»Ich weiß.«

»Sie müssen die üblichen Tricks anwenden. Horchen Sie in den Kneipen herum, tun Sie so, als suchten Sie einen alten Kriegskameraden. Sie kennen das ja. Wenn Sie Bescheid wissen, kommen Sie zurück.« Leiser nickte.

»In Kalkstadt gibt es eine Arbeiter-Herberge.« Leclerc entfaltete einen Plan der Stadt. »Hier, gleich neben der Kirche. Steigen Sie dort ab, wenn's geht. Womöglich treffen Sie dort Leute, die irgendwie selbst damit zu tun gehabt haben...«

»Ich weiß«, wiederholte Leiser. Haldane zuckte zusammen und warf ihm einen besorgten Blick zu. »Vielleicht hören Sie sogar etwas über einen Mann, der auf dem Bahnhof gearbeitet hat, einen gewissen Pritsche. Von ihm stammen ein paar interessante Einzelheiten über die Raketen. Er ist dann wieder verschwunden. Vielleicht hören Sie etwas, wenn es der Zufall will. Sie könnten am Bahnhof nach ihm fragen, wenn Sie sich als alter Freund von ihm ausgeben.« Er machte eine ganz kleine Pause. »Einfach verschwunden«, wiederholte Leclerc. Es galt den anderen, nicht sich selbst. Seine Gedanken waren woanders. Avery beobachtete ihn gespannt. Er wartete, daß Leclerc weitersprach. Schließlich sagte er: »Über die Frage der Nachrichtenübermittlung habe ich absichtlich nicht gesprochen.« Sein Ton deutete an, daß er fast fertig war. »Ich nehme an, daß Sie dieses Problem schon oft genug durchgekaut haben.«

»In der Beziehung gibt es keinerlei Schwierigkeiten«, sagte Johnson. »Alle Sendetermine liegen in der Nacht. Dadurch ist der Frequenzbereich eine ganz einfache Angelegenheit. Und tagsüber hat er freie Hand, Sir. Wir haben eine ganze Reihe hübscher Probesendungen gemacht - nicht wahr, Fred?«

»O ja. Sehr hübsche.«

»Was das Zurückkommen betrifft«, sagte Leclerc, »so gelten dafür die gleichen Vorschriften wie im Krieg. Es gibt für derartige Unternehmungen leider keine U-Boote mehr, Fred. Wenn Sie zurückkommen, haben Sie sich sofort beim nächsten britischen Konsulat oder der nächsten Botschaft zu melden. Sie nennen Ihren richtigen Namen und bitten um Repatriierung. Geben Sie sich als britischer Staatsbürger in plötzlicher Notlage aus. Rein instinktmäßig würde ich sagen, daß Sie auf dem gleichen Weg wieder zurückkommen sollten, auf dem Sie hineingegangen sind. Falls Sie in Schwierigkeiten geraten, dann schlagen Sie sich nicht unbedingt sofort nach Westen durch, sondern verkriechen Sie sich irgendwo für einige Zeit. Sie werden genug Geld bei sich haben.«

Avery wußte, daß er diesen Vormittag nie mehr vergessen würde, an dem sie um den Tisch in der Bauernstube gesessen hatten, wie Jungen in einem Zelt, und ihre gespannten Gesichter Leclerc zugewandt gewesen waren, der in Kirchenstille die Liturgie ihres Glaubensbekenntnisses verlesen und dabei seine schmalen Priesterhände über der Landkarte hin und her bewegt hatte, als sei sie das Meßbuch. Alle in dem Raum Versammelten - und Avery vielleicht am besten von ihnen - kannten den tödlichen Widerspruch zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Motiv und Tat. Avery hatte mit Taylors Kind gesprochen, hatte seine halbfertigen Lügen vor Peersen und dem Konsul hervorgestammelt. Er hatte das furchterregende Geräusch eines Schrittes vor seiner Hotelzimmertür gehört und hatte nach seiner Rückkehr von dieser alptraumartigen Reise gesehen, wie seine eigenen Erlebnisse in erkennbare Bilder aus Leclercs Welt verwandelt wurden. Und dennoch lauschte Avery mit der gleichen Frömmigkeit eines Agnostikers, die auch Haldane und Leiser erfüllte, auf Leclercs Stimme - wahrscheinlich in dem Gefühl, daß dies alles so war, wie es an einer reinen und magischen Stätte wirklich sein sollte.

»Verzeihung«, sagte Leiser, der den Plan von Kalkstadt studiert hatte. Er wirkte in diesem Augenblick wie der typische kleine Mann. Es war, als ob er auf einen Defekt an einem Motor hinwies. Bahnhof, Herberge und Kirche waren grün angezeichnet. In der unteren linken Ecke des Blattes war eine Detailskizze der Eisenbahnschuppen und Lagerhallen. Auf jeder Seite war die Himmelsrichtung notiert: Ansicht von Westen, Ansicht von Norden.

»Was heißt hier Ansicht, Sir?« erkundigte sich Leiser. »Die Blickrichtung, die Ansicht.«

»Wozu ist das? Warum steht das bitte auf der Karte?« Leclerc lächelte. »Für Orientierungszwecke, Fred.« Leiser stand auf und untersuchte den Plan noch einmal genau. »Und dies hier ist die Kirche?«

»Stimmt, Fred. Das ist die Kirche.«

»Warum sieht sie nach Norden? Kirchen stehen doch immer in der Ost-West-Richtung. Hier ist der Eingang im Osten eingezeichnet, wo der Altar sein müßte.« Haldane beugte sich vor; sein rechter Zeigefinger lag über seinen Lippen.

