6. Kapitel

START


Im Flugzeug erinnerte sich Avery an den Tag, an dem Haldane nicht im Büro erschien. Es war zufällig der Erste eines Monats - es mußte Juli gewesen sein-, und Haldane kam nicht zum Dienst. Bis zu Woodfords Anruf über das Haustelefon hatte Avery nichts davon gewußt. Haldane sei wahrscheinlich krank, hatte Avery ihm geantwortet, oder er habe irgendeine persönliche Sache erledigen müssen. Aber Woodford war nicht zu beschwichtigen. Er sei in Leclercs Zimmer gewesen und habe auf der Urlaubstabelle nachgesehen, sagte er. Haldanes Urlaub sei erst für den August vorgemerkt.

»Rufen Sie in seiner Wohnung an, John«, hatte ihn Woodford gedrängt. »Sprechen Sie mit seiner Frau. Versuchen Sie herauszubekommen, was mit ihm los ist.«

Avery war so erstaunt, daß ihm die Worte fehlten: die beiden arbeiteten seit zwanzig Jahren zusammen, und sogar er wußte, daß Haldane Junggeselle war. »Versuchen Sie zu erfahren, wo er ist«, beharrte Woodford, »los, ich befehle Ihnen: rufen Sie in seiner Wohnung an.«

Also rief er an. Er hätte Woodford sagen können, er solle es doch selbst machen, aber er hatte sich das nicht getraut. Haldanes Schwester hob ab. Haldane liege im Bett, sein altes Lungenleiden mache ihm wieder zu schaffen. Er habe sich geweigert, ihr die Telefonnummer der Organisation zu geben. Als Averys Blick auf den Kalender fiel, wurde ihm klar, warum Woodford so aufgeregt war: es war der Beginn eines neuen Quartals. Es wäre denkbar gewesen, daß Haldane einen neuen Posten gefunden und die Organisation verlassen hatte, ohne Woodford etwas zu sagen. Als Haldane ein oder zwei Tage später wieder erschien, war Woodford ungewöhnlich liebenswürdig zu ihm und ignorierte tapfer seine sarkastischen Bemerkungen. Er war ihm für seine Rückkehr dankbar. Danach hatte Avery eine Zeitlang Angst gehabt. Da sein Vertrauen in die Organisation erschüttert war, betrachtete er sie jetzt kritischer.

Er bemerkte, daß sie sich gegenseitig legendäre Fähigkeiten zuschrieben - ein Komplott, an dem sie alle außer Haldane teilnahmen. Leclerc stellte Avery zum Beispiel einem Mitglied seines Ministeriums nie ohne irgendein aufwertendes Schlagwort vor. »Avery ist der strahlendste unserer neuen Sterne« oder - zu älteren Männern - »John ist mein Gedächtnis. Sie müssen John fragen.« Aus dem gleichen Grund vergaben sie sich gegenseitig ihre Schnitzer, denn sie wagten es sich um ihrer selbst willen nicht einzugestehen, daß es in der Organisation auch Platz für Versager gab. Avery anerkannte, daß sie ihnen Schutz vor der Unüberschaubarkeit des modernen Lebens bot und einen Ort darstellte, wo es noch immer klare Fronten gab. Für ihre Mitglieder hatte die Organisation fast religiösen Charakter. Wie Mönche ihrem Orden, maßen sie ihrer Vereinigung ein mystisches Eigenleben zu, das nichts zu tun hatte mit der saumseligen, sündigen Schar von Männern, aus der sie sich zusammensetzte. Während sie durchaus zynisch über die Fähigkeiten ihrer Mitbrüder herziehen oder sich höhnisch über ihre eigenen Kämpfe um einen Platz in der Hierarchie lustig machen konnten, brannte ihr Glaube an die Organisation in einer abgeschiedenen Kapelle. Sie nannten ihn Patriotismus.

All dies erfüllte Averys Herz mit einer heißen Welle der Zuneigung, während er das dunkel werdende Meer dort unten betrachtete und das kalte Licht der Sonne, das sich in den Wellen brach. Woodford mit seiner Pfeife und seiner ungehobelten Art wurde Teil dieser geheimen Elite, zu der jetzt auch Avery gehörte. Haldane - vor allem Haldane - mit seinen Kreuzworträtseln und seinen Absonderlichkeiten verkörperte den kompromißlosen, reizbaren und zurückhaltenden Intellektuellen. Jetzt tat es ihm leid, daß er unhöflich zu ihm gewesen war. Dennison und McCulloch erschienen ihm als die unübertrefflichen Techniker: stille Männer, die bei Sitzungen den Mund nicht aufmachten, aber unermüdlich waren und letzten Endes recht behielten. Er dankte Leclerc, dankte ihm herzlich für das Privileg, mit diesen Männern bekannt sein zu dürfen, und dankte ihm für diesen aufregenden Auftrag. Er dankte ihm dafür, daß er ihm die Möglichkeit gegeben hatte, aus der früher oft empfundenen Unsicherheit zu Erfahrung und Reife aufzurücken, Schulter an Schulter mit den anderen ein im Feuer des Krieges gestählter Mann zu werden. Er dankte ihm für die Klarheit seiner Führung, die Ordnung in der Anarchie seines Herzens schuf. Er malte sich aus, wie er eines Tages auch den heranwachsenden Anthony durch diese schäbigen Gänge führen und ihn dem alten Pine vorstellen könnte, der mit Tränen in den Augen in seiner Loge aufstehen und liebevoll die zarte Kinderhand ergreifen würde.

In dieser Szene spielte Sarah keine Rolle. Avery berührte leicht eine Ecke des länglichen Briefumschlages in seiner Innentasche. Er enthielt sein Geld: zweihundert Pfund in einem blauen Behördenumschlag. Er hatte gehört, im Krieg hätten die Leute solche Sachen in das Futter ihrer Kleider eingenäht, und es wäre ihm sehr willkommen gewesen, hätte man das gleiche jetzt auch für ihn getan. Ein kindischer Einfall, wie er wohl wußte, ja, er lächelte sogar darüber, sich solchen Träumen hingegeben zu sehen.

Dann fiel ihm der Besuch ein, den er heute morgen bei Smiley gemacht hatte. So rückschauend, fürchtete er sich ein ganz klein wenig vor Smiley. Und es fiel ihm das Kind an der Tür ein. Ein Mann muß sich gegen Gefühle verhärten.

»Ihr Mann hat hervorragende Arbeit geleistet«, sagte Leclerc. »Ich kann Ihnen keine Einzelheiten verraten. Ich bin überzeugt, daß er sehr tapfer starb.« Ihr Mund war verschmiert und häßlich. Leclerc hatte noch nie jemanden so sehr weinen sehen; es war wie eine Wunde, die sich nicht schließen wollte. »Was meinen Sie mit tapfer?« stammelte sie. »Wir sind nicht im Krieg. Damit ist Schluß, mit all diesem hochtrabenden Gerede. Er ist tot«, sagte sie und vergrub ihr Gesicht in ihrem angewinkelten Arm, der wie eine vergessene Puppe auf dem Eßtisch lag. Aus einer Ecke starrte das Kind herüber. »Ich glaube«, sagte Leclerc, »Sie sind einverstanden, wenn ich eine Pension beantrage. Sie können das alles uns überlassen. Je früher wir uns damit befassen, desto besser.« Als wäre es die Maxime seines Hauses, erklärte er: »Eine Pension vermag alles in ein anderes Licht zu rücken.«

Der Konsul wartete neben dem Beamten der Paßkontrolle. Er kam ihm ohne ein Lächeln entgegen. Er tat nur seine Pflicht. »Sind Sie Avery?« fragte er. Avery gewann den Eindruck eines großen, strengaussehenden Mannes mit gerötetem Gesicht, der einen Filzhut und dunklen Mantel trug. Sie gaben sich die Hand. »Sie sind er britische Konsul, Mr. Sutherland.«

»Konsul Ihrer Majestät, genaugenommen«, entgegnete er etwas säuerlich. »Da gibt's einen Unterschied, wissen Sie.« Er sprach mit schottischem Akzent. »Wieso wußten Sie, wie ich heiße?« Sie gingen gemeinsam auf den Haupteingang zu. Es war alles sehr einfach. Avery bemerkte ein Mädchen hinter dem Schalter, blond und sehr hübsch. »Es ist nett von Ihnen, daß Sie den Weg heraus gemacht haben«, sagte Avery. »Es sind nur fünf Kilometer von der Stadt.« Sie stiegen ins Auto.

»Er wurde weiter oben auf der Straße getötet«, sagte Sutherland. »Wollen Sie die Stelle sehen?«

»Ja, das könnte ich machen. Um meiner Mutter davon zu berichten.« Er trug eine schwarze Krawatte. »Sie heißen wirklich Avery, nicht wahr?«

»Selbstverständlich; Sie haben meinen Paß doch bei der Kontrolle gesehen.«

Sutherland gefiel diese Bemerkung nicht, und Avery wünschte, sie nicht gemacht zu haben. Der Konsul startete den Wagen. Als sie gerade in die Mitte der Fahrbahn hinausziehen wollten, wurden sie von einem Citroen überholt.

»Verdammter Idiot«, zischte Sutherland. »Die Straßen sind wie Eis. Ich nehme an, das ist einer von diesen Piloten. Die haben kein Gefühl mehr für Geschwindigkeit.« Während das Auto vor ihnen die lange, über die Dünen führende Straße hinunterraste, wobei es hinter sich eine kleine Wolke aus Schnee aufwirbelte, konnten sie die Umrisse einer Schirmmütze vor dem hellen Fleck der Windschutzscheibe sehen. »Woher kommen Sie?« fragte er. »Aus London.«

Sutherland wies geradeaus: »Dort ist Ihr Bruder gestorben. Dort oben auf dem Abhang. Die Polizei glaubt, daß der Fahrer sehr voll gewesen sein muß. Hier sind sie sehr scharf, wenn jemand im alkoholisierten Zustand fährt, wissen Sie.« Es klang wie eine Warnung. Avery starrte auf das flache, schneebedeckte Land hinaus und dachte an den Engländer Taylor, wie er einsam die Straße entlangtrottete und seine schwachen Augen vor Kälte tränten.

»Nachher gehen wir zur Polizei«, sagte Sutherland. »Man erwartet uns. Dort werden Sie alle Einzelheiten erfahren. Haben Sie sich schon ein Zimmer hier besorgt?«

»Nein.«

Als sie die Höhe des Hügels erreichten, sagte Sutherland mit widerwilliger Ehrfurcht: »Es war hier, falls Sie aussteigen wollen.«

»Nicht nötig.«

Sutherland beschleunigte etwas, als habe er es eilig, von der Stelle wegzukommen.

»Ihr Bruder war auf dem Weg zum Hotel. Zum >Regina<, dort vorne. Es gab kein Taxi.« Als sie auf der anderen Seite des Hügels hinunterfuhren, sah Avery die breite Lichterfront eines Hotels. »Überhaupt keine Entfernung, wirklich nicht«, bemerkte Sutherland. »Er hätte es in fünfzehn Minuten geschafft. Weniger. Wo wohnt Ihre Mutter?« Diese Frage kam für Avery völlig unvorbereitet. »In Woodbridge, Suffolk.« Dort fand gerade eine Nachwahl statt. Es war die erste Stadt, die ihm einfiel, obwohl er sich nicht für Politik interessierte. »Warum hat er sie nicht angegeben?«

»Bedaure, ich verstehe nicht.«

»Als nächste Verwandte. Warum hat Malherbe nicht seine Mutter, sondern Sie angegeben?« Vielleicht war die Frage nicht ernst gemeint, vielleicht diente sie ihm nur dazu, Avery zum Reden zu bringen, auf jeden Fall aber war sie lästig. Avery war noch immer von der Reise abgespannt und wünschte, ohne Vorbehalte betrachtet und nicht diesem Verhör unterworfen zu werden. Es kam ihm auch zum Bewußtsein, daß er sein angebliches Verwandtschaftsverhältnis mit Taylor nicht genügend ausgearbeitet hatte. Was hatte Leclerc in dem Fernschreiben angegeben: Halbbruder oder Stiefbruder? Nervös versuchte er sich eine Folge von Familienereignissen vorzustellen, die ihm zu einer Antwort auf Sutherlands Frage hätten verhelfen können - Todesfälle, Wiederverheiratung oder zerrüttete Ehen.

»Hier ist das Hotel«, sagte der Konsul plötzlich und fügte dann hinzu: »Das geht mich natürlich nichts an. Er kann angeben, wen immer er will.« Entrüstung war bei Sutherland zur Gewohnheit geworden, fast eine Philosophie. Er sprach immer so, als liege jedes seiner Worte in ständigem Widerspruch zur allgemeinen Auffassung.

Schließlich sagte Avery: »Sie ist alt. Man wollte sie vor einem Schock bewahren. Ich nehme an, daß er daran gedacht hat, als er das Paßformular ausfüllte. Sie war krank, sie hat ein schwaches Herz. Sie ist operiert worden.« Es klang sehr kindisch. »Aha.«

Sie hatten den Stadtrand erreicht. »Es muß eine Leichenschau gemacht werden«, sagte Sutherland. »Das ist hier Gesetz, wenn es sich um einen gewaltsamen Tod handelt.«

Darüber wird Leclerc verärgert sein. Sutherland fuhr fort: »Das erschwert uns die Formalitäten. Die Kriminalpolizei behält den Toten, bis die Leichenschau beendet ist. Ich bat sie, sich zu beeilen, aber man kann sie nicht drängen.«

»Danke. Ich habe daran gedacht, die Leiche per Flugzeug überführen zu lassen.« Als sie von der Hauptstraße auf den Marktplatz einbogen, fragte Avery beiläufig, als habe er an der Antwort kein persönliches Interesse: »Was geschieht mit seinen Sachen? Ich nehme sie wohl am besten an mich, nicht wahr?«

»Ich bezweifle, daß die Polizei sie Ihnen aushändigen wird. Dazu muß der Staatsanwalt seine Erlaubnis gegeben haben. Der Bericht des Totenbeschauers geht zuerst an ihn; er gibt dann die Leiche frei. Hat Ihr Bruder ein Testament hinterlassen?«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Sie wissen nicht zufällig, ob Sie als Testamentsvollstrecker bestimmt wurden?«

»Nein.«

Sutherland ließ ein trockenes, nachsichtiges Lachen hören. »Ich kann mich nicht des Eindrucks erwehren, daß Sie ein bißchen voreilig sind. Nächster Verwandter ist nicht ganz das gleiche wie Testamentsvollstrecker«, sagte er. »Ich fürchte, das gibt Ihnen keine rechtliche Handhabe, abgesehen von der Verfügung über die Leiche.« Er machte eine Pause, drehte sich um und sah über die Lehne seines Sitzes durchs Rückfenster hinaus, während er den Wagen in eine Parklücke manövrierte. »Selbst wenn die Polizei mir die persönlichen Effekten Ihres Bruders aushändigt, bin ich nicht berechtigt, sie Ihnen zu übergeben, ehe ich nicht Weisung vom Auswärtigen Amt habe. Und dort«, setzte er schnell hinzu, da Avery ihn unterbrechen wollte, »werden sie mir keine derartige Weisung erteilen, ehe nicht eine beglaubigte Abschrift des Testaments oder eine Verfügung der Verwaltungsbehörde vorliegt.« Tröstend fügte er hinzu: »Aber ich kann Ihnen einen Totenschein ausstellen.« Er öffnete seine Tür. »Falls die Versicherungsgesellschaften ihn verlangen.«

Er warf Avery einen Blick von der Seite zu, als frage er sich, ob er überhaupt etwas erben würde. »Das kostet Sie fünf Shilling für die Ausfertigung und fünf Shilling für jede beglaubigte Abschrift. - Was haben Sie gesagt?«

»Nichts.«

Sie stiegen beide die Treppen zur Polizeidirektion hinauf.

»Wir werden mit Inspektor Peersen zu tun haben«, erklärte Sutherland. »Er ist recht nett. Sie werden bitte alles mir überlassen.«

»Selbstverständlich.«

»Er hat mich immer sehr großzügig bei den Heimführungsfällen unterstützt.«

»Bei den was?«

»Bei den Heimführungen von britischen Staatsbürgern, die hier gestrandet sind. Wir haben im Sommer einen Fall pro Tag. Sie sind eine Schande. Übrigens, hat Ihr Bruder viel getrunken? Es sind einige Hinweise dafür vorhanden.«

»Es ist möglich«, sagte Avery. »Ich habe ihn in den letzten paar Jahren kaum gesehen.« Sie betraten das Gebäude. Leclerc stieg behutsam die breiten Treppen zum Ministerium hinauf, das zwischen den Whitehall Gardens und dem Fluß lag. Der wuchtige neue Eingang war von Plastiken in jenem faschistischmonumentalen Stil umgeben, wie ihn gewöhnlich Kleinstadtbehörden bewundern. Das teilweise modernisierte Gebäude wurde von Uniformierten mit roten Schärpen bewacht und verfügte über zwei Rolltreppen. Die eine, die herunterkam, war voll besetzt, denn es war halb sechs.

»Herr Unterstaatssekretär«, begann Leclerc schüchtern, »ich werde den Herrn Minister um eine weitere Überfliegung bitten müssen.«

»Eine solche Bitte ist Zeitverschwendung«, antwortete der Unterstaatssekretär mit Genugtuung. »Er war schon wegen der letzten äußerst beunruhigt. Er hat sich zu einer neuen Taktik entschlossen: es wird keine mehr geben.«

»Nicht einmal in einem solchen Fall?«

»Besonders nicht in einem solchen Fall.« Der Unterstaatssekretär berührte leicht die Ecken seines Eingangskorbes - die Geste eines Bankdirektors, der einen Kontenauszug vor sich hat. »Sie werden sich etwas anderes einfallen lassen müssen«, sagte er. »Irgendeinen anderen Weg. Gibt es denn keine schmerzlose Methode?«

»Keine. Ich nehme an, wir könnten versuchen, eine Abwanderung aus diesem Gebiet anzuheizen. Das ist aber eine langwierige Sache. Flugblätter, Propagandasendungen, finanziellen Anreiz. Im Krieg hat sich das gut bewährt. Wir müßten uns an ziemlich viele Leute wenden.«

»Das scheint eine höchst undurchführbare Idee zu sein.«

»Ja. Die Zeiten haben sich geändert.«

»Welche anderen Möglichkeiten gibt es noch?« drängte der Unterstaatssekretär.

Leclerc lächelte wieder, als sei er gerne einem Freund behilflich, aber nicht imstande, Wunder zu vollbringen. »Einen Agenten. Eine kurzfristige Operation. Hin und her, alles zusammen vielleicht eine Woche.« Der Unterstaatssekretär sagte: »Aber wer würde sich für einen solchen Job hergeben? Heutzutage?«

»Wer wirklich? Es wäre ein sehr kühner Versuch.« Das Zimmer des Unterstaatssekretärs war groß, aber dunkel, mit langen Reihen von Buchrücken an den Wänden. Die Modernisierung war bis zu seinem Vorzimmer vorgedrungen, das in zeitgenössischem Stil eingerichtet war, aber dort war sie stehengeblieben. Um sein Zimmer zu modernisieren, würde man sich bis zu seiner Pensionierung gedulden müssen. In dem marmorverkleideten Kamin brannte ein Gasstrahler. An der Wand hing ein Ölgemälde, das eine Seeschlacht darstellte. Der Lärm der Flußschiffe im Nebel drang bis zu ihnen. Es herrschte eine seltsam maritime Stimmung.

»Kalkstadt liegt ziemlich nahe der Grenze«, bemerkte Leclerc. »Wir müßten keine fahrplanmäßige Maschine benützen. Wir könnten einen Übungsflug machen, vom Kurs abkommen. Das ist schon öfters vorgekommen.«

»Genau.« Dann fuhr der Unterstaatssekretär fort: »Dieser Mann von Ihnen, der gestorben ist.«

»Taylor?«

»Namen interessieren mich nicht. - Er wurde ermordet, nicht wahr?«

»Das ist nicht bewiesen«, sagte Leclerc. »Aber Sie nehmen es an?«

Leclerc lächelte nachsichtig. »Ich glaube, wir wissen beide, Herr Unterstaatssekretär, daß es sehr gefährlich ist, Annahmen offen auszusprechen, wenn damit politische Entscheidungen verbunden sind. Ich bitte immer noch um die Erlaubnis, das Gebiet ein zweites Mal überfliegen zu dürfen.«

Dem Unterstaatssekretär schoß das Blut in die Wangen.

