Im flackernden Schein der Kerzen zeichnete Richard, in tiefe Konzentration versunken, mit dem Finger das nächste Element in den Zauberersand. Nachdem er sich die Worte erst stumm selbst vorgesprochen hatte, blickte er schließlich hoch zu den dunklen Fenstern und sprach die Beschwörungsformel laut auf Hoch-D’Haran. Durch die bleiverglasten Fenster erblickte er in seinem Zustand entrückten Bewusstseins das Mondlicht. Erst am Vortag hatte ihm Jagang für die Kapitulation des Palasts eine Frist bis zum Neumond gewährt. Von nun an würde der Mond von Tag zu Tag weiter abnehmen, bis schließlich völlige Dunkelheit sie umgeben würde. Er hatte sich die unmissverständlich geäußerte Meinung von Verna, General Meiffert und Cara zu Herzen genommen, auf keinen Fall zu kapitulieren. Nach Vernas Ansicht würde dies kriminellen Glaubensüberzeugungen eine moralische Rechtfertigung verleihen, ein Übel, das es eigentlich mit Stumpf und Stiel auszurotten galt. General Meiffert hingegen hielt es für nichts weiter als einen Trick. Er war überzeugt, sie würden sich lächerlich machen, wenn sie glaubten, Jagang hielte Wort. Cara fand, dass sie, so oder so, ohnehin sterben würden, und daher ruhig bis zum Ende kämpfen und dabei so viele Feinde wie möglich mit in den Tod nehmen sollten. Nathan und Nicci waren unschlüssig, wie sie sich entscheiden sollten, und hatten lediglich den Argumenten gelauscht. Er selbst hatte betont, dass ihre Vorschläge sich ausschließlich auf die Art ihres Todes bezogen, nicht aber darauf, welche Möglichkeiten des Überlebens sie hätten - sie dachten über das Problem nach statt über dessen Lösung.
Seiner Meinung nach gab es nur eine realistische Möglichkeit, an die Kästchen der Ordnung heranzukommen, aber davon hatten die anderen nichts wissen wollen.
Und nun zerrann ihm die Zeit zwischen den Fingern. Eine Fristverlängerung, das wusste er, würde man ihm nicht gewähren. Er spürte die erdrückende Last der Verantwortung, die er ganz allein zu schultern hatte, weshalb er entschieden hatte, dass er nicht länger warten konnte. Bereit oder nicht, er musste das Werk beginnen.
Wie schon beim Zeichnen der Bannformeln empfand er beim Sprechen der entsprechenden Zauberformeln rein gar nichts. Seine Gefühle waren ausschließlich beherrscht von seinen Gedanken an Kahlan, an die Menschen, denen er liebevoll zugetan war, und an die Möglichkeiten, die ihm jetzt noch offenstanden.
Immer wieder musste er sich ermahnen, keine Zeit mit Gedanken an das zu vergeuden, was er möglicherweise zu verlieren im Begriff war, sondern sich stattdessen ganz auf ihre Überlebenschancen zu konzentrieren. Auch wenn er keinen Zugriff auf die Kästchen der Ordnung oder eine korrekte Abschrift oder gar das Original des Buches der gezählten Schatten hatte, so wusste er doch aus den Texten, die Nicci studiert hatte, dass dieses Ritual unverzichtbar war, um dem Feuerkettenbann mithilfe der Macht der Ordnung entgegenzuwirken. Sollte er jemals Gelegenheit erhalten, sich der Kästchen zu bedienen, würde er vorbereitet sein müssen. In diesem Punkt blieb ihm keine Wahl.
Je eher er also den Versuch unternahm, desto schneller würden sie wissen, ob es funktionierte. Entweder er überlebte, oder er ginge dabei drauf, und in diesem Fall wäre es besser, wenn Nicci, Nathan und Verna so viel Zeit wie möglich bliebe, eine andere Möglichkeit zu finden, um dem Unausweichlichen doch noch zu entgehen.
Der Kaiser besaß eine Vielzahl von Möglichkeiten, Richard nicht. Da er die Kästchen von Schwester Ulicia öffnen lassen würde, würde er nicht in die Unterwelt hinabsteigen müssen. Als Schwester der Finsternis besaß sie bereits alle erforderlichen Verbindungen zur Unterwelt, damit die Macht der Ordnung in ihrem Sinne funktionierte - Richard müsste diese Verbindungen erst herstellen.
Laut Niccis Erklärungen funktionierten die Beschwörungsformeln nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung. Er war die geeignete Person mit den erforderlichen Kräften, er zeichnete die geeigneten Banne, sprach die erforderlichen Worte. Seine Gabe würde das Nötige hinzufügen, sobald er sie im Zauberersand entstehen ließe. Ursache und Wirkung - er brauchte also gar nichts zu fühlen.
