JOHN LE CARRE

KRIEG IM SPIEGEL

»I wouldn't mind being a Pawn, if only I might join.«

»Wenn ich doch auch mit von der Partie sein könnte! Und wenn's als Bauer wäre, Hauptsache, ich könnte dabeisein.«

LEWIS CARROLL »ALICE HINTER DEN SPIEGELN«

Vorwort

Keine der Personen, Klubs, Institutionen und Nachrichtenorganisationen, die ich hier oder anderswo beschrieben habe, gibt es oder hat es meines Wissens jemals wirklich gegeben. Das möchte ich besonders hervorheben.

Ich schulde der Radio Society of Great Britain und Mr. R.E. Mollland ebenso Dank wie den Redakteuren der Zeitschrift »Aviation Week und Space Technology« oder Mr. Ronald Coles, die mich alle mit wertvollen technischen Ratschlägen unterstützt haben. Außerdem habe ich Miss Elizabeth Tollinton für die Hilfe zu danken, die sie mir als Sekretärin geleistet hat. Vor allem danke ich meiner Frau für ihre unermüdliche Mitarbeit.

Agios Nikolaos, Kreta Mai 1964

»Durch das Tragen einer schweren Last, wie zum Beispiel eines Koffers etc. kurz vor Beginn der praktischen Sendetätigkeit werden Handgelenke sowie Arm- und Fingermuskulatur zu gefühllos, um noch einwandfrei morsen zu können.«

Aus »Vollständiger Morsekurs« von F. TAIT, Pitman.

Erster Teil

TAYLORS EINSATZ

»Hier liegt ein Narr, der glaubte, voll Ungeduld den Osten drängen zu können.«

KIPLING

1. Kapitel

Schnee bedeckte den Flugplatz. Vom Nachtwind getrieben, war er im Nebel zusammen mit dem Geruch der See aus dem Norden gekommen. Nun würde er den ganzen Winter als eisiger, scharfer Staub auf der grauen Erde liegenbleiben, ohne zu tauen oder zu frieren, sondern gleichbleibend schäbig, wie ein Jahr ohne Jahreszeiten. Über ihm, wie der Rauch des Krieges, die dahintreibenden Nebelschwaden, die einmal einen Hangar verschlucken, dann den Radarschuppen, dann eine der Maschinen, um sie Stück für Stück, aller Farben beraubt, wieder auszuspeien; schwarzes Aas in einer weißen Wüste. Es war ein Bild ohne Tiefe, ohne Perspektive und ohne Schatten. Himmel und Erde verschwammen ineinander, und die Gebäude schienen in der Kälte eingeschlossen wie Leichen in einem Gletscher. Jenseits des Rollfeldes war nichts mehr - kein Haus, kein Hügel, keine Straße. Nicht einmal ein Zaun oder ein Baum. Nur der Himmel, der auf den Dünen lastete, und der ziehende Nebel, der über der sumpfigen Ostseeküste emporstieg. Irgendwo landeinwärts waren die Berge.

An dem langen Aussichtsfenster drängte sich eine schnatternde Schar deutscher Schulkinder mit warmen Mützen. Einige trugen Skikleidung. Taylor hatte die Handschuhe nicht ausgezogen. Er hielt ein Glas in der Hand und blickte schläfrig zu den Kindern hinüber. Ein Junge wandte sich um, starrte ihn an und errötete. Dann flüsterte er mit den anderen Kindern. Sie wurden still.

Taylor sah auf seine Armbanduhr, wobei er mit seinem Arm einen weit ausholenden Kreis beschrieb, teils um den Ärmel seines Wettermantels zurückzuziehen, teils weil das seine Art war. Er wollte, daß man ihn für einen Offizier hielt, für einen alten Haudegen, der im Krieg viel mitgemacht hatte, einem angesehenen Regiment und einem angesehenen Club angehörte.

Zehn vor vier. Die Maschine war schon eine Stunde verspätet. Sie würden den Grund dafür bald über den Lautsprecher bekanntgeben müssen. Er fragte sich, was sie durchsagen würden: Nebel vielleicht, oder verzögerter Start. Daß die Maschine an die dreihundert Kilometer vom Kurs abgekommen und südlich von Rostock war, wußten sie womöglich gar nicht. Auf keinen Fall würden sie es zugeben. Er leerte sein Glas und drehte sich zur Theke, um es abzustellen. Er mußte zugeben, daß manche dieser ausländischen Schnäpse, wenn man sie in ihrem eigenen Land trank, keineswegs schlecht schmeckten. Im Augenblick jedenfalls, mit ein paar Stunden, die man sich noch um die Ohren schlagen mußte und mit zehn Grad unter Null auf der anderen Seite des Fensters, hätte es auch wesentlich Unangenehmeres geben können als Steinhäger. Sobald er zurück war, würde er im Alias-Club veranlassen, daß man diesen Schnaps beschaffte. Das würde Aufsehen machen! Der Lautsprecher brummte, brüllte plötzlich los und verstummte wieder. Dann begann er noch einmal in der richtig eingestellten Lautstärke. Die Kinder starrten erwartungsvoll zu ihm hinauf. Die Ankündigung kam zuerst in Finnisch, dann in Schwedisch, schließlich auf englisch. Northern Air Services entschuldigten sich für die Verspätung ihres Charterfluges zwo-neun-null aus Düsseldorf. Kein Hinweis auf die Dauer der Verspätung, nichts von einer Begründung. Möglicherweise wußten sie es selbst nicht.

Taylor dagegen wußte den Grund. Er fragte sich, was wohl passieren würde, wenn er jetzt zu dieser naseweisen Hosteß in ihrem Glaskasten hinüberginge und ihr erklärte: Zwo-neun-null wird schon noch 'ne Weile dauern, meine Liebe, ist nämlich im steifen Nordwest über der Ostsee vom Kurs abgekommen; die Position ist beim Teufel. Natürlich würde das Mädchen ihm nicht glauben, hielt ihn womöglich noch für einen Spinner. Später freilich würde sie dann eines Besseren belehrt. Dann würde sie ihn für einen ziemlich ungewöhnlichen Mann halten, für etwas Besonderes. Draußen wurde es langsam dunkel. Die Schneefläche wirkte heller als der Himmel, und die geräumten Rollbahnen zogen sich durch das Weiß wie Dämme, deren Ränder von dem bunten Schimmer der Markierungsleuchten gesäumt waren. Im nächstgelegenen Hangar gossen Neonröhren ihr fahles Licht über Menschen und Maschinen. Der Platz davor wurde kurz aus der Dunkelheit gerissen, als ein greller Scheinwerferstrahl vom Kontrollturm darüberzuckte. Ein Feuerwehrauto war bei den Werkstattgebäuden auf der linken Seite abgefahren und gesellte sich nun zu den drei Ambulanzwagen, die bereits neben der Landebahn standen. Gleichzeitig flammte auf den Fahrzeugen das Blaulicht auf. Sie standen in einer Reihe und blitzten geduldig ihr bläuliches Warnsignal hinaus. Die Kinder deuteten darauf und schwatzten aufgeregt durcheinander.

Wieder kam aus den Lautsprechern die Stimme des Mädchens. Seit der letzten Durchsage konnten nur ein paar Minuten vergangen sein. Wieder wurden die Kinder still, um zuzuhören. Die Ankunft der Kursmaschine zwo-neun-null werde sich um mindestens eine weitere Stunde verzögern. Nähere Informationen werde man sogleich nach ihrem Eintreffen geben. In der Stimme des Mädchens schwang etwas mit, das teils Überraschung, teils Sorge sein mochte und sich auf das halbe Dutzend Menschen übertrug, die am anderen Ende des Warteraums saßen. Eine alte Dame sagte etwas zu ihrem Mann, nahm ihre Handtasche und ging zu der Gruppe von Kindern hinüber. Einige Zeit starrte sie dümmlich ins Zwielicht hinaus. Als sie dabei keine Beruhigung fand, wandte sie sich an Taylor und sagte auf englisch: »Was ist mit dem Flugzeug aus Düsseldorf passiert?« Nach dem kehligen, ungehaltenen Unterton ihrer Stimme zu urteilen, war sie Holländerin. Taylor schüttelte den Kopf. »Wohl der Schnee«, sagte er. Er war ein forscher Mann, das gehörte zu seinem militärischen Auftreten.

Taylor ging durch die Schwingtür in die Empfangshalle hinunter. Neben dem Haupteingang entdeckte er die gelbe Flagge der Northern Air Services. Das Mädchen hinter dem Schalter war sehr hübsch. »Was ist denn mit der Maschine aus Düsseldorf?« fragte er in seiner vertraulichen Art. Man sagte ihm nach, daß er es verstand, mit kleinen Mädchen umzugehen.

Sie lächelte und zuckte mit den Schultern. »Ich nehme an, es ist der Schnee. Im Herbst haben wir öfters Verspätungen.«

»Warum fragen Sie nicht den Chef?« schlug er mit einem Kopfnicken in Richtung des Telefons vor. »Man wird es über den Lautsprecher bekanntgeben«, sagte sie. »Sobald man etwas Näheres weiß.«

»Wer ist der Skipper, Schätzchen?«

»Bitte?«

»Wer der Skipper ist, der Captain, der Flugkapitän!«

»Kapitän Lansen.«

»Taugt er was?«

Das Mädchen war entrüstet. »Kapitän Lansen ist ein außerordentlich erfahrener Pilot.« Taylor betrachtete sie grinsend. »Zumindest ist er ein sehr glücklicher Pilot, mein Schatz.« Man sagte, der alte Taylor kenne sich aus. Man sagte es im Alias-Club, an den Freitagabenden.

Lansen. Es war seltsam, diesen Namen so offen ausgesprochen zu hören. In der Gruppe wurde so etwas einfach nicht gemacht. Dort zogen sie Umschreibungen vor, Decknamen, irgend etwas anderes als den wirklichen Namen: Archieboy, unser fliegender Freund, unser Freund im Norden, der Junge, der die Fotos macht. Man verwendete sogar die geheimnisvollen Zusammenstellungen von Ziffern und Zeichen, unter denen der Mann in den Akten geführt wurde - aber unter gar keinen Umständen jemals seinen Namen.

Lansen. Leclerc hatte ihm in London ein Foto gezeigt: ein jungenhafter Fünfunddreißiger, blond und gut aussehend. Er hätte wetten mögen, daß diese Hostessen ganz verrückt nach ihm waren. Sie waren ohnedies kaum etwas anderes als Kanonenfutter für die Piloten. Jemand anderer kam da niemals zum Zuge. Taylor strich schnell mit der rechten Hand über die Außentasche seines Mantels, um sich zu vergewissern, ob das Kuvert noch da war. Diese Art Geld hatte er bisher noch nie transportiert. Fünftausend Dollar für einen Flug. Zwanzigtausend Mark steuerfrei für ein Abweichen vom Kurs über die Ostsee. Lansen machte so etwas nicht alle Tage, natürlich. Das war etwas Besonderes, wie Leclerc gesagt hatte. Er fragte sich, wie die Hosteß reagieren würde, wenn er sich jetzt über die Theke beugte und ihr erzählte, wer er war, und ihr das Geld in dem Umschlag zeigte. Er hatte noch nie ein Mädchen wie sie gehabt, das heißt, ein wirkliches Mädchen, hochgewachsen und jung.

Er ging wieder hinauf in die Bar. Der Barkeeper kannte ihn schon. Taylor deutete auf die Steinhägerflasche auf dem mittleren Bord und sagte: »Geben Sie mir noch so einen, bitte. Ja, aus diesem Kerl direkt hinter Ihnen, euer hiesiges Gift.«

»Das ist aus Deutschland«, sagte der Barkeeper. Taylor zog seine Brieftasche und nahm eine Banknote heraus. Hinter Zellophan steckte das Bild eines ungefähr neunjährigen Mädchens. Es trug eine Brille und hielt eine Puppe im Arm. »Meine Tochter«, erklärte er dem Barkeeper, und der Barkeeper zeigte ein wäßriges Lächeln.

Taylor hatte die bei Vertretern oft zu findende Gabe, den Klang seiner Stimme ganz der jeweiligen Gelegenheit anpassen zu können. Seine unaufrichtige, affektierte Sprechweise nahm einen überspannten Ton an, wenn er zu Leuten seiner Klasse sprach und es ihm darauf ankam, einen Rangunterschied zu betonen, den es nicht gab. Oder wenn er nervös war wie jetzt gerade.

Er mußte zugeben, daß er aufgeregt war. Für einen Mann seines Alters war es eine unheimliche Situation, statt routinemäßigen Kurierdiensten die Arbeit eines Agenten verrichten zu müssen. Das wäre eher ein Geschäft für diese Schweine im Rondell gewesen. Für Leute seiner Organisation war es jedenfalls nichts. Im Vergleich zu seiner gewohnten Tätigkeit war das hier eine schöne Bescherung. Hier draußen im Nichts sich selbst überlassen zu sein. Er begriff nicht, wie man einen Flugplatz an einem solchen Fleck errichten konnte. Im allgemeinen hatte er Auslandsreisen ja recht gern. Zum Beispiel den alten Jimmy Gorton in Hamburg zu besuchen, oder eine Nacht lang das Pflaster von Madrid zu treten. Er empfand es als angenehm, von Joanie wegzukommen. Ein paarmal hatte er auch die türkische Route gemacht. Obwohl er wirklich nichts für die Balkanesen übrig hatte, war es immer noch ein Honiglecken im Vergleich zu dieser Arbeit hier: mit Fahrkarte erster Klasse und die Koffer auf dem Sitz neben sich, in der Brusttasche einen Alliierten-Paß. Ein Mann, der diese Tätigkeit ausübte, der war schon was, fast so wie die Jungs aus dem diplomatischen Dienst. Das hier aber war anders, und es behagte ihm gar nicht.

Leclerc hatte gesagt, es sei eine große Angelegenheit, und Taylor glaubte ihm. Man hatte ihm einen Paß auf einen anderen Namen gegeben. Malherbe. Ausgesprochen wurde es Mällabi - hatten sie jedenfalls gesagt. Weiß Gott, wer den ausgesucht hatte. Taylor war nicht mal in der Lage, ihn zu buchstabieren. Als er heute morgen sein Hotelzimmer nahm, gab's beim Unterschreiben des Meldezettels eine richtige Schmiererei. Der Spesensatz war freilich enorm: Hundertfünfzig Eier pro Einsatztag, ohne Beleg. Im Rondell sollte es sogar hundertsiebzig geben, hatte er gehört. Da würde ganz schön was übrig bleiben, er könnte was für Joanie kaufen. Wahrscheinlich war' ihr das Bargeld sogar noch lieber.

Er hatte ihr natürlich von der Reise erzählt. Eigentlich hätte er das nicht tun sollen, aber Leclerc kannte Joanie nicht. Er zündete sich eine Zigarette an und hielt sie, nachdem er inhaliert hatte, in der hohlen Hand - wie ein Posten, der auf Wache raucht. Wie, zum Teufel, konnte man von ihm erwarten, daß er sich nach Skandinavien auf die Socken machte, ohne seiner Frau etwas davon zu sagen?

Er fragte sich, was die Kinder dazu treiben mochte, die ganze Zeit derart am Fenster zu kleben. Erstaunlich, wie sie mit dieser fremden Sprache zurechtkamen. Wieder schaute er auf die Uhr, fast ohne die Zeiger zu sehen. Er berührte den Umschlag in seiner Tasche. Besser, er trank nicht mehr. Er mußte einen klaren Kopf behalten. Er versuchte, sich vorzustellen, was Joanie gerade jetzt tat. Wahrscheinlich saß sie bei einem Gin und irgendwas. Die Arme - den ganzen Tag Arbeit.

Plötzlich wurde ihm bewußt, daß alle sehr still geworden waren. Der Barkeeper stand reglos und lauschte. Das am Tisch sitzende alte Paar lauschte auch mit dümmlichen Gesichtern, die sie dem Fenster zugekehrt hatten. Dann hörte er ganz deutlich das Geräusch. Es war ein Flugzeug - noch weit entfernt, aber im Anflug auf das Rollfeld. Er steuerte schnell auf das Fenster zu und war halbwegs dort, als der Lautsprecher begann. Nach den ersten auf deutsch gesprochenen Worten schwirrten die Kinder wie ein Schwarm Tauben in Richtung auf die Empfangshalle davon. Die Leute am Tisch waren aufgestanden, die Frauen griffen nach ihren Handtaschen, die Männer nach ihren Mänteln und Aktentaschen. Endlich kam die englische Durchsage: Lansen war im Begriff zu landen.

Taylor starrte in die Nacht hinaus. Von der Maschine war nichts zu sehen. Er wartete, während seine Angst wuchs. Es war wie der Weltuntergang, dachte er, da draußen schien die verdammte Welt unterzugehen. Angenommen, Lansen machte Bruch. Angenommen, sie fanden die Kameras. Jetzt wünschte er, ein anderer hätte die Sache übernommen. Woodford zum Beispiel. Ja, warum hatte es nicht Woodford selbst übernommen? Oder wenigstens den überschlauen Universitätsknaben Avery geschickt? Der Wind wehte kräftiger. Er hätte schwören können, daß der Wind viel stärker geworden war. Taylor sah es an der Art, wie er den Schnee aufwirbelte und über die Landebahn trieb, wie er an den Signallampen rüttelte, weiße Schneefahnen in die Höhe trieb und sie wie verhaßte Gebilde wieder beiseite fegte. Eine Sturmbö schlug plötzlich gegen das Fenster und ließ ihn erschreckt zurückfahren. Eiskörner prasselten gegen die Scheibe, und das Holz des Fensterrahmens knarrte. Wieder sah er auf die Uhr. Diese Geste war Taylor zur Gewohnheit geworden. Es schien ihm das Warten leichter zu machen.

Unter diesen Umständen würde Lansen es nie schaffen, nie im Leben.

Sein Herz stockte. Er hörte die Sirenen, die sich von einem sanften Wimmern zu klagendem Geheul steigerten - alle vier Wagen ließen ihre Sirenen gemeinsam über das gottverlassene Flugfeld heulen; es klang wie der Schrei verhungernder Tiere. Feuer! Das Flugzeug mußte in Flammen sein. Er hatte Feuer an Bord und war im Begriff, einen Landeversuch zu unternehmen. Taylor blickte voll Entsetzen um sich, ob es nicht jemanden gab, der ihm Näheres hätte sagen können.

Neben ihm stand der Barkeeper und polierte ein Glas, während er durch die Scheibe hinaussah. »Was ist los?« schrie Taylor ihn an. »Wozu die Sirenen?«

»Bei schlechtem Wetter stellen sie die Sirenen immer an«, sagte der Barkeeper. »Vorschrift.«

»Wieso geben sie ihm Landeerlaubnis?« fragte Taylor.

»Sie könnten ihn doch weiterschicken, nach Süden! Der Platz hier ist viel zu klein, warum schicken sie ihn nicht zu einem größeren Flugplatz?« Der Barkeeper schüttelte unbeteiligt den Kopf. »So schlecht ist der Platz gar nicht«, sagte er mit einer Kopfbewegung in Richtung zum Rollfeld. »Außerdem ist er spät dran. Vielleicht hat er keinen Sprit mehr.« Dann sahen sie die Maschine. Sie kam tief auf den Platz zu, und ihre Positionslampen leuchteten abwechselnd über der Kette der Markierungsfeuer auf, während ihre Scheinwerfer grelle Lichtstreifen auf die Rollbahn warfen. Dann war sie auf dem Boden und sicher gelandet, und sie hörten das Dröhnen ihrer gedrosselten Motoren, als die Maschine über die Landebahn bis zum Standplatz vor dem Gebäude heranzurollen begann.

Die Bar hatte sich geleert. Taylor war der einzige Gast. Er bestellte einen Drink. Er kannte seine Rolle: einfach in der Bar sitzen bleiben, hatte Leclerc gesagt. Lansen werde ihn an der Bar treffen. Er wird einige Zeit brauchen, mußte ja seinen Papierkram erledigen, die Kameras wegräumen. Taylor hörte, wie die Kinder unten sangen. Eine Frauenstimme führte sie. Warum, zum Teufel, mußten Kinder und Weiber um ihn sein? Was er hier gerade zu tun im Begriff war, war schließlich Männersache. Oder nicht? Mit fünftausend Dollar und einem falschen Paß in der Tasche. »Jetzt gibt es keine Flüge mehr«, sagte der Barkeeper. »Sie haben den Flugplatz für heute gesperrt.« Taylor nickte. »Ich weiß. Es ist verdammt scheußlich da draußen. Scheußlich.«

Der Barkeeper war im Begriff, die Flaschen wegzuräumen. »Es bestand keine Gefahr«, sagte er besänftigend. »Kapitän Lansen ist ein ausgezeichneter Pilot.«

Er zögerte, weil er nicht wußte, ob er auch den Steinhäger wegräumen sollte.

