem Mann, den Ihr liebt, dabei zu helfen, Entscheidungen zu fällen, die einfach nur richtig sind, was ist daran verkehrt?«
Sie ließ die Hand sinken. »Ich verlange von Euch doch nicht, ihn zu etwas Unrechtem zu verleiten. Ihr sollt tun, was richtig ist, was er selbst auch wollen würde. Ich bitte Euch lediglich, ihm jenes Leid zu ersparen, das ihn verleiten könnte, einen Fehler zu begehen, der uns alle mit ihm ins Verderben reißen würde.«
Wieder fühlte Nicci, wie sich die Härchen in ihrem Nacken sträubten.
»Was wollt Ihr damit sagen?«
»Als Ihr noch, bekannt unter dem Namen Herrin des Todes, bei der Imperialen Ordnung wart, wie habt Ihr Euch da gefühlt?«
»Wie ich mich gefühlt habe?« Nicci durchforstete ihren Verstand nach einer Antwort auf die unerwartete Frage. »Ich weiß nicht, keine Ahnung, was Ihr meint. Ich schätze, ich konnte mich selbst nicht ausstehen und hasste das Leben.«
»Und war es in Eurem Selbsthass von Bedeutung, ob Jagang Euch tötete?«
»Eigentlich nicht.«
»Würdet Ihr heute ebenso handeln? Aus fehlendem Interesse an Eurer eigenen Person, an Eurer Zukunft?«
»Natürlich nicht. Damals war es mir egal, was mir zustieß. Welche Zukunft erwartete mich denn? Ich glaubte, es nicht verdient zu haben, glücklich zu sein, und rechnete auch nicht damit, diesen Zustand jemals zu erlangen, also war mir nichts wirklich wichtig, nicht einmal mein eigenes Leben. Ich fand, dass nichts wirklich zählte.«
»Ihr fandet, dass nichts wirklich zählte«, wiederholte Ann und schnalzte besorgt mit der Zunge, ehe sie in ihrer zur Schau gestellten Bestürzung über Niccis Worte fortfuhr: »Ihr wart der Meinung, niemals Glück erfahren zu können, und deshalb dachtet Ihr, alles sei egal.« Sie hob einen Finger, um etwas klarzustellen. »Ihr habt damals nicht dieselben Entscheidungen getroffen, die Ihr heute treffen würdet, weil Ihr Euch selber damals gleichgültig wart. Ist das richtig?«
Nicci hatte das untrügliche Gefühl, sich den unsichtbaren Rändern einer Fallgrube zu nähern.
»Wie wird sich ein Mann wie Richard Eurer Meinung nach wohl fühlen, wenn ihm schließlich klar wird, dass Kahlan für ihn verloren ist - wenn ihm dieser Verlust in seiner Endgültigkeit bewusst wird? Wird er das Leben noch lebenswert finden? Wird er sich uns, Eurer Meinung nach, ebenso verbunden fühlen, wenn er verloren ist, alleingelassen, verzweifelt und ohne jede Hoffnung? Wenn er überzeugt ist, nie wieder glücklich sein zu können? Glaubt Ihr, dann interessiert es ihn noch, was aus ihm wird? Ihr kennt das Gefühl, meine Liebe. Erklärt es mir.«
Eine Gänsehaut kroch kribbelnd Niccis Arme hoch. Die Antwort auf die Frage machte ihr eine Heidenangst.
Ann drohte mit dem Finger. »Wenn er niemanden hat, niemanden liebt, glaubt Ihr, dann interessiert es ihn noch, ob er weiterlebt oder stirbt?«
Nicci schluckte und zwang sich, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.