»Ich habe Ihnen gesagt, daß es nicht in Frage kommt. Nein! Ist das jetzt klar? Wir sprachen von Alternativen.«

»Ich glaube, es gibt eine Alternative, die aber kaum im Rahmen meiner Organisation liegt. Es betrifft eher Sie selbst und das Auswärtige Amt.«

»So?«

»Geben Sie den Londoner Zeitungen einen Wink. Bringen Sie es in Umlauf. Veröffentlichen Sie die Aufnahmen.«

»Und?«

»Beobachten Sie die Wirkung. Beobachten Sie die diplomatische Tätigkeit der DDR und Sowjetunion, die Verkehrsbewegungen. Werfen Sie einen Stein ins Nest und warten Sie ab, welche Folgen das hat.«

»Ich kann Ihnen genau sagen, welche Folgen das haben würde. Einen Protest von den Amerikanern, dessen Echo in den Gängen dieses Hauses noch in zwanzig Jahren hörbar wäre.«

»Natürlich. Das habe ich vergessen.«

»Dann sind Sie ein glücklicher Mensch. Sie regten an, einen Agenten hineinzuschicken.«

»Nur vorläufig. Ich wüßte nicht, wen.«

»Hören Sie zu«, sagte der Unterstaatssekretär mit der Endgültigkeit eines sehr müden Mannes. »Der Standpunkt des Ministers ist sehr einfach. Sie haben einen Bericht vorgelegt. Wenn er der Wahrheit entspricht, verändert er unsere gesamte Verteidigungsstellung. Tatsächlich verändert er alles. Mir ist jede Sensation zuwider, ebenso dem Minister. Da Sie den Hasen aufgestört haben, ist das mindeste, was Sie tun können, daß Sie nun auf ihn schießen.« Leclerc sagte: »Falls ich einen Mann fände, taucht das Problem der Mittel auf. Geld, Schulung, Ausrüstung. Vielleicht zusätzliches Personal. Verkehrsmittel. Ein Überfliegen hingegen...«

»Warum zählen Sie so viele Schwierigkeiten auf? Ich war immer der Meinung, ihr wärt für diese Dinge da.«

»Wir sind darauf spezialisiert, Herr Unterstaatssekretär. Aber ich habe meinen Stab verkleinert, wissen Sie. Beträchtlich verkleinert. Man muß auch ehrlich zugeben, daß uns einige unserer Funktionen entzogen worden sind. Ich habe nie versucht, die Uhr zurückzudrehen. Das hier ist hingegen« - er deutete ein Lächeln an - »eine etwas anachronistische Situation.« Der Unterstaatssekretär sah durch das Fenster auf die sich am Fluß hinziehende Lichterkette hinaus. »Mir kommt es ziemlich zeitgemäß vor. Raketen und all das Zeug. Ich glaube nicht, daß der Minister sie für anachronistisch hält.«

»Ich meine nicht das Ziel, sondern die Angriffsmethode: den gewaltsamen Grenzübertritt. Das ist seit dem Krieg kaum je gemacht worden, obwohl es eine Form der geheimen Kriegführung ist, mit der meine Organisation traditionsgemäß voll vertraut ist. Oder war.«

»Worauf wollen Sie hinaus?«

»Ich denke nur laut, Herr Unterstaatssekretär. Ich frage mich, ob das Rondell für diese Art Unternehmung nicht besser ausgerüstet ist. Vielleicht sollten Sie sich an Control wenden. Ich kann ihm die Unterstützung meiner Waffenspezialisten versprechen.«

»Das heißt, Sie glauben, die Sache nicht bewältigen zu können?«

»Nicht mit meiner augenblicklichen Organisation. Control kann es. Das heißt, falls der Minister nichts dagegen hat, eine andere Behörde einzuweihen. Eigentlich zwei. Ich war mir nicht bewußt, daß Sie sich wegen der Publizität solche Sorgen machen.«

»Zwei?«

»Control wird sich verpflichtet fühlen, das Auswärtige Amt zu informieren. So wie ich Sie informiert habe. Und von diesem Augenblick an müssen wir uns damit abfinden, daß man sich dort den Kopf darüber zerbrechen wird.«

»Wenn diese Leute davon wissen«, sagte der Unterstaatssekretär voll Verachtung, »dann ist es morgen das Gesprächsthema in jedem verdammten Klub.«

»Diese Gefahr besteht«, gab Leclerc zu. »Vor allem aber frage ich mich, ob das Rondell die militärischen Erfahrungen dazu besitzt. Ein Raketenstützpunkt ist eine komplizierte Sache: Abschußrampen, Abschirmanlagen, Kabelbatterien - alle diese Dinge erfordern genaues Arbeiten und sorgfältige Überprüfung. Control und ich könnten unsere Kräfte vereinen, denke ich...«

»Das kommt nicht in Frage. Ihr würdet dabei sehr schlecht harmonieren. Selbst wenn Ihnen eine Zusammenarbeit gelänge, würde das gegen den Grundsatz verstoßen, keinen monolithischen Apparat zu errichten.«

»Ach ja, natürlich.«

»Nehmen wir also an, Sie machen es selbst, nehmen wir an, Sie finden einen Mann. Was würde das erfordern?«

»Einen zusätzlichen Etat. Barmittel, ab sofort. Zusätzliches Personal. Ein Trainingslager. Direkten Schutz des Ministeriums in Form von Sonderpässen und Vollmachten.« Wieder die Spitze: »Und wenigstens etwas Hilfe von Control. wir könnten sie uns unter einem Vorwand verschaffen.«

Klagend hallte der Ruf eines Nebelhorns über das Wasser.

»Wenn es keine andere Möglichkeit gibt.«

»Vielleicht tragen Sie es dem Minister vor.« Schweigen. Dann sagte Leclerc: »Praktisch gesprochen, brauchen wir an die dreißigtausend Pfund.«

»Verrechenbar?«

»Zum Teil. Ich dachte, Sie wollten von Einzelheiten verschont bleiben.«

»Nicht, wenn das Schatzamt betroffen ist. Ich schlage vor, Sie machen eine Aufstellung der Kosten.«

»In Ordnung. Nur eine ungefähre Übersicht.« Wieder herrschte Schweigen.

»Im Vergleich zu der Gefahr kann man das wirklich nicht als große Summe bezeichnen«, sagte der Unterstaatssekretär, wie um sich selbst zu trösten. »Zu der möglichen Gefahr. Das soll klar sein: ich behaupte nicht, daß ich davon überzeugt bin. Ich habe nur den Verdacht, den schweren Verdacht.« Er konnte es sich nicht verkneifen hinzuzufügen: »Das Rondell würde das doppelte verlangen. Die werfen mit dem Geld herum.«

»Also dreißigtausend Pfund und unsere amtliche Unterstützung?«

»Und einen Mann. Aber den muß ich selbst finden.« Er lachte leise.

Der Unterstaatssekretär sagte unvermittelt: »Der Minister wird gewisse Einzelheiten nicht wissen wollen.

Sind Sie sich darüber im klaren?«

»Selbstverständlich. Ich nehme an, Sie werden den Großteil des Gesprächs bestreiten.«

»Ich nehme an, das wird der Minister tun. Es ist Ihnen gelungen, ihn ziemlich zu beunruhigen.« Jetzt lachte Leclerc laut heraus: »Das sollten wir unserem Herrn und gemeinsamen Meister niemals antun.« Der Unterstaatssekretär schien nicht der Meinung zu sein, sie hätten einen gemeinsamen Meister. »Übrigens, was Mrs. Taylors Pension betrifft«, sagte Leclerc. »Ich mache ein Gesuch an das Schatzamt. Dort sind sie der Meinung, der Minister sollte es unterzeichnen.«

»Ja, Herrgott, warum denn?«

»Es ist die Frage, ob er im Einsatz getötet wurde.« Der Unterstaatssekretär erstarrte. »Das ist ziemlich vermessen. Sie bitten um die Bestätigung des Ministeriums, daß Taylor ermordet wurde.«

»Ich bitte um eine Witwenpension«, protestierte Leclerc ernst. »Taylor war einer meiner besten Leute.«

»Natürlich. Das sind sie immer.« Der Minister sah bei ihrem Eintritt nicht auf. Der Polizeiinspektor erhob sich von seinem Stuhl: ein kleiner beleibter Mann mit ausrasiertem Nacken. Er trug Zivilkleidung. Avery hielt ihn für einen Detektiv. Er schüttelte ihnen mit einer berufsmäßig kummervollen Miene die Hände, hieß sie in modernen Sesseln mit Armlehnen aus Teakholz Platz nehmen und bot ihnen aus einer Dose Zigarren an. Sie lehnten ab, also zündete er sich selbst eine an und benützte sie hinfort sowohl als Verlängerung seiner kurzen Finger, wenn er seinen Worten durch Gesten Nachdruck verlieh, wie auch als Zeigestab, um in der rauchigen Luft Gegenstände zu beschreiben, von denen er sprach. Er bezeugte Averys Schmerz mehrmals seine Reverenz, indem er sein Kinn in den Kragen versenkte und ihm aus dem Schatten seiner struppigen Augenbrauen vertrauliche Blicke des Mitgefühls zuwarf. Zuerst erläuterte er den Sachverhalt des Unfalls, lobte mit einer ermüdenden Schilderung aller Details die Anstrengungen, die von der Polizei zur Auffindung des Autos gemacht worden waren, erwähnte mehrfach die persönliche Anteilnahme des Polizeipräsidenten sowie dessen sprichwörtliche Anglophilie und gab schließlich seiner eigenen Überzeugung Ausdruck, daß man den Schuldigen finden und mit der vollen Härte des finnischen Gesetzes bestrafen werde. Er verharrte eine ganze Weile bei seiner eigenen Bewunderung für die Briten, seiner Zuneigung für die Queen und Sir Winston Churchill sowie den Vorteilen der finnischen Neutralität, um schließlich auf die Leiche zu sprechen zu kommen.

Die Leichenschau, er sei stolz, dies sagen zu dürfen, sei beendet, und der Herr Öffentliche Ankläger - nach seinen eigenen Worten - habe erklärt, daß die Umstände, unter denen Mr. Malherbe den Tod gefunden hatte, keinen Anlaß zu irgendeinem weiteren Verdacht gäben, abgesehen von dem Vorhandensein einer beträchtlichen Menge Alkohols im Blut des Toten. Der Barkeeper am Flughafen habe fünf Gläser Steinhäger gezählt. Peersen wandte sich an Sutherland. »Wünscht er seinen Bruder zu sehen?« erkundigte er sich, da er offenbar glaubte, es sei besonders feinfühlend, wenn er diese Frage einer dritten Person stellte. Sutherland war verlegen. »Ich muß das Mr. Avery überlassen«, sagte er, als übersteige die Frage seine Kompetenzen. Beide Männer blickten auf Avery. »Ich glaube nicht«, sagte Avery. »Da gibt's nur eine Schwierigkeit«, sagte Peersen, »wegen der Identifizierung.«

»Identifizierung?« wiederholte Avery. »Von meinem Bruder?«

»Sie haben doch seinen Paß gesehen«, warf Sutherland ein, »ehe Sie ihn mir heraufgeschickt haben. Was ist die Schwierigkeit?«

Der Beamte nickte: »Ja, ja.« Er öffnete eine Schublade und zog eine Handvoll Briefe, eine Brieftasche und einige Fotografien heraus.

»Er hieß Malherbe«, sagte er. Er sprach fließend englisch mit starkem amerikanischem Akzent, was irgendwie gut zu seiner Zigarre paßte. »Sein Paß lautete jedenfalls auf Malherbe. Es war doch ein echter Paß, oder nicht?« Peersen sah schnell zu Sutherland, und für einen Augenblick dachte Avery, er könnte in Sutherlands umwölktem Gesicht ein gewisses ehrliches Zögern entdecken. »Natürlich.«

Peersen begann einen Brief nach dem anderen zu betrachten, wobei er einige in den vor ihm liegenden Aktendeckel schob und andere in die Schublade zurücklegte. Ab und zu, während er ein Blatt auf den Stoß vor ihm legte, murmelte er: »Ah so«, oder »Ja-ja«. Avery fühlte, wie ihm der Schweiß über den Körper rann. Seine verkrampften Hände waren feucht. »Und Ihr Bruder hieß Malherbe?« fragte Peersen, als er mit dem Sortieren fertig war. Avery nickte. »Natürlich.«

Der Polizeibeamte lächelte. »Keineswegs natürlich«, sagte er und hob seine Zigarre, wobei er durchaus freundlich nickte, als habe er ein neues Argument. »Alles, was er besaß, seine Briefe, seine Wäsche, der Führerschein, alles gehört Mr. Taylor. Kennen Sie einen Taylor?«

Etwas begann sich in Avery zu verkrampfen. Der Umschlag, was sollte er mit dem Umschlag machen? Sollte er schnell auf die Toilette gehen und ihn vernichten, ehe es zu spät war? Er bezweifelte, daß es funktionieren würde: der Umschlag war aus hartem, glänzendem Papier. Selbst wenn er ihn zerriß - die Schnitzel würden schwimmen und sich nicht hinunterspülen lassen. Es war ihm klar, daß Peersen und Sutherland in der Erwartung einer Antwort auf ihn blickten, aber das einzige, worauf er seine Gedanken konzentrieren konnte, war der Umschlag, der plötzlich so schwer in seiner Brusttasche steckte. Schließlich brachte er heraus. »Nein, kenne ich nicht. Mein Bruder und ich.« Stiefbruder oder Halbbruder? »... mein Bruder und ich hatten nicht viel Kontakt miteinander. Er war älter, wir sind eigentlich gar nicht miteinander aufgewachsen. Er arbeitete mal hier, mal dort. Er konnte sich nie zu etwas Dauerhaftem entschließen. Vielleicht war dieser Taylor ein Freund von ihm, der.« Avery zuckte mit den Schultern und versuchte tapfer anzudeuten, daß Malherbe sogar für ihn eine ziemlich geheimnisvolle Erscheinung gewesen sei.

»Wie alt sind Sie?« fragte Peersen. Sein Respekt vor dem schmerzlichen Verlust des anderen schien im Schwinden begriffen zu sein. »Zweiunddreißig.«

»Und Malherbe?« fragte er beiläufig. »Um wieviele Jahre war er älter, bitte schön?« Sutherland und Peersen hatten Malherbes Paß gesehen und wußten sein Alter. Man erinnert sich leicht an das Alter von Leuten, die gerade gestorben sind. Nur Avery, sein Bruder, hatte nicht die geringste Ahnung. »Zwölf«, sagte er auf gut Glück. »Mein Bruder war vierundvierzig.« Warum hatte er sich so festgelegt? Peersen runzelte die Brauen. »Nur vierundvierzig? Dann stimmt der Paß nicht.«

Peersen wandte sich zu Sutherland, deutete mit seiner Zigarre auf die Tür am entfernteren Ende des Raumes und sagte fröhlich, als habe er einen alten Streit zwischen zwei Freunden beendet: »Jetzt sehen Sie, wieso ich ein Problem mit der Identifizierung habe.«

Sutherland sah sehr erzürnt aus. »Es wäre nett, wenn sich Mr. Avery die Leiche ansehen wollte«, schlug Peersen vor, »dann könnten wir sicherer sein.«

Sutherland sagte: »Inspektor Peersen. Die Identität des Mr. Malherbe geht aus seinem Paß hervor. Das Auswärtige Amt in London hat mit Sicherheit festgestellt, daß der Name Mr. Averys von Mr. Malherbe als der seines nächsten Verwandten angegeben worden ist. Sie sagten mir, daß über die Umstände seines Todes keine Zweifel bestünden. Es ist die übliche Verfahrensweise, daß Sie mir nun seine persönlichen Effekten zu treuen Händen übergeben, damit ich sie bis zum Abschluß der noch im Vereinigten Königreich durchzuführenden Formalitäten aufbewahren kann. Es ist anzunehmen, daß sich Mr. Avery nun der Leiche seines Bruders annehmen darf.« Peersen schien zu zögern. Er zog die restlichen Papiere Taylors aus dem Stahlfach seines Schreibtisches und legte sie zu den anderen Papieren, die bereits vor ihm aufgeschichtet waren. Dann sprach er einige finnische Sätze ins Telefon. Nach kurzer Zeit brachte ein Polizist einen alten Lederkoffer und eine Inventarliste herein, die Sutherland unterschrieb. Während dieser Prozedur sprachen weder Avery noch Sutherland auch nur ein Wort mit dem Inspektor. Peersen begleitete sie den ganzen Weg bis zum Haupteingang. Sutherland bestand darauf, den Koffer und die Papiere selbst zu tragen. Sie gingen zum Auto. Avery wartete darauf, daß Sutherland etwas sagte, aber er schwieg. Die Fahrt dauerte ungefähr zehn Minuten. Die Stadt war nur spärlich beleuchtet. Avery bemerkte, daß auf der Straße in zwei Fahrspuren Chemikalien ausgestreut waren. Die Straßenmitte und die Rinnsteine waren mit Schnee bedeckt. Die Straßenlampen verbreiteten ein kränkliches Neonlicht, das in der sich verdichtenden Dunkelheit zu versickern schien. Da und dort erkannte Avery steile Schindeldächer, das Kreischen einer Straßenbahn oder den hohen weißen Helm eines Polizisten. Gelegentlich warf er einen verstohlenen Blick zurück durch das Heckfenster.


7. Kapitel

Woodford stand Pfeife rauchend im Flur und grinste dem Büropersonal zu, das gerade dabei war, nach Hause zu gehen. Dies war für ihn die schönste Stunde des Tages. Bei Arbeitsbeginn am Morgen war es anders, denn es war aus Tradition üblich, daß untergeordnete Dienstgrade um halb zehn, die höheren aber zwischen zehn und zehn Uhr fünfzehn in der Dienststelle erschienen. Die höchsten Beamten der Organisation blieben theoretisch bis spät in die Nacht hinein, um ihre Arbeiten in Ruhe erledigen zu können. Leclerc pflegte zu sagen, daß ein Gentleman niemals auf die Uhr sah. Dieser Brauch stammte noch aus dem Krieg, als die Offiziere die frühen Morgenstunden damit verbrachten, von Aufklärungsflügen zurückgekehrte Piloten auszufragen, oder die späten Abendstunden mit der Abfertigung eines Agenten. Damals hatten die untergeordneten Dienstgrade in Schicht gearbeitet, während die Offiziere kamen und gingen, wie es ihnen ihre Arbeit erlaubte. Jetzt erfüllte die Tradition einen anderen Zweck. Denn nun gab es Tage, ja oft sogar Wochen, in denen Woodford und seine Kollegen kaum wußten, wie sie ihre Zeit bis halb sechs Uhr ausfüllen sollten. So ging es allen außer Haldane, auf dessen gebeugten Schultern der Ruhm der Organisation, eine hervorragende Auswertungsabteilung zu haben, lastete. Die anderen entwickelten Pläne, die nie in die Tat umgesetzt wurden, stritten freundschaftlich über Urlaubs- und Dienstpläne oder die Qualität ihrer Büromöbel und kümmerten sich mehr als nötig um die Sorgen der Mitglieder ihrer Abteilung.

Berry, der Beamte aus dem Kode-Zimmer, trat in den Korridor, bückte sich und steckte die Fahrradklammern an seine Hose.

»Wie geht's der Gattin, Berry?« fragte Woodford. Ein Mann muß den Finger am Puls des Lebens halten. »Es geht ihr gut, danke, Sir.« Er richtete sich auf und fuhr sich mit einem Kamm durchs Haar. »Die Sache mit Wilf Taylor - schrecklich, Sir.«

»Schrecklich, ja. Er war ein guter Kamerad.«

»Mr. Haldane wird das Archiv selbst zusperren, Sir. Er hat noch lange dort zu tun.«

»Hat er? - Na ja, wir haben alle gerade sehr viel zu tun.«

Berry senkte die Stimme. »Und der Chef schläft heute im Büro, Sir. Eine ziemliche Krise, wirklich. Er soll zum Minister gefahren sein. Man hat ihm ein Auto geschickt.«

»Gute Nacht, Berry.«

Befriedigt dachte Woodford: Sie hören einfach zu viel. Dann schlenderte er den Flur hinunter. Das Licht in Haldanes Zimmer stammte von einer verstellbaren Leselampe. Sie warf ein schmales Band grellen Lichtes auf die vor ihm liegenden Akte. »Immer noch an der Arbeit?«

Haldane schob die eine Akte in den Korb mit der Aufschrift >Erledigt< und nahm eine andere zur Hand. »Möchte wissen, wie es dem jungen Avery geht. Er wird schon weiterkommen, der Junge. Ich höre, daß der Chef noch nicht zurück ist. Muß eine lange Sitzung sein.«

Er ließ sich in dem Ledersessel nieder. Es war Haldanes eigener, den er aus seiner Wohnung hatte herüberbringen lassen, um darin sitzen zu können, wenn er seine Kreuzworträtsel löste. »Woraus schließen Sie das? Bei uns ist das kaum üblich«, sagte Haldane, ohne aufzublicken. »Wie ist Clarkie mit Taylors Frau weitergekommen?« fragte Woodford. »Wie hat sie es aufgenommen?« Haldane seufzte und legte die Akte beiseite. »Er hat's ihr beigebracht. Mehr weiß ich auch nicht«, sagte er.

»Du weißt nicht, wie sie es aufgenommen hat? Hat er nichts davon erzählt?«

Woodford sprach immer etwas lauter, als nötig gewesen wäre, wie es die Art von Männern ist, die sich stets gegen ihre Frau durchzusetzen versuchen müssen.

»Ich habe wirklich keine Ahnung. Soviel ich weiß, war er allein bei ihr. Leclerc behält solche Sachen lieber für sich.«

»Ich dachte, daß er vielleicht mit dir.« Haldane schüttelte den Kopf. »Nur mit Avery«, murmelte er.

»Ist eine große Sache, das, nicht wahr, Adrian - oder könnte es sein?«

»Könnte sein. Wir werden schon sehen«, sagte Haldane sanft. Er war zu Woodford nicht immer unfreundlich.

»Gibt's sonst was Neues an der Taylor-Front?« wollte Woodford wissen.

»Der Luftwaffen-Attache in Helsinki hat Lansen ausfindig gemacht. Er bestätigt, daß er Taylor den Film ausgehändigt hat. Die Russen hatten ihn offenbar über Kalkstadt abgefangen. Zwei MIGs. Sie haben ihn umkreist, dann aber freigelassen.«

»Gott«, sagte Woodford benommen, »das entscheidet die Sache.«

»Das entscheidet gar nichts. Es entspricht dem, was wir schon wissen. Wenn sie das Gebiet für gesperrt erklären, weshalb sollten sie es dann nicht auch überwachen? Vielleicht haben sie es nur wegen eines Manövers gesperrt, wegen irgendwelcher Flugabwehrübungen. Weshalb haben sie Lansen nicht zur Landung gezwungen? Nichts von all dem berechtigt zu irgendwelchen Schlußfolgerungen.« Leclerc stand in der Tür. Das frische Hemd hatte er für den Minister, den schwarzen Schlips für Taylor angelegt.