»Es ist nur eine rohe Skizze«, sagte Leclerc. Leiser ließ sich wieder auf seinem Platz nieder, saß in besonders strammer Haltung. »Verstehe. Verzeihung.«

Als die Besprechung zu Ende war, nahm Leclerc Avery beiseite. »Noch etwas, Avery: er darf die Pistole nicht mitnehmen. Das kommt gar nicht in Frage. Der Minister war in dieser Frage völlig unzugänglich. Vielleicht könnten Sie es ihm gegenüber erwähnen.«

»Keine Pistole?«

»Ich glaube, daß wir ihm das Messer lassen können. Es ist ein Allzweckgerät. Ich will damit sagen, daß wir im Fall von Schwierigkeiten immer behaupten können, daß er es nur für allgemeine Zwecke bei sich hatte.« Nach dem Essen besichtigten sie die Grenze. Gorton hatte einen Wagen zur Verfügung gestellt. Leclerc hatte eine Handvoll Notizen mitgebracht, die er nach einem Rondell-Bericht über das Grenzgebiet angefertigt hatte. Diese Zettel, zusammen mit einer gefalteten Landkarte, lagen vor ihm auf seinem Schoß. Die zwischen den beiden Hälften Deutschlands verlaufende Grenze ist auf weite Strecken ein Ding von erschreckender Inkonsequenz. Wer dort nach Panzersperren oder Befestigungsanlagen Ausschau hält, wird ziemlich enttäuscht sein. Sie verläuft durch eine sehr abwechslungsreiche Landschaft aus Gräben, niedrigen, mit Farnkraut bewachsenen Hügeln und kleinen Inseln ungepflegten Waldes. Oft sind die östlichen Sperren so weit hinter der Demarkationslinie, daß es den Anschein hat, sie sollten vor westlichen Blicken verborgen bleiben - die Phantasie erhält nur da und dort von einem einzelnen Unterstand, einem unbenutzten Feldweg, einem leer und verlassen dastehenden Bauernhaus oder einem der verstreut stehenden Wachttürme Nahrung.

Die westliche Seite ist an mehreren Stellen mit grotesken Denkmälern der politischen Kraftlosigkeit herausgeputzt: aus einem brachliegenden Feld ragt ohne erkennbaren Sinn ein Sperrholzmodell des Brandenburger Tores, das von rostenden Schrauben zusammengehalten wird; große, von Wind und Regen mitgenommene Plakattafeln verkünden fünfzehn Jahre alte Schlagworte über ein leeres Tal hinweg. Nur in der Nacht, wenn der Lichtkegel eines Scheinwerfers aus der Dunkelheit bricht und als unruhiger Finger über die kalte Erde tastet, krampft sich das Herz im Gedanken an den Flüchtling zusammen, der wie ein Hase in der Ackerfurche dahinkriecht und auf den Augenblick wartet, in dem er aus der Deckung hervorbrechen und voller Entsetzen so lange davonstürzen wird, bis ihn die Kugel ereilt.

Sie fuhren auf der Schotterstraße, die sich am Kamm des Hügels dahinzieht. An jenen Stellen, an denen die Straße der Grenze besonders nahe kommt, hielten sie an und stiegen aus. Leiser war in einen Regenmantel gehüllt und hatte einen Hut auf. Es war sehr kalt. Leclerc trug seinen Dufflecoat und hatte einen Jagdstock mit, den er weiß Gott wo gefunden haben mochte. Als sie das erstemal, das zweitemal und schließlich noch einmal hielten, sagte Leclerc ruhig: »Hier nicht.« Als sie zum viertenmal wieder ins Auto kletterten, erklärte er: »Die nächste Station ist unsere.« Es war die Art Scherz, mit der man sich gerne in der Schlacht Mut macht.

Avery hätte die Stelle auf Grund von Leclercs Planskizze niemals erkannt. Der Hügel war da, das schon, auch seine Krümmung in Richtung zur Grenze und der steile Abhang an seinem Ende. Aber das Gelände jenseits der Grenze war wieder hügelig und teilweise bewaldet, und sein Horizont war mit Baumwipfeln wie mit Fransen besetzt, vor denen sie mit Hilfe ihrer Feldstecher die braunen Umrisse eines hölzernen Turmes erkennen konnten. »Es ist zwischen den drei Pfosten auf der linken Seite«, sagte Leclerc. Als sie die Talsenke mit ihren Gläsern genau untersuchten, konnte Avery hier und da ein verwachsenes Stück des alten Weges sehen.

»Er ist vermint. Der Weg ist auf der ganzen Strecke vermint. Vom Fuß des Hügels an gehört das Gelände schon zu drüben.« Leclerc wandte sich zu Leiser. »Sie gehen von hier los, und zwar«

- er deutete mit dem Jagdstock - »bis zum Abhang vor, wo Sie bis zum genauen Zeitpunkt des Abmarsches liegen bleiben. Wir werden Sie genügend lange vorher schon herbringen, damit sich Ihre Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnen können. Ich glaube, daß wir jetzt gehen sollten. Wir dürfen nämlich kein Aufsehen erregen.«

Während der Fahrt zurück ins Haus klatschte der Regen gegen die Windschutzscheibe und trommelte auf das Dach des Wagens. Avery, der neben Leiser saß, war in Gedanken versunken. Er glaubte, ein besonders objektiver Beobachter zu sein, als er sich nun klarmachte, daß in derselben Angelegenheit, in der Leiser die Rolle aus einer Tragödie zu spielen hatte, er selbst eine Lustspielfigur verkörperte. Er verstand, daß er einem irrsinnigen Stafettenlauf zusah, bei dem jeder Teilnehmer schneller und länger rannte als sein Vorläufer, und dessen Ziel die eigene Vernichtung war.