»Natürlich war es ganz ungefährlich«, brauste Taylor auf. »Wer hat was von Gefahr gesagt?«

»Noch einen Drink?« fragte der Barkeeper.

»Nein, aber nehmen Sie sich einen. Nur zu, gießen Sie sich einen ein.«

Der Barkeeper füllte sich widerstrebend ein Glas und sperrte die Flasche weg.

»Trotzdem, wie machen sie das?« fragte Taylor. Er hatte einen versöhnlichen Ton angeschlagen, um mit dem Barkeeper wieder Frieden zu schließen. »Bei einem solchen Wetter können sie doch nicht die Hand vor den Augen sehen.« Er zeigte das Lächeln des Kenners. »Du sitzt in der Führerkanzel und könntest deine Augen genausogut zumachen - so viel helfen sie dir. Ich hab's erlebt«, sagte Taylor, wobei er seine Hände locker vor sich hielt, als lägen sie um den Steuerknüppel. »Ich kenn' mich da aus. In der Kanzel ist man der erste, der's abbekommt, wenn mal wirklich was schiefgeht.« Er schüttelte den Kopf. »Die Jungs sind nicht zu beneiden«, erklärte er. »Ich gönn' ihnen jeden Pfennig, den sie verdienen. Besonders in einem derartigen Drachen: Diese Dinger sind ja mit Draht zusammengebunden. Mit Draht.« Der Barkeeper nickte zerstreut, leerte sein Glas, wusch es aus, trocknete es ab und stellte es in das Regal unter der Theke. Er knöpfte seine weiße Jacke auf.

Taylor rührte sich nicht.

»Tja«, sagte der Barkeeper mit freudlosem Lächeln, »jetzt müssen wir nach Hause gehen.« Taylor riß die Augen auf und warf den Kopf zurück. »Wieso wir? Was soll das heißen?« Jetzt hätte er es mit jedem aufgenommen: Lansen war gelandet. »Ich muß schließen.«

»Nach Hause ist gut. Gießen Sie uns noch einen ein, kommen Sie. Sie können nach Hause, wenn Sie wollen. Aber ich lebe in London.« Seine Stimme klang jetzt streitlustig, halb im Scherz, halb ärgerlich, mit steigender Lautstärke. »Und solange Ihre Gesellschaften nicht in der Lage sind, mich vor morgen früh nach London oder zu irgendeinem anderen verdammten Ort zu bringen, ist Ihr Vorschlag, dorthin zu gehen, ziemlich dumm. Oder nicht, alter Junge?« Er lächelte noch, aber es war das dünne, ärgerliche Lächeln eines nervösen Mannes, der im Begriff war, seine Beherrschung zu verlieren. »Und wenn Sie sich das nächstemal einen Drink von mir bezahlen lassen, Freundchen, werde ich von Ihnen soviel Höflichkeit...«

Die Tür öffnete sich und Lansen kam herein. So war es nicht geplant gewesen. Dies war alles andere als der Vorgang, den man ihm beschrieben hatte. Leclerc hatte ihm gesagt: Bleibe in der Bar an einem Ecktisch sitzen, bestell einen Drink, lege Hut und Mantel auf den anderen Stuhl, als würdest du auf jemanden warten. Lansen geht immer noch auf ein Bier, wenn er Feierabend hat. Er ist gern unter Leuten; so ist er eben. Die Bar wird sehr voll sein. Es ist zwar ein kleiner Ort, aber auf diesen Flugplätzen ist immer was los. Er wird sich nach einem Platz umsehen - ganz offen und unverhohlen -, dann wird er zu dir kommen und dich fragen, ob der Stuhl besetzt ist. Du antwortest, daß du einen Freund erwartest, der noch nicht erschienen sei. Lansen wird fragen, ob er Platz nehmen darf. Er wird ein Bier bestellen und dann fragen: >Freund - oder Freundin?< Du wirst darauf sagen, er sollte nicht so indiskret sein. Ihr werdet beide lachen und ins Gespräch kommen. Frage ihn nach zwei Dingen: Höhe und Fluggeschwindigkeit. Die Jungs von der Auswertung müssen Höhe und Fluggeschwindigkeit wissen. Steck das Geld in die Außentasche deines Mantels. Er wird deinen Mantel aufheben, den seinen daneben legen und ganz ruhig, ohne das geringste Aufsehen zu erregen, hineinfassen, den Umschlag herausnehmen und den Film in deine Manteltasche gleiten lassen. Du trinkst dann aus, gibst ihm die Hand - die Geschichte ist erledigt. Am Morgen fliegst du nach Hause. So einfach hatte es Leclerc dargestellt.

Lansen schlenderte quer durch den leeren Raum auf sie zu - eine hochgewachsene, kräftige Gestalt in einem blauen Regenmantel und einer Kappe. Er sah Taylor kurz an und sagte an ihm vorbei zum Barkeeper: »Jens, gib mir ein Bier.« Zu Taylor gewandt, fragte er: »Was nehmen Sie?«

Taylor lächelte dünn. »Das hiesige Gesöff.«

»Gib ihm, was er haben will. Einen Doppelten.«

Der Barkeeper knöpfte seine Jacke wieder zu, schloß das Regal auf und goß einen doppelten Steinhäger ein. Lansen gab er ein Bier aus dem Kühlschrank.

»Kommen Sie von Leclerc?« erkundigte sich Lansen kurz. Jeder hätte es hören können.

»Ja.« Viel zu spät fügte er matt hinzu: »Leclerc und Company, London.«

Lansen nahm sein Bier und ging damit zum nächsten Tisch hinüber. Seine Hand zitterte. Sie setzten sich. »Dann verraten Sie mir, welcher verdammte Narr mir diese Anweisungen gab«, sagte er wütend. »Ich weiß nicht.« Taylor war bestürzt. »Ich weiß nicht einmal, welche Instruktionen Sie bekommen haben. Ich kann nichts dafür. Ich soll den Film abholen, das ist alles. Übrigens ist diese Art Aufträge gar nicht meine Arbeit. Ich bin im >offenen< Dienst. Kurier.« Lansen beugte sich vor, seine Hand lag auf Taylors Arm. Taylor merkte, wie sie zitterte. »Ich war auch im >offenen< Dienst. Bis heute. In dieser Maschine waren Kinder. Fünfundzwanzig deutsche Schulkinder auf Winterferien. Eine ganze Ladung Kinder.«

»Ja.« Taylor zwang sich zu einem Lächeln. »Ja, das Empfangskomitee saß im Warteraum.« Lansen platzte heraus: »Was haben wir gesucht? Das ist es, was ich nicht verstehe. Was ist an Rostock so aufregend?«

»Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich nichts damit zu tun habe.« Dennoch fügte er hinzu: »Leclerc sagte, daß es sich nicht um Rostock drehte, sondern um das Gebiet südlich davon.«

»Das südlich gelegene Dreieck: Kalkstadt, Langdorn, Wolken. Sie brauchen mir nicht zu sagen, welches Gebiet gemeint war.«

Taylor sah beunruhigt auf den Barkeeper. »Ich glaube, wir sollten nicht so laut sprechen«, sagte er. »Der Bursche scheint mir verdächtig.« Er trank von seinem Steinhäger.

Lansen machte eine Handbewegung, als wische er etwas vor seinem Gesicht weg. »Es ist Schluß«, sagte er »Ich will nicht mehr. Es ist Schluß. Es war in Ordnung, solange wir auf dem normalen Kurs blieben und dabei fotografierten, was immer es da gab. Aber verdammt noch mal, das ist zuviel, verstehen Sie? Das ist verflucht zuviel, alles in allem.« Sein Akzent war schwer und klobig, als hätte er einen Sprachfehler. »Haben Sie Aufnahmen machen können?« fragte Taylor. Er mußte den Film bekommen. Dann wollte er gehen.

Lansen zuckte mit den Schultern, griff in die Tasche seines Regenmantels und zog - zum Entsetzen Taylors - die Zinkkapsel eines 35-mm-Filmes heraus, die er ihm über den Tisch reichte.

»Wozu das Ganze?« fragte Lansen abermals. »Worauf hatten sie es bloß in diesem Gebiet abgesehen? Ich ging unter die Wolken, flog die ganze Gegend ab. Ich habe keine Atombomben gesehen.«

»Irgend etwas Wichtiges, was anderes hat man mir nicht gesagt. Irgendwas Großes. Es mußte gemacht werden, verstehen Sie das nicht? Man kann über ein solches Gebiet keine illegalen Flüge machen.« Es waren die Worte von jemand anderem, die Taylor einfach wiederholte. »Es mußte eine Fluggesellschaft sein, eine eingetragene Fluggesellschaft. Oder nichts. Es gab keine andere Möglichkeit.«

»Hören Sie: Ich wurde unter Bewachung genommen, sobald ich dort war - zwei MIGs. Möchte wissen, woher die kamen. Sobald ich sie sah, ging ich in die Wolken. Sie folgten mir. Ich ging auf Sprechfunk und fragte nach der Position. Als wir aus den Wolken wieder herauskamen, waren sie immer noch da. Ich dachte, sie würden mich zur Landung zwingen. Ich versuchte, die Kamera abzuwerfen, aber sie klemmte. Die Kinder klebten alle an den Fenstern und winkten den MIGs. Sie flogen eine Zeitlang neben mir her, dann drehten sie ab. Sie kamen nahe, ganz nahe. Es war verdammt gefährlich für die Kinder.« Er hatte sein Bier nicht angerührt. »Was, zum Teufel, wollten sie?« fragte er. »Warum haben sie mich nicht runtergeholt?«

»Ich habe Ihnen schon gesagt: ich kann nichts dafür. Für so was bin ich nicht zuständig. Aber worauf auch immer man in London aus war: sie wissen, was sie tun.« Er schien sich selbst überzeugen zu wollen; er brauchte den Glauben an London. »Dort vergeudet man seine Zeit nicht. Oder Ihre, mein Freund. Die wissen schon, was sie wollen.« Er sah finster drein, um die Stärke seiner Überzeugung auszudrücken, aber Lansen hatte ihm vielleicht nicht zugehört. »Man hält auch nichts von unnötigen Risiken«, sagte Taylor. »Sie haben gute Arbeit geleistet, Lansen. Wir müssen alle unser Scherflein beitragen. Risiken auf uns nehmen. Wir tun das alle. Ich habe es im Krieg getan, wissen Sie. Sie sind zu jung, um sich an den Krieg zu erinnern. Es ist die gleiche Arbeit: Wir kämpfen für dieselbe Sache.« Plötzlich fielen ihm die zwei Fragen ein. »Welche Höhe flogen Sie, als Sie die Aufnahmen machten?«

»Verschieden. Über Kalkstadt waren wir bis auf 2000 Meter herunter.«

»Kalkstadt interessierte sie am meisten«, sagte Taylor voll Anerkennung. »Das ist erstklassige Arbeit, Lansen, erstklassig. Mit welcher Geschwindigkeit?«

»Dreihundert. dreihundertsechzig. So ungefähr. Es gab nichts zu sehen, sage ich Ihnen, nichts.« Lansen zündete sich eine Zigarette an. »Jetzt ist Schluß damit«, wiederholte er. »Wie wichtig das Ziel auch immer sein mag.« Er stand auf. Taylor erhob sich gleichfalls.

Er steckte die rechte Hand in die Außentasche seines Mantels. Plötzlich wurde seine Kehle trocken: das Geld - wo war das Geld?

»Sehen Sie in der anderen Tasche nach«, schlug Lansen vor.

Taylor reichte ihm den Umschlag. »Wird es deswegen Schwierigkeiten geben? Wegen der MIGs, meine ich?«

Lansen zuckte die Schultern. »Ich bezweifle es, es ist mir noch nie passiert. Dieses Mal werden sie mir schon glauben. Sie werden glauben, es sei das Wetter gewesen. Ich kam ungefähr auf halber Strecke vom Kurs ab. Es könnte auch die Schuld des Bodendienstes gewesen sein. Beim Übergang von einer Leitstelle zur anderen.«

»Was ist mit dem Navigator? Was ist mit der übrigen Besatzung? Was denken die?«

»Das ist meine Sache«, sagte Lansen mürrisch. »Sie können in London bestellen, daß es das letzte Mal war.«

Taylor sah ihn beunruhigt an. »Sie sind nur durcheinander«, sagte er. »Nach dieser Nervenanspannung.«

»Hol Sie der Teufel«, sagte Lansen leise, »hol Sie der Teufel, verdammt noch mal.« Er drehte sich um, legte eine Münze auf die Theke und ging aus der Bar, wobei er den langen gelben Briefumschlag mit dem Geld achtlos in die Tasche seines Regenmantels stopfte. Taylor folgte ihm kurz darauf. Der Barkeeper sah ihm zu, wie er durch die Tür ging und die Treppe hinunter verschwand. Ein äußerst widerlicher Mann, dachte er. Aber Engländer hatte er noch nie leiden können. Taylor wollte zuerst kein Taxi zum Hotel nehmen. Er könnte den Weg in zehn Minuten zurücklegen und etwas vom Tagegeld sparen. Die Bodenhosteß nickte ihm zu, als er auf seinem Weg zum Haupteingang an ihr vorbeiging. In der Empfangshalle war alles aus Teakholz, vom Boden strömte warme Luft herauf. Taylor trat ins Freie. Die Kälte schnitt wie ein Schwert durch seine Kleider; und ihre lähmende Wirkung breitete sich wie vordringendes Gift schnell über sein unbedecktes Gesicht aus, tastete sich zu seinem Nacken und zu den Schultern. Er änderte seinen Plan und sah sich hastig nach einem Taxi um. Er war betrunken. Plötzlich kam es ihm zu Bewußtsein: die frische Luft hatte ihn betrunken gemacht. Der Taxistandplatz war leer. Ein alter Citroen parkte fünfzig Meter weiter auf der Straße; der Motor lief. Er hat die Heizung an, der glückliche Kerl, dachte Taylor und eilte durch die Flügeltür zurück.

»Ich möchte ein Taxi«, sagte er zu dem Mädchen. »Wissen Sie, wo ich eines bekommen kann?« Er hoffte inbrünstig, daß er nüchtern aussah. Verrückt, so viel zu trinken. Er hätte diesen Drink von Lansen nicht annehmen sollen.

Sie schüttelte den Kopf. »Sie haben die Kinder weggebracht«, sagte sie. »Sechs in jedem Wagen. Das war heute die letzte Maschine. Im Winter haben wir hier nicht viele Taxis.« Sie lächelte. »Es ist ein sehr kleiner Flughafen.«

»Was ist das dort oben auf der Straße, dieser alte Wagen? Kein Taxi, oder?« Seine Stimme war undeutlich.

Sie ging zur Tür und sah hinaus. Ihr Gang war behutsam schwingend, ungekünstelt und herausfordernd. »Ich sehe keinen Wagen«, sagte sie. Taylor sah an ihr vorbei. »Es stand ein alter Citroen dort. Beleuchtet. Muß weggefahren sein. Es wäre ja möglich gewesen.« Mein Gott, er war an ihm vorbeigefahren, ohne daß er es auch nur gehört hätte. »Die Taxis sind alle Volvos«, bemerkte das Mädchen. »Vielleicht wird eines zurückkommen, nachdem es die Kinder abgesetzt hat. Warum gehen Sie nicht auf einen Drink?«

»Die Bar ist zu«, antwortete Taylor bissig. »Der Barmann ist fort.«

»Wohnen Sie im Flughafen-Hotel?«

»Im >Regina<, ja. Ich bin in Eile, müssen Sie wissen.«

Es fiel ihm jetzt leichter. »Ich erwarte einen Anruf aus London.«

Sie betrachtete unschlüssig seinen Wettermantel aus grobem Gewebe.

»Sie könnten zu Fuß gehen«, schlug sie vor. »Zehn Minuten, immer die Straße hinunter. Das Gepäck kann Ihnen später nachgebracht werden.« Taylor sah mit der gewohnten weit ausholenden Handbewegung auf seine Uhr. »Gepäck ist schon dort. Kam heute morgen an.« Er hatte das zerknitterte, besorgte Gesicht eines Clowns, lächerlich und doch unendlich traurig; ein Gesicht, in dem die Augen blasser waren als ihre Umgebung. Von den Nasenflügeln führten tiefe Falten zum Mund hinunter. Vielleicht hatte sich Taylor deswegen einen unansehnlichen Schnurrbart wachsen lassen, der sein Gesicht wie die Kritzelei auf einer Fotografie vollends verunstaltete, ohne seine Unzulänglichkeit zu überdecken. Das Ergebnis war, daß Taylors Erscheinung Mißtrauen einflößte, nicht etwa weil er ein Halunke gewesen wäre, sondern allein deshalb, weil ihm jegliches Talent zur Verstellung fehlte. Außerdem hatte er sich gewisse, einem längst vergessenen Original abgeschaute Gesten zugelegt, wie zum Beispiel die verwirrende Gewohnheit, plötzlich den Rücken nach Soldatenart zu straffen, als habe er sich in einer unziemlichen Haltung überrascht. Dazu gehörte es auch, wenn er durch Bewegungen der Knie und Ellbogen vage andeutete, daß er den Umgang mit Pferden gewohnt war. Dennoch hatte sein Auftreten eine gewisse schmerzliche Würde, als kämpfe sein kleiner Körper gegen einen grausamen Sturm.

»Wenn Sie schnell gehen«, sagte sie, »sind es nicht einmal zehn Minuten.«

Taylor haßte es, zu warten. Er glaubte, daß Leute, die warten, kein Rückgrat besäßen. Er empfand es als Schande, beim Warten gesehen zu werden. Er schürzte die Lippen, schüttelte den Kopf, und schritt mit einem verdrießlichen >Gute Nacht, meine Dame< geradewegs in die eisige Kälte hinaus. Taylor hatte noch nie einen Himmel wie diesen gesehen. Er wölbte sich ohne Begrenzung zu den schneebedeckten Feldern herunter, und seine Unerbittlichkeit wurde nur hie und da von einzelnen Nebelschleiern unterbrochen, die einen Hof um den weißen Mond legten und das Licht der Sterne vereisten. Taylor empfand die gleiche Angst, die einen Binnenländer beim Anblick der See befällt. Er beschleunigte seinen unsicheren, schwankenden Schritt. Er war ungefähr fünf Minuten gegangen, als das Auto ihn einholte. Es gab keinen Fußweg neben der Fahrbahn. Zuerst bemerkte er nur die Scheinwerfer, weil der Schnee das Geräusch des Motors verschluckte, und er begriff nur, daß die Gegend vor ihm beleuchtet war, ohne zu wissen, woher das Licht kam. Der matte Schein wanderte gemächlich über die Schneelandschaft, und eine Zeitlang glaubte Taylor, es sei der Scheinwerfer vom Flughafen. Dann sah er, daß sich sein eigener Schatten auf der Straße verkürzte; das Licht wurde plötzlich heller, und er begriff, daß es ein Auto sein mußte. Er ging auf der rechten Seite und schritt flink an der Kante des vereisten Straßenrandes aus. Er stellte fest, daß das Licht ungewöhnlich gelb war, und vermutete, daß es französische Scheinwerfer waren. Diese kleine Schlußfolgerung erfüllte ihn mit großer Genugtuung: sein Verstand war trotz allem noch ziemlich klar.

Er blickte nicht über die Schulter, weil er auf seine Art schüchtern war und nicht den Eindruck erwecken wollte, er wünsche mitgenommen zu werden. Aber ihm fiel ein, vielleicht ein bißchen spät, daß man auf dem Kontinent rechts fuhr und er genaugenommen auf der falschen Straßenseite ging, und daß er etwas dagegen tun müßte.

Das Auto erfaßte ihn von hinten; es brach ihm das Rückgrat. Einen fürchterlichen Augenblick lang verkörperte Taylor den klassischen Ausdruck des Schmerzes: Kopf und Schultern gewaltsam nach hinten geworfen, die Finger gespreizt. Er schrie nicht. Es hatte den Anschein, als konzentrierten sich Körper und Seele auf diese letzte Darstellung des Schmerzes, die im Tode ausdrucksvoller war als irgendein Laut, den er im Leben je von sich gegeben hatte. Das Auto schleifte ihn einige Meter weit mit und warf ihn dann zur Seite, tot auf die leere Straße: ein steifer, zerstörter Körper am Rande der Einöde. Dann erfaßte ein plötzlicher Windstoß den neben ihm liegenden Hut und trug ihn über den Schnee. Die Fetzen seines Wettermantels flatterten im Wind und haschten vergeblich nach der Zinkkapsel, während sie langsam zum gefrorenen Straßenrand rollte, um dann müde über die Kante des Abhanges zu verschwinden.

Zweiter Teil

AVERYS EINSATZ

»Es gibt Dinge, die von einem weißen Mann zu verlangen, niemand das Recht hat.«

JOHN BUCHAN, »MR. STANDFAST«

2. Kapitel

VORSPIEL

Es war drei Uhr morgens.