»Ich bin mit einem Wagen gekommen«, sagte er. »Man hat uns einen aus dem Wagenpark des Ministeriums für unbegrenzte Zeit zur Verfügung gestellt. Der Minister war ziemlich erstaunt, als er hörte, daß wir kein Fahrzeug haben. Es ist ein Humber mit Chauffeur, wie der von Control. Man sagte mir, der Fahrer sei vertrauenswürdig.« Er sah Haldane an. »Ich habe mich entschlossen, eine Sonderabteilung zu bilden, Adrian. Ich möchte, daß du ihre Leitung übernimmst. Sandford soll solange deine Abteilung übernehmen. Die Abwechslung wird ihm guttun.« Plötzlich verzog sich sein Gesicht zu einem Lächeln, als könne er die Befriedigung nicht länger unterdrücken. Er war sehr erregt. »Wir werden einen Mann hineinschicken. Der Minister hat die Zustimmung gegeben. Wir fangen sofort mit der Arbeit an. Als erstes möchte ich morgen früh die Abteilungsleiter sehen. Dir, Adrian, werde ich Woodford und Avery zuteilen. Du, Bruce, setzt dich bitte mit den Jungens von unserer alten Ausbildergruppe in Verbindung. Das Ministerium wird für den vorübergehend zu bildenden Stab DreimonatsVerträge ausstellen. Natürlich ohne zusätzliche Verpflichtungen zu übernehmen. Das Ausbildungsprogramm wie üblich: Morsen, Waffentraining, Verschlüsseln, Beobachten, unbewaffneten Nahkampf und Tarnung. Wir werden ein Haus brauchen, Adrian. Vielleicht kann sich Avery nach seiner Rückkehr darum kümmern. Ich werde mich wegen der nötigen Dokumente an Control wenden. Unsere Fälscher sind ja alle zu ihm hinübergegangen. Wir werden Karten vom genauen Grenzverlauf im Gebiet von Lübeck brauchen, Flüchtlingsberichte, genaue Angaben über Minenfelder und andere Hindernisse.« Er sah auf seine Uhr. »Wollen wir uns nicht darüber unterhalten, Adrian?«

Haldane sagte: »Eine Frage: Wieviel weiß das Rondell über diese Sache?«

»Das, was wir ihnen erzählen wollen. Warum?«

»Man weiß, daß Taylor tot ist. Es hat in ganz Whitehall die Runde gemacht.«

»Möglich.«

»Man weiß, daß Avery in Finnland einen Film holen soll. Es könnte durchaus sein, daß ihnen der Bericht der zentralen Flugsicherung über Lansens Maschine aufgefallen ist. Sie haben dort eine besondere Art, Dinge zu bemerken.«

»Na und?«

»Also hängt's nicht davon ab, wieviel wir ihnen erzählen wollen, oder?«

»Du wirst zur morgigen Konferenz kommen?« fragte Leclerc etwas pathetisch.

»Ich glaube, das Wesentliche deiner Anweisungen verstanden zu haben. Wenn du nichts dagegen hast, würde ich gerne noch ein paar Erkundigungen einziehen. Noch heute abend und vielleicht morgen vormittag.«

Etwas verwirrt sagte Leclerc: »Großartig. Können wir dir irgendwie helfen?«

»Vielleicht dürfte ich deinen Wagen für eine Stunde benützen?«

»Selbstverständlich. Ich möchte, daß wir ihn alle benützen - zu unserem gemeinsamen Nutzen. - Und das ist für dich, Adrian.« Er gab ihm eine grüne Karte, die in einem Zellophanumschlag steckte. »Der Minister hat sie eigenhändig unterschrieben.« Er deutete damit an, daß es in der Unterschrift eines Ministers wie beim Segen des Papstes Unterschiede im Grad der Authentizität gäbe. »Du wirst es also machen, Adrian? Du übernimmst den Job?« Haldane schien ihn nicht gehört zu haben. Er hatte die Akte wieder aufgeschlagen und betrachtete neugierig das Bild eines polnischen Jungen, der vor zwanzig Jahren gegen die Deutschen gekämpft hatte. Es war ein junges, entschlossenes Gesicht, ohne Humor. Sein Besitzer schien sich nicht so sehr um das Leben, sondern mehr um das Überleben Sorgen zu machen. Leclerc rief mit plötzlicher Erleichterung: »Adrian, du leistest den zweiten Schwur?« Haldane lächelte widerstrebend, als habe ihn die Phrase an etwas erinnert, das er schon längst vergessen hatte. »Er scheint das Talent zum Überleben zu besitzen«, sagte er schließlich, indem er auf die Akte wies. »Der Mann ist nicht so leicht umzubringen.« Sutherland begann mit den Worten: »Als nächster Verwandter haben Sie das Recht, Ihre Wünsche über das weitere Verfahren mit der Leiche Ihre Bruders bekanntzugeben.«

»Ja.«

Das Haus Sutherlands war klein und hatte ein breites Doppelfenster, in dem Topfpflanzen standen. Sie waren das einzige Merkmal, das dieses Haus von seinen Vorbildern in der Wohngegend um Aberdeen unterschied. Während sie von der Gartentür auf das Haus zugingen, bemerkte Avery hinter dem Fenster eine Frau mittleren Alters. Sie trug eine Schürze und staubte gerade irgend etwas ab.

»Mein Büro ist auf der Rückseite«, sagte Sutherland, als wollte er damit festhalten, daß nicht das ganze Haus dem reinen Luxus geweiht sei. »Ich schlage vor, daß wir jetzt die restlichen Details besprechen. Ich möchte Sie nicht lange aufhalten.« Damit bedeutete er Avery, daß er keine Einladung zum Abendessen zu erwarten hätte. »Wie wollen Sie ihn nach England zurückbringen?«

Sie saßen einander an Sutherlands Schreibtisch gegenüber. Hinter dem Kopf des Konsuls hing das Aquarell einer bläulichvioletten Hügellandschaft, die sich in einem schottischen See spiegelte. »Ich hätte gern, daß er mit dem Flugzeug zurückgebracht würde.«

»Sie wissen, daß das ein teurer Spaß ist?«

»Ich hätte ihn dennoch gerne mit dem Flugzeug zurückgebracht.«

»Für die Beerdigung?«

»Natürlich!«

»Das ist keineswegs natürlich«, entgegnete Sutherland spitz. »Wenn Sie Ihren Bruder« - er sprach diese Verwandtschaftsbezeichnung jetzt gleichsam in Anführungszeichen aus, aber er würde das Spiel bis zum Ende mitmachen - »einäschern ließen, würden ganz andere Transportbestimmungen in Anwendung kommen.«

»Ich verstehe. Verzeihung.«

»Es gibt in der Stadt ein Beerdigungsinstitut, Barford & Company. Einer der Teilhaber ist Engländer, mit einer Schwedin verheiratet. Es gibt eine ziemlich große schwedische Minderheit hier. Wir tun unser Bestes zur Unterstützung der britischen Kolonie. Unter den gegebenen Umständen wäre es wohl das beste, wenn Sie so schnell als möglich nach London zurückkehrten. Ich nehme an, daß Sie mich bevollmächtigen, Barford den Auftrag zu geben.«

»In Ordnung.«

»Sobald er den Leichnam übernommen hat, werde ich ihm den Paß Ihres Bruders aushändigen. Er wird sich ein ärztliches Attest über die Todesursache beschaffen müssen. Ich werde ihn mit Peersen in Verbindung bringen.«

»Ja.«

»Er wird außerdem einen amtlichen Totenschein des hiesigen Standesamtes benötigen. Es ist billiger, wenn man sich um diese Dinge selbst kümmert. Falls Geld bei Ihren Leuten eine Rolle spielt.« Avery sagte nichts.

»Sobald er eine günstige Flugverbindung gefunden hat, wird er sich um den Frachtbrief kümmern. Soviel ich weiß, wird Derartiges meist nachts transportiert. Die Fracht ist billiger und...«

»Einverstanden.«

»Gut. Barford wird sicherstellen, daß der Sarg luftdicht ist. Er kann aus Metall oder Holz sein. Außerdem wird er selbst eine Bestätigung ausstellen, daß der Sarg nichts als die Leiche enthält, und daß es dieselbe Leiche ist, auf die der Paß und der Totenschein Bezug nehmen. Ich erwähne dies für den Fall, daß Sie die Abwicklung in London übernehmen. Barford wird das alles sehr rasch erledigen. Ich werde mich darum kümmern. Er hat gute Verbindungen zu den Chartergesellschaften hier. Je eher er -«

»Ich verstehe.«

»Ich bin nicht sicher, daß Sie verstehen«, sagte Sutherland und hob die Augenbrauen, als ob Avery zudringlich wäre. »Was Peersen sagte, war sehr vernünftig. Ich möchte seine Geduld nicht auf die Probe stellen. Barford wird sich mit einer Londoner Firma in Verbindung setzen. Es ist doch London, oder nicht?«

»Ja, London.«

»Ich könnte mir vorstellen, daß er eine gewisse Anzahlung von Ihnen erwartet. Ich schlage vor, daß Sie das Geld bei mir gegen Quittung hinterlegen. Was nun den persönlichen Besitz Ihres Bruders anbelangt: ich nehme an, daß, wer immer Sie schickte, er auch den Wunsch hatte, daß Sie diese Briefe an sich nehmen?« Er schob sie über den Tisch.

Avery murmelte: »Da war noch ein Film. Ein belichteter Film.« Die Briefe steckte er in die Tasche. Bedächtig zog Sutherland einen Durchschlag des Inventars heraus, das er auf der Polizei unterschrieben hatte, breitete es vor sich aus und ließ seinen Finger am linken Rand des Blattes herunterwandern. Er tat es voll Argwohn, als prüfe er die von einem anderen aufgestellte Rechnung.

»Hier ist kein Film verzeichnet. War auch eine Kamera da?«

»Nein.«

»Ah!«

Er brachte Avery zur Tür. »Übrigens sollten Sie Ihrem Auftraggeber bestellen, daß Malherbes Paß ungültig war. Das Auswärtige Amt hat ein Rundschreiben mit etwa zwanzig Nummern herausgegeben. Der Paß Ihres Bruders war darunter. Es muß da eine Panne passiert sein. Ich wollte es gerade nach London berichten, als das Fernschreiben des Auswärtigen Amtes kam, in dem Sie bevollmächtigt werden, Malherbes Sachen in Empfang zu nehmen.« Er lachte kurz auf. Er war sehr ärgerlich. »Das war Quatsch, natürlich. Von sich aus hätte das Amt niemals diese Vollmacht geschickt. Sie haben gar nicht das Recht dazu, es sei denn, Sie hätten einen entsprechenden Bescheid der Verwaltungsbehörde, und den konnten Sie unmöglich mitten in der Nacht besorgt haben. Haben Sie schon eine Unterkunft? Das >Regina< ist ganz passabel, es liegt gleich am Flughafen. Außerdem ist es außerhalb der Stadt. Ich nehme an, daß Sie selbst dorthin finden werden. Soviel ich weiß, bekommt ihr Leute großartige Diäten.«

Avery beeilte sich, das Gartentor zu erreichen, während sich seiner Erinnerung unauslöschlich das Bild von Sutherlands magerem, bitterem Gesicht einprägte, das sich ärgerlich von den schottischen Hügeln abhob. Die Holzhäuser an der Straße schienen in der Dunkelheit fast weiß, wie um einen Operationstisch versammelte Schatten.

Irgendwo unweit von Charing Cross befindet sich im Souterrain eines jener zwischen Villiers Street und der Themse liegenden erstaunlichen Häuser aus dem 18. Jahrhundert ein Club, an dessen Tür kein Name steht. Man erreicht ihn über eine gewundene Steintreppe. Das Geländer ist mit der gleichen grünen Farbe wie die Türen in der Blackfriars Road gestrichen und müßte eigentlich durch ein neues ersetzt werden. Die Mitglieder des Clubs sind eine seltsame Auslese. Einige sind beim Militär, andere haben den Beruf eines Lehrers, wieder andere sind Büromenschen. Manche stammen aus dem Niemandsland der Londoner Gesellschaft, das irgendwo zwischen dem Buchmacher und dem Gentleman liegt. Den Leuten ihrer Umgebung - und vielleicht sogar sich selbst - vermitteln sie den Eindruck eines gedankenlosen Mutes. Ihre Unterhaltung besteht aus Abkürzungen und Sätzen, die sich ein Mensch mit Sprachgefühl nur aus der Ferne anhören kann. Es ist ein Treffpunkt der alten Gesichter und der jungen Körper, der jungen Gesichter und der alten Körper. Hier haben sich die Spannungen des Krieges in Spannungen des Friedens verwandelt - ein Ort, an dem man gegen die Stille die Stimmen, gegen die Einsamkeit aber die Gläser erhebt. Es ist der Treffpunkt der Suchenden, die doch hier nichts anderes finden als ihresgleichen und die Wohltat geteilten Schmerzes. Hier haben die müden, wachsamen Augen keinen Horizont zu beobachten. Es ist noch immer ihr Schlachtfeld. Wenn es noch Liebe gibt, so finden sie sie hier unter sich, scheu wie Heranwachsende, und mit dem ständigen Gedanken an andere Menschen in ihrem Bewußtsein. Es fehlt aus der Kriegszeit niemand - bis auf die wichtigen Leute.

Es ist ein kleines Lokal, das von einem mageren, trockenen Mann geführt wird, der auf den Namen Major Dell hört. Er hat einen Schnurrbart und trägt eine Krawatte mit blauen Engeln auf schwarzem Grund. Nach dem ersten Schnaps auf seine Rechnung werden ihm die anderen von seinen Gästen bezahlt. Das Lokal heißt Alias-Club, und Woodford war Mitglied. Der Club hat abends geöffnet. Die Gäste kommen gegen sechs, sie lösen sich aus der vorbeidrängenden Menge - verstohlen, aber zielsicher, wie Besucher vom Land, die in ein anrüchiges Variete streben. Zuerst fallen einem alle jene Dinge auf, die in diesem Club fehlen: keine Silberpokale hinter der Bar, kein Gästebuch am Eingang und keine Mitgliedsliste, keine Emblemes, keine Titel. An den weißgekalkten Wänden hängen nur einige Fotos in den Wechselrahmen, wie die Bilder in Leclercs Büro. Die Gesichter darauf sind unscharf, einige offenbar von einem Paßbild vergrößert, das von vorne aufgenommen worden war, so daß der Vorschrift entsprechend beide Ohren sichtbar blieben. Es gibt auch die Bilder von Frauen, einige von ihnen sogar attraktiv, trotz ihrer hochsitzenden, viereckigen Schultern, die ebenso wie das lange Haar während des Krieges Mode waren. Die Männer tragen die verschiedensten Uniformen. Soldaten des Freien Frankreich und der Freien polnischen Armee zwischen ihren britischen Kameraden. Einige sind Piloten. Von den Engländern kann man noch immer viele, wenn auch alt und grau geworden, im Club an der Bar treffen.

Als Woodford hereinkam, drehte sich alles nach ihm um, und Major Dell bestellte erfreut das übliche Bier für ihn. Ein blühend aussehender Mann mittleren Alters erzählte gerade von einem Absprung, den er einmal über Belgien gemacht hatte, aber er schwieg, als er spürte, daß er die Aufmerksamkeit seines Publikums verloren hatte.

»Hallo, Woodie«, fragte jemand voll Verwunderung, »wie geht's Madame?«

»Geht noch«, sagte Woodford mit jovialem Lächeln. »Geht noch.« Er trank von seinem Bier. Jemand bot Zigaretten an.

Major Dell sagte: »Woodie macht es ganz raffiniert heute abend.«

»Ich such' jemanden. Aber es ist ziemlich geheim.«

»Wir wissen, wie's ist«, sagte der blühend Aussehende. Woodford sah von einem der an der Bar Stehenden zum anderen und fragte ruhig, aber mit einer Andeutung des Geheimnisvollen in der Stimme: »Was hat der Alte beim Barras gemacht?« Etwas verwirrtes Schweigen. Sie hatten nun schon eine Zeitlang getrunken.

»Er hielt natürlich die Front.«, sagte Major Dell unsicher, und sie lachten alle.

Woodford lachte mit ihnen. Er kostete die Atmosphäre des stillschweigenden Einverständnisses aus, durch das die halbvergessene Stimmung heimlicher Saufnächte in irgendwelchen englischen Offiziersmessen wieder heraufbeschworen wurde. »Und für was hielt er sich?« forschte er im gleichen vertraulichen Ton.

Diesmal riefen drei oder vier Stimmen gleichzeitig:

»Für schlechter als die Etappe.«

Sie waren nun lauter und glücklicher.

»Da gab's mal einen Mann namens Johnson«, fuhr Woodford schnell fort, »Jack Johnson. Ich versuche herauszufinden, was aus ihm geworden ist. Er bildete Funker aus, war einer der Besten. Zuerst war er bei Haldane in Bovingdon, bis sie ihn hinauf nach Oxford versetzten.«

Voll freudiger Erregung rief der Blühende: »Jack Johnson! Sie meinen den Funker? Erst vor zwei Wochen hab' ich mir ein Autoradio bei Jack gekauft! Johnsons Radioquelle< am Clapham Broadway, das ist der Bursche. Schaut hier ab und zu mal vorbei. Radio-Amateur, kleiner Kerl, spricht so aus dem Mundwinkel, nicht?«

»Das ist er«, sagte ein anderer, »für uns von dem alten Verein läßt er zwanzig Prozent ab.«

»Mir hat er nicht«, sagte der Blühende. »Das ist Jack. Er lebt in Clapham.« Nun griffen es auch die anderen auf: das sei der Bursche und er habe dieses Geschäft in Clapham, ein Radioamateur, war das schon vor dem Krieg, sogar schon als Kind. Ja, am Broadway, sitzt dort schon jahrelang, muß ein Vermögen gemacht haben. Kommt gerne um die Weihnachtszeit in den Club. Woodford bestellte mit freudig gerötetem Gesicht eine Runde. In dem folgenden Wirbel nahm ihn Major Dell sachte am Arm und zog ihn ans andere Ende der Bar. »Woodie, ist das wahr mit dem alten Wilf Taylor? Hat er wirklich ins Gras gebissen?« Woodford nickte mit ernstem Gesicht. »Er war bei einem Einsatz. Wir meinen, daß sich jemand ihm gegenüber etwas hart benommen hat.« Major Dell zeigte sich sehr besorgt. »Ich hab's den Jungs noch nicht gesagt. Würde ihnen nur Kummer machen. Wer kümmert sich um seine Frau?«

»Der Chef hat das jetzt in die Hand genommen. Sieht gut für sie aus.«

»Gut«, sagte Major Dell, »gut.« Er nickte und klopfte Woodford voll Mitgefühl auf den Arm. »Wir werden es vor den Jungs nicht erwähnen, ja?«

»Natürlich.«

»Er hat ein- oder zweimal aufschreiben lassen. Nicht viel. Kam meist am Freitag einen heben.« Die feine Sprechweise des Majors verrutschte manchmal etwas, wie ein Patentschlips.

»Schick die Rechnung. Wir werden's begleichen.«

»Da gab's ein Kind, oder? War's nicht ein Mädchen?« Sie gingen zur Bar zurück. »Wie alt war sie doch?«

»Um die acht, vielleicht mehr.«

»Er sprach viel von ihr«, sagte der Major. Jemand schrie: »Hey, Bruce, wann werdet ihr Burschen endlich mal wieder den Jerries [Anm: Jerries: Spitzname für die Deutschen] auf die Finger klopfen? Sie hocken schon wieder überall. War mit meiner Frau diesen Sommer in Italien - alles voll von arroganten Deutschen.«

Woodford lächelte. »Früher als du glaubst. - Jetzt wollen wir mal diesen versuchen, hört zu.« Der Lärm ebbte ab. Woodford war eine Realität. Er machte diese Arbeit noch immer.

»Es gab da mal einen Spezialisten für unbewaffneten Nahkampf, ein Unteroffizier, Waliser. Er war ziemlich klein.«

»Klingt nach Sandy Low«, schlug der Blühende vor. »Genau, das ist Sandy!« Alle drehten sich bewundernd zu dem Blühenden. »Klar! Ein Waliser. Wir nannten ihn Randy Sandy.«

»Natürlich«, sagte Woodford zufrieden. »Na, und ging er nicht als Boxlehrer zu irgendeinem Internat?« Er betrachtete die anderen mit zusammengekniffenen Lidern. Er mußte ja viel verschweigen, das Ganze sehr vorsichtig durchspielen, weil es so streng geheim war.

»Genau, das ist er. Das ist Sandy!« Woodford schrieb sich den Namen auf, denn er war durch die Erfahrung vorsichtig geworden, daß er gerne Dinge vergaß, die er seinem Gedächtnis anvertraut hatte.

Als er sich zum Gehen anschickte, fragte der Major: »Und was macht Clarkie?«

»Arbeitet«, sagte Woodford. »Schuftet sich zu Tode, wie immer.«

»Die Jungs reden viel über ihn, weißt du. Warum kommt er nicht ab und zu einmal her? Sie würden sich irrsinnig freuen, es würde ihnen Auftrieb geben.«

»Sag mal«, sie waren schon an der Tür, »erinnerst du dich an einen Kerl namens Leiser? Fred Leiser, ein Pole.

Er war bei unserem Haufen. War bei dem Auftritt in Holland dabei.«

»Er lebt noch?«

»Ja.«

»Tut mit leid«, sagte der Major unbestimmt, »aber die Ausländer haben aufgehört, zu mir zu kommen. Weiß auch nicht, warum. Wir haben uns hier nie Gedanken darüber gemacht.«

Woodford schloß die Tür hinter sich und trat in die Londoner Nacht hinaus. Er sah sich verliebt um - die mütterliche Stadt, die seiner rauhen Obsorge überlassen war. Er schritt langsam aus - wie ein alt gewordener Turner auf seinem alten Sportplatz.

8. Kapitel

Avery, im Gegensatz dazu, ging schnell. Er hatte Angst. Keine Frucht ist so schrecklich und gleichzeitig so schwer zu beschreiben wie die, die einen Spion in fremdem Land befallen kann. Der Blick eines Taxifahrers, das Gedränge der Menschen, die Vielfalt der Uniformen - war das gerade ein Postbote oder war es ein Polizist? -, die unbekannten Sitten, die fremde Sprache, die fremdartigen Geräusche, kurz all das, was die neue Welt ausmachte, in die Avery plötzlich geraten war, erzeugte in ihm einen Zustand der fortwährenden Angst, die sich wie ein Nervenschmerz jetzt, da Avery allein und müde war, besonders bösartig bemerkbar machte. Innerhalb weniger Augenblicke schwankte seine Stimmung zwischen Panik und einer kriecherischen Unterwürfigkeit, die ihn auf unnatürliche Weise dankbar sein ließ für ein freundliches Wort oder auch nur einen wohlwollenden Blick. Er empfand eine entwürdigende Abhängigkeit von jenen, die er gerade zu hintergehen im Begriff war. Avery wünschte nichts sehnlicher, als von den gleichgültigen Gesichtern um ihn her die Absolution eines vertrauensvollen Lächelns zu erhalten. Es war ihm keine Hilfe, daß er sich immer wieder sagte: du fügst ihnen ja gar keinen Schaden zu, du bist doch ihr Beschützer. Er bewegte sich zwischen ihnen wie ein Gejagter auf der Suche nach Ruhe und Nahrung.