»Möglicherweise wäre denkbar, dass dem nicht so ist.«
»Und wenn er keine Hoffnung für sich sieht, wird er dann für uns die richtigen Entscheidungen treffen? Oder wird er vielmehr einfach aufgeben?«
»Ich glaube nicht, dass Richard jemals aufgeben wird.«
»Ihr glaubt es nicht.« Ann beugte sich näher. »Legt Ihr es etwa darauf an, es auszuprobieren? Und dabei unser aller Leben, unsere Welt, das Dasein als solches aufs Spiel zu setzen?«
Anns eindringlicher Gesichtsausdruck schien Nicci an Ort und Stelle festgefroren zu haben. »Meine Liebe, verlieren wir Richard, sind wir alle verloren.«
Sie fuhr fort, und Nicci hatte das Gefühl, als schließe sich die Falle schließlich. »Ihr kennt seine zentrale Bedeutung - deswegen habt Ihr die Kästchen der Ordnung in seinem Namen ins Spiel gebracht. Ihr wisst, dass ohne ihn die Schwestern der Finsternis den Hüter aus der Unterwelt befreien werden. Ohne Richard würde dies das Ende allen Lebens bedeuten. Sie würden der Welt des Lebens ein Ende bereiten und uns alle mit in die Große Leere reißen.
Ohne Richard sind wir alle verloren«, wiederholte sie noch einmal, und es war, als schlage sie den letzten Nagel eines Sarges ein. Nicci schluckte den Kloß in ihrer Kehle hinunter. »Richard würde uns niemals im Stich lassen.«
»Vielleicht nicht absichtlich. Aber wenn er auf sich allein gestellt in diese Schlacht zieht, ohne Liebe und Hoffnung, könnte er Entscheidungen treffen, die er niemals fällen würde, wenn er die Sorge einer geliebten Frau in seinem Herzen spürte. Diese Liebe könnte der entscheidende Faden sein, der alles zusammenhält, sogar ihn selbst. Diese Liebe ist vielleicht das Einzige, was einen Mann davon abhält aufzugeben, wenn er keine Kraft zum Weitermachen hat.«
»Das mag ja alles stimmen, aber es gibt Euch noch immer nicht das Recht, ihm in Liebesdingen die Entscheidung abzunehmen.« »Nicci, ich glaub-«
»Wofür kämpfen wir, wenn nicht für die Unverletzlichkeit des Lebens?«
»Dafür kämpfe ich doch.«
»Wirklich? Euer ganzes Leben habt Ihr damit verbracht, andere Euren – nicht etwa ihren eigenen - Wünschen gemäß zu formen. Jeder, der unter Eurem Einfluss stand, hatte sich Eurer Vorstellung davon zu beugen, wie er sein Leben zu gestalten und nach welchen Glaubensüberzeugungen er sich dabei zu richten hatte. Die einzige mir bekannte Ausnahme war Verna, und die habt Ihr für zwanzig Jahre fortgeschickt. Über Hunderte von Jahren wart Ihr damit befasst, Richards Leben zu verplanen, dabei war er noch nicht einmal geboren. Ihr, Annalina Aldurren, habt, entsprechend Eurer eigenen Deutung dessen, was Ihr in die Prophezeiungen hineingelesen habt, entschieden, wie Richard sein Dasein in der Welt des Lebens zu fristen hätte. Und nun macht Ihr nicht einmal vor seinen Gefühlen Halt. Wahrscheinlich habt Ihr schon seinen Platz in der Welt der Seelen eingeplant.
Nathan habt Ihr fast sein ganzes Leben lang wie einen Gefangenen gehalten, obwohl er Euch jahrhundertelang unterstützt hat. Und obwohl Ihr ihn nun endlich liebt, habt Ihr ihn zu einem Leben in Gefangenschaft verurteilt - für ein Verbrechen, das er, so Eure Befürchtung, womöglich begehen könnte.
Wofür kämpfen wir, Ann, wenn nicht für die Fähigkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen? Ihr könnt nicht einfach über andere entscheiden, Euch gewissermaßen zu einer wohlmeinenden Version von Jagang aufschwingen, zur Kehrseite ein und derselben Medaille.«
Ann blinzelte sie in aufrichtigem Erstaunen an. »Glaubt Ihr wirklich, das tue ich?«
»Etwa nicht? Ihr verfügt über Richards Leben - wie schon vor seiner Geburt. Aber es ist sein Leben. Er liebt Kahlan. Was nützt ihm sein Leben, wenn er nicht die Hoheit über seine Gefühle hat und er stattdessen Euch zu Willen sein muss? Wer seid Ihr, zu entscheiden, dass er aufgeben muss, wonach es ihn am meisten verlangt, und er stattdessen mich lieben soll?