Wie alle anderen verließ auch er sich darauf, dass sie sich nicht irrte. Und auch Nathan war mehr als interessiert daran, dass sie mit ihrer Einschätzung richtig lag, denn die große Leere und das Gefühl, dass sie ihr bereits sehr nahe waren, machte ihm eine Heidenangst. Warren hatte die Kästchen der Ordnung stets als eine Pforte bezeichnet. Damals, im Palast der Propheten, hatte er erklärt, die eigentliche Gefahr sei, dass die Pforte den Schleier zerrissen haben könnte, weshalb die Möglichkeit bestehe, dass der Hüter aus der Unterwelt in die Welt des Lebens gelänge. Wenn sie also eine in dieser Richtung durchlässige Pforte waren, mussten sie auch in der entgegengesetzten Richtung passierbar sein - in die Welt der Toten.
Nun konnte eine Reise in die Unterwelt jedoch bedeuten, dass Richard von seiner eigenen großen Leere verschluckt würde. Da sie es sich aber nicht einmal für kurze Zeit leisten konnten, die Menschen ohne einen Lord Rahl zurückzulassen, würde diese Rolle einmal mehr Nathan zufallen. Ginge etwas schief, hatte er dem Propheten erklärt, würde dieser nach eigenem Gutdünken entscheiden müssen, was notwendig sei. Nackt vor dem weißen Zauberersand kauernd, glättete Richard mit dem Unterarm den nächsten Abschnitt für die nun folgenden Motive. Dann begann er mit dem Zeichnen der verschlungenen, strahlenförmig von der Mittelachse der größeren Bannform ausgehenden Zauber. Jedes dieser Elemente verzweigte sich wiederum zu komplexen Symbolen, die er zuvor stundenlang auf Papier einstudiert hatte. Hatte Nicci ihm dabei noch über die Schulter geschaut, konnte sie ihm jetzt nicht mehr helfen. Dies musste er allein, ohne jede fremde Hilfe, bewerkstelligen. Er war als Spieler genannt worden, demnach musste dies sein ureigenes, ausschließlich von seiner Gabe berührtes Werk sein. Die Fackeln, deren Flammen bedächtig in der regungslosen Luft schwankten, beleuchteten den Sand, der funkelnd in allen Farben des Lichts reflektierte. Diese winzigen Tupfer bunten Lichts hatten eine fesselnde, geradezu betörende Wirkung.
In gewisser Weise hatte er sich längst in seiner eigenen Welt verloren. Als er schließlich mit dem Zeichnen der daran angrenzenden Bannformen begann, gab Richard sich ganz seinem Tun hin, konzentrierte er sich ausschließlich auf die Schaffung jedes einzelnen Bestandteils, damit dieser sich nicht nur abstrakt, sondern auch konkret in den größeren Zusammenhang der Bannform einfügte. Bereits beim Bemalen seiner Mitspieler hatte er die Entdeckung gemacht, dass das Zeichnen dieser Elemente viel mit dem Gebrauch seines Schwertes gemein hatte. Dem Vorgang war eine gewisse fließende, rhythmische Bewegung zu eigen. Da er nun Dinge aus der Unterwelt selbst herbeizauberte, waren in jedem Bann Elemente des Tanzes mit dem Tod enthalten. Die einzelnen Elemente mussten also nicht nur exakt zur rechten Zeit hinzugefügt werden, sondern auch mit absoluter Präzision.
In vielerlei Hinsicht war das Zeichnen der Banne das Gleiche wie der Tanz mit dem Tod.
So wie er mit dem Schwert um sein Überleben kämpfte und anderen den Tod brachte, führten ihn diese Banne an die Schwelle zwischen Leben und Tod. Beim Kampf mit dem Schwert konnte der geringste Fehler seinen Tod bedeuten, nicht anders verhielt es sich mit dem Zeichnen der Bannformen. Jeder Fehler hätte seinen sofortigen Tod bedeutet. Gleichzeitig war es eine überaus anregende Erfahrung. Stundenlang hatte er geübt, er war mit den Formen vertraut. Jetzt ging er ganz in den Bewegungen des Zeichnens auf, in den Strichen, Diagonalen und Punkten, während er sich mit den unablässig fließenden Bewegungen in die Nähe des Todes begab, jedoch stets knapp seiner Vernichtung entging. Er existierte auf der Schwelle des Lebens, am äußersten Rand des Seins, bewegte sich zwischen den Formen wie mitten unter seinen Feinden, als wäre ihm der Tod bereits ganz nah.
Es war eine ebenso allumfassende Erfahrung wie das Hantieren mit dem Schwert der Wahrheit.