Er fuhr mit dem Taxi ins Hotel und bat um ein Zimmer mit Bad. Man reichte ihm das Meldebuch zur Unterschrift. Er hatte bereits seinen Füller auf das Papier gesetzt, als er, nur zehn Zeilen höher, in mühsamer Schrift den Namen Malherbe verzeichnet sah. Der Namenszug war in der Mitte unterbrochen, als habe ihn sein Schreiber nicht recht buchstabieren können.

Sein Auge folgte der Eintragung in dieser Zeile: Adresse, London - Beruf, Major a. D. Bestimmungsort, London. Sein letztes Vergnügen, dachte Avery, waren also ein falscher Beruf und ein falscher Grad gewesen, aber sie hatten dem unbedeutenden Engländer Taylor noch einen Augenblick das Gefühl des Ruhmes verschafft. Warum nicht Oberst? Warum nicht Admiral? Warum hatte er sich nicht selbst geadelt und eine Adresse in der Park Lane verschafft? Selbst noch im Zustand des Träumens hatte Taylor seine Grenzen erkannt.

Der Portier sagte: »Der Diener wird Ihr Gepäck bringen.«

»Verzeihung«, sagte Avery - eine sinnlose Bemerkung des Bedauerns - und schrieb seinen Namen, wobei ihm der Portier eigenartig aufmerksam zusah. Er gab dem Diener eine Münze und hatte im selben Augenblick das Gefühl, daß er ihm zu viel gegeben habe. Er schloß die Tür seines Zimmers und blieb einige Zeit auf seinem Bett sitzen. Der Raum war durchdacht angelegt, aber er wirkte kalt und unpersönlich. An der Tür hing ein mehrsprachiger Hinweis, daß das Hotel für Wertgegenstände nur haften könne, wenn sie beim Portier hinterlegt seien, und neben dem Bett warnte ein zweiter Aushang vor den finanziellen Nachteilen, die es für den Gast bedeuten würde, wenn er das Frühstück nicht im Hause einnahm. Auf dem Schreibpult lag eine Reisezeitschrift und daneben eine schwarz gebundene Bibel. Es gab ein ungemein sauberes und sehr kleines Badezimmer und einen eingebauten Schrank, in dem ein Kleiderbügel hing. Er hatte vergessen, ein Buch mitzunehmen. Er hatte keineswegs erwartet, daß er gegen Langeweile zu kämpfen haben würde.

Ihm war kalt und er hatte Hunger. Er wollte baden. Er drehte das Wasser auf und begann sich auszuziehen.

Er war schon dabei, ins Wasser zu steigen, als er sich an Taylors Briefe in seiner Tasche erinnerte. Er zog seinen Bademantel an, setzte sich aufs Bett und begann, sie zu lesen. Einer war von der Bank und bezog sich auf eine Überziehung des Kontos, einer war von Taylors Mutter, einer von einem Freund - er begann >Lieber alter Wilf< - und die übrigen waren von einer Frau. Diese Briefe waren gefährlich. Sie stellten ein Sicherheitsrisiko dar. Derartige Briefe könnten ihn leicht kompromittieren. Er entschloß sich, sie alle zu verbrennen. Im Zimmer gab es noch ein Waschbecken. Er legte die Briefe hinein und hielt ein Streichholz an sie. Irgendwo hatte er gelesen, daß man das so machte. Da war auch noch eine Mitgliedskarte des Alias-Clubs, ausgestellt auf den Namen Taylor, und er verbrannte auch sie, zerdrückte dann die verkohlten Reste im Becken und drehte das Wasser auf. Es stieg schnell. Das Becken hatte keinen Stöpsel, sondern einen eingebauten Metallmechanismus, der mit einem Hebel zwischen den Hähnen bedient wurde. In diesem Mechanismus hatte sich die nasse Asche festgesetzt: Der Abfluß des Beckens war verstopft. Er sah sich nach einem Gegenstand um, mit dem er unter den beweglichen Metallverschluß in das Abflußrohr hätte stochern können. Er versuchte es mit seinem Füller, aber der war zu dick, also holte er seine Nagelfeile. Mehrmalige Versuche brachten die Asche schließlich in das Rohr. Das Wasser floß ab und ließ einen dunkelbraunen Fleck auf dem weißen Boden des Porzellanbeckens sichtbar werden. Er rieb den Fleck, zuerst mit der Hand, dann mit der Nagelbürste, aber er wollte nicht verschwinden. Die Glasur konnte sich nicht so verfärben. Es mußte irgendeine Substanz aus dem Papier sein, vielleicht war es Teer. Er ging ins Bad und sah sich vergebens nach einem Putzmittel um.

Als er ins Zimmer zurückkam, bemerkte er, daß es mit dem Geruch verkohlten Papiers erfüllt war. Er ging schnell zum Fenster und öffnete es. Ein eisiger Windstoß fuhr gegen seine nackten Beine. Er zog gerade den Bademantel fester um sich herum, als es an der Tür klopfte. Er starrte von Furcht gelähmt auf die Tür, hörte es wieder klopfen, rief schließlich >Ja< und sah, wie sich die Klinke bewegte. Es war der Mann von der Rezeption. »Mr. Avery?«

»Ja?«

»Verzeihung. Wir brauchen Ihren Paß. Für die Polizei.«

»Polizei!«

»Es ist hier so üblich.«

Avery hatte sich vor das Waschbecken gestellt. Die Vorhänge flatterten wild vor dem geöffneten Fenster. »Darf ich das Fenster schließen?« fragte der Mann. »Mir war nicht gut. Ich wollte ein bißchen frische Luft herein lassen.«

Er fand seinen Paß und gab ihn dem Mann, der - wie Avery bemerkte - auf das Waschbecken starrte, auf den braunen Fleck und die kleinen schwarzen Flocken, die im Becken zurückgeblieben waren. Sehnlicher als je zuvor wünschte er, wieder daheim in England zu sein.

Die Villen längs der Western Avenue wirken wie eine Reihe rosafarbener Gräber auf einem grauen Feld, ein steingewordenes Bild beginnenden Alters. Einförmigkeit ist die Folge widerspruchslosen Alterns, des sanften Sterbens und des erfolglosen Lebens. Diese Villen sind Häuser, denen es besser geht als ihren Bewohnern: sie tauschen sie nach Belieben aus, ohne sich selbst zu ändern. Möbelwagen gleiten respektvoll wie Leichenwagen zwischen ihnen hindurch, um diskret die Toten abzuholen und die Lebenden zu liefern.

Manchmal wird einer der Besitzer seine Hand rühren, um einige Töpfe Farbe auf Balken und Türen zu verteilen oder den Garten zu verschönern, aber seine Anstrengungen verändern das Haus nicht mehr, als ein Strauß Blumen das Krankenzimmer in einer Klinik verändert. Und das Gras wird auch in Zukunft auf seine eigene Art wachsen, wie das Gras auf einem Grab. Haldane stieg aus und schickte den Wagen weg, um zu Fuß in den Weg nach South Park Gardens einzubiegen, das gute fünf Minuten von der Avenue entfernt war: eine Schule, ein Postamt, vier Läden und die Filiale einer Bank. Er ging gebeugt, an seiner Hand baumelte eine Aktentasche. Er schritt gemessen über das Pflaster. Hinter den Häusern wurde der Turm einer modernen Kirche sichtbar, eine Uhr schlug sieben. An der Ecke ein Lebensmittelgeschäft, neue Fassade, Selbstbedienung. Er schaute auf den Namen: Smethwick. Im Laden war ein jüngerer Mann in braunem Overall gerade dabei, eine aus Büchsen errichtete Pyramide zu vollenden. Haldane klopfte an die Scheibe. Der Mann schüttelte den Kopf und stellte eine weitere Büchse auf den Turm. Haldane klopfte noch einmal, heftiger. Der Mann kam zur Tür. »Ich darf Ihnen nichts mehr verkaufen«, rief er durch das Glas, »wozu also das Geklopfe?« Dann sah er die Aktentasche und fragte: »Oder sind Sie Vertreter?« Haldane griff in die Brusttasche und hielt etwas gegen die Scheibe - eine Karte in einer Zellophanhülse, die aussah wie eine Dauerkarte. Der junge Mann starrte darauf, dann drehte er langsam den Schlüssel. »Ich möchte mit Ihnen privat sprechen«, sagte Haldane und trat in den Laden.

»So ein Ding habe ich noch nie gesehen«, bemerkte der junge Mann zögernd. »Ich nehme an, daß es in Ordnung ist?«

»Es ist ganz in Ordnung. Nachforschung von Amts wegen. Jemand namens Leiser, ein Pole. Soviel ich weiß, hat er vor ziemlich langer Zeit hier gearbeitet.«

»Da muß ich Vater holen«, sagte der junge Mann. »Ich war damals noch ein Kind.«

»Ich verstehe«, sagte Haldane in einem Ton, als sei ihm Jugend zuwider.

Es war schon fast Mitternacht, als Avery das Gespräch mit Leclerc bekam. Er war sofort am Apparat. Avery konnte sich genau vorstellen, wie er aufrecht in dem Eisenbett saß, die Militärdecken stellen, wie er aufrecht in dem Eisenbett saß, die Militärdecken zurückgeworfen hatte und mit seinem schmalen, hellwachen Gesicht auf die Neuigkeiten wartete. »Hier ist John«, sagte er vorsichtig. »Jaja, ich weiß schon, wer Sie sind.« Leclerc schien ärgerlich darüber, daß er seinen Namen erwähnt hatte.

»Ich fürchte, das Geschäft ist geplatzt, sie haben kein Interesse. Negativ. Sie sollten dem Mann, mit dem ich gesprochen habe, dem kleinen Dicken, sagen, daß wir die Hilfe seines Freundes hier nicht brauchen werden.«

»Ich verstehe. Macht nichts.« Er schien überhaupt kein Interesse zu haben.

Avery wußte nicht, was er sagen sollte. Er hatte einfach keine Ahnung. Dabei wünschte er so sehr, noch länger mit Leclerc zu sprechen. Er hätte so gerne berichtet, wie verächtlich er von Sutherland behandelt worden, und daß der Paß nicht in Ordnung gewesen war. »Die Leute hier, die Leute, mit denen ich verhandle, sind über das ganze Geschäft ziemlich beunruhigt.« Er wartete.

Er hätte Leclerc gerne mit seinem Namen angeredet, hatte aber für ihn keinen Namen. Es war in der Organisation nicht üblich, einander mit Mister anzureden.

Die Älteren redeten sich einfach mit ihren Familiennamen an und gebrauchten gegenüber den Jüngeren deren Vornamen. Es gab keine Regel dafür, wie man seinen Vorgesetzten anzusprechen hatte. So sagte Avery nur: »Sind Sie noch da?« Und Leclerc antwortete »Natürlich. Wer ist beunruhigt? Was ist schiefgegangen?« Avery dachte, ich hätte ihn mit Direktor ansprechen können, aber das hätte wohl gegen die Sicherheitsvorschriften verstoßen. »Der Vertreter hier, der Mann, der sich um unsere Interessen kümmert... er hat das ganze Geschäft durchschaut«, sagte er. »Er hat sich's wohl zusammengereimt.«

»Sie haben betont, daß es streng vertraulich ist?«

»Ja, natürlich.« Wie hätte er nur die Angelegenheit mit Sutherland erklären können?

»Gut. Wir können gerade jetzt keinen Ärger mit dem Auswärtigen Amt brauchen.« Mit veränderter Stimme fuhr Leclerc fort: »Hier läuft alles ausgezeichnet, John, ausgezeichnet. Wann kommen Sie zurück?«

»Ich muß mich um die ... es ist nicht so leicht, unseren Freund heimzubringen, wie Sie geglaubt haben. Man muß einen Haufen Formalitäten erledigen.«

»Wann werden Sie fertig sein?«

»Morgen.«

»Ich werde Sie mit dem Wagen in Heathrow abholen lassen. In den letzten Stunden hat sich hier viel verändert, viele Fortschritte. Wir brauchen Sie dringend. Und - gut gemacht, John, wirklich gut gemacht.«

»In Ordnung.«

Er hatte erwartet, in dieser Nacht tief zu schlafen, aber nach einer Zeitspanne, die ihm wie eine Stunde schien, fuhr er hellwach und gespannt aus dem Schlaf. Er sah auf seine Uhr. Es war zehn nach eins. Nachdem er aus dem Bett gestiegen war, ging er zum Fenster und blickte auf die schneebedeckte Landschaft hinaus, durch die sich als dunkles Band die zum Flughafen führende Straße zog. Er glaubte, die kleine Erhebung sehen zu können, auf der Taylor gestorben war.

Er war verzweifelt und voll Angst. Verworrene Bilder drängten sich ihm auf: Taylors schreckliches Gesicht, das er fast hätte betrachten müssen, blutüberströmt und mit weit aufgerissenen Augen, als wolle er eine entscheidende Entdeckung mitteilen, dazwischen Leclercs von leicht verletzlichem Optimismus erfüllte Stimme, der dicke Polizist, der ihn mißgünstig anstarrte, als sei er ein Gegenstand, den zu kaufen er sich nicht leisten konnte. Avery mußte erkennen, daß er kein Mensch war, der mit dem Alleinsein leicht fertig wurde. Es machte ihn traurig und sentimental. Er ertappte sich dabei, daß er zum erstenmal seit heute morgen, als er seine Wohnung verlassen hatte, an Sarah und Anthony dachte. Während er an seinen Jungen, die kleine Stahlbrille auf seiner Nase dachte, stiegen ihm plötzlich Tränen in die Augen, und er sehnte sich danach, seine Stimme zu hören, er sehnte sich nach Sarah und der vertrauten Umgebung seiner Wohnung. Vielleicht sollte er anrufen, mit ihrer Mutter sprechen, sich nach ihr erkundigen? Aber was, wenn sie wirklich ernsthaft krank war? Er hatte an diesem Tag schon genug gelitten, genügend Energie und Erfindungskraft aufgewendet, sich genug gefürchtet. Er war durch einen Alptraum gegangen, und man konnte von ihm nicht erwarten, daß er sie jetzt anrief. Er ging zurück in sein Bett.

So sehr er sich mühte - er fand keinen Schlaf. Seine Augenlider waren heiß und schwer, sein Körper erschöpft, und dennoch konnte er nicht schlafen. Draußen kam Wind auf und rüttelte an den Doppelfenstern. Einmal war ihm zu heiß, dann wieder zu kalt. Dann fiel er in eine Art Halbschlaf, nur um sofort wieder aus seiner unangenehmen Ruhe durch ein Weinen aufgeschreckt zu werden, das aus dem Nebenzimmer gekommen sein konnte, oder aber auch von Anthony, und ebensogut mochte das Geräusch, das er nicht genau gehört hatte und an das er sich jetzt im wachen Zustand nur undeutlich erinnern konnte, das metallische Schluchzen einer sprechenden Puppe gewesen sein.

Und einmal, es war kurz vor Anbruch der Dämmerung, hörte er vor seinem Zimmer einen Tritt, es war nur ein einzelner Schritt, draußen im Flur, und dieses Geräusch war sicher nicht eingebildet, sondern ganz wirklich, so daß er in eisigem Schrecken dalag und darauf wartete, daß sich die Klinke an seiner Tür bewegte oder daß die Männer Inspektor Peersens klopften. Er lauschte angespannt und hätte schwören können, daß er ein feines Knistern wahrnehmen konnte, wie von Stoff, dann ein unterdrücktes Atemgeräusch gleich einem winzigen Seufzer. Stille. Obwohl er noch endlose Minuten lang lauschte, hörte er nichts mehr.

Er knipste das Licht an, ging zum Stuhl hinüber, um seinen Füller zu holen. Er fand ihn schließlich beim Waschbecken. Aus der Aktentasche holte er eine lederne Schreibmappe, die ihm Sarah geschenkt hatte. Er ließ sich an dem wackligen Tischchen vor dem Fenster nieder und begann einen Liebesbrief zu schreiben. Er schrieb an irgendein Mädchen. Es hätte vielleicht Carol sein können. Als schließlich der Tag anbrach, zerriß er ihn wieder in kleine Schnitzel, die er in der Toilette hinunterspülte.


Dabei fiel sein Blick auf etwas Weißes, das auf dem Boden lag. Es war ein Foto von Taylors Kind. Das Mädchen hielt eine Puppe im Arm und hatte eine Brille auf, die gleiche Art Brillen, die auch Anthony trag. Das Bild mußte zwischen seinen Papieren gelegen haben. Er wollte es vernichten, aber irgendwie brachte er das nicht übers Herz. Er steckte es in die Tasche.

9. Kapitel

HEIMKEHR


Wie Avery erwartet hatte, entdeckte er Leclerc in Heathrow unter den Wartenden; er stand auf den Zehenspitzen und spähte unruhig nach ihm aus. Er hatte die Zollbeamten irgendwie bestochen oder mußte das Ministerium dazu bewogen haben, ihm eine besondere Behandlung zu verschaffen, denn als er Avery erblickte, betrat er die Halle und bahnte Avery selbstsicher den Weg, als sei er es gewohnt, von Formalitäten verschont zu bleiben. Das ist das Leben, das wir führen, dachte Avery. Immer der gleiche Flughafen, nur mit jeweils anderen Namen, die gleichen eiligen, schuldbewußten Zusammenkünfte. Wir leben außerhalb der Stadtmauern, die Black Friars aus einem dunklen Haus in Lambeth. Er war todmüde und sehnte sich nach Sarah. Er wollte ihr sagen, daß es ihm leid tue, wollte sich wieder mit ihr versöhnen, eine neue Stellung suchen, einen neuen Anlauf nehmen, öfter mit Anthony spielen. Er schämte sich. »Ich will nur rasch telefonieren. Sarah fühlte sich bei meiner Abreise nicht recht wohl.«

»Rufen Sie vom Büro aus an, wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte Leclerc. »Ich habe in einer halben Stunde eine Besprechung mit Haldane.« Da Avery den Eindruck hatte, in Leclercs Stimme schwinge ein falscher Ton mit, warf er ihm einen mißtrauischen Blick zu, aber die Augen des anderen waren auf den schwarzen Humber gerichtet, der auf dem reservierten Parkplatz stand. Leclerc ließ sich den Wagenschlag vom Fahrer öffnen, und nach einigem umständlichen Hin und Her saß Avery schließlich an Leclercs linker Seite, wie es offenbar das Protokoll verlangte. Der Fahrer schien das Warten satt zu haben. Zwischen ihm und ihnen gab es keine Trennwand. »Das ist eine Veränderung«, sagte Avery und deutete auf das Auto.

Leclerc nickte nur, als sei die Anschaffung für ihn keineswegs mehr neu. »Wie steht die Sache?« fragte er zerstreut.

»In Ordnung. Es ist doch nichts los? Mit Sarah, meine ich.«

»Warum sollte etwas los sein?«

»Blackfriars Road?« fragte der Fahrer, ohne den Kopf zu wenden, wie man es von einem Chauffeur erwarten konnte.

»Hauptquartier, ja.«

»Das war ein schreckliches Durcheinander in Finnland«, sagte Avery grob. »Die Papiere unseres Freundes... Malherbe... waren nicht in Ordnung. Das Auswärtige Amt hatte seinen Paß eingezogen.«

»Malherbe? Ach so, Sie meinen Taylor. Das wissen wir alles. Das ist jetzt schon geregelt. Nur die übliche Eifersucht. Control ist in der Tat ziemlich außer sich darüber. Er schickte uns seine Entschuldigung. Wir haben jetzt eine Menge Leute auf unserer Seite. Sie können sich davon keine Vorstellung machen, John. Sie werden uns sehr nützlich sein, John: Sie sind der einzige, der es an Ort und Stelle gesehen hat.« Was gesehen? fragte sich Avery. Sie waren wieder zusammen, mit der gleichen Intensität, dem gleichen körperlichen spürbaren Unbehagen, den gleichen Augenblicken geistiger Leere. Als Leclerc sich ihm zuwandte, glaubte Avery einen schrecklichen Augenblick lang, er werde ihm die Hand aufs Knie legen. »Ich sehe, Sie sind müde, John. Ich weiß, wie einem zumute ist. Macht nichts - Sie sind wieder bei uns. Hören Sie, ich habe eine gute Nachricht für Sie. Das Ministerium hat plötzlich enorm angebissen. Wir sollen eine Einsatzsondergruppe bilden, um die nächste Phase vorzubereiten.«

»Die nächste Phase?«

»Sicher! Den Mann, den ich Ihnen gegenüber erwähnte. Wir können die Dinge nicht so bewenden lassen. Wir sind zum Aufklären da, John, nicht nur zum Vergleichen der Ergebnisse anderer Leute. Ich habe die Sonderabteilung wieder ins Leben gerufen. Wissen Sie, was das ist?«

»Haldane leitete sie während des Krieges. Schulung.«

Leclerc unterbrach ihn eilig wegen der Anwesenheit des Fahrers:». Schulung der reisenden Vertreter. Und er wird sie auch jetzt wieder leiten. Ich habe beschlossen, daß Sie mit ihm arbeiten sollen. Ihr seid meine zwei besten Köpfe.« Er sah Avery von der Seite an.

Leclerc hatte sich verändert. In seinem Benehmen schwang eine neue Saite mit, etwas, das mehr war als Optimismus oder Hoffnung. Als Avery ihn das letzte Mal gesehen hatte, schien sein Leben nichts als ein Kampf gegen das Unglück zu sein: jetzt strahlte er Frische aus - ein Zielbewußtsein, das entweder neu oder sehr alt war. »Und Haldane hat angenommen?«

»Ich sagte es schon.

