Richard spähte unter der Segeltuchplane hervor, als der Wagen durch die Randbereiche des Ordenslagers rollte. Wann immer ein Windstoß den Wagen erfasste, musste er die Plane kräftig festhalten, damit sie nicht hochgeweht wurde. Über ihm ragte die gewaltige Monstrosität der Rampe in den Himmel. Aus dieser Nähe war deutlich zu erkennen, welch gewaltige Ausmaße sie mittlerweile angenommen hatte. Die Annahme, dass sie irgendwann tatsächlich bis zum Palast oben auf der Hochebene reichen würde, schien nicht gänzlich unbegründet.
Nachdem Adie sie mithilfe ihrer Gabe durch das Kampfgetümmel rund um das Ja’La-Spielfeld geschleust hatte, war der Rest des Weges durch das endlose Feldlager der Imperialen Ordnung vergleichsweise ereignislos verlaufen. Die regulären Truppen wollten mit einem kleinen, allem Anschein nach von einem hochrangigen kaiserlichen Gardisten sowie einer Schwester eskortierten Wagen, der nichts als Ärger bedeuten konnte, nichts zu schaffen haben, so dass die meisten ihnen keinerlei Beachtung schenkten.
Trotz seines ungeheuren Ausmaßes war der Aufstand im Wesentlichen auf die Zuschauer bei der Ja’La-Partie beschränkt gewesen. Und obschon anscheinend Hunderttausende in den Streit über den Aus gang der Partie verwickelt waren, der in ein gigantisches, schauderhaftes Blutbad ausgeartet war, blieb der Ärger auf nur einen Bruchteil des gesamten Lagers begrenzt. In weiten Teilen des restlichen Feldlagers hatten die Befehlshaber rasch Bewaffnete herbeigeordert, um jede weitere Ausbreitung zu unterbinden und die Tumulte einzugrenzen. Gleichwohl war eine gewisse Ausweitung nicht vollends zu verhindern gewesen, schließlich hatten sich die meisten dieser Soldaten nicht anwerben lassen, um frierend und mit knurrendem Magen ein mit Dreckschaufeln erfülltes Dasein zu fristen. Sie waren es zunehmend leid, mindere Arbeiten verrichten zu müssen, statt sich ganz dem Morden, Vergewaltigen und Plündern widmen zu können. Mit der Aussicht auf eine Eroberung auszuharren, war eine Sache, aber plötzlich schien die noch verbliebene Beute eher dürftig, während die Mühen, an sie heranzukommen, beträchtlich zugenommen hatten. Offenbar hatte die Selbstaufopferung für die Ziele des Ordens ihre Grenze, und die schien genau dort zu verlaufen, wo das Ganze in Arbeit auszuarten drohte. Das Vorgehen des militärischen Kommandostabs beim Vernichten von Nestern des Krawalls war nicht nur augenblicklich, sondern mit äußerster Brutalität erfolgt. So unzufrieden viele mit ihren Lebensumständen waren, als sie mit ansehen mussten, was denen widerfuhr, die einen Tumult angezettelt hatten, verließ sie jeglicher Mut, sich ihnen anzuschließen.
General Meiffert hatte sich mehrfach mit einem Bluff durch Gruppen von Kriegern mogeln und seinen großspurigen Auftritt einmal sogar durch das Töten eines Soldaten unterstreichen müssen, dem er mit einem schnellen Schnitt den Hals aufschlitzte. Ein anderes Mal hatte Adie im Stillen von ihren Kräften Gebrauch gemacht, damit sie eine mögliche Gefahr umgehen konnten. Die Soldaten im Glauben zu lassen, sie sei eine der Schwestern in Jagangs Gewalt, erstickte so manche Frage im Keim, ehe sie überhaupt ausgesprochen wurde. Mehrmals sah sie den Soldaten, die sie auf der Suche nach Beutegut anhielten und ausfragten, nur fest in die Augen, ohne ihnen irgendetwas zu erwidern. Der Anblick ihrer vollkommen weißen Augen nahm ihnen allen Mut, und sie verschwanden wieder in der Dunkelheit.