Wie könnte ich ihm die Frau sein, die er wirklich liebt, wenn ich ihn Euren Wünschen gemäß manipulieren würde? Dadurch würde ich unwillkürlich alle Gefühle zunichtemachen, die ich in ihm geweckt habe, und sie in eine Lüge verwandeln.«
Ann schien verzweifelt. »Aber ich will doch gar nicht, dass Ihr ihn gegen seinen Willen liebt. Ich möchte nur das Beste - auch für Euch.«
»Alles würde ich dafür geben, könnte ich Euer Drängen als Vorwand dafür nehmen, nur würde ich dann jegliche Selbstachtung verlieren. Richard liebt Kahlan. Es steht mir nicht zu, diese Liebe durch irgendetwas zu ersetzen. Und weil ich ihn liebe, könnte ich seine Liebe nie verraten.«
»Aber ich glaub-«
»Papperlapapp. Wärt Ihr glücklich, wenn Ihr Nathans Liebe durch Berechnung gewonnen hättet? Würdet Ihr Euch damit zufriedengeben? Würde Euch das glücklich machen?«
Anns Blick schweifte fort, Tränen traten ihr in die Augen. »Nein, wohl nicht.«
»Wie könnt Ihr dann glauben, ich würde mich damit zufriedengeben, Richard auf Kosten meiner Selbstachtung zu verführen? Liebe, wahre Liebe, verdient man sich durch das, was man ist. Sie ist keine Belohnung für Leistungen im Bett.«
Anns Blick wanderte suchend umher. »Aber ich wollte doch nur ...«
»Als ich Richard in die Alte Welt entführte, ihn zu meinem Gefangenen machte, wollte ich ihn zwingen, sich zu den Glaubensüberzeugungen der Imperialen Ordnung zu bekennen. Aber ich wollte auch, dass er mich liebt, weshalb ich etwas tat, was dem sehr ähnlich war, das Ihr soeben versucht habt. Richard lehnte ab.
Dies ist einer der Gründe, weshalb ich ihn so respektiere. Er hatte nichts mit den Männern von früher gemein, die mich einfach in ihr Bett kriegen wollten. Ich glaubte, ihn mit den gleichen Mitteln gewinnen zu können, doch er bewies, dass er sich von seinem Verstand leiten ließ, nicht wie diese Tiere, die sich von ihren Gelüsten leiten ließen. Er ist ein Mann, der sich von Vernunft leiten lässt, und deswegen ist er unser Anführer, und nicht etwa, wie Ihr zu glauben scheint, weil Ihr die richtigen Fäden gezogen habt.
Hätte er mir nachgegeben, hätte ich ihn niemals so achten können, wie ich es nun tue. Wie könnte ich ihn jemals wirklich lieben, hätte er eine solche Charakterschwäche gezeigt? Selbst wenn ich Eurem Plan zustimmte, würde Richard sich niemals darauf einlassen, würde er sich niemals ändern. Er würde lediglich seinen Respekt vor mir verlieren, und am Ende würde der Plan scheitern und zwar deswegen, weil Ihr ihm nicht den gleichen Respekt entgegenbringt.
Aber würdet Ihr überhaupt wollen, dass Euer Plan gelingt, dass ein Mann, der sich von Leidenschaft statt von Vernunft leiten lässt, unser Führer ist? Wollt Ihr eine von Euren Wünschen abhängige Marionette?«
»Nein, vermutlich nicht.«
»Ich ebenso wenig.«
Lächelnd fasste Ann Nicci beim Arm und bewog sie dazu, weiterzugehen.
»Ich gebe es nur äußerst ungern zu, aber ich verstehe, was Ihr meint. Ich glaube, die Leidenschaft, mit der ich das Werk des Schöpfers tue, hat mich zu der irrigen Annahme verleitet, dass ich allein darüber befinden soll, wie dies zu erreichen wäre und wie andere leben sollen.«
Schweigend gingen sie eine Weile weiter, begleitet vom flackernden Schein und dem leisen Zischen der Fackeln.
»Tut mir leid, Nicci. Trotz meiner Wenigkeit habt Ihr Euch zu einer Frau von wahrer Charakterstärke entwickelt.«
Niccis Blick war starr in die Ferne gerichtet. »Ein Pfad, dem offenbar Einsamkeit bestimmt ist.«
»Richard wäre klug, Euch um Eurer selbst willen zu lieben, genau so, wie Ihr seid.«
Nicci schluckte, unfähig ein Wort über die Lippen zu bringen.