Er arbeitet Tag und Nacht. Sie vergessen, daß Adrian ein Profi ist. Ein echter Routinier. Die alten Hasen sind für solche Jobs die besten. Mit einem oder zwei jungen Köpfen zur Seite.«

Avery sagte: »Ich möchte über die ganze Unternehmung mit Ihnen sprechen … über Finnland. Ich komme in Ihr Büro, sobald ich Sarah angerufen habe.«

»Kommen Sie gleich mit, dann kann ich Sie ins Bild setzen.«

»Ich rufe zuerst Sarah an.«

Wieder hatte Avery das unbegründete Gefühl, daß Leclerc ihn von einer Verständigung mit Sarah abzuhalten versuchte. »Es geht ihr doch gut, nicht wahr?«

»Soviel ich weiß, ja. Warum fragen Sie?« Dann setzte Leclerc liebenswürdig fort: »Froh, wieder zurück zu sein, John?«

»Ja, natürlich.«

Er ließ sich in die Polster des Wagens zurücksinken. Da Leclerc seine Feindseligkeit spürte, ließ er ihn eine Weile in Ruhe. Avery wandte seine Aufmerksamkeit der Straße und den stattlich aussehenden rosa Villen zu, an denen sie im leichten Regen vorüberfuhren. Leclerc begann wieder zu sprechen, jetzt mit seiner amtlichen Stimme. »Ich möchte, daß Sie gleich anfangen. Morgen, wenn es Ihnen möglich ist. Wir haben Ihr Zimmer hergerichtet. Es gibt eine Menge zu tun. Was diesen Mann betrifft: Haldane hat ihn schon in der Mache. Wir werden wahrscheinlich mehr darüber erfahren, sobald wir ins Amt kommen. Von jetzt an sind Sie Adrians Geschöpf. Ich glaube, das sagt Ihnen zu. Unsere Oberen haben eingewilligt, Ihnen einen Sonderausweis vom Ministerium zur Verfügung zu stellen. Das gleiche Ding, das sie im Rondell haben.« Avery kannte Leclercs Art zu erzählen: es gab Zeiten, da beschränkte er sich völlig auf dunkle Andeutungen, indem er nur Rohmaterial lieferte, das der Verbraucher und nicht der Lieferant auswerten mußte. »Ich möchte mit Ihnen über die ganze Sache reden. Nachdem ich Sarah angerufen habe.«

»Ist in Ordnung«, entgegnete Leclerc freundlich, »kommen Sie und erzählen Sie mir davon. Warum nicht gleich jetzt?« Er wandte Avery voll sein Gesicht zu - ein Ding ohne Tiefe, ein einseitiger Mond. »Sie haben gute Arbeit geleistet«, sagte er großherzig, »ich hoffe, Sie machen so weiter.« Sie hatten die Stadtgrenze von London erreicht. »Wir bekommen vom Rondell etwas Hilfe«, fügte er hinzu. »Man scheint dort ziemlich willig zu sein. Natürlich sind sie nicht ganz im Bild. Darauf hat der Minister großen Wert gelegt.«

Sie fuhren die Lambeth Road hinunter, in der der Kriegsgott residiert. Am einen Ende das Kriegsmuseum, am anderen Ende Schulen und dazwischen Krankenhäuser und ein Friedhof mit seiner an einen Tennisplatz erinnernden Umzäunung. Niemand weiß, wer in dieser Straße lebt. Im Vergleich zu der Zahl der Menschen, die man sieht, gibt es zu viele Häuser, die Schulen scheinen zu groß für die wenigen Kinder. Die Spitäler mögen vielleicht voll besetzt sein, aber die Jalousien sind heruntergezogen. Über allem liegt Staub, wie der Staub des Krieges. Er liegt auf den ausdruckslosen Fassaden, er erstickt das Gras auf den Gräbern: er hat die Menschen vertrieben, mit Ausnahme jener wenigen, die in dunklen Ecken wie die Geister von Gefallenen herumlungern oder schlaflos hinter gelb erleuchteten Fenstern warten. Es ist eine Straße, die den Eindruck macht, als wären ihr die Menschen häufig entflohen. Die wenigen, die zurückgekehrt sind, haben offenbar alle irgend etwas von ihren Reisen aus der lebendigen Welt mitgebracht: einer das Stück eines Feldes, ein anderer die zerfallende Terrasse im Regency-Stil, einen Schuppen oder Lagerhaus. Oder eine Kneipe, die >Blumen des Waldes< heißt.

Es ist eine Straße voller vertrauenswürdiger Unternehmen. Eines steht unter der Schirmherrschaft Unserer trostreichen Jungfrau, das andere unter der des Erzbischofs Amigo. Was weder Krankenhaus, Schule, Kneipe oder Seminar ist, scheint leblos unter dem allmächtigen, alles bedeckenden Staub. Es gibt ein Spielwarengeschäft, vor dessen Tür ein seit langem unberührtes Vorhängschloß hängt. Avery blickte jeden Tag auf seinem Weg ins Büro hinein: auf den Regalen verrostete das Spielzeug. Die Fensterscheiben waren blind vom Schmutz, und ihr unterer Rand hatte Streifen, Abdrücke von Kinderhänden. Es gibt auch ein Geschäft, wo man auf die Reparatur seines Gebisses warten kann. Avery betrachtete all dies durch die Scheiben des vorbeifahrenden Autos und hakte ein Objekt nach dem anderen auf der Liste seines Gedächtnisses ab, wobei er sich fragte, ob er diese Parade noch einmal würde abnehmen können, solange er noch Mitglied der Organisation war. Sie kamen an Lagerhäusern vorbei, über deren Tore Stacheldraht gespannt war, und an Fabriken, die nichts produzierten. In einer von ihnen läutete gerade eine Glocke, die aber niemand hörte. Dann kam eine verfallene Mauer mit Plakatanschlägen. »Heute bist du jemand in der Armee.« Sie verließen den Kreisverkehr des St. George's Circus und bogen schließlich in die Blackfriars Road ein.

Als sie sich dem Haus näherten, fühlte Avery, daß sich etwas verändert hatte. Einen Augenblick schien es ihm, als sei das bißchen Gras auf dem armseligen Stück Rasen während seiner kurzen Abwesenheit dicker und höher geworden, als seien die Betontreppen zum Haupteingang, denen es sogar im Hochsommer gelang, feucht und schmutzig zu wirken, jetzt sauber und einladend. Ehe er noch das Gebäude selbst betreten hatte, wußte er, daß ein neuer Geist in die Organisation Einzug gehalten hatte. Dieser Geist hatte selbst ihre unbedeutendsten Mitglieder erfaßt. Pine, der zweifellos von dem schwarzen Dienstwagen und dem plötzlichen Kommen und Gehen geschäftiger Leute beeindruckt war, sah adrett und munter aus. Ausnahmsweise machte er keine Bemerkung über die letzten Cricketergebnisse. Das Treppenhaus glänzte von frischem Bohnerwachs. Auf dem Gang begegneten sie Woodford. Er trug einige Akten, deren Deckel mit dem roten Vermerk >Streng geheim< versehen waren, und schien in Eile. »Tag, John! Gut gelandet also? Nette Gesellschaft gehabt?« Er schien sich wirklich über ihre Begegnung zu freuen. »Ist Sarah jetzt wieder in Ordnung?«

»Er hat sich gut gehalten«, sagte Leclerc schnell, »er hatte einen sehr schwierigen Einsatz.«

»O ja; armer Taylor. Wir werden Sie in der neuen Abteilung brauchen. Ihre Frau wird Sie ein oder zwei Wochen entbehren müssen.«

»Was hat er da über Sarah gesagt?« fragte Avery. Plötzlich hatte er Angst. Er eilte den Gang hinunter. Leclerc rief ihm etwas nach, aber er kümmerte sich nicht darum. Er betrat sein Zimmer und blieb wie angewurzelt stehen. Auf seinem Schreibtisch war ein zweites Telefon und an der Wand stand ein Eisenbett wie das von Leclerc. Neben dem neuen Telefon hing ein Liste mit Telefonnummern, die für den Alarmfall wichtig waren. Die nachts geltenden Nummern waren rot. An der Rückseite der Tür hing ein zweifarbiges Plakat mit dem Profil eines Männerkopfes, über dessen Stirn gedruckt war: >Behalte es hier!< Vor seinem Mund stand: >Laß es nicht heraus!< Es dauerte einige Sekunden, bis er verstand, daß dieses Plakat eine Ermahnung war, an die Sicherheit zu denken, und nicht etwa eine makabre Anspielung auf Taylor. Er nahm den Hörer ab und wartete. Carol kam mit einer Unterschriftsmappe herein.

»Wie ist's gegangen?« fragte sie. »Der Chef scheint zufrieden zu sein.« Sie stand sehr dicht neben ihm. »Gegangen? Es war kein Film da! Nicht unter den anderen Sachen. Ich trete aus, bin dazu entschlossen. - Was, zum Teufel, ist mit dem Telefon los?«

»Wahrscheinlich weiß man nicht, daß Sie schon zurück sind. Da ist ein Zettel von der Buchhaltung wegen der Rückvergütung einer Taxifahrt. Sie beanstanden die Rechnung.«

»Taxifahrt?«

»Von Ihrer Wohnung ins Büro. In der Nacht, als Taylor starb. Es ist angeblich zuviel.«

»Bitte machen Sie der Zentrale Beine. Die scheinen dort zu schlafen.«

Sarah hob selbst ab.

»Gott sei Dank, du bist es.«

Ja, sagte Avery, er sei vor einer Stunde angekommen. »Sarah, ich hab' es satt. Ich werde Leclerc sagen -« Aber ehe er zu Ende gesprochen hatte, platzte sie heraus: »John, um Himmels willen, was hast du nur getan? Wir haben die Polizei hier gehabt, Detektive. Sie wollten mit dir über eine Leiche sprechen, die am Londoner Flughafen eingetroffen ist. Irgend jemand, der Malherbe heißt. Sie sagten, die Leiche sei mit einem falschen Paß aus Finnland geschickt worden.« Er schloß die Augen. Am liebsten hätte er aufgelegt. Aber obwohl er den Hörer weit von sich weg hielt, hörte er noch immer ihre Stimme »John... John!« sagen. »Sie behaupten, er sei dein Bruder. Er ist an dich adressiert, John; irgendein Londoner Bestattungsinstitut hätte alles für dich erledigen sollen. John, John, bist du noch da?«

»Hör zu«, sagte er, »es ist alles in Ordnung. Ich werde mich jetzt darum kümmern.«

»Ich habe ihnen von Taylor erzählt; ich mußte es.«

»Sarah!«

»Was hätte ich denn machen sollen? Sie hielten mich für eine Verbrecherin oder sonst was. Sie glaubten mir nicht, John! Sie fragten, wie man dich erreichen könne. Darauf mußte ich ihnen sagen, ich wüßte es nicht. Ich wußte ja nicht einmal, in welches Land oder mit welchem Flugzeug du geflogen bist. Ich war krank, John, ich fühlte mich elend, ich hatte diese verfluchte Grippe und vergessen, die Pillen zu nehmen. Sie kamen mitten in der Nacht, zu zweit, John. Warum sind sie in der Nacht gekommen?«

»Was hast du ihnen gesagt? Verdammt noch mal, Sarah, was hast du ihnen noch erzählt?«

»Fluch nicht! Wenn hier jemand das Recht dazu hat, dann bin ich es, und zwar auf dich und deine widerliche Organisation. Ich sagte, du machst irgend etwas Geheimes; du seist im Auftrag der Organisation verreist - John -, nicht einmal den Namen der Organisation weiß ich -, daß du durch einen Anruf mitten in der Nacht weggerufen worden seist. Ich sagte, es handelte sich um einen Kurier namens Taylor.«

»Du bist wahnsinnig«, schrie Avery, »du bist völlig wahnsinnig. Ich habe dir gesagt, du darfst niemals etwas sagen!«

»Aber John, das waren Polizisten! Das kann doch nichts ausmachen, wenn man es ihnen sagt!« Sie weinte, er konnte es hören. »John, bitte komm nach Hause. Ich habe solche Angst. Du mußt aus dieser Sache aussteigen, wieder in einen Verlag gehen. Es ist mir einerlei, was du tust, aber.«

»Ich kann nicht. Es ist furchtbar wichtig. Wichtiger, als du möglicherweise verstehen kannst. Es tut mir leid, Sarah, ich kann jetzt nicht vom Büro fort.« Ärgerlich, wie er war, fiel ihm eine nützliche Lüge ein: »Du hast womöglich alles zerstört!« Darauf folgte eine lange Stille.

»Sarah, ich muß diese Geschichte klären. Ich werde dich später anrufen.«

Als sie endlich antwortete, bemerkte er in ihrer Stimme die gleiche tonlose Resignation, mit der sie ihn seine Sachen packen geschickt hatte. »Du hast das Scheckheft mitgenommen. Ich habe kein Geld.« Er sagte ihr, er werde es ihr schicken. »Wir haben ein Auto«, fügte er hinzu, »mit Chauffeur, eigens für diese Sache.« Bevor er auflegte, hörte er sie sagen: »Ich dachte, ihr habt Autos in Mengen.« Er lief zu Leclerc hinüber, der mit Haldane - dessen Mantel noch naß vom Regen war - hinter seinem Schreibtisch stand. Die beiden waren über eine Akte gebeugt, deren Seiten vergilbt und zerrissen waren. »Taylors Leiche!« schrie er. »Sie ist auf dem Londoner Flughafen. Ihr habt alles durcheinandergebracht. Sie haben sich Sarah vorgenommen. Mitten in der Nacht!«

»Warten Sie!« Es war Haldane, der wütend sagte: »Sie haben kein Recht, einfach hier hereinzustürmen. Warten Sie!« Er mochte Avery nicht. Er vertiefte sich wieder in die Akte, ohne Avery zu beachten. »Keineswegs«, murmelte er dann. Zu Leclerc sagte er: »Das ist schon ein gewisser Erfolg Woodfords, wie ich sehe. Nahkampf ist in Ordnung. Er hat von einem Funker gehört, einem der besten. Ich erinnere mich an ihn. Die Garage heißt >Herzkönig<, ein offenbar glänzendes Unternehmen. Wir haben bei der Bank Erkundigungen eingezogen. Sie waren dort ziemlich, wenn nicht sogar sehr hilfsbereit. Er ist ledig. Scheint ein Weiberheld zu sein- die übliche polnische Art eben. Keine politischen Interessen, keine nennenswerten Hobbys, keine Schulden, keine Beschwerden. Scheint sozusagen ein Niemand zu sein. Es heißt, er sei ein guter Mechaniker. Was den Charakter anbelangt.« Er zuckte mit den Schultern. »Was weiß man schon von anderen Menschen?«

»Aber was haben sie dir erzählt? Mein Gott, man kann doch nicht fünfzehn Jahre in einer Gegend leben, ohne irgendeinen Eindruck zu hinterlassen. Es gab da einen Lebensmittelhändler, oder nicht - Smethwick? -, bei dem wohnte er nach dem Krieg.« Haldane gestattete sich ein Lächeln. »Sie sagten, er sei ein guter Arbeiter gewesen und sehr höflich. Jeder sagt, er sei höflich. Sie erinnern sich nur an eines: daß er in ihrem Hinterhof mit Leidenschaft einen Tennisball herumschlug.«

»Hast du dir die Garage angesehen?«

»Gewiß nicht. Ich bin ihr nicht in die Nähe gekommen. Ich schlage vor, ihn heute abend aufzusuchen. Ich sehe keine andere Möglichkeit. Schließlich steht der Mann seit zwanzig Jahren in unserer Kartei.«

»Gibt es nichts sonst, was du erfahren konntest?«

»Das müßten wir über das Rondell machen.«

»Dann laß Avery die Einzelheiten herausfinden.« Leclerc schien die Anwesenheit Averys vergessen zu haben. »Was das Rondell anbelangt - das werde ich persönlich erledigen.« Sein Interesse wurde von einer neuen Landkarte an der Wand gefesselt, einem Stadtplan von Kalkstadt, der die Kirche und den Bahnhof zeigte. Daneben hing eine ältere Karte von Osteuropa. Raketenbasen, deren Existenz bereits eindeutig erwiesen war, waren hier in ein System mit der südlich von Rostock gelegenen mutmaßlichen Basis gebracht. Durch dünne, zwischen Stecknadeln gespannte Wollfäden waren Nachschubwege, Befehlsinstanzen und bewaffnete Stützpunkte miteinander verbunden. Einige dieser Fäden führten nach Kalkstadt. »Gut, nicht wahr? Sandford hat sie gestern nacht abgesteckt«, sagte Leclerc. »Solche Sachen macht er wirklich recht gut.«

Auf seinem Schreibtisch lag ein weißhölzerner Zeigestab wie eine Riesennadel, durch die eine rosa Schleife gezogen war. Er hatte ein neues Telefon, grün und schicker als Averys, mit der Aufschrift >Vorsicht! Feind hört mit!< Haldane und Leclerc studierten eine Weile die Karte, wobei sie manchmal in die Mappe mit Telegrammen schauten, die Leclerc wie ein Chorknabe sein Psalmenbuch offen in beiden Händen hielt. Endlich wandte er sich zu Avery und sagte: »Also, was ist, John?« Jetzt warteten sie, daß er sprach. Er fühlte, wie sein Zorn verebbte, obwohl er ihn gerne noch länger ausgekostet hätte. Er wollte entrüstet herausschreien: »Wie können Sie es wagen, meine Frau hineinzuziehen?« Er Wollte die Beherrschung verlieren, aber er konnte es nicht. Sein Blick war auf die Karte geheftet. »Also?«

»Die Polizei war bei Sarah. Sie weckten sie mitten in der Nacht. Zwei Mann. Ihre Mutter war bei ihr. Sie kamen wegen der Leiche auf dem Flughafen, wegen Taylors Leiche. Sie wußten, daß der Paß falsch war und glaubten, sie habe mit der Sache zu tun.« Dann wiederholte er lahm: »Sie haben sie aufgeweckt!«

»Wir wissen davon. Die Sache ist bereits geklärt. Ich wollte es Ihnen schon sagen, aber Sie ließen mich nicht dazu kommen. Die Leiche ist freigegeben worden.«

»Es war nicht in Ordnung, Sarah da hineinzuziehen.« Haldane hob schnell den Kopf: »Was wollen Sie damit sagen?«

»Diese Sache gehört nicht in unseren Aufgabenbereich.« Es klang sehr frech. »Wir sollten die Finger davon lassen. Wir sollten sie dem Rondell übergeben. Smiley oder irgend jemand - das sind die zuständigen Leute, nicht wir.« Er fuhr mühsam fort. »Ich glaube diesem Bericht nicht. Ich glaube nicht, daß er wahr ist! Es würde mich nicht wundern, wenn dieser Flüchtling überhaupt nicht existierte, wenn Gorton die ganze Angelegenheit erfunden hätte. Ich glaube nicht, daß Taylor ermordet worden ist!«

»Ist das alles?« fragte Haldane. Er war sehr böse.

»Damit möchte ich nicht weiter zu tun haben. Mit der Operation, meine ich. Es ist nicht in Ordnung.« Er sah auf die Karte und dann zu Haldane. Er lachte etwas dümmlich. »Während ich die ganze Zeit einen toten Mann gejagt habe, waren Sie hinter einem lebenden her! Das ist leicht hier, in der Traumfabrik... aber draußen leben Menschen, wirkliche Menschen!« Leclerc berührte Haldane sanft am Arm, als wolle er damit sagen, laß, ich werd' das schon in Ordnung bringen. Er schien nicht beunruhigt. Er schien fast dankbar zu sein, Symptome zu erkennen, die er schon früher diagnostiziert hatte. »Gehen Sie in Ihr Zimmer, John, Sie sind übermüdet.«

»Aber was sage ich Sarah?« Er sprach voll Verzweiflung.

»Sagen Sie ihr, man werde sie nicht mehr belästigen. Sagen Sie, es habe sich um ein Mißverständnis gehandelt - sagen Sie ihr, was Sie wollen. Essen Sie etwas Warmes und kommen Sie in einer Stunde zurück. Im Flugzeug wird man ja nicht satt. Dann werden Sie uns den Rest erzählen.« Leclerc lächelte das gleiche saubere, leere Lächeln, das er auf dem Foto inmitten der toten Flieger hatte. Als Avery die Tür erreicht hatte, hörte er sanft und liebevoll seinen Namen rufen. Er blieb stehen und sah zurück. Leclerc hob eine Hand vom Schreibtisch, und mit einer halbkreisförmigen Handbewegung wies er auf den Raum, in dem sie standen.

»Ich werde Ihnen etwas sagen, John. Während des Krieges waren wir in der Baker Street. Wir hatten dort einen Keller, den das Ministerium für den Notfall als Zentrale für die Einsatzleitung hergerichtet hatte. Adrian und ich haben viel Zeit dort unten verbracht. Sehr viel Zeit.« Er warf einen Blick auf Haldane. »Erinnerst du dich, wie die Öllampe wackelte, wenn oben die Bomben fielen? Wir mußten mit Situationen fertig werden, in denen wir nur ein Gerücht gehört hatten, John. Nicht mehr. Ein Hinweis mußte uns oft genügen, das Risiko auf uns zu nehmen, einen, oder wenn nötig zwei Mann loszuschicken, von denen manchmal keiner zurückkam.