Avery legte den Hörer auf, weckte Sarah und sagte: »Taylor ist tot.« Er hätte es ihr natürlich nicht sagen dürfen.

»Wer ist Taylor?«

Ein langweiliger Kerl, dachte er; er erinnerte sich seiner nur undeutlich. Ein jämmerlicher, langweiliger Engländer.

»Ein Mann vom Kurierdienst«, sagte er. »Er war schon im Krieg dabei. Ein ziemlich tüchtiger Mann.«

»Das sagst du bei jedem. Alle sind sie tüchtig. Also, wie ist er gestorben? Wie kam er ums Leben?« Sie setzte sich im Bett auf.

»Leclerc wartet noch auf näheren Bescheid.« Avery wünschte, sie würde ihm nicht beim Anziehen zusehen.

»Und er will, daß du ihm beim Warten hilfst?«

»Er will, daß ich ins Büro komme. Er möchte mich um sich haben. Du erwartest doch nicht von mir, daß ich mich umdrehe und weiterschlafe, oder?«

»Ich habe nur gefragt«, sagte Sarah. »Du bist Leclerc gegenüber immer so rücksichtsvoll.«

»Taylor gehörte zum alten Stab. Leclerc ist sehr beunruhigt.« Er konnte noch immer den Triumph in Leclercs Stimme hören: »Kommen Sie sofort her, nehmen Sie sich ein Taxi; wir gehen die Akte noch mal durch.«

»Kommt das denn oft vor? Sterben oft Leute?« Ihre Stimme klang entrüstet, als erfahre sie nie irgend etwas, als sei sie die einzige, der Taylors Tod naheging. »Du darfst das niemandem erzählen«, sagte Avery.

Damit hielt er sie in ihren Schranken. »Du darfst nicht einmal erwähnen, daß ich mitten in der Nacht weg mußte. Taylor reiste unter falschem Namen.« Er fügte hinzu: »Irgend jemand wird seine Frau verständigen müssen.« Er suchte seine Brille. Sarah stand auf und zog einen Schlafrock an. »Um Himmels willen, hör auf! Die Sekretärinnen wissen davon, warum sollen es die Frauen nicht wissen dürfen? Oder verständigt man sie nur, wenn ihre Männer sterben?« Sie ging zur Tür.

Sie war mittelgroß und trug ihr Haar lang, eine Frisur, die nicht zu ihrem Gesicht paßte. Spannung lag in ihrer Miene, Angst, beginnende Unzufriedenheit, als werde das Morgen noch schlechter sein als das Heute. Sie hatten einander in Oxford kennengelernt: ihr akademischer Grad war höher als der seine. Aber irgendwie hatte sie sich in der Ehe wieder zurückentwickelt. Wie bei einem Kind war ihre Abhängigkeit zu etwas Natürlichem geworden: als habe sie Avery etwas Unwiederbringliches gegeben und verlange es ständig zurück. Ihr Sohn war weniger ihr Geschöpf als vielmehr ihre Rechtfertigung, und sie benutzte ihn als Schutzwall gegen die Welt statt als Zugang zu ihr. »Was machst du?« fragte Avery. Manchmal tat sie Dinge aus bloßem Trotz, wie zum Beispiel neulich, als sie eine Konzertkarte zerriß. Sie sagte: »Wir haben ein Kind, hast du das vergessen?« Er hörte, daß Anthony weinte. Sie mußten ihn geweckt haben. »Ich rufe dich vom Büro aus an.« Er ging zur Eingangstür. Als sie zum Kinderzimmer kam, drehte sie sich um, und Avery wußte, daß sie nun dachte, er habe ihr keinen Kuß gegeben. »Du hättest beim Verlag bleiben sollen«, sagte sie. »Das hat dir genausowenig gepaßt.«

»Warum schickt man dir keinen Wagen?« fragte sie. »Du hast gesagt, ihr habt eine Unmenge Wagen.«

»Er wartet an der Ecke.«

»Warum, um Himmels willen?«

»Es ist sicherer.«

»Sicherer wovor?«

»Hast du Geld?« fragte er. »Ich glaube, ich bin blank.«

»Wozu?«

»Einfach Geld, nur so! Ich kann nicht ohne einen Penny in der Tasche herumlaufen.« Sie gab ihm zehn Shilling aus ihrer Handtasche. Er schloß schnell die Tür hinter sich und ging die Treppe hinunter, auf den Prince of Wales Drive hinaus. Er ging an den Fenstern der Parterrewohnung vorbei und wußte, ohne hinzusehen, daß Mrs. Yates ihn hinter dem Vorhang beobachtete, wie sie, mit der Katze im Arm, Tag und Nacht jeden beobachtete. Es war bitter kalt. Der Wind schien vom Fluß über den Park herüberzuwehen. Er blickte die Straße hinauf und hinunter, sie war leer. Er hätte den Taxistandplatz in Clapham anrufen sollen, aber er hatte es eilig gehabt, aus der Wohnung wegzukommen. Außerdem hatte er Sarah erzählt, es käme ein Wagen. Er schritt etwa hundert Meter in Richtung des E-Werkes, änderte dann seine Absicht und ging wieder zurück. Er war müde. Seltsamerweise kam es ihm so vor, als höre er sogar auf der Straße noch das Telefon läuten. Am sichersten war es noch, zur Albert Bridge zu gehen. Dort konnte man manchmal zu den ausgefallensten Zeiten ein Taxi finden. Also ging er wieder am Eingang zu seinem Haus vorbei, sah zum Kinderzimmer hinauf, und da stand Sarah und schaute herunter. Sie mußte sich gefragt haben, wo denn der Wagen blieb. Sie hielt Anthony im Arm, und er wußte, daß sie weinte, weil er sie nicht geküßt hatte. Es dauerte eine halbe Stunde, ehe er ein Taxi zur Blackfriars Road fand. Avery beobachtete die vorbeifliegenden Straßenlampen. Er war noch recht jung und gehörte zu jener, erst in unserer Zeit entstandenen Gesellschaftsschicht von Engländern, die ein Bakkalaureat der Philosophischen Fakultät erworben haben und diese Tatsache nun mit ihrer Herkunft aus kleinen Verhältnissen in Einklang bringen müssen. Er war groß und wirkte mit seinen hinter einer Brille verborgenen trägen Augen wie ein Bücherwurm. Dazu hatte er eine freundliche, zurückhaltende Art, die ihn bei der älteren Generation beliebt machte. Die Bewegung des Taxis war ihm so angenehm, wie einem Kind das Schaukeln. Der Wagen fuhr über den St. George's Circus und an der Augenklinik vorbei in die Blackfriars Road. Ehe sich Avery es versah, waren sie vor dem Haus, aber er bat den Fahrer, ihn erst an der nächsten Ecke abzusetzen, denn Leclerc hatte ihn ermahnt, vorsichtig zu sein.

»Hier irgendwo«, rief er nach vorne. »Ist schon recht.« Die Organisation war in einer verbauten, altersgrauen, düsteren Villa untergebracht. Es war eines jener Häuser, die einen Feuerlöscher auf dem Balkon haben und so aussehen, als warteten sie schon seit einer Ewigkeit auf einen Käufer. Avery hatte sich oft gefragt, warum das Ministerium eine Mauer um das Grundstück errichtet hatte. Vielleicht sollte es wie ein Friedhof vor den neugierigen Blicken der Leute geschützt werden - oder die Leute vor den Blicken der hier ruhenden Toten. Sicherlich war es nicht zum Schutz des Gartens, denn in ihm gab es nichts als eine Grasfläche, die so räudig war wie das Fell eines alten Straßenköters. Die dunkelgrün gestrichene Vordertür wurde nie geöffnet. Tagsüber passierten gelegentlich in der gleichen Farbe lackierte unauffällige Lieferwagen die Einfahrt, aber was immer sie hier zu tun hatten, es wurde im Hinterhof erledigt. Soweit die Nachbarn überhaupt davon sprachen, nannten sie es das Ministerialgebäude, und das war eine ungenaue Bezeichnung, denn die Organisation war eigenständig und nur dem Ministerium unterstellt. Es war unverkennbar vom langsamen Verfall gezeichnet, wie jedes Haus auf der ganzen Welt, in dem sich eine staatliche Dienststelle eingemietet hat. Für die Menschen, die in diesem Haus arbeiteten, war sein Geheimnis wie das Mysterium der Mutterschaft, und sie empfanden die Tatsache, daß es weiter stehen blieb, wie das Mysterium Englands. Es gab ihnen Geborgenheit und Schutz, vermittelte ihnen das Gefühl von Sicherheit und die süße, aber unzeitgemäße Illusion, daß es sie erhalte. Avery würde sich immer daran erinnern, wie der Nebel zufrieden um die Stuckfassade strich, oder wie die Sonne während des Sommers für kurze Zeit durch die Netzvorhänge in sein Zimmer lugte, ohne daß sie Wärme verbreitete oder Geheimnisse enthüllte. Und er würde sich immer an das Bild dieses Hauses erinnern, wie es jetzt mit schwarzer Fassade in der Dämmerung eines Wintertages dastand, während sich die Straßenlampen in den Regentropfen auf den schmutzigen Scheiben brachen.

Aber an welches Bild er sich auch erinnern würde - es wäre nie das Bild seines Arbeitsplatzes, sondern immer das eines Ortes, an dem er gelebt hatte. Er folgte dem Fußweg zur Rückseite des Gebäudes, wo er läutete und darauf wartete, daß Pine ihm öffnete. Das Fenster in Leclercs Zimmer war erleuchtet. Er zeigte Pine seinen Ausweis. Möglicherweise erinnerte das beide an den Krieg: für Avery ein nachempfundenes Vergnügen, während sich Pine auf eigene Erfahrungen stützen konnte. »Schöner Mond, Sir«, sagte Pine. »Ja.« Avery trat ins Haus. Pine folgte und schloß hinter ihm ab.

»Früher hätten die Jungs einen solchen Mond verflucht.«

»Das stimmt«, lachte Avery.

»Haben Sie von dem Spiel in Melbourne gehört? Bradley war wieder mal große Klasse.«

»Du meine Güte«, sagte Avery freundlich. Er konnte Cricket nicht ausstehen.

An der Eingangshalle schimmerte eine blaue Lampe wie das Nachtlicht in einem Krankenhaus. Avery stieg die Treppe hinauf. Ihm war kalt und er fühlte sich unbehaglich. Irgendwo läutete eine Glocke. Merkwürdig, daß Sarah das Telefon nicht gehört hatte. Leclerc wartete schon auf ihn. Er sagte: »Wir brauchen einen Mann.« Es klang, als stehe er unter Hypnose, wie ein Schlafwandler. Eine Lampe warf ihr Licht auf die vor ihm liegende Akte. Er war schlank, glatt, klein und sehr geschmeidig; eine penible Katze von Mann, gut rasiert, gepflegt. Er trug nur steife Kragen mit runden Ecken und einfarbige Krawatten. Seine Augen waren dunkel und flink; beim Sprechen lächelte er, aber sein Lächeln hatte nichts Fröhliches. Seine Sakkos waren an den Seiten geschlitzt, und sein Taschentuch steckte im Ärmel. An Freitagen trug er Wildlederschuhe; man nahm an, daß er übers Wochenende aufs Land hinausfuhr. Niemand schien zu wissen, wo er wohnte. Der Raum lag im Halbdunkel.

»Wir können keine weitere Überfliegung mehr durchführen. Das war die letzte; sie haben mich im Ministerium darauf aufmerksam gemacht. Wir werden einen Mann hineinschicken müssen. Ich habe die alten Karteien durchgesehen, John. Darunter ist ein gewisser Leiser, ein Pole. Er wäre der richtige.«

»Was ist Taylor zugestoßen? Wer hat ihn getötet?« Avery ging zur Tür und schaltete die Deckenbeleuchtung ein. Sie sahen einander verlegen an. »Pardon. Ich bin noch nicht ganz wach«, sagte Avery. Dann fanden sie den Faden wieder und kamen zum Thema zurück.

Leclerc sagte geradeheraus: »Sie haben lange gebraucht, John. Hat es zu Hause irgendwas gegeben?« Autorität war ihm nicht angeboren. »Ich konnte kein Taxi bekommen. Ich habe den Standplatz in Clapham angerufen, aber dort hat niemand abgehoben. Auch an der Albert Bridge war nichts.« Er haßte es, Leclerc zu enttäuschen. »Sie können es verrechnen«, sagte Leclerc reserviert. »Auch die Telefongespräche. Alles in Ordnung mit Ihrer Frau?«

»Ich sagte doch, daß niemand geantwortet hat. - Es geht ihr gut.«

»Hat sie nichts dagegen gehabt?«

»Natürlich nicht.«

Sie sprachen nie über Sarah. Es war, als stünden sie beide in der gleichen Beziehung zu Averys Frau, wie Kinder, die sich ein Spielzeug zu teilen vermögen, für das sie nichts mehr übrig haben. »Sie hat ja Ihren Sohn, der ihr Gesellschaft leistet«, sagte Leclerc. »Ja, sicher.«

Leclerc war stolz darauf zu wissen, daß es ein Sohn und nicht eine Tochter war.

Er nahm eine Zigarette aus der Silberdose auf seinem Schreibtisch. Er hatte Avery einmal erzählt, daß sie ein Erinnerungsgeschenk aus dem Kriege war. Der Mann, der sie ihm geschenkt hatte, war tot, und der Anlaß für das Geschenk vorüber. Der Deckel trug keine Inschrift. Er wisse heute noch nicht genau, auf welcher Seite der Mann eigentlich gestanden habe - eine Bemerkung, über die Avery bereitwillig lachte, um ihn glücklich zu machen.

Leclerc nahm die Akte von seinem Schreibtisch und hielt sie direkt unter das Licht, als gäbe es etwas, das er sehr eingehend betrachten müsse. »John!«

Avery ging zu ihm hin; er bemühte sich, Leclercs Schulter nicht zu berühren.

»Was sagt Ihnen ein Gesicht wie dieses?«

»Ich weiß nicht. Auf Grund von Fotos kann man nur schwer etwas sagen.«

Es war der runde, ausdruckslose Kopf eines blonden Jungen mit langem zurückgekämmtem Haar. »Das ist Leiser. Aussehen tut er ordentlich, nicht wahr? Das Foto ist natürlich zwanzig Jahre alt«, sagte Leclerc. »Wir haben ihn sehr hoch eingestuft.« Widerstrebend legte er es nieder, ließ sein Feuerzeug schnippen und hielt die Flamme an seine Zigarette. »Auf jeden Fall scheinen wir da auf etwas gestoßen zu sein«, sagte er munter. »Ich habe keine Ahnung, was Taylor eigentlich passiert ist. Wir haben nur den Routinebericht vom Konsulat bekommen, das ist alles. Es sieht aus wie ein Autounfall. Ein paar Einzelheiten, die wenig besagen. Eben der Wisch, wie man ihn normalerweise den Angehörigen schickt. Das Auswärtige Amt schickte uns das Fernschreiben so, wie es ihnen durchgegeben wurde. Man wußte, daß es einer unserer Pässe war.« Er schob ein Blatt dünnen Papiers über den Schreibtisch. Er liebte es sehr, hinter dem Schreibtisch zu sitzen und darauf zu warten, daß seine Gesprächspartner ein Schriftstück zu Ende lasen, das er ihnen zugeschoben hatte. Avery warf einen Blick darauf.

»Malherbe? War das Taylors Deckname?«

»Ja. Ich muß aus dem Autopark des Ministeriums einige Wagen bekommen«, sagte Leclerc. »Direkt lächerlich, keine eigenen Autos zu haben. Das Rondell hat eine ganze Flotte.« Und dann fügte er hinzu: »Vielleicht wird mir jetzt das Ministerium glauben. Vielleicht nehmen sie doch endlich zur Kenntnis, daß wir noch immer eine im Einsatz stehende Organisation sind.«

»Hat Taylor den Film an sich genommen?« fragte Avery. »Wissen wir, ob er ihn bekommen hat?«

»Ich habe kein Inventar seines Besitzes. Im Augenblick sind alle seine Effekten von der finnischen Polizei beschlagnahmt. Vielleicht ist der Film darunter. Es ist ein kleiner Ort, und ich stelle mir vor, daß sie die gesetzlichen Vorschriften lieber genau beachten.« Und beiläufig, so daß Avery wußte, wie wichtig es war: »Das Auswärtige Amt befürchtet Schwierigkeiten.«

»Ach Gott«, sagte Avery automatisch. Es war in der Organisation üblich, derartige Reaktionen zu zeigen; man trat altmodisch und möglichst kühl auf. Leclerc sah ihn an. Jetzt zeigte er Interesse: »Vor einer halben Stunde hat der diensttuende Beamte des Auswärtigen Amtes mit dem Vertreter des Ministers gesprochen. Sie lehnen es ab, sich einzumischen. Sie sagen, wir seien ein Geheimdienst und müßten es auf unsere Art erledigen. Am liebsten hätten sie es, wenn irgend jemand von uns als nächster Angehöriger hinführe, um die Leiche und die persönlichen Habseligkeiten abzuholen. Ich möchte, daß Sie fahren.« Plötzlich bemerkte Avery an den Zimmerwänden die Bilder der Jungen, die im Krieg gekämpft hatten. Jeweils sechs hingen rechts und links neben dem ziemlich staubigen Modell eines schwarzlackierten Wellington-Bombers, der keine Kennzeichen trug. Die meisten Aufnahmen waren im Freien gemacht worden. Avery erkannte die Hangars im Hintergrund und die von den lächelnden jungen Gesichtern halbverdeckten Rümpfe der abgestellten Flugzeuge. Unter jedem Foto standen inzwischen vergilbte Unterschriften. Einige waren schwungvoll und zügig, während andere - wohl die der ranghöheren Offiziere - kunstvoll verschnörkelt wirkten, als seien die Schreiber über Nacht plötzlich berühmt geworden. Es standen keine Nachnamen da, sondern Spitznamen aus Kinderzeitschriften: Jacko, Shorty, Pip und Lucky Joe. Gemeinsam war allen nur die Schwimmweste, das lange Haar und das sonnige, jungenhafte Grinsen. Sie schienen am Fotografiertwerden Spaß gehabt zu haben, als sei ihr Zusammensein ein womöglich nie mehr wiederkehrender Anlaß zum Lachen und Fröhlichsein. Die Personen im Vordergrund hatten sich mit der Lässigkeit von Männern, die das Kauern in Geschützkanzeln gewohnt sind, niedergehockt, während die hinter ihnen Stehenden zwanglos die Arme um die Schultern des Nebenmannes gelegt hatten - eine spontane Geste, deren Überzeugungskraft den Krieg oder das Fotografiertwerden anscheinend nicht überleben kann.

Ein Gesicht wiederholte sich auf jedem Bild. Es war stets im Hintergrund - das Gesicht eines schlanken Mannes mit strahlenden Augen, der einen Dufflecoat und Kordhosen trug. Er war im Gegensatz zu den anderen ohne Schwimmweste und stand etwas abseits, als gehöre er irgendwie nicht dazu. Er war kleiner als die anderen und älter. Seine Gesichtszüge waren ausgeprägt: sie drückten eine Entschlossenheit aus, die den anderen fehlte. Er hätte ihr Lehrer sein können. Avery hatte einmal seine Unterschrift gesucht, um festzustellen, ob sie sich in den neunzehn Jahren verändert habe, aber Leclerc hatte nicht unterschrieben. Er sah seiner Fotografie noch immer ähnlich: das Kinn vielleicht eine Spur härter, das Haar etwas gelichtet.

»Aber das wäre doch ein Einsatz«, sagte Avery unsicher.

»Natürlich. Wir sind ja eine im Einsatz stehende Organisation.« Ein leichtes Kopfnicken. »Sie haben Anspruch auf Einsatzzulage. Alles, was Sie zu tun haben, ist Taylors Zeug zu holen. Sie haben alles bis auf den Film zurückzubringen. Den Film geben Sie in Helsinki bei einer bestimmten Adresse ab. Darüber werden Sie getrennte Instruktionen erhalten. Dann kommen Sie zurück und können mir bei Leiser helfen...«

»Könnte das nicht vom Rondell übernommen werden? Ich meine, könnten die das nicht einfacher erledigen?«

Dieses Lächeln kam langsam. »Ich fürchte, dieser Vorschlag wäre wohl nicht ganz passend. Das ist unsere Angelegenheit, John: das ganze Unternehmen fällt allein in unsere Kompetenz. Es handelt sich um ein militärisches Ziel. Wir würden uns vor unserer Verantwortung drücken, wenn wir das dem Rondell überließen. Deren Gebiet ist die Politik. Dort erledigt man rein politische Aufgaben.« Er strich sich mit seiner kleinen Hand in einer knappen, selbstbewußten Geste über das Haar. »Es ist also unser Problem. In dieser Beziehung ist das Ministerium ganz meiner Auffassung«

- eine seiner bevorzugten Wendungen. »Ich kann jemand anderen schicken, wenn Ihnen das lieber ist. Woodford, oder einen unserer älteren Mitarbeiter. Ich dachte aber, Sie würden es gerne machen. Es ist eine wichtige Aufgabe. Sie könnten damit einmal ganz etwas Neues anpacken.«

»Ja, sicherlich. Ich würde gerne fahren, wenn Sie mir soviel Vertrauen schenken.«

Leclerc genoß diese Situation. Nun drückte er Avery ein Blatt blauen Konzeptpapiers in die Hand. Es war mit Leclercs kindlichen runden Schriftzügen bedeckt. Auf den Kopf des Blattes hatte er >Ephemer< geschrieben und das Wort unterstrichen. Am linken Rand standen seine Initialen - alle vier - und darunter die Bezeichnung >Nicht geheim<. Wieder begann Avery zu lesen.