Weit hinter ihnen, in der Nähe des Ja’La-Feldes, waren bereits einige Krawallnester wieder unter Kontrolle, größtenteils jedoch stand diese Nacht ganz im Zeichen chaotischer Prügeleien zwischen betrunkenen Soldaten. Im Grunde waren die kaiserlichen Gardisten gar nicht daran interessiert, die Ordnung wiederherzustellen. Ihr einziges Interesse galt der Sicherung des Lebens ihres Kaisers.
Die Schmerzen, die Nicci am ganzen Körper zittern ließen, verrieten Richard, dass Jagang noch am Leben und imstande war, seinen Einfluss geltend zu machen. Nur musste das nicht gleichzeitig bedeuten, dass er auch bei Bewusstsein war. Was er hingegen nicht wusste, war, ob Jagang, wenn er sie nicht mehr zur Umkehr zwingen konnte, irgendwann beschließen könnte, sie über den Halsring umzubringen. In diesem Fall wäre Richard machtlos. Die einzige Lösung war, ihr den Halsring abzunehmen, und dafür mussten sie in den Palast zu Nathan ... Richard spähte unter der Plane hervor und sah, dass sich vor ihnen ein zerwühltes, von riesigen Gruben durchlöchertes Gelände erstreckte. Kolonnen von Männern, Tieren und Wagen kamen aus den Gruben hervor, in denen das Baumaterial ausgehoben wurde, und transportierten in einem niemals abreißenden Strom Erde und Felsbrocken zur Baustelle.
Sein Blick fiel erneut auf Nicci, die auf der niedrigen Ladefläche unmittelbar neben ihm lag. Sie hielt seine Hand mit festem Griff umklammert und zitterte am ganzen Körper. Es tat ihm in der Seele weh, dass sie solche Schmerzen litt, denn das Gefühl war ihm nur zu bekannt. Er hatte dieselbe Magie durch einen Halsring ertragen müssen, auch wenn die Quälerei in seinem Fall nicht ganz so lange gedauert hatte. Er hatte keine Ahnung, wie lange sie mit solchen Schmerzen überleben konnte.
Jillian lag auf ihrer anderen Seite und hielt ihre andere Hand. Dahinter lag Bruce, der von Zeit zu Zeit einen Blick unter der Plane hervor riskierte, das Schwert griffbereit, für den Fall, dass er ihnen helfen musste, sich den Weg freizukämpfen.
Richard war immer noch unschlüssig, wie weit er dem Mann über den Weg trauen konnte, auch wenn Bruce mehr als einmal dazwischengegangen war, um Richard unter großer Gefahr für sein eigenes Leben zu beschützen. Er wusste, dass sich nicht jeder hier im Lager, vor die freie Wahl gestellt, für den Orden entscheiden würde. Ganz sicher gab es einige, vielleicht auch nur ein paar, die mit dem Orden lieber nichts zu tun haben wollten. Im Grunde kannte er Bruce kaum, weshalb er auch nicht wusste, welche üblen Erfahrungen ihn bewogen hatten, sich auf seine Seite zu schlagen. Trotzdem war er froh darüber. Es gab ihm ein bescheidenes Gefühl der Hoffnung, dass nicht alle Welt den Verstand verloren hatte. Offenbar gab es noch immer Menschen, denen viel an ihrem Leben lag, und die sich die Freiheit wünschten, es nach eigenem Gutdünken zu gestalten. Und die sogar bereit waren, dafür zu kämpfen. Als der Wagen schwankend zum Stillstand kam, trat Adie ganz nah heran und legte beiläufig einen Ellbogen auf die niedrige Seitenwand neben Richard. Sie sah sich um. »Wir sind da.«
Richard nickte, beugte sich dann über Nicci. »Wir haben es geschafft. Wir sind in der Nähe der Rampe.«
Ihre Stirn war vor Schmerzen tief zerfurcht, und sie schien sich in einer entrückten Welt des Leidens zu befinden. Unter großen Mühen lockerte sie kurz den Druck auf seine Hand und drückte dann erneut zu, zum Zeichen, dass sie ihn verstanden hatte.
Trotz der Kälte war sie schweißgebadet. Die meiste Zeit hielt sie die Augen geschlossen, nur um sie gelegentlich weit aufzureißen, wenn ein grauenvoll schmerzhafter Stich sie nach Atem ringen ließ. Es machte Richard fast verrückt, dass er ihr nicht gleich hier helfen konnte, und sie, isoliert in ihrer nur aus Qualen bestehenden Welt, diese sich dahinschleppende Ewigkeit ausharren musste, die es zu dauern schien, sie zu Nathan zu schaffen.