Oder es war nichts dahinter. Gerüchte, eine Vermutung, eine Spur, die man verfolgte. Man vergißt leicht, woraus Abwehr besteht: aus Glück und Spekulation. Hier und da ein unerwarteter Glücksfall, da und dort ein Fang. Manchmal stolpert man über eine Sache wie diese: es kann ebensogut sehr viel dahinterstecken wie auch einfach nichts. Der Hinweis kann von einem Bauern in Flensburg stammen, ebensogut aber auch von einem Universitätsprofessor. Beides aber schließt eine Möglichkeit ein, die man nicht zu mißachten wagt. Wir erhalten den Befehl, einen Mann auszuwählen, ihn loszuschicken. So ist es immer gewesen. Viele sind nicht zurückgekommen. Sie wurden ausgeschickt, um Zweifel zu klären. Wir mußten sie schicken, weil wir auf eindeutiges Wissen angewiesen sind, verstehen Sie das nicht? - Jeder von uns hat Augenblicke wie diesen, John. Glauben Sie nicht, daß es immer leicht ist.« Er lächelte voller Erinnerungen. »Wir hatten oft Skrupel - wie Sie. Wir mußten sie überwinden. Wir nannten das den zweiten Schwur.« Er lehnte sich zwanglos gegen den Schreibtisch. »Den zweiten Schwur«, wiederholte er. »Also, John, wenn Sie warten wollen, bis die Bomben fallen, bis die Menschen in den Straßen sterben.« Er war plötzlich ernst, als enthülle er seinen Glauben. »Es ist viel schwerer im Frieden, ich weiß. Es erfordert Mut. Eine ganz andere Art Mut.«

Avery nickte. »Es tut mir leid«, sagte er. Haldane beobachtete ihn voll Abscheu. »Der Direktor meint damit«, sagte er scharf, »daß - falls Sie in der Organisation bleiben und die Arbeit machen wollen - Sie es tun sollen. Wenn Sie jedoch Ihre Emotionen pflegen wollen, dann gehen Sie bitte woandershin und tun Sie es dort in Frieden. Wir sind hier zu alt für Ihresgleichen.« Avery klang noch immer Sarahs Stimme im Ohr, und er konnte die Reihen kleiner Häuser im Regen vorbeiziehen sehen. Er versuchte, sich ein Leben ohne die Organisation vorzustellen. Er erkannte, daß es zu spät war, weil es schon immer zu spät gewesen war, weil er um des Wenigen willen, das sie ihm geben konnten, zu ihnen gekommen war, und sie nahmen ihm das Wenige, das er besaß. Wie ein zweifelnder Priester hatte er das Gefühl gehabt, daß - was auch immer sein zaghaftes Herz bergen mochte - es sicher an seinem Zufluchtsort aufgehoben sei: jetzt war es verschwunden. Er sah Leclerc und dann Haldane an. Sie waren seine Kollegen. Alle drei würden sie, Gefangene des Schweigens, Seite an Seite arbeiten, die harte Scholle in jeder Jahreszeit aufbrechen; sie waren einander fremd und sie brauchten einander in einer Wildnis preisgegebenen Glaubens. »Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?« fragte Haldane.

Avery murmelte: »Wie, bitte?«

»Sie waren nicht im Krieg, John«, sagte Leclerc freundlich. »Sie verstehen nicht, wie diese Dinge sich der Menschen bemächtigen. Sie wissen nicht wirklich, was Pflicht ist.«

»Ich weiß«, sagte Avery. »Es tut mir leid. Ich möchte mir gerne das Auto für eine Stunde ausborgen. Sarah etwas schicken, wenn das geht.«

»Natürlich.«

Ihm fiel ein, daß er Anthonys Geschenk vergessen hatte. »Es tut mir leid«, sagte er nochmals. »Übrigens« - Leclerc öffnete eine Schublade des Schreibtisches und nahm einen Umschlag heraus. Er reichte ihn Avery mit einer nachsichtigen Gebärde.

»Das ist Ihr Ausweis, ein Sonderausweis vom Ministerium. Damit Sie sich legitimieren können. Er lautet auf Ihren eigenen Namen. Sie werden ihn in den nächsten Wochen vielleicht brauchen.«

»Danke.«

»Nehmen Sie ihn heraus.«

Es war ein Stück dicken, in Zellophan eingeschlagenen grünen Kartons, dessen Farbe verwaschen schien und dem unteren Rand zu dunkler wurde. Sein Name war mit einer elektrischen Schreibmaschine in Großbuchstaben quer darüber geschrieben: Mr. John Avery. Darunter stand, daß der Besitzer berechtigt sei, im Auftrag des Ministeriums Erhebungen durchzuführen. Die Unterschrift war mit roter Tinte gemacht worden.

»Danke.«

»Damit sind Sie sicher«, sagte Leclerc. »Der Minister hat ihn unterschrieben. Mit roter Tinte, sehen Sie. Das ist Tradition.«

Avery ging in sein Zimmer zurück. Es gab Zeiten, da stand er seinem Spiegelbild wie einem leeren Tal gegenüber, und diese Vision trieb ihn dann vorwärts, in Erfahrungen hinein, wie Verzweiflung uns zum Selbstmord treiben kann. Manchmal war er wie ein Mensch auf der Flucht, der aber gegen den Feind stürmt in der verzweifelten Sehnsucht danach, die Hiebe auf seinem zerfallenden Körper zu fühlen, da nur sie allein ihm noch beweisen konnten, daß es ihn noch immer gab; in der verzweifelten Sehnsucht, seiner von trüber Gleichförmigkeit geprägten Existenz den Stempel eines echten Zieles aufzudrücken, voll verzweifelter Sehnsucht danach - wie Leclerc angedeutet hatte -, sein Gewissen zu opfern, um Gott zu finden.


Dritter Teil


LEISERS EINSATZ


»Sich wie ein Schwimmer springend in die Reinheit werfen, frohgemut fort von einer Welt, die alt und kalt und müde.«


RUPERT BROOKE, »1914«

10. Kapitel

VORSPIEL


Der Humber setzte Haldane an der Garage ab. »Sie brauchen nicht zu warten. Sie müssen Mr. Leclerc ins Ministerium bringen.« Er ging mit zögernden Schritten über die Betonfläche, vorbei an den gelben Zapfsäulen und den im Wind rasselnden Reklameschildern. Es war Abend, und es würde wohl regnen. Die Garage war klein, aber sehr gepflegt. Am einen Ende ein Ausstellungsraum, am anderen die Werkstatt, dazwischen ein turmartiges Gebäude, in dem jemand wohnte. Das Ganze war übersichtlich angelegt, man hatte viel schwedisches Holz verwendet. Am Turm leuchtete ein herzförmiges Reklamezeichen, das fortlaufend seine Farbe wechselte. Irgendwo wimmerte eine Metalldrehbank. Haldane betrat das Büro. Niemand da. Es roch nach Gummi. Er läutete und begann gequält zu husten. Wenn er hustete, preßte er manchmal die Hände gegen die Brust, und sein Gesicht verriet dann die Ergebenheit eines Mannes, der mit dem Schmerz vertraut war. Neben einem Zettel, der wie eine private Annonce an einem Bretterzaun aussah und auf dem mit der Hand geschrieben stand: >St. Christopherus und alle deine Engel, bitte beschütze uns auf der Reise. F.L. <, hingen Kalender mit dürftig bekleideten Mädchen an der Wand. Am Fenster hing ein Käfig, in dem ein aufgeregter Wellensittich herumflatterte. Die ersten Regentropfen platschten träge gegen die Scheibe. Dann kam ein ungefähr achtzehnjähriger Junge mit ölverschmierten Händen herein. Er trug einen Overall, auf dessen Brusttasche ein rotes Herz und darüber eine Krone angenäht waren.

»Guten Abend«, sagte Haldane. »Bitte verzeihen Sie.

Ich suche einen alten Bekannten, einen Freund. Wir haben uns früher gut gekannt. Ein Mr. Leiser. Fred Leiser. Ich wollte fragen, ob Sie eine Ahnung haben.«

»Ich hole ihn«, sagte der Junge und verschwand. Haldane wartete geduldig, während er die Kalender betrachtete und sich überlegte, ob sie wohl von Leiser selbst oder von dem Jungen dort aufgehängt worden waren. Als sich die Tür wieder öffnete, stand Leiser vor ihm. Haldane erkannte ihn von der Fotografie her. Er hatte sich tatsächlich kaum verändert. Die zwanzig Jahre hatten sich nicht mit kräftigen Linien, sondern nur an den Augen mit einem feinen Netz von Fältchen in seinem Gesicht eingezeichnet. Und in Spuren an den Mundwinkeln, die Selbstdisziplin verrieten. Das indirekte Licht warf keine Schatten auf sein blasses Gesicht, das auf den ersten Blick nichts anderes als Einsamkeit verriet.

»Was kann ich für Sie tun?« fragte Leiser. Es sah beinahe so aus, als stehe er stramm. »'n Tag. Erkennen sie mich nicht mehr?« Leiser betrachtete ihn mit dem ausdruckslosen und doch vorsichtigen Gesicht eines Mannes, der aufgefordert worden ist, einen Preis vorzuschlagen. »Sind Sie sicher, daß Sie mich meinen?«

»Ja.«

»Muß lange her sein«, sagte er schließlich. »Es passiert nicht oft, daß ich ein Gesicht vergesse.«

»Zwanzig Jahre.« Haldane hustete um Vergebung heischend.

»Dann war's also im Krieg, ja?« Er war ein kleiner, sehr aufrechter Mann. Äußerlich war er Leclerc nicht unähnlich. Er hätte Kellner sein können. Seine Hemdärmel waren einmal umgeschlagen, seine Arme dicht behaart. Er trug ein weißes, teures Hemd. Auf der Brusttasche war ein Monogramm. Er sah wie ein Mann aus, der an seiner Kleidung nicht spart. Er trug einen goldenen Ring und eine Uhr mit goldenem Armband. Offenbar legte er großen Wert auf ein gepflegtes Äußeres. Haldane roch sein Rasierwasser. Er hatte dichtes braunes Haar, dessen Ansatz in gerader Linie über die Stirn lief. Es war zurückgekämmt und an den Schläfen leicht gewellt. Er trug keinen Scheitel und wirkte ausgesprochen slawisch. Obwohl er sich sehr gerade hielt, war etwas Schwankendes an ihm, eine gewisse Lockerheit der Schultern und Hüften, die die Vermutung nahelegte, daß er mit der See vertraut war. Es war dieser Punkt, an dem jede Ähnlichkeit mit Leclerc abrupt aufhörte. Abgesehen von seinem äußeren Erscheinungsbild wirkte er wie ein sehr geschickter Mann, der sich bei Reparaturen im eigenen Haus, oder wenn es galt, das Auto an einem kalten Wintermorgen in Gang zu bringen, durchaus zu helfen wußte. Außerdem sah er wie ein harmloser Mensch aus, wenn auch wie einer, der viel herumgekommen war. Er trug einen Schottenschlips.

»Sie erinnern sich sicher an mich«, bat Haldane. Leiser starrte auf die mageren Wangen mit den hektischen roten Flecken, den schlaffen, unruhigen Körper und die sich sanft bewegenden Hände - und da huschte über sein Gesicht der Schatten eines schmerzlichen Erkennens, als habe er die Überreste eines Freundes zu identifizieren. »Sie sind doch nicht etwa Captain Hawkins, oder?«

»Doch.«

»Guter Gott«, sagte Leiser, ohne sich zu bewegen. »Ihr also habt euch nach mir erkundigt!«

»Wir suchen einen Mann mit Ihrer Erfahrung, jemanden wie Sie.«

»Wozu brauchen Sie ihn, Sir?«

Er hatte noch immer keine Bewegung gemacht. Man konnte nur sehr schwer sagen, was er dachte. Sein Blick war auf Haldane gerichtet. »Um einen Auftrag auszuführen. Nur einen Auftrag.« Leiser lächelte, als falle ihm plötzlich wieder alles ein. Er wies mit einer Kopfbewegung zum Fenster. »Da drüben?« Er meinte irgendwo jenseits des draußen fallenden Regens. »Ja.«

»Wie ist es mit dem Zurückkommen?«

»Die normalen Vorschriften. Es ist dem Mann im Feld überlassen. Die Kriegsvorschriften.« Leiser kramte in seinen Taschen und brachte Zigaretten und Streichhölzer zum Vorschein. Der Wellensittich sang in seinem Käfig.

»Die Kriegsvorschriften. - Sie rauchen?« Er nahm sich eine Zigarette und zündete sie an, wobei er mit seinen Händen eine Muschel um die Flamme formte, als müsse er sie vor einem starken Sturm schützen. Das Streichholz ließ er auf den Boden fallen, wo es jemand anderer aufheben mochte. »Guter Gott«, wiederholte er, »zwanzig Jahre. Damals war ich ein Kind. Ein richtiges Kind.« Haldane sagte: »Ich bin sicher, daß Sie es nicht bereuen. Wollen wir etwas trinken gehen?« Er gab Leiser eine Visitenkarte. Noch druckfrisch stand darauf: Captain A. Hawkins. Darunter stand eine Telefonnummer.

Leiser las und zuckte mit den Schultern. »Mir ist's recht«, sagte er und holte seinen Mantel. Noch ein Lächeln, ungläubig diesmal, »aber Sie vergeuden Ihre Zeit mit mir, Captain.«

»Vielleicht kennen Sie jemanden. Noch vom Krieg her, jemanden, der es übernehmen würde.«

»Ich kenne nicht viele Leute«, sagte Leiser. Er nahm seine Jacke vom Haken und einen dunkelblauen Nylonregenmantel. Er beeilte sich, Haldane die Tür zu öffnen, als lege er auf gute Form Wert. Sein Haar war wie Vogelschwingen sorgfältig übereinandergelegt. Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße war eine Kneipe. Um sie zu erreichen, mußten sie eine Fußgängerbrücke überqueren. Der dichte Verkehr der abendlichen Stoßzeit donnerte unter ihnen vorbei und die dicken, kalten Regentropfen schienen ihn begleiten zu wollen. Die Kneipe war im Tudorstil eingerichtet, mit neuen Pferdegeschirren an den Wänden und einer auf Hochglanz polierten Schiffsglocke. Leiser bestellte einen White Lady. Er trinke niemals was anderes, sagte er. »Einem Drink treu bleiben, Captain, das ist mein Rat. Dann werden Sie keine Schwierigkeiten haben. Zum Wohl.«

»Es müßte jemand sein, der die alten Tricks kennt«, bemerkte Haldane. Sie saßen in der Ecke neben dem Kaminfeuer. Sie hätten ebensogut über Geschäfte sprechen können. »Es ist ein sehr wichtiger Job. Man zahlt viel mehr als im Krieg.« Er lächelte düster. »Man zahlt überhaupt viel, heutzutage.«

»Na ja, Geld ist nicht alles, oder?« Eine steife kleine Phrase, die er von den Engländern gelernt hatte. »Man hat sich an Sie erinnert, Leute, deren Namen Sie längst vergessen haben, falls Sie sie überhaupt je kannten.« Ein nicht überzeugendes Lächeln der Erinnerung kräuselte seine dünnen Lippen: es mochte Jahre her sein, seit er zum letztenmal gelogen hatte. »Sie haben einen ziemlichen Eindruck hinterlassen, Fred. Es gab nicht viele, die so gut waren wie Sie. Selbst nach zwanzig Jahren.«

»Im alten Verein denkt man also an mich?« Er schien dankbar dafür zu sein, aber auch schüchtern, als stünde es ihm nicht zu, daß man sich seiner erinnerte. »Ich war ja nur ein Kind, damals«, wiederholte er. »Wen gibt's denn noch, wer ist noch dabei?« Haldane, der ihn beobachtete, antwortete: »Ich habe Sie gewarnt, Fred, wir haben noch immer dieselben Regeln. Nur was man wirklich wissen muß - wie damals.« Es klang streng.

»Guter Gott«, sagte Leiser. »Alles wie früher. Immer noch so groß, der Laden?«

»Größer.« Haldane ging zur Bar und holte noch einen White Lady. »Kümmern Sie sich viel um Politik?« Leiser hob seine sauber gewaschene Hand und ließ sie wieder fallen.

»Sie wissen, wie wir hier sind«, sagte er, »in England. Nicht wahr?« Der Ton, in dem er dies sagte, enthielt die leicht unverschämte Unterstellung, daß er Haldane ebenbürtig sei.

Haldane unterbrach ihn schnell: »Ich meine, in einem weiten Sinn.« Er hustete trocken. »Schließlich haben diese Leute ja Ihr Land kassiert, oder nicht?« Leiser sagte nichts. »Was hielten Sie zum Beispiel von Kuba?«

Haldane rauchte nicht, aber er hatte an der Bar eine Schachtel von Leisers Zigaretten gekauft und riß nun mit seinen dünnen Altmännerfingern das Zellophan herunter, um Leiser über den Tisch hinweg eine anzubieten. Ohne auf eine Antwort zu warten, setzte er hinzu: »Das Entscheidende in Kuba war, müssen Sie wissen, daß die Amerikaner Bescheid wußten. Es war eine Frage der Information. Als sie sie hatten, konnten sie was unternehmen. Allerdings konnten sie drüberfliegen. Das ist nicht in jedem Fall möglich.« Er lachte kurz. »Man fragt sich, was sie ohne diese Möglichkeit unternommen hätten.«

»Ja, das ist richtig.« Leiser nickte mit dem Kopf wie eine Marionette. Haldane achtete nicht darauf. »Möglicherweise hätten sie nicht weitergewußt«, meinte Haldane und schlürfte an seinem Whisky. »Übrigens, sind Sie verheiratet?«

Leiser grinste und hielt seine Hand flach mit abgespreiztem Daumen und kleinem Finger wie ein Flugzeug vor sich, mit dessen Tragflächen er wackelte. »So - so«, sagte er. Sein Schottenschlips war an seinem Hemd mit einer goldenen Klammer in der Form einer Reitpeitsche vor einem Pferdekopf befestigt. Sie war sehr geschmacklos. »Und Sie, Captain?« Haldane schüttelte den Kopf. »Nein«, bemerkte Leiser gedankenvoll. »Also nicht.«

»Es gab auch andere Fälle«, fuhr Haldane fort, »in denen schwerwiegende Fehler gemacht wurden, weil man entweder nicht die richtigen oder nicht genügend Informationen hatte. Ich meine, nicht mal wir können überall dauernd Leute haben.«

»Nein, bestimmt nicht«, sagte Leiser zuvorkommend. Das Lokal begann sich zu füllen. »Kennen Sie nicht einen anderen Platz, wo wir uns ungestört unterhalten können?« erkundigte sich Haldane. »Wir können was essen, ein bißchen über den alten Verein plaudern. Oder haben Sie eine andere Verabredung?« In den unteren Gesellschaftsschichten pflegte man ja ziemlich früh zu Abend zu essen. Leiser warf einen schnellen Blick auf seine Uhr. »Bis acht ist mir alles recht. Sie sollten was gegen Ihren Husten tun, Sir. Kann gefährlich werden, ein Husten wie Ihrer.« Die Uhr war aus Gold, mit einem schwarzen Zifferblatt und einem eigenen Zeiger für die Phasen des Mondes.

Der Unterstaatssekretär zeigte deutlich, wie lästig es ihm war, so lange aufgehalten zu werden. Leclerc sprach jedoch weiter: »Ich glaube, Ihnen berichtet zu haben, daß man sich im Auswärtigen Amt bei der Ausstellung von Pässen für Einsatzzwecke recht stur zeigt. Man hat es sich zur Gewohnheit gemacht, in jedem einzelnen Fall beim Rondell rückzufragen. Wir sind vollkommen ohne Status, das wissen Sie, nicht? Es fällt mir nicht leicht, mich mit diesen Dingen unbeliebt zu machen - man hat dort einfach nicht die geringste Vorstellung davon, wie wir arbeiten. Es wäre zu überlegen, ob es nicht die beste Lösung darstellte, wenn wir unsere Paßanforderungen über Ihr Sekretariat laufen ließen. Das würde es überflüssig machen, jedesmal zum Rondell gehen zu müssen.«

»Was meinen Sie mit stur?«

»Wie Sie sich vielleicht erinnern, hatten wir den armen Taylor unter einem anderen Namen fahren lassen. Das A. A. erklärte seinen Paß bereits einige Stunden, ehe er London überhaupt erst verlassen hatte, schon wieder für ungültig. Ich fürchte, das Rondell hat da einen groben administrativen Schnitzer gemacht. Jedenfalls wurde der Paß, mit dem die Leiche aus Kopenhagen hier ankam, aus diesem Grund nicht anerkannt, und wir hatten große Schwierigkeiten. Ich mußte meinen besten Mann schicken, damit er die Sache ausbügelt.« Eine spontane kleine Lüge. »Ich bin sicher, daß Control ziemlich leicht von der Notwendigkeit einer neuen Regelung überzeugt werden könnte, wenn der Minister darauf bestünde.« Der Unterstaatssekretär deutete mit dem Bleistift auf die zu seinem Sekretariat führende Tür. »Sagen Sie das da drin. Knobeln Sie was mit ihnen aus. Das klingt doch wirklich alles sehr dumm. Mit wem haben Sie es im Außenamt immer zu tun?«

»De Lisle«, sagte Leclerc befriedigt. »Er sitzt in der Abteilung für Allgemeines. - Und im Rondell mit Smiley.«

Der Unterstaatssekretär notierte das. »Man weiß wirklich nie, mit wem man dort reden soll. Die sind so überorganisiert.«

»Dann noch etwas: es könnte sein, daß ich das Rondell um technische Hilfe werde bitten müssen. Funkgeräte und dergleichen. Ich schlage vor, in diesem Fall eine Tarngeschichte zu erzählen. Ich halte das für sicherer. Am besten wäre es, zu sagen, daß wir ein großangelegtes Trainingsprogramm abwickeln wollen.«

»Tarngeschichte? - O ja: eine Lüge. Sie erwähnten das schon.«

»Nur eine Vorsichtsmaßnahme, nichts weiter.«

»Sie müssen tun, was Sie für nötig halten.«

»Ich habe mir vorgestellt, daß es auch Ihnen lieber sei, wenn das Rondell nichts weiß. Sie haben selbst gesagt: keinen monolithischen Apparat. Ich habe nach diesem Grundsatz gehandelt.« Der Unterstaatssekretär blickte wieder zur Uhr über der Tür. »Er war ziemlich schlecht gelaunt: ein schwieriger Tag mit dem Jemen. Ich glaube, daß zum Teil auch die Nachwahl in Woodbridge schuld daran ist. Er regt sich über diese Dinge am Rande immer sehr auf. Wie steht übrigens Ihre Sache? Sie hat ihm viel Kopfzerbrechen gemacht, müssen Sie wissen. Was darf er jetzt glauben?« Er machte eine Pause. »Diese Deutschen jagen mir wirklich Angst ein. Sie sagten, Sie hätten jemand gefunden, der ausgezeichnet dafür geeignet ist?« Sie traten auf den Korridor hinaus. »Wir sind an ihm dran. Wir haben ihn schon in Arbeit. Heute abend werden wir endgültig Bescheid wissen.« Der Unterstaatssekretär rümpfte kaum sichtbar die Nase, während er seine Hand schon auf die Türklinke des Minister-Zimmers legte. Er war ein gläubiges Mitglied der Anglikanischen Hochkirche und verabscheute alles Ungeordnete.