»Übrigens«, sagte er unvermittelt zu Leiser, »sollten Sie nicht etwas mit Ihren Haaren machen? Ich kann mir nicht vorstellen, daß die da drüben an derartige Pomaden gewöhnt sind. So was kann dann plötzlich gefährlich sein.«

»Er braucht es nicht schneiden zu lassen«, urteilte Haldane. »Die Deutschen lieben es, lange Haare zu haben. Sie sollten es nur waschen, Fred, mehr nicht. Nur das Öl herauswaschen. - Sehr richtig beobachtet, John, ich gratuliere.«

17. Kapitel

Der Regen hatte aufgehört. Langsam und sich gegen den Wind sträubend, kam die Nacht. Sie saßen im Bauernhaus um den Tisch und warteten. Leiser war in seinem Zimmer. Johnson hatte Tee gekocht und beschäftigte sich mit seinem Gerät. Niemand sprach. Die Zeit der Verstellung war vorüber. Nicht einmal Leclerc, sonst ein Meister der leeren Phrasen, gab sich noch Mühe, das Schweigen zu brechen. Es schien ihm einfach unangenehm, daß man ihn warten ließ wie bei der verspäteten Hochzeit eines Bekannten. Sie waren in einen Zustand träger Furcht geraten, wie die Besatzung eines Unterseebootes, über deren Köpfe gemächlich eine Lampe hin und her pendelt. Ab und zu wurde Johnson vor die Tür geschickt, um nach dem Mond zu sehen, und jedesmal berichtete er, er sei nicht sichtbar.

»Die Berichte der Wetterfrösche waren ziemlich günstig«, meinte Leclerc und entfernte sich in Richtung Dachboden, wo er Johnson bei der Überprüfung seiner Geräte zusah.

Als Avery mit Haldane allein war, sagte er schnell: »Er sagt, das Ministerium habe sich gegen die Pistole entschieden. Er darf keine mitnehmen.«

»Welcher verdammte Narr hat ihm gesagt, das Ministerium überhaupt um Erlaubnis zu bitten?« fragte Haldane wütend. Dann meinte er: »Sie werden es ihm sagen müssen. Es hängt von Ihnen ab.«

»Es Leclerc zu sagen?«

»Nein, Sie Idiot. Leiser!«

Sie aßen etwas, danach gingen Haldane und Avery mit Leiser in sein Zimmer zurück.

»Wir müssen Sie jetzt verkleiden«, sagten sie.

Sie ließen ihn sich ausziehen, wobei sie ihm Stück für Stück die warme und teure Kleidung wegnahmen:

Jacke und Hose in aufeinander abgestimmtem Grau, cremefarbenes Seidenhemd, schwarze kappenlose Schuhe, dunkelblaue Nylonsocken. Beim Lösen des Krawattenknotens stießen seine Finger auf die goldene Nadel mit dem Pferdekopf. Er zog sie vorsichtig heraus und hielt sie Haldane hin. »Was ist damit?«

Haldane hatte für die Wertgegenstände Umschläge mitgebracht. In einen davon steckte er nun die Nadel, klebte ihn zu und warf ihn, nachdem er etwas darauf geschrieben hatte, aufs Bett. »Ihr Haar haben Sie gewaschen?«

»Ja.«

»Wir haben keine ostdeutsche Seife auftreiben können. Tut mir leid, aber Sie werden sich drüben selbst welche besorgen müssen. Soviel ich weiß, ist sie gerade knapp.«

»In Ordnung.«

Nackt bis auf die Armbanduhr, saß Leiser nun auf dem Bett, vorgebeugt, die kräftigen Arme über den haarlosen Schenkeln gekreuzt. Die Kälte überzog seinen weißen Körper mit einer Gänsehaut. Haldane öffnete einen Koffer und zog ein Bündel Kleider sowie ein halbes Dutzend Paar Schuhe heraus. Während Leiser die ungewohnten Kleidungsstücke anzog - die weit geschnittene, an den Beinen breite und an der Hüfte zusammengezogene Hose aus billigem Baumwollstoff, die schäbige, Falten werfende, graue Jacke, die unnatürlich hell gefärbten braunen Schuhe -, schien er vor ihren Augen zusammenzuschrumpfen und sich in irgendeinen früheren Zustand zurückzuverwandeln, den sie nur erahnt hatten. Ohne das Öl zeigte sein braunes Haar jetzt graue Strähnen und fiel unordentlich über Stirn und Ohren. Er warf ihnen einen schüchternen Blick zu, als habe er ein Geheimnis verraten: ein Bauer in der Gesellschaft der Gutsherrenschaft. »Wie sehe ich aus?«

»Sehr gut«, sagte Avery. »Sie sehen großartig aus, Fred.«

»Was ist mit einem Schlips?«

»Ein Schlips würde das Ganze zerstören.« Er probierte alle Schuhe aus, wobei es ihm Schwierigkeiten machte, sie über die groben Wollsocken zu ziehen.

»Es sind polnische«, sagte Haldane und reichte ihm noch ein Paar. »Die Polen exportieren sie nach Ostdeutschland. Nehmen Sie lieber noch ein zweites Paar mit. Man weiß nicht, wieviel Sie zu laufen haben werden.«

Dann holte Haldane aus seinem Zimmer eine schwere Geldkassette und schloß sie auf. Zuerst zog er eine Brieftasche heraus. Sie war schäbig und hatte ein Mittelfach aus Zellophan, in dem Leisers Personalausweis steckte. Er war gestempelt und abgegriffen. Wie in einer Falle gefangen, blickte das Paßfoto Leisers aus dem Ausweis durch die flache Zellophanhülle. Neben dem Ausweis gab es in der Brieftasche noch eine Reisegenehmigung und einen Brief der Rostocker Schiffswerft, in dem eine Stelle angeboten wurde. Haldane leerte das Seitenfach der Brieftasche und erklärte den Inhalt Stück für Stück, wobei er die einzelnen Papiere wieder an ihren alten Platz zurücksteckte.

»Lebensmittelkarte, Führerschein, Parteiausweis. Wie lange sind Sie schon in der Partei?«

»Seit neunundvierzig.«

Dann kam das Bild einer Frau und drei oder vier schmierige Briefe, von denen zwei noch in ihren Umschlägen steckten.