»Beim sorgfältigen Lesen werden Sie merken«, sagte Leclerc, »daß wir nicht direkt behaupten, Sie seien wirklich einer der nächsten Angehörigen. Wir zitieren nur die Angaben aus Taylors Paßantrag. Weiter wollen die Leute vom Auswärtigen Amt nicht gehen. Sie haben sich bereit erklärt, dies via Helsinki ans dortige Konsulat zu schicken.«

Avery las: »Auf Anforderung der Konsularabteilung. Ihr Fernschreiben in Sachen Malherbe. John Somerton Avery, Inhaber des britischen Passes No , Halbbruder des Verstorbenen, wird in Malherbes Paßantrag als nächster Angehöriger angegeben. In Kenntnis gesetzt, schlägt Avery heute Flugreise zur Übernahme von Leiche und persönlichem Besitz vor. NAS-Flug 201 über Hamburg, Ankunft mit ETA um 18.20 Uhr Ortszeit. Bitte leisten Sie übliche Unterstützung und Hilfe.«

Leclerc sagte: »Ich wußte Ihre Paßnummer nicht. - Die Maschine geht heute nachmittag um drei. Es ist ein sehr kleiner Ort. Ich könnte mir denken, daß der Konsul Sie am Flughafen abholen wird. Aus Hamburg kommt jeden zweiten Tag eine Maschine an. Wenn Sie nicht nach Helsinki müssen, könnten Sie mit derselben Maschine zurückfliegen.«

»Könnte ich nicht sein Bruder sein?« fragte Avery lahm. »Halbbruder sieht ein bißchen faul aus.«

»Wir haben keine Zeit, einen neuen Paß aufzutakeln. Im A.A. sind sie mit Pässen ungeheuer geizig. Schon wegen Taylor gab's eine Menge Schwierigkeiten.« Er hatte sich schon wieder seinen Akten zugewandt. »Wirklich eine Menge Schwierigkeiten. Wir müßten Sie ja auch Malherbe nennen, nicht wahr? Ich glaube nicht, daß man das dort gerne sehen würde.« Er sprach unaufmerksam, fast automatisch. Es war sehr kalt im Raum.

»Und was ist mit unserem skandinavischen Freund?« fragte Avery. Leclerc sah ihn verständnislos an. »Lansen. Sollte nicht jemand Verbindung mit ihm aufnehmen?«

»Ich kümmere mich schon darum.« Leclerc, der Fragen haßte, antwortete vorsichtig, als habe er Angst, irgendwo einmal zitiert zu werden. »Und Taylors Frau?« Es erschien ihm zu pedantisch, sie Witwe zu nennen. »Kümmern Sie sich um sie?«

»Ich hatte vor, daß wir morgen als erstes bei ihr vorbeischauen. Sie hat kein Telefon, und ein Telegramm wäre so geheimniskrämerisch.«

»Wir?« fragte Avery. »Müssen wir denn beide gehen?«

»Sie sind mein Assistent, nicht wahr?« sagte Leclerc. Diese Stille! Avery sehnte sich nach dem Geräusch des Straßenverkehrs und dem Schrillen der Telefone. Tagsüber war man immer von Leuten umgeben, Boten kamen und gingen, und die Aktenwagen klapperten über den Gang. Immer wenn er mit Leclerc allein war, hatte er das Gefühl, es fehle eine dritte Person. Niemand anderer brachte ihm sein eigenes Auftreten so zum Bewußtsein, niemand anderer strahlte eine derart lähmende Wirkung auf das Gespräch aus. Er wünschte, Leclerc würde ihm noch etwas zu lesen geben.

»Haben Sie schon irgendwas über Taylors Frau gehört?« fragte Leclerc. »Ist sie vertrauenswürdig?« Als er sah, daß Avery ihn nicht verstand, fuhr er fort: »Sie könnte uns die größten Schwierigkeiten machen. Wenn sie wollte. Wir müssen sehr vorsichtig vorgehen.«

»Was werden Sie ihr sagen?«

»Wir müssen ganz nach dem Gefühl gehen. Wie wir es im Krieg gemacht haben. Sie wird nichts wissen, verstehen Sie? Sie wird nicht einmal wissen, daß er im Ausland war.«

»Er könnte es ihr doch erzählt haben.«

»Nicht Taylor. Er ist ein alter Hase. Er hatte seine Instruktionen und kannte die Spielregeln. Sie muß eine Pension bekommen. Das ist die Hauptsache. Er ist im aktiven Einsatz gefallen.«

Er machte wieder eine knappe, abschließende Handbewegung.

»Und unser Stab? Was werden Sie hier im Hause sagen?«

»Ich werde heute vormittag die Abteilungsleiter zu einer Besprechung zusammenrufen. Was die anderen anbelangt: denen werden wir sagen, es sei ein Unfall gewesen.«

»Vielleicht war's das wirklich«, gab Avery zu bedenken.

Leclerc lächelte wieder: ein starres, schmerzliches Lächeln. »In welchem Fall wir die Wahrheit gesagt und bessere Chancen hätten, den Film zurückzubekommen.«

Noch immer war auf der Straße draußen kein Verkehr. Avery merkte, daß er hungrig war. Leclerc schaute auf die Uhr.

»Sie haben sich gerade Gortons Bericht angesehen«, sagte Avery.

Während Leclerc nachdenklich einen der Ordner berührte, als habe er sein Lieblingsalbum entdeckt, schüttelte er den Kopf. »Es ist nichts dran. Ich hab es wieder und wieder durchgelesen, und die Fotos zu jeder nur denkbaren Größe entwickeln lassen. Haldanes Leute haben Tag und Nacht darüber gesessen. Wir kommen einfach keinen Schritt weiter.« Sarah hatte recht gehabt: er war nur hier, ihm warten zu helfen.

Dann schien plötzlich der Zweck ihrer Besprechung sichtbar zu werden, als Leclerc sagte: »Ich habe es arrangiert, daß Sie heute vormittag nach unserer Konferenz ein kurzes Gespräch mit George Smiley im Rondell haben können. - Sie haben schon von ihm gehört?«

»Nein«, log Avery. Bei diesem Thema mußte man vorsichtig sein.

»Er war einmal einer ihrer besten Leute. Er ist in gewisser Weise typisch für die bessere Sorte im Rondell. Er scheidet dort immer wieder mal aus, wissen Sie, kommt dann aber wieder zurück. Er macht sich Gewissensbisse. Man kann nie sicher sein, ob er gerade dort ist oder nicht. Er paßt dort nicht mehr ganz hinein. Es heißt, er trinke ziemlich viel. Er hat dort die Abteilung für Nordeuropa. Er kann Sie instruieren, wie Sie den Film weiterzugeben haben. Seit wir unseren eigenen Kurierdienst aufgelöst haben, und da uns das AA nicht kennen will, gibt es keine andere Möglichkeit. Nach dem Tod Taylors kann ich es nicht zulassen, daß Sie mit diesem Dings in der Tasche herumlaufen. Wieviel wissen Sie über das Rondell?« Es war, als erkundige sich ein älterer Herr ohne nennenswerte Erfahrung vorsichtig danach, wo er leichte Mädchen finden könne.

»Nicht viel«, sagte Avery. »Nur das übliche Geschwätz.«

Leclerc stand auf und ging zum Fenster hinüber. »Es ist ein seltsamer Verein. Einige sind gut, natürlich. Smiley war gut.« Plötzlich brach es aus ihm hervor: »Aber sie sind Betrüger. - Ich weiß: ein komisches Wort, für eine verwandte Organisation, John. Aber das Lügen ist denen zur zweiten Natur geworden. Die meisten von ihnen wissen nicht einmal mehr, wann sie die Wahrheit sagen.«

Er neigte den Kopf von einer Seite auf die andere und beobachtete sorgfältig jede Bewegung auf der langsam erwachenden Straße. »Was für ein scheußliches Wetter«, murmelte er schließlich. »Im Krieg waren wir ziemlich eifersüchtig aufeinander, wissen Sie.«

»Davon hörte ich.«

»Das ist jetzt vorbei. Ich beneide sie nicht um ihre Arbeit. Sie haben mehr Geld und mehr Leute als wir. Sie arbeiten im größeren Stil - ob jedoch auch besser, möchte ich freilich bezweifeln. An unsere Auswertungsabteilung zum Beispiel kommt nichts auch nur annähernd heran. Nichts.«

Plötzlich hatte Avery das Gefühl, daß ihm Leclerc ein persönliches Geheimnis enthüllt hatte, etwas wie eine zerrüttete Ehe oder eine unwürdige Handlung, und daß er dadurch erleichtert war. »Smiley wird Sie vielleicht nach Einzelheiten dieses Unternehmens fragen, wenn Sie bei ihm sind. Ich möchte, daß Sie ihm aber auch nicht das geringste erzählen, außer, daß Sie nach Finnland fahren und womöglich in die Situation kommen könnten, einen Film auf dem schnellsten Weg nach London schicken zu müssen. Wenn er Sie bedrängt, lassen Sie durchblicken, daß es eine Übung sei. Mehr dürfen Sie nicht verraten. Nichts vom bisher Vorgefallenen, von Gortons Bericht oder künftigen Aktionen. All das geht diese Leute nicht das geringste an. Es ist einfach ein Schulungskurs.«

»Das ist mir klar. Er wird doch aber von Taylor wissen - oder nicht? -, wenn das AA informiert ist.«

»Überlassen Sie das mir. Und lassen Sie sich nicht den falschen Glauben aufschwatzen, daß man im Rondell ein Monopol darauf habe, Agentengruppen unterhalten zu dürfen. Wir haben das gleiche Recht. Wir üben es nur nicht unnötig aus.« Er hatte in seine Rolle zurückgefunden.

Avery betrachtete Leclercs schmalen Rücken, der sich als schwarze Silhouette vor dem heller werdenden Himmel draußen abhob. Ein Ausgestoßener, ein Mann ohne Ausweis, dachte er.

»Könnten wir nicht das Feuer anmachen?« fragte er. Er ging auf den Gang hinaus, wo Pine in einem Regal neben Besen und Bürsten Späne und alte Zeitungen aufbewahrte. Er kam zurück und kniete sich vor den Kamin, in dem er - genau wie er es bei sich zu Hause getan hätte - die Asche so durch den Rost scharrte, daß die größeren Kohlenstückchen zurückblieben. »Ich frage mich«, sagte er, »ob es sehr schlau gewesen ist, zuzulassen, daß die beiden sich am Flugplatz treffen.«

»Die Zeit drängte. Nach Jimmy Gortons Bericht war es sehr dringend. Das ist es immer noch. Wir haben keinen Augenblick zu verlieren.«

Avery hielt ein Streichholz an das Zeitungspapier und beobachtete, wie die Flamme um sich griff. Als das Holz zu brennen begann, stieg ihm sanft der Rauch ins Gesicht und trieb hinter der Brille Tränen in seine Augen. »Woher konnten sie Lansens Bestimmungsort wissen?«

»Es war ein normal angemeldeter Flug. Er mußte die Route vorher von der Flugsicherung genehmigen lassen.«

Nachdem Avery Kohle über das brennende Holz gehäuft hatte, stand er auf und wusch sich an dem Becken in der Zimmerecke die Hände. Er trocknete sie mit seinem Taschentuch.

»Ich habe Pine immer wieder gesagt, er solle mir ein Handtuch herhängen«, sagte Leclerc. »Sie haben einfach zu wenig zu tun. Das ist die Schwierigkeit.«

»Es macht ja nichts.« Avery steckte das nasse Taschentuch ein. Er fühlte es kühl an seinem Oberschenkel. Dann fügte er ohne Ironie hinzu: »Vielleicht werden sie jetzt mehr zu tun bekommen.«

»Ich habe daran gedacht, mir von Pine hier ein Bett aufstellen zu lassen. Mein Büro als eine Art Einsatzleitung.« Leclerc sprach vorsichtig, als ob ihm Avery seinen Spaß verderben könnte. »Sie können mich dann hier anrufen, heute abend aus Finnland. Ob Sie den Film bekommen haben. Sie brauchen nur zu sagen, das Geschäft sei gelungen.«

»Und wenn nicht?«

»Dann sagen sie, nicht gelungen.«

»Das klingt aber ziemlich ähnlich«, gab Avery zu bedenken. »Wenn die Verbindung schlecht ist, meine ich. Gelungen und nicht gelungen.«

»Sagen Sie eben, man sei nicht interessiert. Sagen Sie etwas Verneinendes. Sie verstehen, was ich meine.«

Avery nahm den leeren Kohleneimer. »Ich werde ihn Pine geben.«

Als er durch das Bereitschaftszimmer ging, saß dort ein Luftwaffensoldat dösend vor seinen Telefonen. Avery ging über die Holztreppe zur vorderen Eingangstür.

»Der Chef möchte Kohlen, Pine.«

Der Portier stand auf, wie immer, wenn jemand zu ihm sprach. Er stand stramm, als befinde er sich in einem Kasernenzimmer neben seinem Bett.

»Tut mir leid, Sir. Kann von der Tür nicht weg.«

»In Gottes Namen, dann werde eben ich auf die Tür aufpassen. Wir erfrieren da oben.«

Pine nahm den Eimer, knöpfte seine Uniform zu und verschwand im dunklen Durchgang. Heutzutage pfiff er nicht mehr.

Als Pine zurückkam, fuhr Avery fort: »Außerdem wünscht er ein Bett in seinem Zimmer. Sie könnten es dem diensthabenden Sekretär sagen, sobald er aufwacht. O ja, und ein Handtuch. Er braucht ein Handtuch für sein Waschbecken.«

»Jawohl, Sir. Es ist fein, die alte Einheit wieder im Einsatz zu sehen.«

»Können wir hier irgendwo ein Frühstück bekommen? Gibt's in der Nähe so etwas?«

»Da gibt's das >Cadena<«, antwortete Pine nachdenklich. »Aber ich weiß nicht recht, ob's für den Chef gut genug ist.« Ein Grinsen. »In den alten Zeiten gab's die Kantine. Würstchen und Kartoffelbrei.«

Es war Viertel vor sieben. »Wann macht es auf?«

»Keine Ahnung, Sir.«

»Sagen Sie: kennen Sie eigentlich Mr. Taylor?« Fast hätte er >kannten< gesagt. »Ja sicher, Sir.«

»Haben Sie mal seine Frau gesehen?«

»Nein, Sir.«

»Wie ist sie? Haben Sie eine Ahnung? Haben Sie irgend etwas über sie gehört?«

»Ich kann nichts darüber sagen, Sir. Sicher nicht. Ziemlich traurige Angelegenheit, Sir.« Avery sah ihn erstaunt an. Leclerc muß es ihm gesagt haben, dachte er und ging hinauf.

3. Kapitel

Irgendwo frühstückten sie. Leclerc weigerte sich, das >Cadena< zu betreten und sie gingen unendlich lang, bis sie ein anderes Cafe fanden, das schlechter und teurer als das >Cadena< war.

»Ich kann mich nicht an ihn erinnern«, sagte Leclerc. »Das ist das Absurde daran. Er ist offenbar gelernter Funker. Jedenfalls war er es damals.« Avery war der Ansicht, er spreche von Taylor. »Wie alt war er, sagten Sie?«

»Vierzig, etwas darüber. Das ist ein gutes Alter. Ein Pole aus Danzig. Man spricht dort Deutsch, müssen Sie wissen. Nicht so verrückt wie die reinen Slawen. Nach dem Krieg ließ er sich einige Jahre lang treiben, schwamm ein bißchen herunter, dann riß er sich zusammen und kaufte eine Garage. Muß ganz nett verdient haben.«

»Dann glaube ich nicht, daß er...«

»Unsinn. Er wird dankbar sein, oder sollte es wenigstens.«

Leclerc zahlte die Rechnung und steckte sie ein. Als sie das Restaurant verließen, sagte er irgend etwas von Diäten und daß er die Rechnung der Buchhaltung gebe. »Man kann auch den Nachtdienst verrechnen, wissen Sie. Oder Zeitausgleich nehmen.« Sie gingen die Straße hinunter. »Ihr Flugticket ist gebucht. Carol hat das von ihrer Wohnung aus erledigt. Besser, wir geben Ihnen einen Spesenvorschuß. Sie werden die Überführung der Leiche regeln müssen und ähnliches. Ich habe gehört, daß das sehr kostspielig sein kann. Lassen Sie ihn per Flugzeug hierher transportieren. Wir werden hier ganz im stillen eine Obduktion durchführen lassen.«

»Ich habe noch nie einen Toten gesehen«, sagte Avery.

Sie standen an einer Straßenecke in Kennington und hielten nach einem Taxi Ausschau. Auf der einen Seite der Straße war ein Gaswerk, auf der anderen nichts: eine Gegend, in der ein ganzer Tag vergehen konnte, bis ein Taxi kam.

»John, Sie müssen über diese Seite der Angelegenheit absolutes Stillschweigen bewahren - daß wir einen Mann hineinschicken. Niemand darf es wissen, nicht einmal innerhalb der Organisation, absolut niemand. Ich glaube, wir sollten ihn Mayfly [Anm: Eintagsfliege (Ephemerida)] nennen. Leiser, meine ich. Ja, wir werden ihn Mayfly nennen.«

»In Ordnung.«

»Es ist eine sehr heikle Sache, eine Frage des Zeitplans. Ich zweifle nicht daran, daß es Widerstand geben wird, innerhalb der Organisation genauso wie außerhalb.«

»Was ist mit meiner Tarnung und ähnlichem?« fragte Avery. »Ich bin nicht ganz.« Ein freies Taxi fuhr an ihnen vorbei, ohne anzuhalten.

»Scheißkerl«, zischte Leclerc. »Warum hat er uns nicht mitgenommen?«

»Ich nehme an, er wohnt hier in der Gegend. Er fährt Richtung West End.« Dann wiederholte er. »Was die Tarnung betrifft.«

»Sie reisen unter Ihrem eigenen Namen. Ich sehe darin keine Schwierigkeit. Sie können Ihre eigene Adresse verwenden. Geben Sie sich als Verleger aus. Schließlich waren Sie einer. Der Konsul wird Ihnen an die Hand gehen. Worüber machen Sie sich Sorgen?«

»Nun ja, einfach über die Einzelheiten.« Leclerc erwachte aus seiner Träumerei und lächelte. »Ich werde Ihnen etwas über Tarnung erzählen. Den Rest werden Sie selbst lernen. Geben Sie niemals unaufgefordert Auskunft. Die Leute erwarten gar keine Erklärungen von Ihnen. Was ist da schließlich auch zu erklären? Es ist alles vorbereitet. Der Konsul hat unser Fernschreiben bekommen. Weisen Sie einfach Ihren Paß vor und im übrigen verlassen Sie sich auf ihr Fingerspitzengefühl.«

»Ich werde es versuchen«, sagte Avery. »Sie werden es schaffen«, versicherte Leclerc mitfühlend. Beide lächelten zaghaft.

»Wie weit ist es in die Stadt?« fragte Avery. »Vom Flughafen.«

»Ungefähr fünf Kilometer. Er stellt die Verbindung zu den wichtigsten Wintersportorten her. Der Himmel weiß, was der Konsul den ganzen Tag macht.«

»Und nach Helsinki?«

»Ich sagte es schon: Hundertsechzig Kilometer. Vielleicht etwas mehr.«

Avery schlug vor, mit dem Bus zu fahren, aber Leclerc wollte sich nicht ans Ende der wartenden Schlange stellen, deshalb blieben sie an der Ecke. Er begann wieder von Dienstwagen zu sprechen. »Es ist völlig absurd«, sagte er. »Früher hatten wir einen eigenen Fuhrpark. Jetzt haben wir nur zwei Lieferwagen, und das Schatzamt erlaubt uns nicht, den Fahrern Überstunden zu bezahlen. Wie kann ich unter diesen Bedingungen eine Organisation führen?« Schließlich gingen sie zu Fuß. Leclerc wußte die Adresse auswendig: Er hatte es sich zum Prinzip gemacht, sich an solche Dinge zu erinnern. Es war Avery unangenehm, lange Zeit an seiner Seite zu gehen, weil Leclerc seinen Schritt dem des größeren Mannes anpaßte. Avery war bemüht, kleine Schritte zu machen, aber manchmal vergaß er es, und dann mußte sich Leclerc anstrengen und bei jedem Schritt fast einen kleinen Sprung machen. Es regnete leicht und es war noch immer sehr kalt.