»Ich schätze, in der ganzen Hektik habe ich völlig aus dem Blick verloren, dass mir Nathan genau die gleiche Lektion erteilt hat.«
»Vielleicht ist dies in Wirklichkeit gar nicht alles Eure Schuld«, räumte Nicci ein. »Vielleicht hat es mehr mit dem Feuerkettenbann zu tun, mit dem Wissen, wie viel uns verloren gegangen ist.«
Ann seufzte. »Ich kann schlecht alle Handlungen meines langen Lebens auf einen Bann zurückführen, der erst vor Kurzem in Kraft getreten ist.«
Nicci musterte die einstige Prälatin von der Seite. »Von welcher Lektion Nathans sprecht Ihr?«
»Eines schönen Tages überzeugte er mich von ebenjenen Dingen, auf die Ihr soeben wieder meine Aufmerksamkeit gelenkt habt, sogar mit genau den gleichen Argumenten. Ich habe ihn ebenso falsch eingeschätzt wie Euch, Nicci. Dafür möchte ich mich entschuldigen, dafür, aber auch für so vieles mehr, das ich Euch genommen habe.«
Nicci schüttelte den Kopf. »Nein, entschuldigt Euch nicht für mein Leben. Ich habe meine Entscheidungen selbst getroffen. Jeder von uns muss sich in dem einen oder anderen Maße den Prüfungen des Lebens stellen. Es gibt immer Menschen, die uns zu beeinflussen oder zu beherrschen versuchen, diese Dinge dürfen nicht als Ausrede für unsere falschen Entscheidungen herhalten müssen. Letztendlich ist jeder für sein Leben selbst verantwortlich.«
Ann nickte. »Die Fehler, von denen wir sprachen.« Sachte legte sie eine Hand auf Niccis Rücken. »Ihr habt Eure wiedergutgemacht, meine Liebe, habt Verantwortung für Euch übernommen. Das habt Ihr gut gemacht.«
»Ich habe zwar meine schweren Irrtümer erkannt und meine Fehler zu korrigieren versucht, aber ich denke, als Wiedergutmachung zählt das alles nicht. Eins verspreche ich Euch, Ann, sollte Richard jemals etwas brauchen, wird er es von mir bekommen. Eine wahre Freundin würde sich so verhalten.«
Ann lächelte. »Ich sehe, Ihr seid wahrlich seine Freundin, Schwester.«
»Nicci.«
Ann lachte. »Also gut, Nicci.«
Schweigend passierten sie ein Dutzend Fackeln. Nicci war erleichtert, dass Ann endlich verstanden hatte, und hoffte, dass ihr Verständnis echt und nicht bloß eine weitere Taktik war, mit der sie Einfluss auf die Geschehnisse zu nehmen versuchte. Vielleicht hatte Nathan sie wirklich verändert.
Ihr selbst erschien es echt, gleichzeitig hatte sie das Gefühl, dass sie schon ihr ganzes Leben auf diese Aussprache mit Ann gewartet hatte.
»Da fällt mir ein«, bemerkte Ann, »ich habe unten in den Verliesen etwas vergessen.«
Nicci bedachte ihre gedrungene Begleiterin mit einem Seitenblick. »Und das wäre?« »Ich wollte ...«
»Sieh an, sieh an«, rief eine Stimme.
Nicci erstarrte auf der Stelle und sah gerade rechtzeitig auf, um drei Frauen aus dem Flur links vor ihnen treten zu sehen. Ann starrte verwirrt. »Schwester Armina?«
Schwester Armina hatte ein überhebliches Feixen aufgesetzt. »Wenn das nicht die verstorbene Prälatin ist - offenbar wieder zum Leben erwacht, wie es scheint.« Sie hob eine Braue. »Ein Problem, dem wir, denke ich, abhelfen können.«
Ann zog Nicci mit ihrem Gewicht hinter sich. »Lauft, meine Liebe. Jetzt ist es an Euch, ihn zu beschützen.«
Nicci hatte nicht den geringsten Zweifel, wen sie damit meinte.