»Liebesbriefe«, erklärte Haldane kurz.

Als nächstes kamen ein Gewerkschaftsausweis und der Ausschnitt aus einer Magdeburger Zeitung, in dem über die Produktionszahlen einer Magdeburger Fabrik berichtet wurde, ein Foto des Brandenburger Tores, wie es vor dem Krieg ausgesehen hatte, und das abgegriffene Zeugnis eines früheren Arbeitgebers. »Das also war die Brieftasche«, sagte Haldane. »Fehlt nur noch das Geld. Alles andere ist in Ihrem Rucksack - Proviant und derartige Sachen.« Er reichte Leiser ein Bündel Geldscheine aus seiner Kassette. Leiser stand in der unterwürfigen Haltung eines Mannes vor ihm, der einer Leibesvisitation unterzogen wird - mit etwas vom Körper weggehaltenen Armen und ein wenig breitbeinig. Er nahm alles entgegen, was Haldane ihm reichte, steckte es sorgfältig weg und nahm wieder die gleiche Haltung ein. Er unterschrieb eine Quittung für das Geld. Haldane prüfte kurz die Unterschrift und steckte das Papier dann in eine schwarze Aktentasche, die er neben sich auf ein Tischchen gelegt hatte.

Dann kamen die Kleinigkeiten, die ein Mann namens Hartbeck wahrscheinlich bei sich tragen würde: ein Schlüsselbund an einer Kette, an dem auch der Kofferschlüssel hing, ein Kamm, ein khakifarbenes Taschentuch voller Ölflecken und eine Handvoll Ersatzkaffee in einer Tüte aus Zeitungspapier, ein Schraubenzieher, ein Stück dünner Draht und die frisch abgedrehten Enden einer Metallstange - der sinnlose Kleinkram aus den Taschen eines Arbeiters. »Die Uhr werden Sie leider nicht mitnehmen können«, sagte Haldane.

Leiser knipste den Verschluß des goldenen Armbandes auf und ließ die Uhr in Haldanes ausgestreckte Hand gleiten. Dafür bekam er eine in Ostdeutschland hergestellte Uhr aus Stahl, die sorgfältig nach Averys Wecker gestellt wurde.

Schließlich trat Haldane zurück. »So wird's gehen.

Bleiben Sie dort stehen und kontrollieren Sie Ihre Taschen. Vergewissern Sie sich, daß Sie alles dort haben, wo Sie es gewöhnlich tragen würden. Berühren Sie nichts anderes in diesem Zimmer, haben Sie verstanden?«

»Ich kenne die Regeln«, sagte Leiser, während er zu seiner goldenen Uhr auf dem Tisch hinübersah. Er nahm das Messer entgegen und hakte die schwarze Scheide an seinem Hosenbund fest. »Was ist mit meiner Pistole?«

Haldane ließ den Stahlverschluß seiner Aktentasche zuschnappen; es klang, als fiele eine Tür ins Schloß. »Sie nehmen keine mit«, sagte Avery. »Keine Pistole?«

»Ist nicht vorgesehen, Fred. Man glaubt, es sei zu gefährlich.«

»Für wen?«

»Es könnte zu gefährlichen Situationen führen. Politisch, meine ich. Einen bewaffneten Mann nach Ostdeutschland hineinzuschicken. Man hat Angst vor einem Zwischenfall.«

»Angst!«

Er starrte Avery lange an, als suche er in dem jungen, glatten Gesicht nach etwas, das nicht darin war. Er wandte sich an Haldane. »Ist das wahr?« Haldane nickte.

Plötzlich streckte Leiser seine zu einer Schale geformten Hände vor, in einer schrecklichen Geste der Armut. Er preßte die Finger zusammen, als gelte es, den letzten Wassertropfen aufzufangen. Seine Schultern zuckten unter der ärmlichen Jacke, sein Gesicht spiegelte gleichzeitig Flehen und Furcht. »Die Pistole, John! Ihr könnt einen Menschen doch nicht ohne Pistole losschicken! Laßt mir doch um Gottes willen die Pistole!«

»Tut mir leid, Fred...«

Seine Hände waren noch immer ausgestreckt, als er sich nun zu Haldane wandte. »Sie wissen gar nicht, was Sie da tun!«

Leclerc hatte den Lärm gehört und stand in der Tür. Haldanes Gesicht war ausdruckslos wie ein Fels. Leiser hätte es mit nackten Fäusten schlagen können, ohne einen Kern von Erbarmen bloßzulegen. Seine Stimme sank zu einem Flüstern. »Was tun Sie? Guter Gott, was versuchen Sie da zu tun?« Plötzlich über alles im klaren, schrie er beide an: »Ihr haßt mich, jawohl! Was habe ich euch getan? John, was habe ich getan? Wir waren doch Kameraden, nicht?« Als Leclerc schließlich sprach, klang seine Stimme unbeteiligt und kühl, als wolle er betonen, daß zwischen ihnen Welten lagen. »Worum geht es hier?«

»Er macht sich wegen der Pistole Sorgen«, erklärte Haldane.

»Daran können wir leider nichts ändern. Das liegt nicht in unseren Händen. Sie wissen, Fred, wie uns zumute ist. Natürlich wissen Sie das. Wir haben einen Befehl. Da kann man nichts machen. Haben Sie vergessen, wie es früher gewesen ist?« Und steif, ein Mann voll Pflichtbewußtsein und Entschlossenheit, fügte er hinzu: »Über die mir erteilten Befehle kann ich nicht diskutieren. Was soll ich Ihnen also sagen?« Leiser schüttelte den Kopf. Seine Hände sanken herab. Die Disziplin war von ihm abgefallen. »Schon vorbei.« Er sah Avery an. »In gewisser Weise ist ein Messer sogar nützlicher, Fred«, sagte Leclerc tröstend. »Es macht keinen Lärm.«

»Ja.«

Haldane sammelte Leisers übrige Kleidungsstücke zusammen. »Ich muß sie in den Rucksack packen«, sagte er mit einem Seitenblick zu Avery und verließ schnell den Raum. Leclerc nahm er mit. Leiser und Avery sahen einander schweigend an. Avery schämte sich, Leiser so häßlich zu sehen. Schließlich sagte Leiser: »Es gab nur uns drei: den Captain, Sie und mich - das war fein damals.