Es gab Zeiten, da empfand Avery für Leclerc eine innige, beschützende Liebe. Leclerc besaß die undefinierbare Gabe, Schuldgefühle erwecken zu können, als ersetze der Begleiter nur schlecht einen verstorbenen Freund. Es hatte jemanden gegeben, und der war gegangen; vielleicht eine ganze Welt, eine Generation. Jemand schien ihn geschaffen und dann verleugnet zu haben. Avery konnte Leclerc wegen seiner durchsichtigen Intrigen hassen oder Widerwillen gegen seine anmaßenden und selbstgefälligen Gesten empfinden, so wie ein Kind die übertriebenen Affektiertheiten von Erwachsenen verabscheut. Und im nächsten Augenblick konnte er das Bedürfnis empfinden, ihn voll Verantwortungsbewußtsein und inniger Zuneigung zu beschützen. Abgesehen von all diesen wechselnden Stimmungen war er Leclerc aber irgendwie dankbar, daß er ihn aufgebaut hatte. All dies zusammen erzeugte zwischen ihnen jene Zuneigung, die nur die Schwachen füreinander empfinden können: jeder war für den anderen das Publikum, für das die Rolle gespielt wurde.

»Es wäre gut«, sagte Leclerc unvermittelt, »wenn Sie beim Unternehmen Mayfly mitmachen würden.«

»Würde ich gerne tun.«

»Nach Ihrer Rückkehr.«

Sie harten die Adresse auf dem Stadtplan nachgesehen: »Roxburgh Gardens 34«. Es war jenseits der Kennington High Street. Bald wurde die Straße schäbiger, die Häuser standen dichter. Die Gaslaternen brannten gelb und flach wie Papiermonde. »Im Krieg hatten wir für den Stab sogar ein Wohnhaus.«

»Vielleicht bekommen wir wieder eines«, meinte Avery.

»Es ist zwanzig Jahre her, seit ich zum letztenmal einen solchen Weg zu machen hatte.«

»Sind Sie damals allein gegangen?« fragte Avery und wünschte sofort, diese Frage nicht gestellt zu haben. Es war so leicht, Leclerc zu verletzen. »Damals war es einfacher. Wir konnten sagen, sie wären fürs Vaterland gefallen. Wir mußten ihnen keine Einzelheiten erzählen; niemand erwartete das.« Also war es >wir<, dachte Avery. Ein anderer Junge, eines dieser lachenden Gesichter an der Wand. »Jeden Tag fiel damals einer der Piloten. Wir machten Aufklärung, wissen Sie, auch Sondermissionen. Manchmal schäme ich mich: Ich kann mich nicht einmal an ihre Namen erinnern. Einige von ihnen waren so jung.«

In Averys Vorstellung zog eine tragische Prozession von Gesichtern vorüber, die vom Grauen gezeichnet waren: Mütter und Väter, Freundinnen und Frauen; und er versuchte, sich Leclerc vorzustellen, wie er naiv und doch selbstsicher unter ihnen stand. Wie ein Politiker am Schauplatz einer Katastrophe. Sie waren am Ende einer Erhebung angelangt. Eine armselige Gegend. Die Straße führte hinunter zu einer Reihe schmutziger, fensterloser Häuser. Darüber erhob sich eine einzeln stehende Mietskaserne: Roxburgh Gardens.

Die Kette der Straßenlaternen beleuchtete die Ziegelwand und teilte sie in regelmäßige Zellen. Es war ein großes Gebäude, auf seine Art sehr häßlich, der Beginn einer neuen Welt, zu deren Füßen der schwarze Schutt der alten lag: zerfallende, schmierige Häuser, zwischen denen sich traurige Gesichter wie Treibholz in einem vergessenen Hafen durch den Regen bewegten. Leclercs kleine Fäuste waren geballt; er stand ganz still.

»Hier?« sagte er. »Taylor hat hier gewohnt?«

»Warum sollte er nicht? Hier wird anscheinend aufgebaut, Altstadtsanierung.« Dann verstand Avery. Leclerc schämte sich. Taylor hatte ihn schamlos betrogen. Das war nicht die Gesellschaft, die von ihrer Organisation beschützt wurde, diese Slums rings um den Turm von Babel: dafür war in Leclercs Ordnung der Dinge kein Platz. Der Gedanke, daß ein Mitglied von Leclercs Stab sich tagtäglich aus dem Geruch und Gestank einer solchen Gegend in das Heiligtum der Organisation schleppte - hatte er kein Geld, keine Rente? Hatte er nicht ein bißchen auf der hohen Kante wie wir alle, nur ein- oder zweihundert, um sich aus diesem Elend herauszukaufen?

»Es ist nicht ärger als Blackfriars Road«, sagte Avery willkürlich; es sollte Leclerc trösten. »Jeder weiß, daß wir früher in der Baker Street waren«, gab Leclerc zurück.

Sie gingen schnell zum Eingang der Mietskaserne, vorbei an Schaufenstern, die mit alten Kleidern und rostigen Elektroöfen vollgestopft waren, mit all dem traurigen, nutzlosen Kram, den nur die Armen kaufen. Es gab einen Wachszieher. Seine Kerzen waren gelb und verstaubt wie Fragmente eines verfallenen Grabmals.

»Welche Nummer?« fragte Leclerc. »Vierunddreißig, sagten Sie.«

Sie gingen zwischen mächtigen, mit groben Mosaiken verzierten Säulen, wobei sie den mit rosa Zahlen beschrifteten Hinweispfeilen aus Plastik folgten. Sie zwängten sich zwischen Reihen alter Autowracks hindurch und kamen schließlich zu einem Eingang, auf dessen Schwelle Milchkartons standen. Es gab keine Tür, nur eine Treppe mit Gummibelag, die bei jedem Schritt quietschte. Es roch nach Essen und nach dieser flüssigen Seife, die man in Bahnhofstoiletten findet. Auf der breiten Gipswand forderte eine handgemalte Aufschrift, Ruhe zu halten. Irgendwo spielte ein Radio. Sie stiegen zwei Treppen hinauf und blieben vor einer grünen Tür mit Glasscheiben stehen. Darauf stand in weißen Bakelitziffern die Nummer 34. Leclerc nahm den Hut ab und wischte sich den Schweiß von den Schläfen. Es war die gleiche Geste, die er wohl vor dem Betreten einer Kirche gemacht hätte. Es hatte stärker geregnet, als ihnen bewußt geworden war. Ihre Mäntel waren ziemlich naß. Er läutete. Avery hatte plötzlich große Angst. Er warf einen Blick auf Leclerc und dachte: das ist deine Sache, du sagst es ihr. Die Musik schien lauter geworden zu sein. Sie lauschten angestrengt auf irgendein anderes Geräusch, aber sie hörten keines.

»Warum haben Sie ihn Malherbe genannt?« fragte Avery unvermittelt.

Leclerc läutete noch einmal, und dann hörten sie es beide: ein Wimmern, halb das Schluchzen eines Kindes, halb das Jammern einer Katze. Es war ein erstickter, metallisch klingender Seufzer. Während Leclerc zurücktrat, griff Avery nach dem bronzenen Türklopfer auf dem Briefkasten und bewegte ihn heftig. Als das Echo verhallt war, hörten sie aus der Wohnung einen leichten, zögernden Schritt. Ein Riegel wurde zurückgeschoben, ein Schnappschloß geöffnet. Dann vernahmen sie wieder, diesmal viel lauter und deutlicher, den gleichen klagenden Ton. Die Tür öffnete sich einen Spalt breit und Avery sah ein Kind, ein dünnes, blasses kleines Mädchen, das nicht älter als zehn Jahre sein mochte. Sie trug wie Anthony eine Stahlbrille. In den Armen hielt sie eine Puppe, deren rosa Glieder stumpfsinnig vom Körper abstanden und deren gemalte Augen zwischen zerzausten Baumwollfransen hervorstarrten. Der verschmierte Puppenmund klaffte halb offen, der Kopf hing wie gebrochen oder tot zur Seite. Man nennt so etwas Sprechpuppe, aber kein Lebewesen wird je derartige Laute von sich geben.

»Wo ist deine Mutter?« fragte Leclerc. Seine Stimme klang aggressiv, als fürchte er sich.

Das Kind schüttelte den Kopf. »Ist in der Arbeit.«

»Wer paßt denn auf dich auf?«

Sie sprach langsam, als denke sie an etwas anderes.

»Die Mama kommt am Nachmittag nach Hause. Ich darf nicht aufmachen.«

»Wo ist sie? Wohin geht sie?«

»Arbeiten.«

»Wer kocht dir das Mittagessen?« beharrte Leclerc. »Was?«

»Wer gibt dir zu essen?« sagte Avery schnell.

»Mrs. Bradley. Nach der Schule.«

Dann fragte Avery: »Wo ist dein Vater?« Das Kind lächelte und legte einen Finger an die Lippen.

»Er ist mit einem Flugzeug weg«, sagte sie, »um Geld zu bekommen. Aber ich darf es nicht sagen. Es ist ein Geheimnis.«

Keiner von ihnen sprach. »Er bringt mir ein Geschenk mit«, fügte sie hinzu. »Woher?« fragte Avery.

»Vom Nordpol, aber es ist ein Geheimnis.« Ihre Hand lag noch immer auf dem Türgriff. »Von wo der Weihnachtsmann kommt.«

»Sag deiner Mutter, daß zwei Herren hier waren«, sagte Avery. »Von der Firma deines Vaters. Wir kommen am Nachmittag wieder.«

»Es ist wichtig«, sagte Leclerc. Das Mädchen schien seine Angst zu verlieren, als es hörte, daß die beiden Männer seinen Vater kannten. »Er ist mit einem Flugzeug weg«, wiederholte sie. Avery suchte in seiner Tasche und gab ihr die 5 Shilling, die er in der Nacht von dem Taxifahrer auf Sarahs Zehnshillingstück herausbekommen hatte. Sie schloß die Tür und ließ sie in diesem verfluchten, von träumerischer Radiomusik erfüllten Stiegenhaus stehen.

4. Kapitel

Sie standen auf der Straße und sahen einander nicht an. »Warum haben Sie diese Frage gestellt? Die Frage nach ihrem Vater?« sagte Leclerc. Als Avery keine Antwort gab, fügte er zusammenhanglos hinzu: »Es handelt sich nicht darum, ob man Leute mag.«

Leclerc wirkte manchmal so, als ob er weder höre noch fühle. Dann schien er davongetrieben zu werden, während er innerlich nach einem entschwundenen Ton lauschte, wie ein Tänzer, nachdem die Musik zu seinen Bewegungen plötzlich verstummt ist. Eine Stimmung tiefster Traurigkeit schien dann über ihm zu liegen, oder die ratlose Verwirrung, die ein Betrogener empfindet.

»Ich fürchte«, sagte Avery mitfühlend, »daß ich heute nachmittag nicht mit Ihnen hierher zurückkommen kann. Vielleicht möchte Woodford Sie begleiten.«

»Bruce taugt nicht für so was.« Dann fügte Leclerc hinzu: »Werden Sie um Viertel vor elf zur Konferenz kommen?«

»Möglicherweise werde ich schon vor dem Ende weg müssen. Ich muß noch ins Rondell und gepackt habe ich auch noch nicht. Es geht Sarah nicht besonders gut. Aber ich werde so lange als möglich im Büro bleiben. Es tut mir leid, daß ich diese Frage gestellt habe. Wirklich.«

Leclerc sah ihn an. »Es soll niemand davon wissen. Ich muß zuerst mit ihrer Mutter sprechen. Vielleicht gibt es eine Erklärung. Taylor war ein alter Hase. Er kannte die Spielregeln.«

»Ich werde es nicht erwähnen. Sie können sich darauf verlassen. Auch Mayfly nicht.«

»Ich muß Haldane von Mayfly unterrichten. Er wird natürlich widersprechen. Ja, so werden wir sie nennen... Die ganze Operation. Wir werden sie Mayfly nennen.« Der Gedanke tröstete ihn. Sie beeilten sich, ins Büro zu kommen, nicht wegen der Arbeit, sondern weil sie auf der Flucht waren, weil sie die Anonymität suchten, die ihnen auf einmal zu einem Bedürfnis geworden war. Averys Zimmer lag neben dem Leclercs. Auf seiner Tür stand >Direktions-Assistent< Diese Bezeichnung stammte von einer Amerika-Reise, zu der Leclerc zwei Jahre zuvor eingeladen gewesen war. Die leitenden Männer wurden einfach mit der Funktion bezeichnet, die sie innerhalb der Organisation erfüllten. Avery hieß deshalb einfach >Chefbüro<, und auch wenn Leclerc seinen Titel jede Woche geändert hätte, so konnte er doch die Umgangssprache nicht ändern. Um Viertel vor elf kam Woodford in sein Büro, wie Avery erwartet hatte, um ein bißchen mit ihm zu plaudern und ein paar Worte mit ihm über Dinge zu wechseln, die nicht direkt auf der Tagesordnung standen.

»Was geht eigentlich vor, John?« Er zündete seine Pfeife an, lehnte dann seinen großen Kopf zurück und löschte das Streichholz mit weit ausholenden, schwingenden Handbewegungen. Er war früher Lehrer gewesen; ein Sportler. »Das würde ich Sie fragen.«

»Der arme Taylor!«

»Eben.«

»Ich will wirklich nicht inkonsequent sein«, sagte Woodford und ließ sich auf der Schreibtischkante nieder, während er noch immer mit seiner Pfeife beschäftigt war.

»Ich will wirklich nicht inkonsequent sein, John«, wiederholte er, »aber da gibt's noch etwas, um das wir uns trotz des tragischen Todes von Taylor kümmern sollten.« Er verstaute die Tabakschachtel in der Tasche seines grünen Anzuges und sagte: »Das Archiv.«

»Das Archiv ist Haldanes Revier.«

»Ich hab' nichts gegen unsern alten Adrian. Er ist ein guter Kamerad. Wir arbeiten schon seit zwanzig Jahren zusammen.«

Und deshalb, dachte Avery, bist also auch du ein guter Kamerad.

Woodford hatte die Angewohnheit, beim Sprechen immer näher zu rücken, wobei er seine mächtige Schulter auf seinen Partner zu bewegte wie ein Pferd, das sich an einem Pfosten scheuert. Er beugte sich vor und sah Avery mit einem ernsten Blick an; ganz die Erscheinung eines einfachen, aufrechten Mannes voll tiefer Sorge, eines anständigen Menschen, der gezwungen war, sich zwischen Freundschaft und Pflicht zu entscheiden. Sein Anzug war aus haarigem Stoff, der zu dick war, um knittern zu können, und deshalb wie eine Bettdecke Wülste bildete. Die Knöpfe waren aus braunem Hirschhorn.

»Das Archiv, John, ist vollkommen auf dem Hund. Wir beide wissen das ganz genau. Papiere werden nicht richtig eingeordnet und Akten werden nicht zur rechten Zeit wieder vorgelegt.« Er schüttelte voll Verzweiflung den Kopf. »Seit Mitte Oktober vermissen wir jetzt schon diesen taktischen Bericht über den Marine-Frachtverkehr. Er hat sich einfach in Luft aufgelöst.«

»Adrian Haldane hat einen Suchzettel losgelassen«, sagte Avery. »Wir sind alle dran beteiligt, nicht nur Adrian. Akten können schließlich mal verlorengehen. Das ist seit April der erste, Bruce. Ich halte das nicht für schlecht, wenn man bedenkt, wie viel wir arbeiten. Ich dachte, das Archiv sei unsere stärkste Seite. Die Akten sind in tadellosem Zustand. Soviel ich weiß, ist das Verzeichnis unserer Aufklärungsobjekte einfach einmalig. Das ist alles Adrians Verdienst, oder nicht? Aber wenn Sie sich Sorgen machen, reden Sie doch mit Adrian selbst darüber.«

»Aber nein. So wichtig ist es auch wieder nicht.« Carol brachte den Tee herein. Woodford trank aus einer riesigen Steingut-Tasse, die sein Monogramm trug, in großen, erhabenen Buchstaben, wie die Glasur auf einer Torte. Während Carol die Kanne hinstellte, sagte sie: »Wilf Taylor ist tot.«

»Ich bin schon seit eins hier«, log Avery, »und habe mich damit befaßt. Wir haben die ganze Nacht gearbeitet.«

»Der Direktor ist ganz außer Fassung«, sagte sie. »Wie war seine Frau, Carol?« Carol war ein gut angezogenes Mädchen, vielleicht etwas größer als Sarah. »Niemand hat sie je zu Gesicht bekommen.« Sie verließ das Zimmer, wobei Woodford ihr nachsah. Er nahm die Pfeife aus dem Mund und grinste. Avery wußte, daß er jetzt gleich eine Bemerkung darüber machen würde, wie es wäre, mit Carol zu schlafen, und das ekelte ihn plötzlich an.

»Diese Tasse hat wirklich Ihre Frau gemacht, Bruce?« fragte er schnell. »Sie soll im Töpfern ganz groß sein.«

»Die Untertasse auch«, sagte Woodford. Er begann von den Kursen zu erzählen, die seine Frau besuchte, und davon, auf welch amüsante Weise das in Wimbledon in Mode gekommen war, und wie irrsinnig sich seine Frau dafür begeisterte.

Fast elf Uhr: sie konnten hören, wie sich die anderen auf dem Gang versammelten.

»Ich werde jetzt wohl besser hinüberschauen«, sagte Avery, »ob er schon bereit ist. Die letzten acht Stunden waren ziemlich schlimm für ihn.« Woodford nahm seine Schale und trank einen Schluck Tee. »Wenn sich die Gelegenheit ergibt«, sagte er, »erwähnen Sie beim Chef bitte diese Archivgeschichte, John. Ich möcht's nicht gern vor all den anderen anschneiden. Adrian scheint doch ein bißchen alt zu werden.«

»Der Direktor hat jetzt gerade ziemlich viel andere Sachen im Kopf, Bruce.«

»Ja, sicherlich.«

»Er kommt Haldane nicht gerne in die Quere, wie Sie wissen.«

An der Tür seines Zimmers wandte er sich zu Woodford um und fragte: »Erinnern Sie sich daran, ob es mal einen Mann namens Malherbe in der Organisation gegeben hat?«

Woodford erstarrte. »Du meine Güte, natürlich. Junger Kerl wie Sie, während des Krieges. Guter Gott!« Dann sagte er sehr ernst, aber nicht in seinem üblichen Ton: »Vor dem Chef erwähnen Sie diesen Namen besser nicht. Die Sache mit dem jungen Malherbe hat ihn mächtig mitgenommen. Er war einer von den Spezialpiloten. Wissen Sie, die beiden standen einander wirklich sehr nahe.«

Bei Tageslicht machte Leclercs Zimmer nicht so sehr den Eindruck von Unordnung, sondern mehr den eines Provisoriums. Man konnte glauben, es sei von seinem Inhaber hastig requiriert worden, als er gerade unter großem Zeitdruck stand und nicht wußte, wie lange er würde bleiben müssen. Über zwei Böcken lag eine Tischplatte, und darauf waren nicht drei oder vier, sondern gleich Dutzende von Landkarten verstreut - einige von ihnen in einem Maßstab, der sogar Straßen und Gebäude erkennen ließ. An einer Wandtafel hingen die Papierstreifen aus einem Telegrafenapparat. Sie waren auf rosa Bögen geklebt und wurden von einer großen Metallklemme gehalten, wie die Korrekturfahnen in einer Druckerei. In einer Ecke war das Bett aufgestellt worden, auf dem ein Überwurf lag. Neben dem Waschbecken hing ein frisches Handtuch. Der Schreibtisch - ein graues Behördenstahlmöbel - war neu. Die Wände waren schmutzig. Da und dort war die helle Farbe abgeblättert und darunter kam ein dunkles Grün zum Vorschein. Es war ein kleiner, rechteckiger Raum mit Vorhängen aus den Beständen der staatlichen Gebäudeverwaltung. Wegen dieser Vorhänge hatte es größere Auseinandersetzungen um die Frage gegeben, welchem Verwaltungsdienstgrad die Stellung Leclercs entsprach. Avery konnte sich an diesen Streit als die einzige Gelegenheit erinnern, bei der Leclerc sich etwas um die Verbesserung seines Zimmers bemüht hatte. Das Kaminfeuer war fast ganz heruntergebrannt. An manchen Tagen, wenn es sehr windig war, wollte das Feuer überhaupt nicht brennen, und immer konnte Avery in seinem Nebenzimmer das Rieseln des Rußes im Schornstein hören. Avery sah zu, wie die anderen hereinkamen. Zuerst Woodford, dann Sandford, Dennison und McCulloch. Sie alle wußten bereits, was mit Taylor passiert war. Avery konnte sich leicht vorstellen, wie die Neuigkeit die Runde durch die einzelnen Abteilungen gemacht hatte - keineswegs als große Schlagzeile, sondern als kleine, erfreuliche Sensation, die von Zimmer zu Zimmer weiterwanderte und der Tagesarbeit Glanz verlieh, so wie sie diesen Männern hier Glanz verliehen hatte und den gleichen vorübergehenden Optimismus, den man bei einer Gehaltserhöhung empfindet. Sie würden nun Leclerc beobachten wie Gefangene ihren Wärter. Seine gewöhnliche Verhaltensweise war ihnen nur allzu vertraut, aber jetzt warteten sie darauf, daß er seine Routine aufgab. In der ganzen Organisation gab es keinen einzigen Menschen, der nicht gewußt hätte, daß man Leclerc und Avery mitten in der Nacht herausgeklingelt hatte, und daß der Chef in seinem Büro schlafen würde.