»Könnt Ihr mir sagen, was wir tun müssen? Wir sind da, aber ich weiß noch immer nicht, warum. Warum wolltet Ihr, dass wir zur Rampe gehen?«
Behutsam strich er ihr das verklebte Haar aus der mit Schweißperlen bedeckten Stirn. Ein überwältigender stechender Schmerz ließ sie die Augen aufreißen.
»Bitte ...«, hauchte sie.
Richard beugte sich näher, um sie verstehen zu können. »Was ist denn?«
Er brachte sein Ohr ganz nah an ihren Mund. »Bitte ... mach ein Ende. Töte mich.«
Als eine weitere Schmerzattacke sie durchfuhr, schüttelte sie sich stöhnend. Völlig verwirrt fing sie an zu schluchzen. Ein Gefühl aufkommender Panik in der Kehle, zog er sie fest zu sich heran. »Wir sind fast da. Haltet durch. Sobald wir im Palast sind, wird Euch Nathan diesen Halsring bestimmt abnehmen können. Haltet einfach durch.«
»Kann nicht mehr«, wimmerte sie.
Richard legte ihr die Hand an die Wange. »Ich werde Euch zur Seite stehen, versprochen. Nur müssen wir erst in den Palast. Und dafür muss ich wissen, wie.«
»Die Katakomben«, stieß sie keuchend hervor, während sie den Rücken durchdrückte.
Die Katakomben?, rätselte er. Katakomben?
Erneut hob er die flatternde Plane ein Stück an und spähte hinaus. Die Rampe war ganz in der Nähe, und dahinter ragte die tiefdunkle Wand des Hochplateaus, von dem im Schein der Fackeln nur ein kleiner Teil des unteren Randes sichtbar war, empor in die Nacht.
Er betrachtete die Hochebene, und plötzlich ergab alles einen Sinn. Jillian beugte sich über Nicci hinweg. »Könnte sie Katakomben wie die in meiner Heimat meinen?« Sie sah Nicci an. »Wie in Caska?« Nicci nickte. Richard spähte erneut unter der Plane hervor und suchte nach einer irgendwie anders aussehenden Stelle, nach irgendeinem Anzeichen, wo sich der Eingang befinden könnte. In Gedanken ging er alles durch, was ihm von den Katakomben in Caska in Erinnerung geblieben war. In der Tiefe dieser unterirdischen Räume, deren Gänge sich über mehrere Meilen erstreckten, hatten sie das Feuerketten-Buch gefunden. Fast die ganze Nacht hatte er dort herumgestöbert, und doch war ihm klar, dass er nur einen Bruchteil gesehen hatte.
Das Finden des Eingangs hatte sich als überaus schwierig erwiesen, da die verborgene unterirdische Welt nur durch eine winzige Öffnung zu betreten war. Eine solche Öffnung hier, unter freiem Himmel, inmitten all dieser Soldaten, zu entdecken, schien nahezu aussichtslos. Er wandte sich herum. »Wie habt Ihr die Katakomben unterhalb des Palasts gefunden?«
Sie schüttelte den Kopf. »Sie haben uns gefunden.« »Sie haben Euch gefunden?« Er spähte erneut nach draußen, als ihm ein Licht aufging.
»Bei den Gütigen Seelen ...«
Plötzlich ergab alles einen Sinn. Jagangs Männer waren beim Ausheben der riesigen Gruben auf alte Katakomben gestoßen und hatten deren unterirdische Gänge dazu benutzt, in den Palast einzudringen.
»Sie sind bis in den Palast hinaufgestiegen und haben Euch dort entführt? Wolltet Ihr das sagen?« Nicci nickte.
Aber wenn dem so war, wieso wurden dann die Arbeiten an der Rampe fortgesetzt? Doch dann wurde ihm klar, dass, vorausgesetzt, diese Katakomben ähnelten weitgehend denen in Caska, mehr als nur diese paar unterirdischen Gänge nötig sein würden, um eine ganze Armee in den Palast hineinzuschleusen. Ebenso gut könnte man versuchen, eine Riesenmenge Sand durch ein Stundenglas zu zwingen.
Gut möglich, dass die Rampe auch ein Ablenkungsmanöver war, um die für dieses Unternehmen nötige Zeit zu gewinnen.