»Was treibt einen Menschen, derartige Aufträge zu übernehmen? - Nicht Sie, ihn meine ich.« Leclerc schüttelte schweigend den Kopf, als sei er völlig der gleichen Meinung. »Der Himmel mag's wissen. Das ist etwas, was nicht einmal wir verstehen.«

»Was für ein Mensch ist er? Aus welcher Schicht? - Nur allgemein, was Sie schätzen.«

»Intelligent. Autodidakt. Polnischer Herkunft.«

»Ach so. Ich verstehe.« Er schien erleichtert. »Wir werden es glimpflich machen, nicht wahr? Malen Sie es nicht zu schwarz. Er verabscheut jedes Drama.

Schließlich kann jeder Narr sehen, was die Gefahren sind.«

Sie gingen hinein. Haldane und Leiser nahmen an einem Ecktisch Platz, wie zwei Verliebte in einem Espresso. Es war eines dieser Restaurants, die leere Chiantiflaschen für die Atmosphäre und nicht viel mehr für ihre Gäste bieten. Schon morgen oder übermorgen würde es wieder verschwunden sein, ohne daß es irgend jemandem besonders auffiele, aber solange es da war - neu und voller Hoffnung -, war es gar nicht so schlecht. Leiser hatte ein Steak bestellt, wahrscheinlich eine Gewohnheit, und er saß steif mit an den Körper gepreßten Armen, während er aß. Haldane gab sich zunächst den Anschein, als habe er den Zweck seines Besuches vergessen. Er erzählte vage vom Krieg und von der Organisation, von Einsätzen, die er bis zu diesem Nachmittag, an dem er seine Erinnerung aus den Akten wieder auffrischte, schon fast gänzlich aus dem Gedächtnis verloren hatte. Er sprach - da dies ohne Zweifel wünschenswert schien - hauptsächlich von jenen Männern, die am Leben geblieben waren.

Er kam auf Übungen zu sprechen, an denen Leiser teilgenommen hatte. War er überhaupt noch so an der Funkerei interessiert? Nun ja, eigentlich nicht. Wie stand es mit der Selbstverteidigung, unbewaffnetem Nahkampf? Dazu hatte eigentlich die Gelegenheit gefehlt.

»Sie haben ja im Krieg einige ziemlich harte Augenblicke erlebt, soviel ich mich erinnere«, sagte Haldane schnell. »Gab's da nicht in Holland Schwierigkeiten?«

Sie waren wieder bei Selbstgefälligkeiten und den Erinnerungen an die alten Zeiten gelandet. Ein steifes Nicken. »Ich hatte vorübergehend Schwierigkeiten«, gab Leiser zu. »Ich war ja auch jünger, damals.«

»Was ist denn wirklich passiert?« Leiser sah Haldane an, blinzelnd, als hätte der andere ihn aufgeweckt, dann begann er zu sprechen. Es war eines dieser Kriegserlebnisse, die seit Kriegsausbruch in verschiedenen Variationen immer wieder erzählt worden sind, und es paßte so wenig zu dem sauberen kleinen Lokal wie Hunger und Armut, wobei es noch an Glaubwürdigkeit dadurch einbüßte, daß es berichtet wurde. Leiser erzählte, als habe auch er die Geschichte nur gehört, etwa wie einen Kampf, den er in einer Radioübertragung miterlebt hatte. Er war gefangengenommen worden, er war geflohen, er hatte sich sechs Tage ohne Verpflegung durchgeschlagen, hatte getötet, war versteckt und nach England zurückgeschmuggelt worden. Er erzählte gut. Vielleicht war es nur seine jetzige Vorstellung von den Kriegserlebnissen, vielleicht war es wahr. Aber wie eine südländische Witwe, die vom Tod ihres Mannes berichtet, hatte auch Leiser die Leidenschaft seines Herzens verloren und klammerte sich deshalb um so stärker an die des Erzählens. Er schien nur zu reden, weil man ihn darum gebeten hatte, wobei seine Geziertheit im Gegensatz zu der Leclercs weniger dem Wunsche entsprang, andere zu beeindrucken, sondern mehr dem Bedürfnis, sich selbst zu schützen. Er wirkte wie ein sehr verinnerlichter Mann, der sich nur vorsichtig tastend ausdrückte, ein Mensch, der lange allein gewesen war, ohne menschliche Beziehungen. Er schien ausgeglichen und doch nirgends verwurzelt zu sein. Seine Aussprache war gut, aber eindeutig die eines Ausländers, denn es fehlte ihm die gewisse Lässigkeit, das Verschlucken einzelner Silben, das selbst begabte Imitatoren niemals völlig beherrschen. Er hatte eine Stimme, die mit ihrer Umgebung vertraut, aber nicht in ihr zu Hause war.

Haldane hörte höflich zu. Als Leiser fertig war, fragte er: »Wie ist man eigentlich das erstemal auf Sie gekommen, wissen Sie das?« Sie waren sehr voneinander entfernt.

»Sie haben's mir nie erzählt«, sagte Leiser ausdruckslos, als sei es unpassend, nach so etwas zu fragen. »Ohne Zweifel sind Sie der Mann, den wir brauchen«, bemerkte Haldane schließlich. »Sie haben den deutschen Background, wenn Sie verstehen, was ich meine. Sie kennen diese Leute, nicht wahr? Sie haben mit den Deutschen Erfahrung.«

»Nur aus dem Krieg«, sagte Leiser. Dann sprachen sie über das Ausbildungslager. »Wie geht's diesem Dicken? George Soundso. Kleiner, trauriger Kerl.«

»Oh - dem geht's gut, danke.«

»Er heiratete damals ein hübsches Mädchen.« Leiser lachte unanständig, während er mit seinem rechten Arm das arabische Zeichen für sexuelle Tüchtigkeit machte. »Allmächtiger«, sagte er, immer noch lachend, »wir kleinen Burschen! Sind doch nicht zu schlagen.«

Es war ein außerordentlicher Lapsus. Haldane schien darauf gewartet zu haben. Er betrachtete ihn lange mit eisigem Gesicht, bis das Schweigen unüberhörbar geworden war. Dann stand er bedächtig auf. Er schien plötzlich sehr verärgert zu sein, verärgert über Leisers dummes Grinsen und diesen ganzen billigen, unnützen Flirt, verärgert über diese sinnlos wiederholten Blasphemien und diese gemeine Verhöhnung eines wertvollen Menschen.

»Würden Sie es bitte unterlassen, so etwas zu sagen?

George Smiley ist zufällig einer meiner Freunde.« Er winkte dem Ober, bezahlte und stelzte schnell aus dem Restaurant, in dem Leiser verwirrt und allein zurückblieb, mit einem White Lady elegant in der Hand und den Blick der braunen Augen unruhig auf die Tür gerichtet, durch die Haldane so unvermittelt verschwunden war.

Schließlich ging auch er. Langsam schlenderte er über die Fußgängerbrücke durch die Dunkelheit und den Regen, wobei er auf die Doppelreihe von Straßenlampen hinunterstarrte, zwischen denen der Verkehr dahinbrauste. Dann sah er zu seiner Garage hinüber, zu der Reihe erleuchteter Zapfsäulen und zu dem Turm, dessen Spitze von einem Herzen aus abwechselnd grün und rot leuchtenden 60-Watt-Birnen gekrönt war. Er betrat das hellerleuchtete Büro, sagte etwas zu dem Jungen und stieg langsam die Treppe hinauf, der plärrenden Musik entgegen.

Haldane wartete, bis er außer Sicht war, und eilte dann in das Restaurant zurück, um sich ein Taxi rufen zu lassen.

Sie hatte den Plattenspieler angestellt. Sie hörte der Tanzmusik zu, saß in seinem Stuhl und trank. »Gott, kommst du spät«, sagte sie. »Ich bin am Verhungern.« Er küßte sie.

»Du hast schon gegessen«, sagte sie. »Ich kann's riechen.«

»Nur 'ne Kleinigkeit, Bett. Ich mußte. Es war ein Mann hier, mit dem ich einen Drink nehmen mußte.«

»Lügner.«

Er lächelte. »Laß doch, Betty. Wir sind zum Abendessen verabredet, stimmt's?«

»Was für ein Mann?«

Die Wohnung war sehr sauber. Vorhänge und Teppiche hatten Blumenmuster, und auf allen polierten Flächen lagen Schondecken aus Spitze. Alles war geschont, Vasen, Lampen, Aschenbecher, alles sorgsam gehütet, als erwarte sich Leiser von der Natur nichts als nackte Vernichtung. Er hatte eine Vorliebe für einen Hauch Antike, die sich im verschnörkelten Schnitzwerk der Möbel und den schmiedeeisernen Lampenfüßen niedergeschlagen hatte. Es gab auch einen Spiegel in goldenem Rahmen und ein aus Laubsägearbeit und Gips angefertigtes Bild sowie eine neue Standuhr, deren kleine Gewichte sich unter einem Glassturz hin und her drehten. Als er das Barschränkchen öffnete, begann eine Spieluhr ihre kurze Melodie zu spielen. Er mixte sich mit großer Sorgfalt einen White Lady, wie ein Mensch, der sich eine Medizin zubereitet. Sie sah ihm dabei zu und zuckte im Takt der Musik mit ihren Hüften, wobei sie ihr Glas seitlich von sich weghielt, als sei es die Hand ihres Partners und als sei dieser Partner nicht Leiser. »Was für ein Mann?« wiederholte sie. Er stand vor dem Fenster, mit steifem Rücken, wie ein Soldat.

Der grelle Widerschein des flackernden Herzens auf dem Dach zuckte über die Häuser, erfaßte die Streben der Brücke und spiegelte sich zitternd auf der nassen Fahrbahn der Allee. Hinter den Häusern erhob sich die Kirche. Sie sah aus wie ein Kino, auf das man einen spitzen Turm mit gerillten Ziegeln gesetzt hatte, hinter dessen Öffnungen manchmal die Glocken läuteten. Hinter der Kirche war der Himmel. Manchmal glaubte er, die Kirche werde das einzige sein, was Bestand haben werde. Dann erschien ihm der Himmel über London wie vom Widerschein einer brennenden Stadt erhellt.

»Gott, bist du heute abend aber fröhlich!«

Die Kirchenglocken wurden von einem Tonband abgespielt, in vielfacher Verstärkung, damit sie den Lärm des Verkehrs übertönen konnten. An den Sonntagen verkaufte er sehr viel Benzin. Der Regen schlug jetzt kräftiger auf die Fahrbahn - er konnte sehen, wie er die Scheinwerfer der Autos dämpfte und grün und rot auf dem Asphalt tanzte. »Komm, Fred, tanz mit mir.«

»Noch einen Augenblick, Bett.«

»Ja Himmel, was ist nur los mit dir? Trink was und vergiß es!«

Er konnte hören, wie ihre Füße im Rhythmus der Musik über den Teppich schleiften und wie die Anhänger an ihrem Armband unermüdlich dazu klimperten. »Himmel noch mal, nun tanz schon.« Sie sprach undeutlich und zog die letzte Silbe jedes Satzes nachlässig weit über ihre normale Länge. Es war die gleiche berechnete Desillusion, mit der sie sich selbst hinzugeben pflegte - nämlich mürrisch, als gebe sie Geld, oder als gehöre das Vergnügen nur den Männern, während den Frauen nichts als Schmerz blieb.

Sie hielt mit einer gleichgültig-unvorsichtigen Bewegung des Tonarmes die Platte an. Im Lautsprecher hörte man, wie die Nadel über die Rillen kratzte. »Was, zum Teufel, ist eigentlich los?«

»Nichts. Gar nichts. Ich hab nur einen schweren Tag gehabt, das ist alles. Dann kam dieser Mann - jemand, den ich von früher kenne.«

»Ich frage dich immer noch: wer? Es war eine Frau, was? Irgendein Flittchen.«

»Nein, Betty, es war ein Mann.« Sie kam zu ihm ans Fenster und gab ihm gleichgültig einen Stoß. »Was ist denn so verdammt großartig an dieser Aussicht? Nichts als ein Haufen verrotteter kleiner Häuser. Du sagst selbst immer, daß sie dich ankotzen. Na, wer war es?«

»Er ist von einer der großen Gesellschaften.«

»Und sie wollen dich haben?«

»Ja... sie wollen mir ein Angebot machen.«

»Gott, wer will schon so einen verdammten Polen?« Er machte keine Bewegung. »Sie wollen.«

»Es war jemand in der Bank, um sich nach dir zu erkundigen, mußt du wissen. Sie haben alle zusammen in Mr. Dawnays Büro gesessen. Du bist in Schwierigkeiten, nicht wahr?«

Er nahm ihren Mantel und half ihr mit sehr korrekt angewinkelten Ellbogen hinein.

Sie sagte: »Um Gottes willen nur nicht wieder dieses neue Lokal mit den stinkfeinen Keimern.«

»Aber es ist doch nett dort, oder nicht? Ich dachte, du hättest es gern gehabt. Man kann auch tanzen. Du magst das doch. Wohin willst du denn gehen?«

»Mit dir? Ja Himmelherrgott irgendwohin, wo's ein bißchen lebendig ist, mehr nicht!«

Er starrte sie an, während er die Tür für sie aufhielt.

Plötzlich lächelte er.

»Okay, Bett. Wie du willst. Es ist dein Abend. Laß schon mal den Wagen an. Ich werde einen Tisch bestellen.« Er gab ihr die Schlüssel. »Ich kenn was, ein wirklich tolles Lokal.«

»Was, zum Teufel, hat dich gebissen?«

»Du kannst fahren. Diese Nacht hauen wir uns um die Ohren.« Er ging zum Telefon.

Es war kurz vor elf, als Haldane ins Büro zurückkam. Leclerc und Avery erwarteten ihn. Carol tippte im Sekretariat.

»Ich dachte, du würdest früher zurück sein«, sagte Leclerc.

»Es hat nicht geklappt. Er sagt, daß er nicht mitspielt. Den nächsten probierst du wohl besser selbst aus. Ich bin dem nicht mehr gewachsen.« Es schien ihn nicht weiter zu berühren. Er setzte sich. Sie starrten ihn ungläubig an.

»Hast du ihm Geld geboten?« fragte Leclerc schließlich. »Wir können bis fünftausend Pfund gehen.«

»Natürlich habe ich Geld geboten. Er ist einfach nicht interessiert, kann ich euch verraten. Er war eine einmalig unerfreuliche Erscheinung.«

»Tut mir leid.« Leclerc sagte nicht, weshalb. Sie konnten das Klappern von Carols Schreibmaschine hören. »Was nun?« fragte Leclerc. »Ich habe keine Ahnung.« Haldane sah unruhig auf seine Uhr.

»Es muß doch noch andere geben.«

»Nicht in unserer Kartei. Nicht mit seinen Qualifikationen. Wir haben Belgier, Schweden, Franzosen, aber Leiser war der einzige deutsch sprechende mit technischen Erfahrungen. Auf dem Papier jedenfalls ist er der einzige.«

»Der noch jung genug ist - meinst du das?«

»So nehme ich an. Es muß ein alter Hase sein. Wir haben weder genügend Zeit noch Möglichkeiten, einen Neuen auszubilden. Besser wär's, wir fragten das Rondell. Die haben sicher jemanden.«

»Das können wir nicht machen«, sagte Avery. »Was für eine Sorte Mensch war er?« beharrte Leclerc, der sich einfach weigerte, schon alle Hoffnung aufzugeben.

»Ordinär, von der slawischen Sorte. Klein. Er spielt den >Rittmeister<. Höchst abstoßend.« Haldane suchte in seinen Taschen nach der Rechnung. »Er putzt sich wie ein Buchmacher heraus, aber das tun sie alle, nehme ich an. Gebe ich die Rechnung dir oder der Buchhaltung?«

»Sicherheitsrisiko?«

»Wüßte nicht, weshalb.«

»Und hast du darüber gesprochen, wie dringend es ist? Über seine Loyalität als neuer Staatsbürger - und derartiges Zeug?«

»Er fand die alte Loyalität reizvoller.« Haldane legte die Rechnung auf den Tisch. »Und Politik? Manche sind besonders...«

»Über Politik haben wir auch gesprochen. Zu der Sorte von Exilleuten gehört er nicht. Er betrachtet sich als integriert, ein naturalisierter Engländer. Was erwartest du von ihm? Daß er nochmals den Treueid auf das polnische Königshaus ablegt?« Wieder sah er auf seine Uhr.

»Du wolltest ihn überhaupt nicht anwerben!« rief Leclerc, den Haldanes Gleichgültigkeit plötzlich erboste. »Du bist ganz zufrieden, Adrian, ich kann's dir ja vom Gesicht ablesen! - Guter Gott, was ist mit unserer Organisation, hat das gar nichts für ihn bedeutet? Du glaubst ja schon selbst nicht mehr an uns, dir ist das alles egal! Du lachst ja über mich!«

»Wer von uns glaubt denn?« fragte Haldane höhnisch. »Du selbst sagst immer: wir erledigen unseren Job.«

»Ich glaube«, erklärte Avery.

Haldane wollte gerade etwas sagen, als das grüne Telefon läutete.

»Das ist das Ministerium«, sagte Leclerc. »Also, was sage ich ihnen?« Haldane beobachtete ihn. Er nahm den Hörer auf, legte ihn ans Ohr und reichte ihn dann über den Tisch. »Die Zentrale. Wieso um alles in der Welt sind die über Grün gekommen? Jemand, der nach Captain Hawkins fragt. Das bist doch du, oder?«

Haldane lauschte, sein hageres Gesicht war ausdruckslos. Schließlich sagte er: »Ich denke wohl. Wir werden schon jemanden finden. Das sollte keine Schwierigkeit machen. Morgen um elf. Seien Sie bitte pünktlich«, und legte auf. Das Licht in Leclercs Zimmer schien durch das Fenster zu versickern, dessen dünner Vorhang es nicht zurückhalten konnte. Draußen regnete es unablässig. »Das war Leiser. Er will den Job übernehmen. Möchte nur wissen, ob wir jemanden haben, der sich um seine Garage kümmert, solange er weg ist.« Leclerc sah ihn zutiefst überrascht an. Langsam breitete sich ein komischer Ausdruck der Freude auf seinem Gesicht aus. »Du hattest es erwartet!« rief er. Er streckte seine kleine Hand Haldane entgegen. »Entschuldige, Adrian. Ich habe dir Unrecht getan. Ich gratuliere dir aus vollem Herzen.«

»Wieso hat er angenommen?« fragte Avery erregt. »Was hat ihn doch noch dazu bewegen?«

»Warum tun Agenten überhaupt etwas? Warum irgend jemand von uns?« Haldane setzte sich wieder. Er sah alt aus, aber auch verletzlich, wie ein Mann, dessen Freunde bereits alle gestorben sind. »Warum willigen sie ein, warum widersetzen sie sich, warum lügen sie oder sagen die Wahrheit? Warum tut das irgend jemand von uns?« Er begann wieder zu husten. »Vielleicht fehlt ihm etwas in seinem Beruf. Vielleicht ist es wegen der Deutschen: Er haßt sie. Das jedenfalls sagt er. Ich nehme das nicht so ernst. Außerdem sagte er, daß er uns nicht enttäuschen wolle. Ich nehme an, daß er das selbst glaubt.« Zu Leclerc gewandt, fügte er hinzu: »Die gleichen Vorschriften wie im Krieg - das war doch richtig, oder nicht?«

Aber Leclerc wählte schon die Nummer des Ministeriums.

Avery ging ins Sekretariat hinüber. Carol stand auf. »Was geht hier vor?« fragte sie schnell. »Warum diese Aufregung?«

»Es ist wegen Leiser.« Avery schloß hinter sich die Tür. »Er hat sich einverstanden erklärt.« Er streckte ihr die Arme entgegen, um sie zu umarmen. Es würde das erste Mal sein.

»Warum?«

»Haß gegen die Deutschen, sagt er. Ich glaube eher, daß es wegen der Bezahlung ist.«

»Wäre das denn gut?«

Avery grinste wissend. »Solange wir ihm mehr bezahlen als die anderen.«

»Sollten Sie nicht zu Ihrer Frau fahren?« sagte sie scharf. »Ich glaube nicht, daß Sie unbedingt hier schlafen müssen.«

»Wir sind im Einsatz.« Avery ging in sein Zimmer. Carol sagte nicht gute Nacht.

Leiser legte den Telefonhörer auf. Es war plötzlich so still. Das Licht auf dem Dach erlosch und ließ das Zimmer im Dunkeln. Leiser lief eilig die Treppe hinunter. Er schnitt ein Gesicht, als konzentriere er alle seine Gedanken auf die Aussicht, ein zweitesmal zu Abend zu essen.


11. Kapitel

Sie entschieden sich für Oxford, wie sie es schon im Kriege getan hatten. Unter den hier lebenden Angehörigen der verschiedensten Nationalitäten und Berufe, durch das ständige Kommen und Gehen der Gäste der Universität war es ihnen leicht, ihre Anonymität zu wahren, und dies entsprach ebenso wie die Nähe des offenen Landes genau ihren Bedürfnissen. Außerdem war es eine Gegend, in der sie sich auskannten. Am Morgen nach Leisers Anruf fuhr Avery los, ein Haus zu suchen. Am darauffolgenden Tag rief er Haldane an, um ihm mitzuteilen, daß er etwas im Norden der Stadt gefunden habe, ein großes viktorianisches Haus mit vier Schlafzimmern und einem Garten, das er für einen Monat gemietet habe. Es war sehr teuer. Innerhalb der Organisation wurde es Mayfly-Haus genannt und als Betriebsunkosten abgebucht. Sobald Haldane davon erfahren hatte, verständigte er Leiser. Auf dessen Vorschlag hin kam man überein, Leiser solle herumerzählen, er fahre zu einem Kurs in die Mildlands.