Sie ließen sich am Tisch nieder und stellten, wie es Kinder beim Essen tun, ihre Tassen klappernd vor sich ab. Leclerc saß am Kopfende des Tisches, die anderen an den Längsseiten. Der Stuhl am entgegengesetzten Ende blieb leer. Dann kam Haldane herein, und kaum hatte Avery ihn erblickt, wußte er, daß es zwischen ihm und Leclerc einen Kampf geben würde. Haldane sah auf den leeren Stuhl und sagte: »Der zugigste Platz ist für mich, wie ich sehe.« Avery stand auf, aber Haldane hatte sich schon gesetzt. »Lassen Sie nur, Avery, ich bin sowieso schon krank.« Er hustete, wie er es das ganze Jahr über tat. Offenbar konnte ihm nicht einmal das Sommerwetter helfen, denn er hustete zu allen Jahreszeiten. Die anderen fühlten sich unbehaglich. Woodford nahm sich einen Keks. Haldane warf einen Blick auf das Feuer. »Das ist das Beste, was die Gebäudeverwaltung bieten kann?« fragte er.

»Es liegt am Regen«, sagte Avery. »Der Regen verträgt sich nicht mit dem Feuer. Pine hat schon irgendwas unternommen, aber das hat es nicht besser gemacht.«

»Ach.«

Haldane war ein hagerer Mann mit langen, nervösen Fingern, ein in sich verschlossener Mensch mit langsamen Gesten, beweglichen Gesichtszügen, schütterem Haar, mager, streitsüchtig und trocken. Ein Mann, der anscheinend auf alles und jeden voller Verachtung herabsah, seine eigene Zeiteinteilung hatte und keinen fremden Rat annahm. Ein Mann, dessen Leidenschaft dem Lösen von Kreuzworträtseln und dem Sammeln von Aquarellen aus dem 19. Jahrhundert gehörte.

Carol brachte einen Stoß Akten und Karten herein und legte ihn auf Leclercs Schreibtisch, der im Gegensatz zu dem Rest des Zimmers sehr aufgeräumt war. Es gab eine Minute peinlicher Stille, bis sie wieder hinausgegangen war. Nachdem die Tür wieder sicher geschlossen war, fuhr sich Leclerc mit der Hand vorsichtig über sein schwarzes Haar, als sei es ihm irgendwie fremd.

»Taylor ist getötet worden. Sie haben inzwischen alle davon gehört. Er wurde vergangene Nacht in Finnland getötet, wo er unter einem falschen Namen unterwegs war.« Es fiel Avery auf, daß er den Namen Malherbe nie erwähnte. »Einzelheiten wissen wir nicht. Es sieht so aus, als hätte man ihn überfahren. Ich habe Carol gesagt, sie solle herumerzählen, daß es ein Unfall war. Ist das klar?« Sie sagten ja, es sei völlig klar. »Er war unterwegs, um von. von einem skandinavischen Kontaktmann einen Film in Empfang zu nehmen. Sie wissen, wen ich meine. Normalerweise schicken wir ja keine Kuriere in den Einsatz, aber dieser Fall war etwas Besonderes. Wirklich ein ganz besonderer Fall. Ich glaube, daß mir Adrian das bestätigen kann.« Mit offenen Händen machte er eine Bewegung nach oben, wobei sich seine Handgelenke aus den Manschetten befreiten. Er legte Handflächen und Finger senkrecht aufeinander; ein Gebet um Haldanes Unterstützung.

»Besonderes?« wiederholte Haldane langsam. Die Stimme war so dünn und scharf wie der ganze Mann. Sie war kultiviert, aber ohne Ausdruck und ohne Gefühl. Er war um seine Stimme zu beneiden. »Es war anders. Ja. Nicht zuletzt deshalb, weil Taylor starb.« Dann bemerkte er trocken: »Wir hätten ihn niemals schicken sollen. Niemals. Wir haben einen der wichtigsten Grundsätze der Geheimdienstarbeit verletzt. Wir benutzten einen Mann aus dem >offenen< Dienst für einen geheimen Auftrag. Damit will ich nicht sagen, daß es überhaupt noch eine geheime Seite in unserer Organisation gibt.«

»Wollen wir das Urteil darüber nicht unseren Meistern überlassen?« schlug Leclerc zimperlich vor. »Schließlich werden Sie zugeben müssen, daß wir täglich vom Ministerium gedrängt werden, Ergebnisse vorzulegen.« Er wandte sich erst nach rechts, dann nach links zu den seitlich am Tisch Sitzenden, um sie wie Aktionäre an dem Gespräch zu beteiligen: »Es ist an der Zeit, daß Sie die Einzelheiten erfahren. Es handelt sich um ein Thema, das der höchsten Geheimhaltung unterliegt. Ich bitte Sie, das zu bedenken. Ich schlage vor, das Wissen auf die Abteilungsleiter zu beschränken. Bisher war nur Adrian Haldane und ein oder zwei Leute aus seiner Auswertungsabteilung damit befaßt. Und John Avery als mein Assistent. Ich möchte betonen, daß der uns verwandte Dienst auch nicht das geringste davon weiß. Nun zu unseren eigenen Vorkehrungen. Das Unternehmen hat den Decknamen Mayfly.« Er sprach abgehackt, mit wirkungsvoller Stimme. »Es gibt für die Bearbeitung dieses Falles nur eine Akte, die jeden Abend an mich persönlich zurückzugeben ist, oder - wenn ich nicht da bin - an Carol. Eine Kopie ist für das Archiv. Wir haben dieses System während des Krieges für Einsatz-Akten gehabt, und ich glaube, alle sind damit vertraut. Es ist das System, das wir in Zukunft anwenden. Ich werde Carols Namen auf die Liste der Berechtigten setzen.« Woodford deutete mit seiner Pfeife auf Avery und schüttelte den Kopf: der junge John nicht, der war noch nicht mit dem System vertraut. Sandford, der neben Avery saß, erklärte es ihm. Die Archivakte wurde im Verschlüsselungsraum aufbewahrt, und es war verboten, sie von dort wegzunehmen. Alle neuen Vorgänge waren sofort in dieser Akte abzuheften. Die Berechtigungsliste war das Verzeichnis aller Personen, die befugt waren, darin zu lesen. Die Verwendung von Klammern war untersagt, alle Blätter hatten fest eingeheftet zu werden. Die Tischrunde blickte selbstgefällig auf Avery.

Sandford leitete die Verwaltung. Er war ein väterlicher Mann mit goldgefaßter Brille, der auf einem Motorrad ins Büro fuhr. Leclerc hatte ihn deswegen einmal ohne besonderen Grund zurechtgewiesen, und er stellte es weiter unten in der Straße ab, gegenüber dem Krankenhaus.

»Nun zu unserem Unternehmen«, sagte Leclerc. Die dünne Linie seiner zusammengelegten Hände teilte sein strahlendes Gesicht. Nur Haldane sah ihn nicht an, seine Augen waren zum Fenster gewandt. Draußen fiel der Regen sacht gegen die Häuser, wie Frühlingsregen in einem dunklen Tal. Leclerc stand unvermittelt auf und ging zu der Wandkarte von Europa hinüber. Auf ihr waren kleine Fähnchen eingesteckt. Während er sich auf die Zehen stellte und mit ausgestrecktem Arm die nördliche Hemisphäre zu erreichen versuchte, sagte Leclerc: »Wir haben hier einen kleinen Punkt, der uns Ärger mit den Deutschen macht.« Kurzes Gelächter. »In der Gegend südlich Rostocks. Es ist ein Fleck mit dem Namen Kalkstadt, hier, sehen Sie?« Sein Finger war der Ostseeküste Schleswig-Holsteins gefolgt, nach Osten gefahren und hielt nun ein oder zwei Fingerbreit neben Rostock.

»Um es mit einem Satz zu sagen: es gibt drei Anhaltspunkte, die den Verdacht nahelegen - ich könnte nicht sagen, daß sie ihn bestätigen -, daß dort in Beziehung auf militärische Anlagen etwas Großes vor sich geht.«

Er wandte sich um und sah seine Zuhörer an. Er gedachte, seinen Vortrag dort neben der Landkarte zu halten, um damit zu zeigen, daß er jede Einzelheit im Kopf hatte und nicht auf die Papiere an seinem Platz angewiesen war.

»Der erste Hinweis kam vor genau einem Monat, als wir den Bericht unseres Hamburger Vertreters Jimmy Gorton erhielten.«

Woodford grinste: großer Gott, der alte Jimmy war noch immer im Geschäft?

»In der Nähe von Lübeck war ein ostdeutscher Flüchtling herübergekommen. Er war durch die Trave geschwommen. Ein Eisenbahner aus Kalkstadt. Er ging zu unserem Konsulat und wollte Informationen über eine Raketenbasis bei Rostock verkaufen. Ich brauche nicht zu sagen, daß ihn das Konsulat hinauswarf. Da uns das Auswärtige Amt nicht einmal die Möglichkeit gibt, seinen Kurierdienst mitzubenutzen« - ein dünnes Lächeln -, »kann man kaum erwarten, daß es uns durch den Ankauf militärischer Nachrichten unterstützt.« Der Witz wurde mit fröhlichem Murmeln belohnt. »Wie dem auch sei. Durch einen glücklichen Zufall hörte Gorton von dem Mann und fuhr nach Flensburg, um mit ihm zu reden.« Diese Gelegenheit konnte Woodford nicht verstreichen lassen. »Flensburg? War das nicht der Ort, den wir 41 als deutsches U-Bootnest ausgemacht hatten?« In Flensburg hatte es ein großes Spektakel gegeben.

Leclerc nickte nachsichtig zu Woodford hinüber, als sei auch er von dieser Erinnerung amüsiert. »Der arme Mensch war schon bei jeder alliierten Dienststelle in Norddeutschland gewesen, ohne daß auch nur einer auf ihn hätte hören wollen. Jimmy Gorton hat mit ihm geplaudert.«

Leclercs Art, die Dinge zu beschreiben, legte die Vermutung nahe, daß Jimmy Gorton der einzige intelligente Mensch unter lauter Narren war. Jetzt ging Leclerc zu seinem Schreibtisch hinüber, nahm aus der silbernen Dose eine Zigarette, zündete sie an, und griff dann nach einem Aktendeckel, auf dem ein dickes rotes Kreuz leuchtete. Geräuschlos legte er den Band vor sie auf den Tisch. »Das ist Jimmys Bericht. Es ist auch für hohe Ansprüche eine erstklassige Arbeit.« Die Zigarette sah zwischen seinen Fingern besonders lang aus. Ohne Zusammenhang fügte er hinzu: »Der Name des Verräters war Pritsche.«

»Verräter?« warf Haldane schnell ein. »Der Mann ist ein kleiner Flüchtling, ein Eisenbahner. Gewöhnlich sagen wir von derartigen Leuten nicht, daß sie Verrat begehen.«

»Der Mann ist nicht nur Eisenbahner«, sagte Leclerc rechtfertigend, »sondern versteht auch etwas von Maschinen und Fotografie.«

McCulloch schlug die Akte auf und begann methodisch, die einzelnen Blätter umzuwenden. Sandford sah ihm durch seine goldgefaßte Brille dabei zu. »Am 1. oder 2. September - wir wissen das nicht genau, weil sich der Mann nicht mehr daran erinnern kann - machte er zufällig Doppelschicht in den Lagerschuppen von Kalkstadt. Einer seiner Kollegen war krank. Er hatte von sechs Uhr morgens bis zwölf Uhr mittags zu arbeiten, und dann von vier Uhr nachmittags bis zehn Uhr abends. Als er zur Arbeit kam, waren am Bahnhofseingang ein Dutzend Vopos. Es gab keinen Personenverkehr. Man prüfte seine Papiere anhand einer Liste und befahl ihm, sich von den Lagerschuppen am östlichen Ende des Bahnhofes fernzuhalten.« Leclerc setzte bedachtsam hinzu: »Man sagte ihm, er riskiere - falls er den Schuppen nahe käme -, erschossen zu werden.« Das machte Eindruck. Woodford sagte, so etwas sei für die Deutschen typisch.

»Es sind die Russen, gegen die wir kämpfen«, warf Haldane ein.

»Er ist ein komischer Vogel. Anscheinend hat er mit ihnen gestritten. Er sagte ihnen, daß er mindestens so zuverlässig sei wie sie selbst, ein guter Deutscher und Parteimitglied. Er zeigte ihnen seinen Eisenbahnerausweis, Bilder von seiner Frau und Gott weiß was noch. Es half natürlich nichts, weil sie ihm nur befahlen, die Anweisungen zu befolgen und von den Schuppen wegzubleiben. Irgendwie scheint er ihnen aber gefallen zu haben, denn als sie sich um zehn Uhr eine Suppe machten, riefen sie ihn herüber und boten ihm eine Tasse voll an. Bei der Suppe fragte er sie, was eigentlich los sei. Sie waren zugeknöpft, aber er konnte spüren, daß sie aufgeregt waren. Dann passierte etwas.« Leclerc fuhr fort: »Etwas sehr Wichtiges. Einer von den Jüngeren platzte heraus, was auch immer in dem Schuppen sei, sie könnten damit die Amerikaner innerhalb von Stunden aus Westdeutschland hinausjagen. Im selben Augenblick kam ein Offizier und schickte ihn an seine Arbeit zurück.« Haldane ließ ein tiefes, hoffnungsloses Husten hören, das wie ein Echo in einem uralten Gewölbe klang. Was für ein Offizier, fragte jemand, deutsch oder russisch?

»Deutsch. Das ist das Interessante daran. Russen waren überhaupt keine dort.«

»Der Flüchtling hat keine gesehen«, unterbrach Haldane scharf. »Das ist alles, was wir wissen. Wir wollen doch genau bleiben.« Wieder hustete er. Es war sehr störend.

»Wie du willst. - Er ging nach Hause und aß zu Mittag. Er war ziemlich ärgerlich, daß er in seinem eigenen Bahnhof von ein paar jungen Kerlen, die gerade Soldaten spielten, herumkommandiert wurde. Er trank ein paar Gläser Schnaps und grübelte über die Lagerschuppen nach. - Adrian, falls dir dein Husten zu schaffen macht.?« Haldane schüttelte den Kopf. »Dann fiel ihm ein, daß der Schuppen an seiner Nordseite an eine alte Hütte stieß und daß in der Trennwand ein Ventilator eingelassen war. Er bekam Lust, einmal durch diesen Ventilator in den Schuppen zu schauen. Um sich sozusagen an den Vopos zu rächen.«

Woodford lachte.

»Dann beschloß er, noch weiter zu gehen. Er würde durch den Ventilator fotografieren, was immer in dem Schuppen versteckt sein mochte.«

»Er muß verrückt gewesen sein«, bemerkte Haldane. »Ich kann das nicht verstehen.«

»Verrückt oder nicht: das hatte er jedenfalls vor. Er war zornig, weil sie ihm nicht vertrauen wollten. Er fand, daß er ein Recht darauf hatte, zu wissen, was in dem Schuppen war. Er hatte eine Exa-Zwei, eine Spiegel-Reflex-Kamera mit einer Linse, ein ostdeutsches Produkt. Es hat ein billiges Gehäuse, kann aber mit allen Zusatzobjektiven der Exakta verwendet werden. Natürlich hat es viel weniger Belichtungszeiten als die Exakta.« Er blickte fragend zu den Technikern Dennison und McCulloch. »Hab ich recht, meine Herren? - Sie müssen mich korrigieren.« Sie grinsten dümmlich, denn da war nichts zu korrigieren. »Er hatte ein gutes Weitwinkelobjektiv. Die Schwierigkeit war nur das Licht. Seine Schicht begann erst wieder um vier, wenn es schon dämmrig werden würde. Dann wäre noch weniger Licht in der Halle. Er besaß einen schnellen Agfa-Film, den er sich für irgendeine besondere Gelegenheit aufgehoben hatte. Seine Empfindlichkeit war 26 DIN. Er entschloß sich, diesen Film zu nehmen.« Leclerc machte eine Pause - mehr der Wirkung halber, als um Zeit für Fragen zu lassen. Haldane fragte: »Warum hat er nicht bis zum nächsten Tag gewartet?«

Aber Leclerc überhörte das. »In diesem Bericht werden Sie eine umfassende Darstellung Gortons finden, wie der Mann in die Hütte gelangte, sich auf ein Ölfaß stellte und die Bilder durch den Ventilator schoß. Ich werde das jetzt nicht alles wiederholen. Er verwendete die weiteste Blende, nämlich zwo-acht, und schoß mit verschiedenen Belichtungszeiten zwischen einer Fünfundzwanzigstel und zwo Sekunden. Ein begrüßenswertes Beispiel deutscher Sorgfalt.« Niemand lachte. »Die Belichtungszeiten waren natürlich geschätzt. Nur die letzten drei Bilder zeigen irgend etwas. Hier sind sie.«

Leclerc sperrte das Stahlfach seines Schreibtisches auf und nahm einen Stoß großer Hochglanzfotos heraus. Dabei lächelte er ein wenig, wie ein Mann, der sein eigenes Spiegelbild betrachtet. Alle drängten sich um ihn, außer Haldane und Avery, die die Bilder schon vorher gesehen hatten. Etwas war da.

Man konnte es beim flüchtigen Hinschauen sehen: etwas verbarg sich zwischen den zerfließenden Schatten. Sah man jedoch genauer hin, dann schloß sich das Dunkel wieder und verschluckte die schwachen Konturen. Und doch war da etwas: die verwischten Umrisse eines Kanonenrohres, das aber spitz zuzulaufen schien und viel zu lang für seine Lafette war; es war da etwas wie ein Transportfahrzeug, ein leichter Schimmer, der von einer Rampe hätte stammen können.

»Ohne Zweifel würden sie Planen darübergezogen haben«, kommentiere Leclerc, während er ihre Gesichter in der Hoffnung studierte, etwas Zuversicht darin aufkeimen zu sehen.

Avery sah auf seine Uhr. Es war zwanzig Minuten nach elf. »Ich werde jetzt bald gehen müssen, Herr Direktor«, sagte er. Noch immer hatte er Sarah nicht angerufen. »Ich muß wegen meines Flugtickets noch in die Buchhaltung.«

»Nur noch zehn Minuten«, sagte Leclerc bittend, und Haldane fragte: »Wohin fährt er?«

»Er muß sich um Taylor kümmern. Vorher hat er noch eine Verabredung im Rondell.«

»Was meinst du mit >kümmern

Betretenes Schweigen.

Dann erwiderte Leclerc: »Du weißt genau, daß Taylor unter falschem Namen unterwegs war. Jemand muß seine Habseligkeiten abholen, den Film aufstöbern.

Avery fährt als nächster Verwandter. Das Ministerium hat es schon genehmigt. Es war mir nicht klar, daß ich auch deine Zustimmung brauche.«

»Um die Leiche zu übernehmen?«

»Den Film zu bekommen«, zischte Leclerc.

»Das ist eine Einsatz-Arbeit. Avery hat keine Übung.«

»Im Krieg waren sie alle jünger, als er ist. Er kann sehr gut auf sich selbst aufpassen.«

»Taylor konnte es nicht. Was wird er unternehmen, sobald er den Film hat: ihn in seinem Waschbeutel nach Hause bringen?«

»Können wir das anschließend besprechen?« meinte Leclerc und wandte sich wieder an die anderen, wobei er ihnen geduldig zulächelte, als wolle er damit sagen, daß man eben Rücksicht auf den alten Adrian nehmen müsse.

»Bis vor zehn Tagen war das alles, auf das wir uns stützen konnten. Dann aber gab es den zweiten Hinweis. Das Gebiet um Kalkstadt war zum Sperrgebiet erklärt worden.« Aufgeregtes, sehr interessiertes Murmeln. »Im Umkreis von - soweit wir feststellen können - dreißig Kilometern. Völlig abgeschlossen, gesperrt für jeden Verkehr. Sie zogen sogar Grenzschutzeinheiten zusammen.« Er überflog die Gesichter in der Runde. »Zu diesem Zeitpunkt informierte ich den Minister. Nicht einmal Ihnen hier kann ich alle Zusammenhänge erklären. Aber lassen Sie mich eines erwähnen.«

Den letzten Satz hatte er schnell hervorgestoßen, wobei er mit einer ruckartigen Bewegung die kleinen Hörner seines graumelierten Haares, die über seinen Ohren wuchsen, zurückstrich. Haldane war vergessen.