Kümmern Sie sich nicht um die anderen, John. Die sind ganz unwichtig.«

»Das stimmt, Fred.«

Leiser lächelte. »Diese Woche, John - das war prima. Komisch, nicht wahr: die ganze Zeit laufen wir den Mädchen nach, aber wirklich zählen, das tun die Männer, nur die Männer.«

»Sie gehören zu uns, Fred. Haben immer dazugehört. All die Jahre war Ihre Karte da, die ganze Zeit gehörten Sie zu uns. Wir vergessen das nicht.«

»Wie sieht sie aus?«

»Es sind zwei zusammengeheftete Blätter, eines für damals, eins für jetzt. Sie stehen in dem Kasten - wir nennen es >Agenten im Einsatz<. Ihr Name ist der erste. Sie sind unser bester Mann.« Er konnte es sich jetzt richtiggehend vorstellen. Diese Kartei war etwas, das sie gemeinsam geschaffen hatten, und er konnte an sie glauben wie an die Liebe. »Sie sagten aber, es sei alphabetisch geordnet«, sagte Leiser scharf. »Sie sagten, es gebe für die besten eine Spezialkartei.«

»Die Großen Tiere werden vorn eingestellt.«

»Und ihr habt eure Männer überall in der Welt?«

»Überall!«

Leiser runzelte nachdenklich die Stirn, als müsse er eine nur ihn allein angehende Frage entscheiden. Langsam ließ er seinen Blick durch das kahle Zimmer schweifen, dann sah er auf seine groben Jackenärmel hinunter und schließlich zu Avery, auf dem er seine Augen scheinbar endlos ruhen ließ, bis er endlich sein Handgelenk faßte - ganz leicht nur, mehr um zu fühlen, als um zu führen - und mit angehaltenem Atem sagte: »Gib mir etwas. Gib mir was, das ich mitnehmen kann. Etwas von dir, irgendwas.« Avery grub in seinen Taschen, aus denen er ein Taschentuch, Kleingeld und ein Stück zusammengefalteten dünnen Karton hervorkramte. Er klappte den Karton auseinander; es war das Foto von Taylors kleiner Tochter.

»Ist das dein Kind?« Leiser blickte über Averys Schulter auf das kleine bebrillte Gesicht hinunter. Seine Hand schloß sich um die Averys. »Das möchte ich.« Avery nickte. Leiser steckte das Bild in seine Brieftasche. Dann nahm er seine Uhr vom Tisch. Sie war aus Gold und hatte ein schwarzes Zifferblatt, das auch die Mondphasen anzeigte. »Nimm du sie«, sagte er. »Behalte sie.« Dann fuhr er fort: »Ich habe dauernd versucht, mich wieder an zu Hause zu erinnern. Wir hatten eine Schule: mit einem riesigen Hof wie in einer Kaserne, nichts als Fenster und Regenrinnen. Nach dem Essen haben wir dort immer Ball gespielt. - Da war ein Tor und dahinter der Weg zur Kirche, dahinter der Fluß.« Er beschrieb die Stadt mit seinen Händen, als lege er Ziegelsteine aufeinander. »Sonntags gingen wir immer hin, durch die Seitentür, die Kinder zuletzt, weißt du.« Plötzlich lächelte er überlegen. »Diese Kirche blickte nach Norden«, erklärte er, »und keineswegs nach Osten.« Unvermittelt fragte er dann: »Und du - wie lange? Wie lange bist du schon dabei?«

»Bei der Organisation?«

»Ja.«

»Vier Jahre.«

»Wie alt warst du damals?«

»Achtundzwanzig. Es ist das Mindestalter.«

»Du hast mir doch gesagt, du wärst vierunddreißig.«

»Man wartet auf uns«, sagte Avery. Rucksack und Koffer - aus grünem Leinen, mit Lederecken - standen in der Halle bereit. Er probierte den Sitz des Rucksacks und verstellte die Riemen, bis er ihm hoch auf dem Rücken hockte wie die Schultasche eines deutschen Jungen. Dann nahm er den Koffer auf und wog beides. »Nicht so schlimm«, murmelte er. »Weniger geht nicht«, sagte Leclerc. Sie flüsterten jetzt nur noch, obwohl niemand sie hören konnte. Einer nach dem anderen kletterte in das Auto. Ein hastiger Händedruck und dann marschierte er los, dem Hügel entgegen. Es gab keine großen Worte, nicht einmal von Leclerc. Fast schien es, als hätten sie sich schon vor langer Zeit von Leiser getrennt. Das letzte, was sie von ihm sahen, war der leise auf und ab schwankende Rucksack, während er in der Dunkelheit verschwand. Sein Gang hatte schon immer einen eigenen Rhythmus gehabt.


18. Kapitel

Leiser lag im dichten Farnkraut am Ende des Hügels. Er starrte auf das phosphoreszierende Zifferblatt seiner Uhr. Noch zehn Minuten. Der Schlüsselbund war ihm aus der Tasche geglitten, und er schob ihn zurück. Während er die Hand zurückzog, fühlte er die Glieder der Kette wie die Perlen eines Rosenkranzes durch seine Finger gleiten. Einen Augenblick ließ er sie verweilen: in dieser Berührung lag Trost, in ihr lag etwas von seiner Kindheit: »Sankt Christophorus und alle deine Engel, bitte beschütze uns auf der Reise.« Vor ihm fiel das Gelände steil bis zur Talsohle ab. Er hatte es gesehen, er wußte, daß es so war. Aber während er jetzt hinunterblickte, konnte er in der Dunkelheit nichts erkennen. Angenommen, dort unten war Sumpf? Es hatte geregnet und das Wasser hatte sich im Tal gesammelt. Er sah sich bis zum Bauch durch den Schlamm waten und den Koffer auf seinem Kopf balancieren, während rings um ihn die Kugeln ins Wasser klatschten.