Ablenkungsmanöver oder nicht, womöglich hatte Jagang auf diesem Weg längst Spione in den Palast eingeschleust. Unmöglich zu sagen, wie viel Schaden ein solches Schlupfloch anzurichten vermochte. Zweifellos waren es die Schwestern gewesen, die sich hineingeschlichen hatten, denn nur sie hätten Nicci überhaupt gefangen nehmen können. Allerdings dürfte aufgrund der Schwächung ihrer Kräfte im Innern des Palasts dazu ganz sicher mehr als eine von ihnen nötig gewesen sein.
»Die Katakomben sind von den Arbeitstrupps entdeckt worden, die das Baumaterial für die Rampe heranschaufeln«, dachte er für Nicci laut nach. »Anschließend sind Schwestern in die Katakomben hinabgestiegen und haben einen Weg in den Palast gefunden. Auf diese Weise haben sie Euch gefangen genommen.«
Obwohl sie zitterte und Schmerzen litt, drückte Nicci zur Bestätigung seine Hand.
Richard beugte sich über sie. »Weiß dort oben jemand, dass Jagang über einen Zugang zum Palast verfügt?«
Sie warf den Kopf von einer Seite auf die andere. »Sie sammeln sich drinnen«, brachte sie hervor.
Richards Herz setzte einen Schlag aus. »Sie ziehen drinnen Truppen für einen Angriff auf den Palast zusammen?«
Wieder nickte sie.
»Dann sollten wir schleunigst dort hinuntersteigen und sie warnen«, meinte Bruce.
»Adie«, wandte sich Richard an die unmittelbar neben dem Wagen stehende alte Frau, »habt Ihr das alles mitbekommen?«
»Ja. Der General wird jeden Moment hier sein. Er hat es ebenfalls gehört.«
Richard spähte unter der Plane hervor. In der Ferne, ein Stück weit rechter Hand, erblickte er eine Grube, in deren Nähe keine Kolonnen aus Arbeitern und Wagen zu sehen waren. Er wies dorthin.
»Seht doch. Rings um die gesamte Grube dort sind in gleichmäßigen Abständen Soldaten postiert.«
»Wachen«, bestätigte General Meiffert.
»Dort unten muss die Stelle sein, wo sie die Katakomben gefunden haben. Zwischen dieser Grube und dem Hochplateau sind alle Arbeiten eingestellt worden.«
»Warum sollten sie so etwas tun?«, fragte der General.
»Die Katakomben sind zweifellos sehr alt. Niemand vermag zu sagen, in welchem Zustand sie sich befinden. Sie wollten nicht Gefahr laufen, einen der zum Palast führenden unterirdischen Gänge zum Einsturz zu bringen.«
»So muss es sein«, bemerkte Adie.
»Und wie sollen wir in die Grube hinuntergelangen?«, wollte General Meiffert wissen.
»Mit ein paar zusätzlichen Uniformen der kaiserlichen Garde müsste das eigentlich zu schaffen sein«, schlug Bruce vor.
»Schon möglich«, sagte Richard. »Aber was machen wir mit Nicci und Jillian?«
Darauf wusste Bruce keine Antwort.
»Zu Fuß können sie jedenfalls nicht dort hineinspazieren«, gab General Meiffert ihm recht, »und ein in die bewachte Grube hinunterfahrender Wagen würde zweifellos Verdacht erregen.«
»Vielleicht«, murmelte Richard. »Vielleicht aber auch nicht.«
General Meiffert blickte über seine Schulter. »Woran denkt Ihr?«
Richard rüttelte sachte Niccis Schultern. »Lagern irgendwelche Schriften dort unten in den Katakomben?« »Ja«, brachte sie hervor. Er wandte sich wieder herum zum General. »Wir könnten den Wachen dort erzählen, dass der Kaiser angesichts der Tumulte im Feldlager eine Fuhre wichtiger Schriften in seinen Kommandobereich schaffen möchte, um sie in Sicherheit zu bringen. Und damit er auch genau jene Bücher erhält, denen seine Sorge gilt, hat er eine Schwester mitgeschickt. Ihr bittet sie einfach, Euch zu helfen, einen Trupp Gardisten zusammenzustellen, der den Wagen zurück in den Kommandobereich begleiten soll.«
»Sie werden wissen wollen, warum wir diese Männer nicht selbst mitgebracht haben.«
»Eben wegen der Tumulte«, warf Bruce ein. »Erklärt ihnen einfach, wegen der Aufstände wollten die Offiziere nicht riskieren, Gardisten von der Bewachung des Kaisers abzuziehen.