Seit jenem Tag, als Zedd es ihm draußen vor seinem Haus über den Tisch hinweg gereicht hatte, war Richards Leben in Wahrheit nichts anderes als die Vorbereitung auf diesen einen Augenblick gewesen. Er spürte, wie ihm beim Arbeiten der Schweiß vom Gesicht troff. Während er Form um Form zeichnete, jedes Element vervollständigte, ohne sich, durch was auch immer, zum kleinsten Fehler verleiten zu lassen, kam ihm jedes Zeitgefühl abhanden. Er wurde zu einem Teil der Zeichnungen, befand sich, in einem ganz konkreten Sinn, in ihnen, so wie er sich während des Kampfes mit dem Schwert der Wahrheit im Zentrum des Kampfes befand. Vor Anstrengung zog sich seine Stirn in Falten. Jedes Element, jeden einzelnen Strich, jeden Schwung führte er mit der Präzision eines Schwerthiebes - oder, wie damals in der Alten Welt beim Bildhauern, eines Meißelschlages aus. Die gleiche Meisterschaft wie beim Kampf mit der Klinge führte seine Hand: Er vernichtete und schuf, alles in ein und demselben Augenblick.
Als er schließlich merkte, dass jedes Symbol gezeichnet, jede Bannform vervollständigt, jedes Element verbunden war, richtete er sich auf. Sein Blick schweifte über den Zauberersand, und zu guter Letzt wurde ihm das volle Ausmaß des ihm bevorstehenden Grauens klar.
Er sah sich im Garten des Lebens um, denn bevor er der Welt der Toten entgegentrat, wollte er noch einmal den Anblick von Schönheit in sich aufnehmen.
Schließlich schlug er die Beine übereinander und legte seine Hände mit den Handflächen nach oben auf seine Knie. Seine Augen schlossen sich. Sein Atem wurde tiefer. Dies war die letzte Gelegenheit, es noch abzubrechen. Schon im nächsten Moment würde es zu spät sein, den Lauf der Dinge noch zu ändern.
Richard hob den Kopf und schlug die Augen auf.
Dann sagte er leise auf Hoch-D’Haran: »Komm zu mir.«
Es entstand ein Augenblick vollkommener Stille, in dem er nur das leise Zischen der Fackeln rings um den Kreis aus Zauberersand hörte. Dann ließ ein klagendes Gebrüll die Luft erbeben. Der Boden zitterte. In der Mitte des funkelnden weißen Sandes, aus dem Zentrum der Bannformen, begann sich, weißem Rauch gleich, eine weiße Gestalt zu erheben. Während sie sich allmählich über dem Sand erhob, kreiste sie in taumelnden Wirbeln und Strudeln um sich selbst, so als zöge sie sich aus den Bannen selbst nach oben. Und während sie immer höher stieg, riss der Zauberersand unter ihr auf und erlaubte der Schwärze des Todes, eine Leere in der Welt des Lebens zu erzeugen.
Richard beobachtete, wie das weiße Etwas aus dieser Leere in die Höhe stieg, und die Umrisse einer in fließende weiße Gewänder gehüllten Gestalt entstanden. Die Gestalt breitete die Arme aus, wie sich eine Blume der Welt aus Licht und Leben öffnet, bis die hauchzarten Gewänder in fließendem Faltenwurf von ihren ausgebreiteten Armen hingen. Scheinbar schwerelos schwebte sie über der schwarzen Leere im weißen Sand.
Richard erhob sich vor ihr.
»Danke, dass Ihr gekommen seid, Denna.«
Ein wunderschönes, strahlendes, gleichwohl von Sehnsucht und Traurigkeit erfülltes Lächeln ging über ihr Gesicht. Während er die Seele betrachtete, streckte diese die Hand aus und berührte seine Wange. Noch nie hatte er eine Berührung von solcher Zartheit gespürt. Er wusste augenblicklich, bei ihr war er in Sicherheit ... sofern man in der Welt der Toten überhaupt sicher sein konnte. Voller Staunen beobachtete Nicci aus dem Schatten der Bäume, wo Richard sie zu warten gebeten hatte, wie er vor der ein sanftes Licht verströmenden Gestalt stand, die nicht von dieser Welt war. Sie war ein Geschöpf von bestechender Schönheit, eine Seele von stiller Reinheit und Würde.
Nicci spürte, wie ihr angesichts des Umstandes, dass sie tatsächlich eine der Gütigen Seelen vor sich stehen sah, die Tränen über die Wangen liefen. Zugleich erfüllte sie die Vorstellung, wohin diese Seele ihn gleich entführen würde, mit einer Mischung aus Freude und Entsetzen. Als ihm die schimmernde, weiß gewandete Gestalt beschützend einen Arm um die Schultern legte und ihn dadurch von der Welt des Lebens abschirmte, trat Nicci einen Schritt nach vorn in den Schein der Fackeln. Mit schweißnasser Stirn verfolgte sie, wie die hauchzarte Lichtgestalt mit ihrem Mündel rotierend in der Dunkelheit verschwand.
»Eine sichere Reise, mein Freund«, murmelte sie leise. »Eine sichere Reise.«
Und dann, ehe sich die Öffnung wieder vollständig schloss und der weiße Zauberersand seinen unversehrten Zustand wiederhergestellt hatte, bildete sich in der Luft darüber eine dunkle Gestalt, die in einen engen Trichter gesogen wurde und ihnen hinab in das Dunkel folgte. Die Bestie, von Richards Gebrauch der Gabe angelockt, war im Begriff, ihn in ihr Reich zu verfolgen.