Er versuchte, jenseits des Tales den Turm zu erkennen, aber falls es ihn noch gab, war er vom Schwarz der Bäume verschluckt.

Sieben Minuten. Machen Sie sich wegen der Geräusche keine Sorgen, hatten sie gesagt, der Wind wird sie nach Süden tragen. Bei diesem Wind werden sie überhaupt nichts hören. Laufen Sie neben dem Weg, auf der südlichen, das heißt also der rechten Seite, bleiben Sie auf dem neuen, durch das Farnkraut getrampelten Pfad. Er ist eng, aber frei. Wenn Ihnen jemand entgegenkommt, nehmen Sie das Messer. Aber gehen Sie um Gottes willen nicht auf dem Weg. Der Rucksack war schwer. Zu schwer. Der Koffer ebenso. Er hatte mit Jack schon darüber gestritten. Er machte sich nichts aus Jack. »Wir wollten lieber ganz sichergehen, Fred«, hatte Jack erklärt. »Diese kleinen Geräte sind empfindlich wie Jungfrauen: für siebzig Kilometer ganz brauchbar, aber bei achtzig schon tot wie ein gestochenes Kalb. Es ist besser, wenn wir Spielraum haben, Fred, dann sind wir ganz sicher. Die Leute, von denen wir dieses Ding haben, sind Fachleute, wirkliche Experten.«

Noch eine Minute. Sie hatten seine Uhr nach Averys Wecker gestellt.

Er hatte Angst. Plötzlich konnte er seine Gedanken nicht mehr ablenken. Vielleicht war er zu alt, zu müde, vielleicht hatte er schon genug geleistet. Vielleicht hatte ihn das Training erschöpft. Er fühlte, wie sein Herz gegen die Rippen schlug. Sein Körper würde es nicht durchhalten, er war nicht mehr stark genug. Er lag und redete in Gedanken auf Haldane ein: Mein Gott, Captain, sehen Sie denn nicht, daß meine Zeit vorüber ist? Der alte Knabe schafft's nicht mehr. So ungefähr würde er es ihnen sagen. Er würde liegen bleiben, wenn der Minutenzeiger auf seinen Platz rückte. Sein Körper würde zu schwer sein, er würde sich nicht bewegen können. »Es ist mein Herz«, würde er ihnen sagen. »Hatte 'nen Herzanfall, Chef, hab' ich Ihnen nichts von meinem wackligen Herz gesagt? Es streikte einfach, während ich hier im Kraut lag.« Er stand auf. Soll der Hund den Hasen sehen. Rennen Sie den Hügel hinunter, hatten sie gesagt. Bei diesem Wind werden sie nicht einen Ton hören. Rennen Sie den Hügel hinunter, denn das ist die Stelle, an der sie Sie noch am ehesten sehen könnten. Am wahrscheinlichsten ist, daß sie dort hinschauen, wo sie hoffen können, eine Silhouette zu sehen. Laufen Sie schnell durch das Farnzeug und machen Sie sich klein, dann kann nichts schiefgehen. Unten hinlegen und verschnaufen, dann zu kriechen anfangen. Er rannte wie ein Verrückter. Er stolperte, und der Rucksack brachte ihn zu Fall. Er spürte, wie das Knie gegen sein Kinn schlug, und dann den Schmerz, als er sich in die Zunge biß. Als er wieder hochkam, riß ihn der Koffer herum, er taumelte halb in den Weg hinein, und wartete auf den grellen Blitz der explodierenden Mine. Er hastete den Abhang hinunter. Der weiche Boden gab unter seinen Fersen nach, und der Koffer klapperte wie ein altes Auto. Warum hatten sie ihm nicht erlaubt, die Pistole mitzunehmen? Er fühlte, wie seine brennende Milz wuchs, sich unter den Rippen ausbreitete und feurige Stiche in die Lunge bohrte. Er zählte seine Schritte und spürte bei jedem einen Schlag und das drückende Gewicht von Koffer und Rucksack. Avery hatte gelogen. Die ganze Zeit nichts als Lügen. Sie sollten sich um Ihren Husten kümmern, Captain, besser gingen Sie mal zu 'nem Doktor, mit diesem Stacheldraht in Ihrem Gekröse. Der Boden wurde flach, er fiel wieder hin und lag still, keuchend wie ein Tier. Er fühlte nichts als Furcht und den Schweiß, der sein Wollhemd durchtränkte. Er preßte sein Gesicht an den Boden. Während er seinen Körper hochstemmte, glitt seine Hand unter seinen Bauch und zog den Riemen des Rucksacks fester.

Er begann den Hügel hinauf zukriechen, robbte mit den Ellbogen und schob den Koffer vor sich her. Die ganze Zeit war ihm bewußt, daß sich der Buckel auf seinem Rücken über die Spitzen der Farnkräuter hinauswölbte.

Das Wasser durchtränkte seine Kleider, er spürte es frei über Schenkel und Knie laufen. Der Geruch von modrigem Laub füllte seine Nase. Sein Haar blieb immer wieder an Zweigen hängen. Die ganze Natur schien sich verschworen zu haben, ihn aufzuhalten. Er starrte den Hang hinauf und entdeckte vor der schwarzen Wand der Bäume die Silhouette des Turmes. Auf dem Turm war kein Licht. Er lag still. Es war zu weit. Niemals würde er so weit kriechen können. Auf seiner Uhr war es jetzt Viertel vor drei. Die Ablösung würde von Norden kommen. Er nahm den Rucksack ab und stand auf. Den Rucksack hielt er unter dem Arm wie ein kleines Kind; in der anderen Hand den Koffer. So begann er vorsichtig den Hang hinaufzugehen, wobei er sich links von dem ausgetretenen Pfad hielt und die Silhouette des Turmes nicht aus den Augen ließ. Plötzlich stand er dicht davor. Der Turm sah aus wie das Skelett eines Ungeheuers.