Die Idee gefiel Richard. »Während sie damit beschäftigt sind, einige Männer für uns zusammenzustellen, schleichen wir uns ungesehen hinunter in die Katakomben.«
»Aber nicht alle werden dafür ihren Posten verlassen«, gab Bruce zu bedenken. »Zudem würde bereits ein solcher Vorschlag starken Verdacht erregen. Die oben Zurückbleibenden werden die beiden Frauen bemerken - zumal wir Nicci werden stützen müssen.
Ihr dürft diese Gardisten auf keinen Fall unterschätzen. Seht Ihr ihre Uniformen? Das sind Männer, die das Vertrauen des Kaisers genießen. Ich weiß, was das für Kerle sind. Sie sind alles andere als dumm und schon gar nicht bequem. Ihnen entgeht so gut wie nichts.«
»Da ist etwas dran«, meinte Richard, nachdem er sich Bruce’ Rat hatte durch den Kopf gehen lassen. Die Stirn nachdenklich gerunzelt, hatte er plötzlich eine Idee. Er wandte sich herum zu Adie. »Heute Abend geht ein ziemlicher Wind. Meint Ihr, Ihr könntet ihm ein wenig unter die Arme greifen?«
»Dem Wind unter die Arme greifen?« Sie betrachtete ihn im Schein der Fackeln mit ihren vollkommen weißen Augen. »Woran denkst du?«
»Ihr könntet Eure Gabe benutzen, um die Luft aufzuwirbeln, ein, zwei zufällige Windstöße, etwas in der Art. Damit es so aussieht, als nehme der Wind allmählich zu. Sobald General Meiffert ihnen den Auftrag erteilt hat, einige Männer für eine Eskorte zusammenzustellen, fahren wir den Wagen hinunter in die Grube. Dann löscht eine stärkere Bö sämtliche Fackeln in der Nähe. Sobald es völlig dunkel ist, und bevor die Männer frische Fackeln herbeischaffen können, um die erloschenen wieder anzuzünden, lotsen wir Nicci und Jillian heimlich in den unterirdischen Gang.«
»Na gut, dann befinden wir uns also in den Gängen. Aber dort unten werden weitere Gardesoldaten postiert sein und wer weiß wie viele reguläre Truppen. Habt Ihr für die auch schon eine Idee?«
Richard wechselte einen besorgten Blick mit ihm. »So oder so, wir müssen an ihnen vorbei. Aber Ihr habt recht, sie werden vermutlich sehr zahlreich sein.«
Bruce stützte sich auf einen Ellbogen. »In den Gängen ist Kämpfen sehr schwierig, das gleicht die Chancen wieder etwas aus.«
»Da ist etwas dran«, meinte General Meiffert. »In gewisser Hinsicht spielt es gar keine so große Rolle, wie viele Männer dort unten stehen. Sie können nicht alle gleichzeitig über uns herfallen. Auf so engem Raum können immer nur sehr wenige unmittelbar mit uns kämpfen.«
Richard stieß einen Seufzer aus. »Trotzdem sind das Schwierigkeiten, die wir nicht gebrauchen können. Wir müssten über jeden getöteten Gardisten hinwegsteigen, während jeder dort unten uns aufzuhalten versuchen wird. Zudem könnten sie uns hinterrücks umgehen oder uns durch die dort sicher in großer Zahl vorhandenen Kammern von der Seite her attackieren. Und da wir Nicci tragen müssten, wäre es überaus schwierig, sich über diese große Distanz durchzuschlagen.«
»Was bleibt uns anderes übrig?«, meinte General Meiffert. »Wir müssen an ihnen vorbei, und dafür müssen wir jeden eliminieren, der uns daran zu hindern versucht. Einfach wird es nicht, aber es ist unsere einzige Chance.«
»In den Katakomben herrscht pechschwarze Finsternis«, warf Adie mit ihrer schnarrenden Stimme ein. »Wenn ich mit meiner Gabe alle Lichter dort unten lösche, können sie uns nicht sehen.«
»Aber wie sollen wir dann etwas sehen?«, fragte Bruce.