»Erzählen Sie keinerlei Einzelheiten«, hatte Haldane gesagt. »Lassen Sie sich die Post nach Coventry schicken, postlagernd. Wir werden sie dort für Sie abholen.« Leiser war erfreut, als er hörte, daß es Oxford war.

Leclerc und Woodford hatten verzweifelt nach jemandem gesucht, der während Leisers Abwesenheit die Garage leiten könnte, und plötzlich fiel ihnen McCulloch ein. Leiser gab ihm eine Rechtsvollmacht und verbrachte einen Vormittag damit, ihm hastig alles zu zeigen. »Wir werden Ihnen eine Art Bürgschaft dafür leisten«, sagte Haldane.

»Das ist nicht nötig«, antwortete Leiser, und er erklärte ganz ernsthaft: »Ich arbeite ja für englische Gentlemen.«

Freitag abend hatte Leiser am Telefon seine Zustimmung erteilt, und bis Mittwoch waren die Vorbereitungen so weit fortgeschritten, daß Leclerc die Sonderabteilung zu einer Sitzung einberufen konnte, bei der er seine Pläne umriß. Avery und Haldane sollten mit Leiser nach Oxford gehen. Beide sollten am nächsten Abend reisen, da Haldane bis dahin den Lehrplan fertig zusammengestellt haben würde. Leiser würde etwa ein bis zwei Tage später in Oxford ankommen, sobald er eben seine eigenen Angelegenheiten geregelt hatte. Haldane war als Leiter des Trainings vorgesehen, Avery als sein Assistent. Woodford würde in London bleiben. Zu seinen Aufgaben würde es auch gehören, mit Hilfe des Ministeriums (und von Sandfords Auswertungsabteilung) Anschauungsmaterial über die äußeren Merkmale von Kurz- und Mittelstreckenraketen zusammenzustellen. Damit ausgerüstet, sollte er dann ebenfalls nach Oxford kommen. Leclerc war unermüdlich. Bald war er im Ministerium, um von den gemachten Fortschritten zu berichten, dann im Schatzamt, um sich wegen der Pension für Taylors Witwe herumzustreiten, dann wieder versuchte er mit Woodfords Hilfe ehemalige Instruktoren für Funk und Morse, Fotografie und unbewaffneten Nahkampf zu gewinnen.

Die ihm verbleibende Zeit widmete Leclerc Mayfly-Null - dem Augenblick, an dem Leiser nach Ostdeutschland eingeschleust werden würde. Zunächst schien er keine feste Vorstellung davon zu haben, wie das bewerkstelligt werden sollte. Er sprach in ungenauen Wendungen von einer See-Operation von Dänemark aus, wobei ein kleines Fischerboot eine Rolle spielen sollte und ein Gummi-Schlauchboot, das vom Radar nicht erfaßt werden konnte. Er diskutierte mit Sandford verschiedene Möglichkeiten des illegalen Frontübertritts und telegrafierte an Gorton die Bitte um Auskunft über das Grenzgebiet im Raum von Lübeck. In verhüllter Form holte er sogar im Rondell Ratschläge ein. Control war bemerkenswert hilfreich. All dies vollzog sich in der optimistischen Atmosphäre erhöhter Aktivität, die Avery bei seiner Rückkehr aus Finnland aufgefallen war. Selbst jene Personen, die angeblich nichts von dem Unternehmen wußten, ließen sich von der Krisenstimmung anstecken. In der kleinen Stammtischrunde, die sich täglich zum Mittagessen an einem Ecktisch im >Cadena< einfand, summte es von Gerüchten und Vermutungen. So hieß es zum Beispiel, daß ein Mann namens >Jack< Johnson, der sich im Krieg als Morselehrer einen Namen gemacht hatte, in die Reihen der Organisation aufgenommen worden sei. Von der Buchhaltung waren ihm Spesen ausbezahlt worden und sie hatte den Auftrag erhalten - das war das erstaunlichste daran -, einen Dreimonatsvertrag auszustellen und vom Schatzamt bestätigen zu lassen. Wer hatte je von einem Dreimonatsvertrag gehört? fragten sie sich. Johnson hatte im Krieg mit den Fallschirmeinsätzen in Frankreich zu tun gehabt, eine Sekretärin, die schon lange im Amt war, erinnerte sich daran. Berry, der Verschlüsselungsmann, hatte Mr. Woodford gefragt, für welchen Zweck Johnson verwendet werden wolle - Berry war immer recht naseweis -, und Mr. Woodford hatte gegrinst und ihm gesagt, er solle sich gefälligst um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, aber - so hatte er gesagt - er sei für ein Unternehmen vorgesehen, ein sehr geheimes, das sie in Europa starten würden, in Nordeuropa, und vielleicht interessiere es Berry zu erfahren, daß der arme Taylor nicht umsonst gestorben war.

Durch die vordere Einfahrt strömten jetzt in nicht abreißender Folge Wagen und Amtsboten. Pine forderte eine Hilfskraft an, und erhielt auch von einer anderen Behörde einen Untergebenen zugeteilt, den er mit überlegener Brutalität herumkommandierte. Er hatte irgendwo aufgeschnappt, daß das Unternehmen gegen Deutschland gerichtet war, und dieses Wissen spornte seinen Eifer an.

Unter den Geschäftsleuten in der Nachbarschaft ging sogar das Gerücht um, daß das Amtsgebäude verkauft werde, man nannte die Namen von privaten Interessenten und setzte große Hoffnungen darauf, sie als Kunden zu bekommen. Zu allen Tages- und Nachtzeiten ließ man sich Imbisse in das Haus bringen, in dem die Lichter nie mehr erloschen. Der Haupteingang, der bisher aus Sicherheitsgründen immer versperrt gewesen war, war nun geöffnet, und in der Blackfriars Road wurde Leclerc, mit steifem Hut und Aktentasche in seinen schwarzen Humber steigend, ein vertrauter Anblick.

Gleich einem Verletzten, der seine eigenen Wunden nicht sehen möchte, übernachtete Avery in den vier Wänden seines kleinen Büros, die dadurch zu den Grenzen seines Daseins geworden waren. Einmal schickte er Carol aus, ein Geschenk für Anthony zu kaufen. Sie kam mit einem Milchauto zurück, dessen Plastik-Kannen man öffnen und mit Wasser füllen konnte. Sie probierten es am Abend aus und schickten es dann mit dem Humber in Averys Wohnung nach Battersea.

Als alles fertig war, reisten Haldane und Avery mit einem amtlichen Freifahrschein erster Klasse nach Oxford. Beim Mittagessen hatten sie im Speisewagen einen Tisch für sich allein. Haldane bestellte sich eine halbe Flasche Wein, die er leerte, während er das Kreuzworträtsel in der Times löste. Sie sprachen kein Wort miteinander - Haldane, weil er beschäftigt war, und Avery, weil er es nicht wagte, ihn dabei zu stören. Plötzlich bemerkte Avery Haldanes Schulkrawatte, und noch ehe er Zeit gefunden hatte, es sich zu überlegen, sagte er: »Mein Gott, ich hatte ja keine Ahnung, daß Sie Cricket spielen!«

»Haben Sie erwartet, daß ich es Ihnen sage?« fragte Haldane spitz. »Im Büro könnte ich sie doch schwerlich tragen.«

»Entschuldigung.«

Haldane sah ihn streng an. »Sie sollten sich nicht dauernd entschuldigen«, bemerkte er. »Sie tun das beide.« Er goß sich Kaffee ein und bestellte einen Cognac. Kellner waren ihm gegenüber immer sehr aufmerksam. »Beide?«

»Sie und Leiser. Bei ihm ist es eine natürliche Folgerung.«

»Mit Leiser wird es wohl anders sein, nicht?« sagte Avery schnell. »Er ist ein Profi.«

»Leiser ist keiner von uns. Täuschen Sie sich nicht. Wir sind nur lange mit ihm in Verbindung, das ist aber auch alles.«

»Wie ist er? Was für ein Mensch?«

»Er ist ein Agent. Er ist ein Mensch, den man steuert, nicht einer, den man kennt.« Er wandte sich wieder seinem Kreuzworträtsel zu. »Er muß aber doch loyal sein«, sagte Avery, »weshalb sonst hätte er einwilligen sollen?«

»Sie haben gehört, was der Direktor über die beiden Schwüre sagte. Der erste wird oft leichtfertig geleistet.«

»Und der zweite?«

»Oh, das ist was anderes. Wenn es so weit ist, daß er ihn leisten muß, werden wir ihm schon behilflich sein.«

»Aber weshalb hat er das erstemal zugestimmt?«

»Ich mißtraue Begründungen. Ich mißtraue Worten wie Loyalität oder Treue. Und vor allem mißtraue ich Motiven«, erklärte Haldane. »Wir steuern einen Agenten, damit ist das Rechnen erledigt. Sie haben doch Deutsch studiert, nicht wahr? Am Anfang war die Tat.« Kurz vor ihrer Ankunft wagte Avery noch eine Frage. »Weshalb hat man den Paß ablaufen lassen?« Haldane hatte eine besondere Art, den Kopf auf die Seite zu neigen, wenn er angesprochen wurde. »Das Auswärtige Amt pflegte uns immer eine Reihe von Paß-Nummern zuzuteilen, die wir für Einsätze verwenden konnten. Diese Abmachung lief jeweils ein Jahr. Vor sechs Monaten erklärte das Auswärtige Amt plötzlich, sie würden uns ohne Empfehlung des Rondells keine mehr zuteilen. Anscheinend hat Leclerc unsere Ansprüche nicht genügend hart vertreten, so daß ihn Control aus dem Rennen drängen konnte. Taylors Paß war einer aus der alten Serie. Man hat die ganze Serie drei Tage vor seiner Abreise für ungültig erklärt. Es war keine Zeit mehr, noch irgendwas dagegen zu unternehmen. Vielleicht wäre es ja auch niemandem aufgefallen. Im Rondell hat man sich sehr hinterhältig benommen.« Eine Pause. »In der Tat kann ich nicht ganz verstehen, was Control nun eigentlich wirklich vorhat.«

Sie nahmen sich ein Taxi nach Nord-Oxford und stiegen an der Straßenecke vor ihrer Villa aus. Avery betrachtete die Häuser, an denen sie in der Dämmerung auf dem Weg zu ihrem eigenen Domizil vorbeigingen. Er erspähte grauhaarige Gestalten, die sich hinter erleuchteten Fenstern bewegten, samtüberzogene Ohrensessel mit Spitzendeckchen, chinesische Wandschirme, Notenständer und eine Bridgerunde, die still im gelben Lampenlicht saß, wie verzauberte Höflinge in einem Schloß. Dies war eine Welt, von deren Existenz er früher einmal gewußt hatte und der er sich fast selbst einmal angehörig gefühlt hatte. Aber das war schon lange her.

Sie verbrachten den Abend damit, das Haus herzurichten. Haldane meinte, Leiser solle das hintere Schlafzimmer bekommen, dessen Fenster auf den Garten blickte, während sie selbst die Zimmer zur Straße nehmen würden. Er hatte einige wissenschaftliche Bücher, eine Schreibmaschine und etliche eindrucksvolle Akten vorausgeschickt, die er nun auspackte und im Eßzimmer auf dem Tisch ausbreitete, damit die Haushälterin des Besitzers, die jeden Tag zum Aufräumen kommen würde, ihre Neugier daran stillen könne. »Wir werden diesen Raum als Arbeitszimmer bezeichnen«, sagte er. Im Salon stellte er das Tonbandgerät auf.

Die mitgebrachten Tonbänder verschloß er in einem Wandschrank, dessen Schlüssel er mit peinlicher Sorgfalt an einem Schlüsselring befestigte. In der Eingangshalle warteten noch weitere Gepäckstücke: ein Filmprojektor aus den Beständen der Luftwaffe, eine Projektionsleinwand und ein grüner Leinenkoffer, der fest versperrt und mit Lederecken besetzt war. Das Haus war geräumig und gut erhalten. Die Möbel waren aus Mahagoni und hatten Messingbeschläge. Die Wände waren bedeckt mit den Porträts einer unbekannten Familie, Sepia-Federzeichnungen, Miniaturen, vom Alter vergilbten Fotografien. Auf einem Wandbrett stand eine Schale mit getrockneten, starkriechenden Blumen, und am Spiegel steckte ein Palmwedel. Von der Decke hingen schwere, aber unaufdringliche Leuchter herab, in einer Ecke stand ein Bibeltisch, in einer anderen die Statue eines kleinen und sehr häßlichen Cupido, der sein Gesicht ins Dunkel wandte. Das ganze Haus atmete verhalten den Duft hohen Alters, in dem wie Weihrauch eine höfliche, aber unnahbare Trauer mitschwang. Gegen Mitternacht waren sie mit dem Auspacken fertig. Sie ließen sich im Salon nieder. Die Marmorplatte über dem Kamin wurde von zwei Mohren aus Ebenholz getragen, und das Licht des Gasfeuers spielte über die Vergoldung der Rosengirlanden, mit denen ihre dicken Knöchel gefesselt waren. Der Kamin stammte aus einer Zeit - es könnte sowohl das 17. wie das 19. Jahrhundert gewesen sein -, in der die Mohrenknaben eben erst das Windspiel aus seiner Rolle als Schmucktier der Gesellschaft verdrängt hatten. Sie waren nackt, wie es ein Hund gewesen wäre, und lagen an einer Kette aus goldenen Rosen. Avery goß sich einen Whisky ein und ging dann zu Bett, während Haldane, in seine Gedanken versunken, zurückblieb.

Sein Zimmer war groß und dunkel. Über dem Bett hing eine Lampe mit einem Schirm aus blauem Porzellan. Auf dem Nachttisch lagen bestickte Deckchen, und ein kleines Emailschild flehte >Gottes Segen auf dieses Haus<. Neben dem Fenster hing ein Gemälde, auf dem ein Knabe im Gebet vor einem Bett kniete, in dem seine Schwester saß und frühstückte. Er lag und dachte an Leiser, und es war, als warte er auf ein Mädchen. Aus dem Zimmer gegenüber konnte er den fortwährenden Husten Haldanes hören, fort und fort. Er hatte noch nicht aufgehört, als er einschlief.

Leclerc fand Smileys Club ein seltsames Lokal, keineswegs das, was er zu finden erwartet hatte. Zwei Räume im Souterrain und ein Dutzend Menschen, die vor einem offenen Kaminfeuer an einzelnen Tischen saßen und speisten. Einige kamen ihm irgendwie bekannt vor. Er vermutete, daß sie mit dem Rondell zu tun hatten.

»Das sieht hier recht gut aus. Wie wird man Mitglied?«

»Oh, Sie können's nicht werden«, sagte Smiley bedauernd, wurde rot und fuhr fort: »Ich meine, sie nehmen keine neuen Mitglieder auf. Nur eine Generation. ein paar sind im Krieg geblieben, sind gestorben oder ins Ausland gegangen. Was hatten Sie auf dem Herzen, wollte ich fragen?«

»Sie waren so freundlich, dem jungen Avery behilflich zu sein.«

»Ja. ja, natürlich. Wie lief die Sache übrigens? Ich habe nichts mehr gehört.«

»Es war nur ein Übungseinsatz. Es gab gar keinen Film.«

»Ach so, Verzeihung.« Smiley sprach hastig und machte seine abschließende Bemerkung wie jemand, der einen Namen erwähnt hatte, ohne zu wissen, daß es der eines Toten war.

»Wir erwarteten gar nicht ernsthaft, daß ein Film vorhanden sein würde. Es war nur eine Vorsichtsmaßnahme. Wieviel hat Ihnen Avery eigentlich darüber erzählt? Wir trainieren nur ein paar unserer alten Hasen, und auch ein paar von unseren neuen Jungs«, erklärte Leclerc. »Das ist so etwas, was man in der toten Saison machen kann. Weihnachten, nicht wahr. Die Leute auf Urlaub.«

»Ich verstehe schon.«

Leclerc stellte fest, daß der Rotwein sehr gut war. Er wünschte sich nun, daß er in einen kleineren Club eingetreten wäre. Seiner hatte enorm nachgelassen. Man hatte solche Schwierigkeiten mit dem Personal. »Sie haben vielleicht davon gehört«, begann Leclerc dann förmlich, »daß mir Control seine volle Unterstützung für die Durchführung von Schulungsprogrammen angeboten hat.«

»Ja, ja, natürlich.«

»Mein Minister hat das angeregt. Er hält viel von dem Gedanken, ein Lager ausgebildeter Agenten zu schaffen. Als der Plan zum erstenmal auftauchte, bin ich gleich zu Control gegangen und habe selbst mit ihm darüber gesprochen. Später ist dann wieder Control an mich herangetreten. Sie wußten das wohl schon?«

»Ja. Control fragte sich.«

»Er war außerordentlich hilfsbereit. Glauben Sie nicht, ich wüßte das nicht zu schätzen. Es ist Einigkeit darüber erzielt worden - ich glaube, ich sollte Ihnen diese Details mitteilen, die Ihnen von Ihrem Büro bestätigt werden können -, daß wir möglichst weitgehend der Wirklichkeit entsprechende Verhältnisse schaffen müssen, wenn das Training sinnvoll sein soll. Früher nannten wir das >Gefechtsbedingungen<.« Er lächelte nachsichtig. »Wir haben ein Gelände in Westdeutschland ausgewählt. Es ist eine ungemütliche Gegend, fremd, ideal, um Grenzübergänge zu üben und derartige Sachen. Wir können die Hilfe der Armee in Anspruch nehmen, falls wir sie brauchen.«

»Ja, in der Tat. Eine wirklich gute Idee.«

»Aus grundsätzlichen Sicherheitserwägungen sind wir alle der Meinung, daß Ihre Dienststelle nur über jene Einzelheiten dieser Übung unterrichtet werden soll, bei denen Sie so gütig sind, mit uns zusammenzuarbeiten.«

»Control erzählte mir schon davon«, sagte Smiley. »Er möchte alles tun, was in seinen Kräften steht. Er wußte nicht, daß Sie diese Art Sachen überhaupt noch anfassen. Es freute ihn.«

»Gut«, sagte Leclerc kurz. Er schob seine Ellbogen auf dem Tisch etwas nach vorne. »Ich dachte, ich kann Sie vielleicht ein bißchen ausnützen. ganz unformell, natürlich, ungefähr so, wie ihr es von Zeit zu Zeit mit Adrian Haldane getan habt.«

»Natürlich.«

»Das wichtigste sind im Augenblick falsche Papiere. Ich habe in der Kartei unsere ehemaligen Fälscher heraussuchen lassen. Wie ich gesehen habe, sind Hyde und Fellowby schon vor einigen Jahren zum Rondell gegangen.«

»Ja. Es kam durch die Verlagerung des Schwerpunktes, wissen Sie.«

»Ich habe die Personenbeschreibung eines Mannes notiert, der bei uns beschäftigt ist. Nehmen wir an, er hat seinen Wohnsitz in Magdeburg. Er ist einer der Leute, die im Training stehen. Glauben Sie, daß man für ihn Dokumente herstellen könnte, Personalausweis, Parteibuch und was noch in Frage kommt? Alles, was nötig ist.«

»Der Mann wird sie unterschreiben müssen«, sagte Smiley. »Dann überstempeln wir seine Unterschrift. Wir würden natürlich auch Fotos brauchen. Außerdem müßte er darüber unterrichtet werden, was die Papiere im einzelnen bedeuten und wie sie zu verwenden sind. Hyde könnte das vielleicht an Ort und Stelle mit Ihrem Agenten erledigen?«

Ein kurzes Zögern. »Ohne Zweifel. Ich habe ihm einen Decknamen gegeben. Er ähnelt ziemlich weitgehend seinem eigenen. Wir halten das für eine nützliche Verfahrensweise.«

»Da das Ganze eine derart ausgeklügelte Übung ist«, sagte Smiley mit komisch gerunzelter Stirn, »möchte ich nur der Form halber darauf hinweisen, daß falsche Papiere von recht beschränktem Wert wären. Damit meine ich, daß ein Telefonanruf an die Meldebehörde von Magdeburg ausreicht, um die beste Fälschung wie ein Windei platzen zu lassen...«

»Ich glaube, das wissen wir. Wir wollen ihnen beibringen, wie man sich tarnt, Verhöre übersteht. Sie kennen das ja.«

Smiley nippte an seinem Ciaret. »Ich wollte nur darauf hinweisen. Man wird so leicht von der reinen Methode hypnotisiert. Ich wollte damit nicht unterstellen. wie geht's übrigens Haldane? Er hat in Oxford den B.A. mit Auszeichnung gemacht, wußten Sie das? Wir haben zusammen studiert.«

»Adrian geht's gut.«

»Ihr Avery gefiel mir«, sagte Smiley freundlich. Sein dickliches kleines Gesicht zog sich schmerzhaft zusammen. »Wissen Sie«, fragte er eindringlich, »daß sie das Barock noch immer nicht in den deutschen Lehrplan aufgenommen haben? Sie bezeichnen es als Spezialgebiet.«

»Ein anderes Problem ist die Nachrichtenübermittlung durch Geheimfunk. Wir haben seit dem Krieg nicht viel Gebrauch davon gemacht. Soviel ich weiß, ist das alles inzwischen viel komplizierter geworden. Man übermittelt mit hohen Geschwindigkeiten und so. Wir möchten da gern mit der Entwicklung Schritt halten.«

»Ja. Ja, ich glaube die Nachricht wird mit einem winzigen Tonbandgerät auf Band genommen und innerhalb von Sekunden überspielt.« Er seufzte. »Aber niemand erzählt uns wirklich viel. Die Techniker lassen sich nicht in die Karten sehen.«

»Ist das eine Methode, die unseren Leuten mit Erfolg innerhalb, na, sagen wir einem Monat beigebracht werden kann?«

»Um sie unter einsatzmäßigen Bedingungen anzuwenden?« fragte Smiley erstaunt. »Geradewegs nach einem Monat Training?«

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