Der Wind pfiff über den Hügelkamm. Direkt über sich hörte Leiser eine locker gewordene Latte gegen die Balken schlagen, dann das langgezogene Knarren von altem Holz. Es war nicht ein Draht, sondern zwei. Als er daran zog, lösten sie sich von dem Pfosten. Er stieg darüber weg, befestigte sie wieder und starrte in den vor ihm liegenden Wald. Selbst in diesem Augenblick unsagbarer Angst, da ihn der in die Augen rinnende Schweiß fast blind machte und das Klopfen seiner Schläfen den Wind übertönte, empfand er noch eine tiefe, vertrauende Dankbarkeit gegenüber Avery und Haldane, als sei der Betrug, den sie an ihm begangen hatten, zu seinem eigenen Vorteil gewesen. Dann sah er den Posten, wie die Silhouette im Schießstand, kaum zehn Meter vor sich. Der Mann stand mit dem Rücken zu ihm auf dem alten Weg und hatte sein Gewehr über die Schulter gehängt. Sein plumper Körper schwankte langsam von einer Seite zur anderen, während er mit den Füßen stampfte, um sich warm zu halten. Leiser roch Tabak und Kaffee, nur eine Sekunde lang, ein Geruch so warm wie eine Wolldecke. Er stellte Rucksack und Koffer nieder und bewegte sich instinktiv auf den Schatten zu. Es war genauso wie in der Turnhalle zu Headington. Er spürte hart das Heft seines Messers in der Hand, die kreuzweise Riffelung, die das Abgleiten verhindern sollte. Der Posten war ein ziemlich junger Bursche unter seinem schweren Uniformmantel; Leiser war erstaunt, wie jung. Er tötete ihn hastig, mit einer einzigen Bewegung; wie ein Fliehender wohl in eine Menge schießt, kurz und nicht um zu töten, sondern um vorzubeugen; ungeduldig, weil er machen mußte, daß er weiterkam; gleichgültig, weil es so angelernt war. »Können Sie irgend etwas sehen?« wiederholte Haldane.

»Nein.« Avery reichte ihm den Feldstecher. »Er ist von der Dunkelheit einfach verschluckt worden.«

»Können Sie auf dem Turm ein Licht sehen? Sie würden die Scheinwerfer anmachen, wenn sie etwas gehört hätten.«

»Nein. Ich habe nur nach Leiser Ausschau gehalten«, antwortete Avery.

»Sie sollten ihn Mayfly nennen«, rügte Leclerc hinter ihrem Rücken. »Jetzt kennt Johnson den Namen.«

»Ich werde ihn vergessen, Sir.«

»Auf jeden Fall ist er drüben«, sagte Leclerc und ging zum Wagen.

Sie fuhren schweigend zurück. Während sie auf das Haus zugingen, spürte Avery einen freundschaftlichen Klaps auf seiner Schulter und erwartete, beim Zurückblicken in Johnsons Gesicht zu sehen. Statt dessen aber blickte er in das ausgezehrte Gesicht Haldanes, das aber so verändert wirkte, so merklich entspannt, daß es die jugendliche Ruhe eines Mannes widerzuspiegeln schien, der soeben eine lange Krankheit überwunden hatte. Der letzte Schmerz war von ihm gewichen. »Ich halte nicht viel von großen Lobreden«, sagte Haldane.

»Glauben Sie, daß er gut hinübergekommen ist?«

»Sie haben gut gearbeitet.« Haldane lächelte. »Wir hätten etwas gehört, nicht wahr? Die Schüsse. Oder wir hätten zumindest die Scheinwerfer gesehen.«

»Er ist jetzt unserer Fürsorge entzogen. Gut gemacht.« Er gähnte. »Ich schlage vor, früh zu Bett zu gehen. Wir haben jetzt nichts mehr zu tun. Nur bis morgen abend, natürlich.« An der Tür blieb er stehen, und ohne den Kopf zu wenden, sagte er: »Wissen Sie, es kommt einem so unwirklich vor. Im Krieg, da war es keine Frage. Sie gingen oder sie weigerten sich. Warum ging er, Avery? Jane Austen sagte: Geld oder Liebe, das seien die zwei einzigen Dinge in der Welt. Leiser ging nicht um des Geldes willen.«

»Sie meinten, man könne das nie so genau wissen.

Das sagten Sie an dem Abend, als er anrief.«

»Er erklärte mir, er gehe aus Haß. Aus Haß gegen die Deutschen. Das habe ich ihm nicht geglaubt.«

»So oder so; er ist gegangen. Ich dachte, das sei das einzige, worauf es Ihnen ankommt. Sie sagten einmal, daß Sie Motiven mißtrauen.«

»Haß wäre für ihn kein Grund, eine derartige Arbeit zu übernehmen. Das ist uns ja wohl klar. Was für ein Mensch ist er eigentlich? Wir haben ihn nicht wirklich kennengelernt, oder? Für ihn kann jetzt jeden Augenblick alles vorbei sein - womit beschäftigen sich in dieser Lage seine Gedanken? Wenn er jetzt sterben sollte, heute nacht - woran wird er denken?«

»So etwas sollten Sie nicht aussprechen.«

»Ach.« Endlich wandte er sich nun doch zu Avery. Der friedliche Ausdruck war nicht von seinem Gesicht gewichen. »Als wir das erstemal mit ihm zusammenkamen, war er ein Mensch ohne Liebe. Wissen Sie, was Liebe ist? Ich werd's Ihnen sagen: sie ist all das, was man noch immer verraten kann. Was uns anbelangt, so leben wir ohne sie in unserem Beruf. Wir zwingen niemanden, für uns zu arbeiten. Wir lassen die Leute nur die Liebe entdecken. Natürlich hat Leiser das getan, oder nicht? Er hat uns sozusagen wegen des Geldes geheiratet und aus Liebe verlassen. Er leistete den zweiten Schwur. Ich frage mich nur, wann das war.«

»Wie meinen Sie das: wegen des Geldes?« sagte Avery schnell.