»Eure Gabe«, sagte Richard, als ihm dämmerte, was Adie vorhatte. »Ihr seht mit Eurer Gabe.«
Sie nickte. »Sie wird uns als Augen dienen. Meine Augen wurden schon in meiner Kindheit geblendet, seitdem sehe ich mit meiner Gabe statt mit Licht. Ich lösche ihre Lichter und steige dann als Erste in das Dunkel hinab. Ihr folgt mir. Wir müssen mucksmäuschenstill sein. Womöglich bekommen sie gar nicht mit, dass wir mitten zwischen ihnen hindurchschleichen. Stoße ich auf Gardisten, werde ich eine Möglichkeit suchen, sie auf einer anderen Route zu umgehen, so dass sie gar nichts von unserer Anwesenheit dort erfahren werden. Wenn es nicht anders geht, töten wir sie, aber besser wäre es, sie unbemerkt zu umgehen.«
»Das scheint mir am ehesten erfolgversprechend.« Nach einem kurzen Blick auf Nicci sah er ihnen nacheinander in die Augen. Niemand hatte irgendwelche Einwände, also fuhr er fort: »Dann ist es also abgemacht. General Meiffert spricht mit dem Hauptmann der Wachtruppe, und wir fahren den Wagen in die Grube, während er seine Leute zusammensucht. Unten wird Adie einen Windstoß auslösen, der die Fackeln löscht. In dem sich daran anschließenden Durcheinander klettern wir in die Katakomben, wo Adie vorausgehen und sämtliche Lichter löschen wird, auf die wir stoßen. Wer sich uns in den Weg stellt, wird getötet.«
»Aber haltet Euch bereit, für den Fall, dass der Hauptmann der Wachmannschaft Verdacht schöpft und uns Ärger machen will«, sagte der General.
»Wenn es nicht anders geht«, sagte Adie, »gibt es eben Ärger. Dafür werde ich schon sorgen.«
Richard nickte. »Aber wir müssen uns beeilen, es wird bald hell. Beim Hinuntersteigen in die Katakomben muss es noch dunkel sein, damit niemand Nicci und Jillian bemerkt, danach kommt es nicht mehr darauf an. Aber hier draußen muss alles noch im Schutz der Nacht geschehen.«
»Dann also los«, sagte der General und ging nach vorn, um die Pferde zu führen.
Richard warf einen Blick hinüber zum östlichen Himmel. Die Dämmerung war nicht mehr fern. Zusammen mit Bruce zurrte er die Plane fest, als sich der Wagen holpernd in Bewegung setzte. Er hoffte, dass sie es noch rechtzeitig bis in die ewige Nacht der Katakomben schaffen würden.
Nicci, neben ihm, wimmerte leise, außerstande, die Qualen länger zu ertragen, außerstande, den Tod herbeizurufen.
Ihr Leid brach ihm fast das Herz. Doch er konnte nicht mehr tun, als ihr die Hand zu halten und ihr das Gefühl zu geben, dass sie nicht allein war. Während General Meiffert sich mit gedämpfter Stimme mit dem Hauptmann der Gardisten unterhielt, lauschte er auf das Heulen des Windes, dann beugte er sich über sie und raunte ihr zu: »Haltet durch. Jetzt wird es nicht mehr lange dauern.«
»Ich glaube, sie kann dich nicht mehr hören«, meinte Jillian leise von der anderen Seite.
»Doch, kann sie.«
Sie musste; sie musste überleben. Er war auf ihre Hilfe angewiesen. Er wusste nicht, wie er das richtige Kästchen der Ordnung öffnen sollte, kannte niemanden, der ihm eine größere Hilfe sein konnte als sie. Wichtiger noch, Nicci war seine Freundin, der er sich sehr verbunden fühlte. Wenn nötig, würden sich immer andere Lösungen finden lassen, aber ihren Verlust würde er nicht ertragen können.
Nicht selten war sie die Einzige gewesen, an die er sich hatte wenden können, die ihm geholfen hatte, sein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, die immer wieder sein Selbstvertrauen gestärkt hatte. Nach Kahlans Gefangennahme war sie in vieler Hinsicht seine einzige Vertraute gewesen.
Die Vorstellung, sie zu verlieren, war ihm unerträglich.