»Was uns von Anfang an wunderte« - er wies mit dem Kopf auf Haldane, eine entgegenkommende Geste im Augenblick des Sieges, die Haldane aber nicht zur Kenntnis nahm -, »war die Abwesenheit sowjetischer Truppen. Sie haben Einheiten in Rostock, Wismar, Schwerin.« Sein Finger wies auf die Fähnchen. »Aber keine - und das wird von anderen Agenturen bestätigt - in der unmittelbaren Umgebung von Kalkstadt. Wenn es dort wirklich Waffen gibt, Waffen von hoher Zerstörungskraft, weshalb sind dann nicht auch sowjetische Truppen dort?« McCulloch äußerte eine Vermutung: Könnten nicht Techniker dort sein, sowjetische Ingenieure in Zivil?

»Das halte ich für unwahrscheinlich.« Ein zurückhaltendes Lächeln. »In vergleichbaren Fällen, bei denen taktische Waffen transportiert wurden, haben wir immer mindestens eine sowjetische Einheit identifiziert. Andererseits: vor etwa fünf Wochen sind tatsächlich einige russische Soldaten in Gutsweiler gesehen worden. Das liegt etwas weiter südlich.« Er stand wieder an der Landkarte. »Sie blieben für eine Nacht in einem Gasthaus. Ein paar hatten Artillerie-Abzeichen, manche hatten nicht einmal Schulterstücke. Am nächsten Morgen zogen sie sehr früh ab, Richtung Süden. Man könnte den Schluß daraus ziehen, daß sie etwas gebracht hatten, das sie bei ihrem Abmarsch dort ließen.«

Woodford wurde unruhig. Worauf sollte das alles hinauslaufen, wollte er wissen, was hielt man im Ministerium davon? Für das Lösen von Rätseln hatte er keine Geduld.

Leclerc schaltete auf seinen belehrenden Ton um, der keinen Widerstand duldete: Tatsachen sind Tatsachen, und über Tatsachen läßt sich nicht streiten. »Die Auswertung hat großartig gearbeitet. Die Gesamtlänge der auf diesen Bildern gezeigten Objekte - und so etwas können sie sehr genau feststellen - entspricht den Maßen der sowjetischen Mittelstreckenraketen. Auf Grund der vorliegenden Informationen« - er klopfte mit den Knöcheln leicht auf die Karte, was sie in seitwärts schwingende Bewegung versetzte, »hält es das Ministerium nicht für ausgeschlossen, daß wir es mit sowjetischen Raketen zu tun haben, die Ostdeutschland zur Verfügung gestellt worden sind.« Schnell setzte er hinzu: »Unsere Auswertung ist nicht bereit, so weit zu gehen. Nun, wenn sich die Ansicht des Ministeriums durchsetzen würde, das heißt, wenn sie recht hätten, dann stünden wir vor einer Situation wie« - das war sein großer Augenblick - »in Kuba! Die gleiche Situation wie in Kuba, nur« - er versuchte seiner Stimme einen Entschuldigung heischenden Unterton zu geben, um es möglichst nebensächlich klingen zu lassen -»noch viel gefährlicher.« Damit hatte er sie gefangen.

»In diesem Stadium«, erklärte Leclerc, »fühlte sich das Ministerium berechtigt, eine Überfliegung des Gebietes zu genehmigen. Wie Sie wissen, hat sich unsere Organisation während der letzten vier Jahre mit Luftaufnahmen begnügen müssen, die auf den offiziellen zivilen und militärischen Luftverkehrsstrecken gemacht worden waren. Sogar dazu brauchten wir die Erlaubnis des Auswärtigen Amtes.« Er schweifte ab: »Ja, es war wirklich zu schade.« Seine Augen schienen etwas zu suchen, das nicht mehr innerhalb dieses Raumes lag. Die anderen beobachteten ihn gespannt, sie warteten, daß er fortfuhr.

»Diesmal war das Ministerium bereit, die Entscheidungsgewalt abzugeben. Und ich bin froh, Ihnen sagen zu dürfen, daß die Aufgabe, dieses Unternehmen durchzuführen, unserer Organisation übertragen wurde. Wir wählten den besten Piloten, den es in unseren Listen gibt: Lansen.« Jemand in der Runde sah erstaunt auf. Die Namen von Agenten wurden nie in dieser Form ausgesprochen. »Lansen nahm es gegen Honorar auf sich, während eines Charterfluges von Düsseldorf nach Finnland vom Kurs abzuweichen. Taylor wurde entsandt, den Film entgegenzunehmen. Er starb auf dem Flugplatz. Ein Verkehrsunfall, wie es scheint.«

Von draußen kam das Geräusch der im Regen vorbeifahrenden Autos herein, und es klang wie das Rascheln von im Wind bewegtem Papier. Das Feuer war erloschen. Nur der Rauch war geblieben und hing wie eine Wolke über dem Tisch.

Sandford hatte die Hand gehoben. Welche Art Rakete sollte das angeblich sein?

»Eine Sandal, mittlere Reichweite. Die Auswertung sagte mir, sie sei öffentlich zum erstenmal im November 1962 auf dem Roten Platz gezeigt worden. Seither hat sie eine gewisse Berühmtheit erlangt. Es waren Sandal-Raketen, die von den Russen in Kuba installiert wurden. Die Sandal ist außerdem« - ein kurzer Blick zu Woodford -»ein direkter Nachkomme der im Krieg von den Deutschen benützten V 2.« Er holte von seinem Schreibtisch einige andere Fotos und legte sie auf den Tisch.

»Hier ist ein Foto der Sandal-Rakete aus unserer Auswertungsabteilung. Man sagte mir, ihr typisches Merkmal sei das, was man als Zackengürtel bezeichnen könnte« - er deutete auf ein Gebilde am unteren Ende des Geschosses - »und die kleinen Flossen. Sie ist rund zwölf Meter lang. Wenn Sie es genau betrachten, können Sie die Rillen neben der Führungsleiste sehen - genau hier -, durch die der Schutzüberzug in seiner richtigen Lage festgehalten wird. Ironischerweise haben wir kein Foto zur Verfügung, das die Sandal in ihrem Schutzüberzug zeigt. Vielleicht haben die Amerikaner eines, aber ich sehe mich im augenblicklichen Stadium nicht in der Lage, sie daraufhin anzusprechen.«

Woodford reagierte schnell und pflichtete ihm bei: natürlich nicht.

»Der Minister war besorgt, daß wir sie nicht voreilig alarmieren. Die Amerikaner reagieren ja schon beim kleinsten Hinweis auf Raketen in der härtesten Weise. Ehe wir überhaupt wissen, wo sie sind, werden sie schon ihre U 2 über Rostock fliegen lassen.« Vom Gelächter der anderen ermutigt, fuhr Leclerc fort: »Der Minister machte noch eine Bemerkung, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte. Das Land, das von den Raketen am meisten bedroht ist, könnte - da sie eine Reichweite von zwölfhundert Kilometern haben - sehr wohl unser eigenes sein. Sicherlich aber ist es nicht Amerika. Politisch gesehen, wäre es jetzt ein sehr ungünstiger Augenblick, unsere Köpfe in den Schürzenzipfel Amerikas zu verstecken. Schließlich haben wir - es der Minister ausdrückt - noch immer ein oder zwei eigene Zähne.«

Haldane sagte sarkastisch: »Das ist ein köstlicher Vergleich«, und Avery wandte sich ihm mit dem bisher unterdrückten Zorn zu.

»Sie waren schon witziger«, sagte er und fügte beinahe hinzu: Haben Sie doch etwas Mitleid! Haldanes Blick hielt Avery einen Augenblick gefangen, ehe er ihn freigab: dieser Verstoß war ihm nicht vergeben, nur die Sühne war auf später vertagt. Jemand fragte, was als nächster Schritt geplant sei, falls Avery den Film Taylors nicht finden würde. Angenommen, er war einfach nicht mehr vorhanden? Könnten sie das Gebiet noch einmal überfliegen lassen? »Nein«, sagte Leclerc. »Noch eine Überfliegung steht außerhalb jeder Debatte. Viel zu gefährlich. Wir werden etwas anderes versuchen müssen.« Weiter schien er noch nicht gehen zu wollen, aber Haldane fragte: »Und was zum Beispiel?«

»Wir werden wohl einen Mann hineinschicken müssen. Das scheint die einzige Möglichkeit zu sein.«

»Diese Organisation hier?« fragte Haldane voll Unglauben. »Einen Mann hineinschicken? Das Ministerium wird so was niemals zulassen. Du meinst damit doch sicher, daß du das Rondell darum bitten wirst?«

»Ich habe dir die Lage bereits erklärt, Adrian. Du willst doch nicht etwa behaupten wollen, daß wir es nicht machen könnten?« Er sah sich herausfordernd in der Tischrunde um. »Jeder von uns hier, ausgenommen der junge Avery, ist seit zwanzig Jahren in diesem Geschäft. Du persönlich hast schon mehr über Agenten vergessen, als die meisten Leute im Rondell jemals gewußt haben.«

»Hört! Hört!« rief Woodford.

»Denk an deine eigene Abteilung, Adrian, denk an die Auswertung: während der letzten fünf Jahre muß es ein halbes Dutzend Gelegenheiten gegeben haben, bei denen das Rondell zu dir gekommen ist, um deinen Rat einzuholen, von deinen Einrichtungen und Erfahrungen zu profitieren. Es könnte der Tag kommen, da sie sich auch auf unsere Agenten stützen! Das Ministerium hat uns eine Überfliegung genehmigt. Weshalb nicht auch einen Agenten?«

»Du hast noch einen dritten Hinweis erwähnt. Ich habe nicht verstanden. Was war das?«

»Taylors Tod«, sagte Leclerc.

Avery stand auf, nickte grüßend und ging auf den Zehenspitzen zur Tür. Haldane beobachtete ihn, während er den Raum verließ.

5. Kapitel

Carol hatte einen Zettel auf seinen Schreibtisch gelegt: »Ihre Frau hat angerufen.« Er ging in ihr Büro, wo sie vor ihrer Schreibmaschine saß, ohne zu schreiben. »Sie würden nicht so über den armen Wilf Taylor sprechen, wenn Sie ihn besser gekannt hätten«, sagte sie.

»Nicht wie? Ich habe überhaupt nicht von ihm gesprochen.«

Er glaubte, sie trösten zu müssen. Manchmal berührten sie einander, und er glaubte, sie erwarte das jetzt. Er beugte sich vor, bis er ihre Haarspitzen auf seiner Wange fühlte. Als er seinen Kopf an ihre Schläfe lehnte, spürte er ihre Haut, die sich leicht über den flachen Schädelknochen spannte. Einen Augenblick verharrten sie in dieser Stellung: Carol saß mit steifem Rücken und schaute gerade vor sich hin. Ihre Hände lagen zu beiden Seiten der Schreibmaschine, während Avery sich ungeschickt vorneigte. Er dachte daran, seine Hand unter ihren Arm zu schieben und ihre Brust zu berühren, aber er tat es nicht. Beide zogen sich sanft zurück, trennten sich und waren wieder allein. Avery stand auf.

»Ihre Frau hat angerufen«, sagte sie. »Ich sagte ihr, Sie seien in der Konferenz. Sie möchte Sie dringend sprechen.«

»Danke. Ich bin schon unterwegs.«

»John, was ist los? Was soll das Ganze mit dem Rondell? Was hat Leclerc vor?«

»Ich dachte, Sie wüßten es. Er sagte, er habe Sie auf die Liste gesetzt.«

»Das meine ich nicht. Warum lügt er Sie wieder an? Er hat ein Memorandum für Control diktiert, in dem von irgendeinem Trainingsplan die Rede ist, und daß Sie ins Ausland fahren. Pine hat es abgeliefert. Leclerc hat sich wie ein Verrückter wegen der Pension von Mrs. Taylor aufgeführt, nach Präzedenzfällen gesucht, und der Himmel weiß, was noch alles. Sogar das Gesuch ist streng geheim. Er baut wieder eines seiner Kartenhäuser, John, ich weiß es. Wer, zum Beispiel, ist Leiser?«

»Sie dürfen es nicht wissen. Er ist ein Agent, ein Pole.«

»Arbeitet er fürs Rondell?« Sie wechselte ihre Spur. »Also warum fahren Sie? Das ist ein anderer Punkt, den ich nicht verstehe. Warum mußte Taylor wegen dieser Sache fahren? Wenn das Rondell in Finnland Kuriere hat, warum haben wir sie nicht von allem Anfang an benützen können? Warum den armen Taylor schicken? Sogar jetzt noch könnte das AA die Sache bereinigen. Ich bin sicher, daß sie das könnten. Er will dem Rondell einfach nicht die Möglichkeit dazu geben: Er versteift sich darauf, Sie zu schicken.«

»Sie verstehen das nicht«, sagte Avery kurz. »Was anderes«, fragte sie, als er sich zum Gehen wandte. »Warum haßt Adrian Haldane Sie so sehr?« Er besuchte die Buchhaltung und nahm dann ein Taxi zum Rondell. Leclerc hatte gesagt, er könne es verrechnen. Er war darüber verärgert, daß ihn Sarah gerade in einem solchen Augenblick zu erreichen versuchte. Er hatte ihr verboten, ihn jemals im Büro anzurufen. Leclerc war der Meinung, das sei ein Sicherheitsrisiko.

»Was haben Sie in Oxford studiert? Es war Oxford, nicht wahr?« fragte Smiley und bot ihm eine ziemlich zerdrückte Zigarette aus einem Zehnerpaket an. »Sprachen.« Avery klopfte seine Taschen nach einem Streichholz ab. »Deutsch und Italienisch.« Als Smiley nichts sagte, fügte er hinzu: »Deutsch im Hauptfach.« Smiley war ein kleiner, zerstreuter Mann mit dicken Fingern. Er hatte eine düstere, ausweichende Art, als fühle er sich unbehaglich. Was immer Avery erwartet hatte - das war es nicht.

»Na ja, na ja.« Smiley nickte sich selbst zu, ein sehr persönlicher Kommentar. »Ich glaube, es handelt sich um einen Kurier in Helsinki. Sie wollen ihm einen Film übergeben. Es ist ein Trainingskurs.«

»Ja.«

»Das ist eine höchst ungewöhnliche Bitte. Sind Sie sicher... wissen Sie, wie lang der Film ist?«

»Nein.« Lange Pause.

»Sie sollten versuchen, das in Erfahrung zu bringen«, sagte Smiley freundlich. »Ich halte es für möglich, daß der Kurier ihn verstecken möchte, wissen Sie.«

»Tut mir leid.«

»Ach, das macht nichts.«

Das Ganze erinnerte Avery an Sitzungen mit seinem Lehrer in Oxford, bei denen er seine Aufsätze vorlas.

»Vielleicht«, sagte Smiley nachdenklich, »kann ich Ihnen das eine sagen. Ich bin überzeugt, daß Leclerc es schon von Control erfahren hat. Wir wollen Ihnen jede Unterstützung geben, zu der wir fähig sind - jede mögliche Unterstützung.« Mit der seltsamen Unaufrichtigkeit, die allen seinen Äußerungen anzuhaften schien, murmelte er: »Es gab eine Zeit, in der sich unsere Organisationen Konkurrenz gemacht haben. Ich habe das immer sehr schmerzlich empfunden. Aber ich dachte mir, Sie könnten mir vielleicht ein wenig erzählen, nur ein klein wenig... Control war so erpicht darauf zu helfen. Es wäre uns furchtbar unangenehm, aus Unwissenheit etwas Falsches zu tun.«

»Es ist eine Schulungsübung. Mit voller Ausrüstung. Ich weiß selbst nichts Genaues darüber.«

»Wir wollen helfen«, wiederholte Smiley. »Gegen welches Land ist die Aktion gerichtet, gegen welches angenommene Land?«

»Ich weiß nicht. Ich spiele nur eine kleine Rolle. Es handelt sich um eine Übung.«

»Aber wenn es sich um eine Übung handelt, warum dann soviel Heimlichkeit?«

»Nun ja - Deutschland«, sagte Avery.

»Danke.«

Smiley schien verlegen zu sein. Er betrachtete seine vor ihm auf dem Schreibtisch leicht gefalteten Hände und fragte Avery, ob es noch immer regne. Avery sagte, ja leider.

»Es tut mir leid, das von Taylor gehört zu haben«, sagte Smiley. Avery erwiderte, Taylor sei ein guter Mann gewesen.

»Wissen Sie, wann Sie Ihren Film haben werden? Heute abend? Morgen? Leclerc dachte wohl eher an heute abend, nehme ich an.«

»Ich weiß nicht. Hängt davon ab, wie es läuft. Ich kann es im Augenblick einfach nicht sagen.«

»Nein.« Es folgte eine lange, grundlose Pause. Er ist wie ein alter Mann, dachte Avery, er vergißt, daß er nicht allein ist. »Nein, man muß mit so vielen Imponderabilien rechnen. Haben Sie diese Art Arbeit schon einmal gemacht?«

»Ein- oder zweimal.«

Wieder sagte Smiley nichts und schien die Pause nicht zu bemerken.

»Wie geht es denn in der Blackfriars Road? Haldane - kennen Sie den überhaupt?« Auf eine Antwort legte Smiley offenbar keinen Wert. »Er leitet jetzt die Auswertung.«

»Natürlich. Ein guter Kopf. Ihre Auswertung genießt einen recht guten Ruf, wissen Sie. Wir selbst haben uns mehr als einmal an sie gewandt. Haldane und ich studierten zur selben Zeit in Oxford. Während des Krieges arbeiteten wir dann eine Zeitlang zusammen. Er hat den B. A. mit Auszeichnung gemacht. Wir hätten ihn nach dem Krieg hierher holen sollen. Ich erinnere mich, daß sich die Ärzte um seine Lunge Sorgen machten.«

»Ich habe nichts darüber gehört.«

»Darüber hatten Sie nichts gehört?« Er zog seine Augenbrauen auf eine komische Art in die Höhe. »In Helsinki gibt es ein Hotel namens >Prinz von Dänemark<. Gegenüber dem Hauptbahnhof. Kennen Sie es zufällig?«

»Nein. Ich war noch nie in Helsinki.«

»Tatsächlich nicht?« Smiley betrachtete ihn beunruhigt. »Es ist eine sehr seltsame Geschichte. Dieser Taylor: war er auch im Training?«

»Ich weiß nicht. Aber ich werde das Hotel finden«, sagte Avery mit leichter Ungeduld. »Gleich hinter der Eingangstür werden Zeitschriften und Ansichtskarten verkauft. Es gibt nur den einen Eingang.« Er hätte vom Haus nebenan sprechen können. »Und Blumen. Ich glaube, es wäre für Sie am besten, wenn Sie dorthin gingen, sobald Sie den Film haben. Bitten Sie die Leute im Blumenkiosk, ein Dutzend roter Rosen an Mrs. Avery ins Hotel Imperial nach Torquay zu schicken. Oder ein halbes Dutzend würde auch genügen, wir wollen doch kein Geld verschwenden, nicht wahr? Blumen sind dort oben so teuer. - Reisen Sie unter Ihrem eigenen Namen?«

»Ja.«

»Hat das einen besonderen Grund?« Dann fügte er hastig hinzu: »Ich möchte ja nicht neugierig sein, aber unser Dasein ist ohnehin schon so kurz. - Ich meine, bevor es zu Ende ist.«

»Es dauert wohl ziemlich lang, einen falschen Paß zu bekommen. Das Auswärtige Amt.« Er hätte nicht antworten sollen. Er hätte ihn auffordern sollen, sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. »Entschuldigen Sie«, sagte Smiley und runzelte die Stirn, als habe er eine Taktlosigkeit begangen. »Sie können immer zu uns kommen, wissen Sie, wegen Pässen, meine ich.« Das war freundlich gemeint. »Also schicken Sie die Blumen. Bevor Sie das Hotel verlassen, vergleichen Sie Ihre Uhr mit der des Hotels. Nach einer halben Stunde kehren Sie zum Haupteingang zurück. Ein Taxifahrer wird Sie erkennen und seinen Wagenschlag öffnen. Steigen Sie ein, fahren Sie herum, geben Sie ihm den Film. Ach, und zahlen Sie bitte. Einfach den üblichen Fahrpreis. Die kleinen Dinge vergißt man so leicht. - Welche Art Schulung ist das eigentlich?«

»Was ist, wenn ich den Film nicht bekomme?«

»In diesem Fall unternehmen Sie nichts. Gehen Sie nicht in die Nähe des Hotels. Fahren Sie gar nicht nach Helsinki. Vergessen Sie's.« Avery wurde plötzlich bewußt, daß diese Anweisungen bemerkenswert klar waren.

»Als Sie Deutsch studierten, haben Sie da zufällig das 17. Jahrhundert berührt?« erkundigte sich Smiley hoffnungsvoll, als Avery schon gehen wollte. »Gryphius, Lohenstein und diese Leute?«

»Das war ein Spezialfach. Leider nein.«

»Spezialfach«, brummte Smiley. »Was für ein dummes Wort. Ich nehme an, man wollte damit sagen, daß es etwas abseitig sei. Eine sehr unpassende Auffassung.«

Erst an der Tür sagte er: »Haben Sie eine Aktentasche oder so etwas?«

»Ja.«

»Wenn Sie diesen Film haben, stecken Sie ihn in die Manteltasche. Behalten Sie die Aktentasche in der Hand. Wenn man Ihnen folgen sollte, wird man es vor allem auf die Aktentasche abgesehen haben. Das ist ganz natürlich. Wenn Sie sich der Aktentasche einfach irgendwo entledigen, wird man vielleicht nach ihr, statt nach Ihnen suchen. Ich halte die Finnen für keine sehr komplizierten Menschen. Das ist natürlich nur ein Schulungshinweis. Aber ich mache mir keine Sorgen. Ich habe immer das Gefühl, daß es ein Fehler ist, sich auf die Technik zu verlassen.« Er begleitete Avery an die Tür und ging dann nachdenklich den Korridor hinunter zum Zimmer von Control. Während Avery die Treppen zu seiner Wohnung hinaufstieg, überlegte er, wie Sarah reagieren würde. Jetzt tat es ihm leid, daß er nicht doch telefoniert hatte, denn er haßte es, sie in der Küche zu überraschen, während Anthonys Spielsachen über den Wohnzimmerteppich verstreut waren. Es war niemals gut, ohne Anmeldung nach Hause zu kommen. Sie schien zu erwarten, daß er etwas Schreckliches getan hatte, so sehr erschrak sie. Er hatte nie einen Schlüssel bei sich, denn Sarah war immer zu Hause. Soviel er wußte, hatte sie keine eigenen Freunde; sie ging niemals zu Kaffeekränzchen oder fuhr allein zu Einkäufen in die Stadt. Sie schien keinerlei Talent dazu zu haben, sich selbst ein Vergnügen zu gönnen. Er läutete und hörte, wie Anthony >Mami, Mami< rief, und horchte auf ihren Schritt. Die Küche war am anderen Ende des Ganges, aber diesmal kam sie aus dem Schlafzimmer, so leise, als sei sie barfuß. Sie öffnete die Tür, ohne ihn anzusehen. Sie trug ein Baumwollnachthemd und eine Strickjacke. »Du hast dir ganz schön Zeit gelassen«, sagte sie, drehte sich um und ging unsicher in das Schlafzimmer zurück. »Irgendwas nicht in Ordnung?« fragte sie über die Schulter. »Ist noch jemand umgebracht worden?«

»Was ist los, Sarah? Fühlst du dich nicht wohl?« Anthony tobte herum, weil sein Vater nach Hause gekommen war. Sarah kletterte ins Bett zurück. »Ich habe den Arzt angerufen. Ich weiß nicht, was es ist«, sagte sie, als sei Krankheit nicht ihr Fach. »Hast du Fieber?«

Sie hatte eine Schüssel mit kaltem Wasser und den Waschlappen aus dem Badezimmer neben das Bett geholt. Er drückte den Waschlappen aus und legte ihn auf ihre Stirn. »Du wirst dich hier nützlich machen müssen«, sagte sie. »Ich fürchte nur, daß es nicht so aufregend ist wie Spionage. Willst du mich nicht fragen, was mir fehlt?«

»Wann kommt der Arzt?«

»Er hat bis zwölf Ordination. Danach wird er kommen, nehme ich an.« Er ging in die Küche, wobei Anthony ihm folgte. Das Frühstücksgeschirr stand noch auf dem Tisch. Er rief ihre Mutter in Reigate an und bat sie, sofort herzukommen.

Kurz vor eins kam der Arzt. Ein Fieber, sagte er, irgendein Virus.

Avery hatte erwartet, daß sie bei der Mitteilung von seiner Reise weinen würde. Sie nahm es zur Kenntnis, überlegte eine Weile und schlug ihm dann vor, packen zu gehen.

»Ist es wichtig?« fragte sie plötzlich. »Natürlich. Sehr wichtig.«

»Für wen?«

»Für dich, für mich. Für uns alle, nehme ich an.«

»Auch für Leclerc?«

»Ich habe dir gesagt: für uns alle.«

Er versprach Anthony, ihm etwas mitzubringen.

»Wohin fährst du?« fragte Anthony.

»Mit dem Flugzeug.«

»Wohin?«

Er wollte ihm gerade sagen, daß das ein großes Geheimnis sei, als ihm Taylors kleine Tochter einfiel. Er küßte Sarah, trug seinen Koffer in das Vorzimmer und stellte ihn auf den Läufer. Sarah zuliebe waren an der Tür zwei Schlösser angebracht, die man gleichzeitig aufschließen mußte. Er hörte sie sagen: »Ist es auch gefährlich?«

»Ich weiß nicht. Ich weiß nur, daß es äußerst wichtig ist.«

»Du bist davon wirklich überzeugt, nicht wahr?« Fast verzweifelt rief er: »Schau, wie weit voraus soll ich denn denken? Das ist keine Frage der Politik, sondern eine Frage der Tatsachen, verstehst du das nicht? Kannst du mir denn nicht glauben? Kannst du mir nicht einmal im Leben sagen, daß ich etwas Nützliches tue?« Er ging zurück ins Schlafzimmer. Sarah hielt sich ein Taschenbuch vor das Gesicht und tat so, als ob sie lese. »Du weißt ganz genau, daß wir alle dort unser Leben abschirmen müssen. Es hat doch keinen Sinn, mich dauernd zu fragen: >Bist du überzeugt?< Es ist genauso, als fragtest du mich immer wieder, ob wir wirklich Kinder haben sollten, ob wir hätten heiraten sollen. Das hat einfach keinen Sinn.«

»Armer John«, bemerkte sie, legte ihr Buch nieder und sah ihn forschend an. »Loyalität ohne Glauben. Es ist sehr schwer für dich.« Sie sagte das völlig leidenschaftslos, als habe sie ein Übel in der Gesellschaftsstruktur erkannt. Ihr Kuß war wie ein Verrat ihrer eigenen Grundsätze.

Haldane wartete, bis der letzte aus dem Zimmer gegangen war. Er selbst war später gekommen und er würde später gehen - immer anders als die anderen. Leclerc sagte: »Warum tust du mir das an?« Er sprach wie ein von seinem Auftritt ermüdeter Schauspieler. Die Landkarten und Fotografien lagen noch immer zwischen den leeren Tassen und Aschenbechern verstreut auf dem Tisch. Haldane gab keine Antwort. »Was versuchst du zu beweisen, Adrian?«

»Was hast du da von einem Mann gesagt, den du hineinschicken willst?«

Leclerc ging zum Waschbecken und ließ Wasser in ein Glas laufen.

»Du magst Avery nicht, nicht wahr?« fragte er. »Er ist jung - von diesem Kult habe ich genug.«

»Ich werde heiser, wenn ich die ganze Zeit rede«, sagte Leclerc. »Trink du auch eines. Wird deinem Husten guttun.«

»Wie alt ist Gorton?« Haldane nahm das Glas, trank und gab es zurück.

»Fünfzig.«

»Mehr. Er ist in unserem Alter. Er war während des Krieges in unserem Alter.«

»Man vergißt. Ja, er muß fünf- oder sechsundfünfzig Jahre sein.«

»Ein >StändigerStändiger< wäre.« Geziert wie ein Mädchen trank er einen Schluck Wasser. »Vor zehn Jahren hatten wir fünfzig Mann im Einsatz. Jetzt haben wir neun. Wir haben nicht einmal unsere eigenen Kuriere, keine Geheimkuriere. Das haben heute morgen schon alle gewußt. Warum hat keiner etwas gesagt?«

»Wie oft übermittelt er Flüchtlingsberichte?« Leclerc zuckte mit den Schultern. »Ich sehe nicht alles, was er uns schickt«, sagte er. »Deine Leute müßten es wissen. Der Markt wird schwächer, stell ich mir vor, seit sie in Berlin die Mauer gebaut haben.«

»Mir legen sie nur die besseren Berichte vor. Aus Hamburg muß das der erste gewesen sein, den ich seit einem Jahr gesehen habe. Ich war stets der Meinung, er hätte andere Aufgaben.« Leclerc schüttelte den Kopf.

»Wann wird die Erneuerung seines Vertrages fällig?« fragte Haldane.

»Ich weiß nicht. Ich weiß es einfach nicht.«

»Ich nehme an, er macht sich ziemliche Sorgen. Bekommt er eine Abfindung, wenn er ausscheidet?«

»Er hat nur einen Drei-Jahres-Vertrag. Da gibt's keine Abfindung, keine Orden. Er hat natürlich die Möglichkeit, auch nach dem sechzigsten Lebensjahr noch weiterzuarbeiten, falls wir ihn wollen. Das ist der Vorteil, Vertragsangestellter zu sein.«

»Wann wurde sein Vertrag das letztemal erneuert?«

»Da fragst du am besten Carol. Es muß zwei Jahre her sein, vielleicht länger.«

Wieder sagte Haldane: »Du sprichst davon, einen Mann hineinzuschicken?«

»Ich bin heute nachmittag noch einmal beim Minister.«

»Du hast schon Avery geschickt. Das hättest du nicht machen sollen, weißt du.«

»Irgend jemand mußte fahren. Hätte ich nach deiner Meinung das Rondell um jemanden bitten sollen?«

»Avery war ziemlich unverschämt«, bemerkte Haldane.

Der Regen floß in die Dachrinne und hinterließ auf den schmutzigen Fensterscheiben graue Spuren. Leclerc schien das Sprechen Haldane überlassen zu wollen, aber Haldane hatte nichts zu sagen. »Ich weiß noch nicht, was der Minister über Taylors Tod denkt. Er wird mich heute nachmittag fragen, und ich werde ihm meine Ansicht darlegen. Wir tappen natürlich alle im dunkeln.« Seine Stimme gewann wieder an Stärke. »Aber er könnte mich vielleicht anweisen - das ist durchaus drin, Adrian -, er könnte mir den Befehl geben, einen Mann hineinzuschicken.«

»Und?«

»Angenommen, ich würde dich bitten, eine Einsatzabteilung aufzubauen, die Voruntersuchungen zu machen, Papiere und Ausrüstung vorzubereiten - angenommen, ich würde dich bitten, einen Agenten anzuwerben, ihn auszubilden und seinen Einsatz zu leiten - würdest du es tun?«

»Ohne dem Rondell etwas zu sagen?«

»Keine Einzelheiten. Vielleicht werden wir hin und wieder von ihren Einrichtungen Gebrauch machen müssen. Das heißt aber nicht, daß wir ihnen die ganze Geschichte erzählen müssen. Das ist eine Frage der Sicherheit, wieviel sie wirklich wissen müssen.«

»Also ohne das Rondell?«

»Warum nicht?«

Haldane schüttelte den Kopf. »Weil es nicht unsere Arbeit ist. Wir sind einfach nicht dafür eingerichtet. Überlasse die Sache dem Rondell und hilf ihnen bei dem militärischen Kram. Übergib es einem alten Hasen, irgend jemandem wie Smiley oder Leamas...«

»Leamas ist tot.«

»Also dann Smiley.«

»Smiley ist als Agent erledigt.« Haldane schoß das Blut in die Wangen. »Dann Guillam oder einem der anderen. Einem von den Profis. Sein Stall ist derzeit groß genug. Geh und sprich mit Control. Überlaß den Fall ihm.«

»Nein«, sagte Leclerc mit fester Stimme und stellte sein Glas auf den Tisch. »Nein, Adrian. Du bist ebensolange wie ich in der Organisation, du kennst unsere Vorschrift.

>Es sind alle nötigen Schritte - so heißt es darin -, >alle möglichen Schritte zu unternehmen, um aus jenen Gebieten, in denen das Erforderliche nicht durch die konventionellen militärischen Hilfsmittel beschafft werden kann, militärische Informationen herbeizuschaffen, sie zu überprüfen und zu analysieren.<« Er unterstrich die Worte durch Schläge mit seiner kleinen Faust. »Wie, glaubst du, habe ich die Erlaubnis zum Überfliegen bekommen?«

»In Ordnung«, gab Haldane zu, »wir haben unsere Vorschrift. Aber die Welt hat sich geändert. Jetzt wird nach anderen Regeln gespielt. Damals waren wir die großen Macher - Schlauchboote in einer mondlosen Nacht, ein gekapertes feindliches Flugzeug, Funk und all das. Wir kennen das, du und ich. Wir haben es gemeinsam gemacht. Aber jetzt ist alles anders. Es ist ein anderer Krieg, eine andere Art des Kampfes. Auch im Ministerium weiß man das ganz genau.« Er fügte hinzu: »Und verlaß dich nicht zu sehr aufs Rondell. Von diesen Leuten hast du keine Wohltaten zu erwarten.«

Sie sahen einander erstaunt an. Es war ein Augenblick gegenseitigen Erkennens. Leclerc sagte beinahe flüsternd: »Es begann mit unseren Funknetzen, nicht wahr? Erinnerst du dich, wie das Rondell eines nach dem anderen schluckte? Das Ministerium pflegte zu sagen: >In der polnischen Abteilung droht eine Doppelgleisigkeit, Leclerc. Ich habe mich entschlossen, daß Control sich um Polen kümmern soll.< Wann war das? Im Juli achtundvierzig. Jahr für Jahr ist das so weitergegangen. Warum, glaubst du, behandeln sie eine Auswertungsabteilung so gönnerhaft? Sicher nicht wegen deiner wunderschönen Akten und Karteikarten. Sie haben uns dort, wo sie uns haben wollen, verstehst du nicht? Satelliten. Wir machen keinen einzigen Einsatz mehr. Das ist ihre Methode, uns einzuschläfern. Du weißt doch, wie man uns heute in Whitehall nennt? Die im Ausgedinge.«

Darauf folgte eine lange Stille.

Haldane sagte: »Ich mache Auswertung und keine Einsätze.«

»Früher hast du aber welche gemacht, Adrian.«

»Wie wir alle.«

»Du kennst das Ziel. Du kennst den ganzen Hintergrund. Das kann niemand außer dir. Nimm dir, wen du willst - Avery, Woodford, wen immer du willst.«

»Wir sind nicht mehr an Menschen gewöhnt. Sie einzusetzen, meine ich.« Haldane entwickelte ungewöhnliche Schüchternheit. »Ich mache Auswertung. Ich arbeite mit Akten.«

»Bis jetzt konnten wir dir nichts anderes geben. Wie lang ist es schon her? Zwanzig Jahre.«

»Weißt du, was ein Raketenstützpunkt bedeutet?« fragte Haldane. »Weißt du, welcher Wirbel damit verbunden ist? Sie brauchen Abschußrampen, Abschirmanlagen, Kabelbatterien, Kontrollbauten; sie brauchen Bunker zur Lagerung der Sprengköpfe, Tankwagen für die Treibstoffe und Oxydationsmittel. Und diese Sachen müssen zuerst dort sein. Raketen kriechen nicht heimlich durch die Nacht; sie ziehen wie ein Wanderzirkus über Land. Wir hätten schon früher und vor allem mehr Hinweise erhalten. Wir oder das Rondell. Was Taylors Tod anbelangt...«

»Um Himmels willen, Adrian, glaubst du denn, Geheimdienstarbeit hätte mit unumstößlichen philosophischen Wahrheiten zu tun? Muß denn jeder Priester beweisen, daß Christus am Weihnachtstag geboren wurde?«

Er reckte sein kleines Gesicht nach vorne, während er etwas aus ihm herauszuziehen versuchte, von dem er zu wissen schien, daß es irgendwo vorhanden war. »Du kannst nicht alles berechnen, Adrian. Wir sind keine Akademiker, wir sind Staatsbeamte. Wir müssen uns mit den Dingen befassen, wie sie sind. Wir müssen uns mit Menschen, mit Ereignissen befassen!«

»Also gut, mit Ereignissen: als er durch den Fluß schwamm, wie hat er da den Film aufbewahrt? Wie hat er die Aufnahmen wirklich gemacht? Wieso ist kein einziges Bild verwackelt? Er hatte getrunken, er balancierte auf den Zehenspitzen: die Belichtungszeiten waren lang genug, um ein Bild zu verwackeln, nein? Sagte er nicht, er hätte den Verschluß nach Gefühl offengehalten?«

Haldane schien sich zu fürchten, aber nicht vor Leclerc, nicht vor dem Einsatz, sondern vor sich selbst. »Warum hat er Gorton etwas umsonst gegeben, das er anderswo zu verkaufen suchte? Warum hat er überhaupt sein Leben riskiert, um diese Aufnahmen zu machen? Ich schickte Gorton eine Liste zusätzlicher Fragen. Er versucht noch immer, diesen Mann zu finden, wie er sagt.«

Sein Blick schweifte zu dem Flugzeugmodell und den Akten auf Leclercs Schreibtisch. Dann fuhr er fort: »Du denkst an Peenemünde, nicht wahr? Du möchtest, daß es wie in Peenemünde ist.«

»Du hast mir noch immer nicht gesagt, was du tun wirst, wenn ich diesen Befehl bekomme.«

»Den wirst du nie bekommen. Niemals, niemals wirst du ihn bekommen.« Er sprach mit großer Entschiedenheit, fast mit Triumph. »Wir werden eingeschläfert, siehst du das nicht ein? Du selbst hast es gesagt. Sie wollen, daß wir schlafen gehen, nicht in den Krieg.« Er stand auf. »Deshalb ist alles ganz gleichgültig. Es ist schließlich eine rein akademische Angelegenheit. Oder kannst du dir wirklich vorstellen, daß uns Control unterstützt?«

»Sie sind bereit, uns einen Kurier zu stellen.«

»Ja. Ich finde das höchst seltsam.«

Haldane blieb an der Tür vor einer Fotografie stehen.

»Das ist Malherbe, nicht wahr? Der Junge, der fiel.

Warum hast du diesen Namen gewählt?«

»Ich weiß nicht. Er ist mir einfach eingefallen. Das Gedächtnis spielt einem oft komische Streiche.«

»Du hättest Avery nicht schicken sollen. Bei unserer Arbeit verwendet man nicht einen Schreibtischmann für einen Auftrag wie diesen.«

»Ich habe in der letzten Nacht die Kartei durchgesehen. Wir haben einen Mann, der dazu geeignet wäre«, sagte Leclerc. Und dann nachdrücklich: »Gelernter Funker, spricht Deutsch, ledig.« Haldane erstarrte. Schließlich fragte er: »Wie alt?«

»Vierzig. Etwas darüber.«

»Er muß damals sehr jung gewesen sein.«

»Er hat seine Sache gut gemacht. Sie hatten ihn in Holland geschnappt, und er ist ihnen entkommen.«

»Wie wurde er geschnappt?«

Leclerc zögerte eine Sekunde, ehe er antwortete:

»Das ist nicht verzeichnet.«

»Intelligent?«

»Er scheint befähigt zu sein.« Wieder Stillschweigen.

»Das bin ich auch. Warten wir ab, was Avery zurückbringt.«

»Warten wir ab, was das Ministerium sagt.« Leclerc wartete, bis das letzte Geräusch von Haldanes Husten auf dem Gang verhallt war, ehe er seinen Mantel anzog. Er würde einen Spaziergang machen, etwas frische Luft schnappen und in seinem Klub zu Mittag essen. Das Beste, was es geben würde. Er fragte sich, was es sein werde. In den letzten Jahren war es dort sehr viel schlechter geworden. Nach dem Essen würde er zu Taylors Witwe gehen. Dann ins Ministerium.

Während des Mittagessens im >Gorringe< sagte Woodford zu seiner Frau: »Der junge Avery macht seinen ersten Einsatz. Clarkie hat ihn geschickt. Er sollte was draus machen.«

»Vielleicht wird er auch umgebracht«, sagte sie gehässig. Sie durfte nichts trinken - Anweisung des Arztes. »Dann könnt ihr ein wirkliches Fest feiern. Himmel, das war' eine tolle Sache! Auf zum Ball in die Blackfriars Road.« Ihre Unterlippe zitterte. »Warum sind die Jungen immer so verflucht wunderbar? Wir waren jung, nicht wahr.? Himmel, wir sind es noch! Was stimmt nicht mit uns? Wir können nicht darauf warten, alt zu werden, nicht wahr? Wir können nicht -«

»Ist gut, Babs«, sagte er. Er fürchtete, daß sie weinen könnte.

Загрузка...