»Ich meine, was immer wir ihm gegeben haben, er jedenfalls hat uns Liebe gegeben. Ich sehe da gerade zufällig, daß Sie seine Uhr tragen.«

»Ich bewahre sie nur für ihn auf.«

»Ach so. Gute Nacht. Oder guten Morgen, eigentlich.«

Ein kleines Lachen. »Wie schnell man doch jeden Sinn für Zeit verliert.« Dann bemerkte er, mehr zu sich selbst: »Und das Rondell hat uns die ganze Zeit geholfen. Sehr seltsam. Ich frage mich, warum.« Sorgfältig reinigte Leiser sein Messer. Es war schmutzig und mußte gewaschen werden. Im Bootshaus aß er seinen Proviant und trank den Cognac aus der Flasche. »Danach«, hatte Haldane gesagt, »müssen Sie sich aus dem Land versorgen. Sie können nicht mit Fleischkonserven und französischem Cognac umherlaufen.« Er öffnete die Tür und ging hinaus, um sich Gesicht und Hände im See zu waschen. Die Wasserfläche lag unbewegt in der Dunkelheit. Ihr glatter Spiegel war wie eine makellose Haut, die schwebende graue Nebelschleier bedeckten. Er konnte das am Ufer wachsende Schilf erkennen, das leise von dem über die Wasserfläche streichenden, vor der Morgendämmerung fliehenden Wind berührt wurde. Jenseits des Sees hingegen hingen schattenhaft die Umrisse einer niedrigen Hügelkette. Er fühlte sich erholt und ruhig. Bis ihm, wie ein Schauder, der Gedanke an den Jungen überfiel.

Er schleuderte die leere Fleischdose und die kleine Flasche weit in den See hinaus, und als sie ins Wasser klatschten, erhob sich träge ein Reiher aus dem Schilf. Leiser bückte sich nach einem Kieselstein, den er über die Wasserfläche tanzen ließ. Er hörte, daß er dreimal aufschlug, ehe er unterging. Er versuchte es noch einmal, aber dreimal sprang der Stein nicht mehr. Er ging in die Hütte zurück und holte den Rucksack und seinen Koffer. Sein rechter Arm schmerzte sehr. Das mußte vom Gewicht des Koffers sein. Irgendwoher drang das Muhen von Kühen. Er ging auf dem Uferweg nach Osten. Er wollte so weit wie möglich kommen, ehe der Tag begann. Ein halbes Dutzend Dörfer mußte er schon durchquert haben. Jedes war ohne Leben gewesen, ruhiger als die offene Landstraße, weil die Häuser für einen Augenblick den Wind abhielten. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er keine Wegweiser und kein einziges neues Gebäude gesehen hatte. Das war es, was den friedlichen Eindruck erweckte. Es war die Ruhe der fehlenden Erneuerung- so hatte es auch schon vor fünfzig Jahren hier ausgesehen, oder vor hundert. Es gab keine Straßenbeleuchtung, keine bunten Schilder an den Kneipen und Geschäften. Es war die Dunkelheit der Gleichgültigkeit, und das beruhigte ihn. Er lief in diesen Frieden hinein, wie ein müder Mann in die See taucht: er gab ihm Kühlung und belebte ihn, wie der Wind, bis er sich an den Jungen erinnerte. Er kam an einem allein stehenden Bauernhaus vorbei. Ein langer Weg führte von der Straße zu dem Haus. Er blieb stehen. Auf halber Höhe stand ein Motorrad, ein alter Regenmantel lag über dem Sattel. Niemand war zu sehen. Der Ofen qualmte.

»Wann war doch sein erster Sendetermin?« fragte Avery. Er hatte schon mehrmals gefragt. »Johnson sagte, um zweiundzwanzig Uhr zwanzig. Eine Stunde vorher werden wir anfangen, das Wellenband abzutasten.«

»Ich dachte, er sei auf einer bestimmten Frequenz«, murmelte Leclerc ziemlich uninteressiert. »Es könnte sein, daß er mit dem falschen Kristall anfängt. In der Aufregung passiert das leicht. Für die Empfangsstation ist es am sichersten, wenn man auf alle Frequenzen achtet, für die er Kristalle mit hat.«

»Er muß jetzt schon unterwegs sein.«

»Wo ist Haldane?«

»Er schläft.«

»Wie kann jemand unter diesen Umständen schlafen?«

»Es wird bald Tag.«

»Können Sie nicht irgendwas mit diesem Ofen unternehmen?« fragte Leclerc. »Es ist doch wohl nicht notwendig, daß er so raucht.« Plötzlich schüttelte er den Kopf, als wolle er Wassertropfen abbeuteln, und sagte: »John, es gibt einen außerordentlich interessanten Bericht Fieldens. Über Truppenbewegungen in Budapest. Wenn Sie nach London zurücckommen, sollten Sie vielleicht...« Er verlor den Faden und runzelte die Stirn.

»Sie erwähnten es schon«, sagte Avery sanft.

»Ja, natürlich, jedenfalls sollten Sie mal einen Blick hineinwerfen.«

»Gerne. Klingt sehr interessant.«

»Ja, nicht wahr?«

»Sehr.«

»Wissen Sie«, sagte Leclerc, anscheinend noch immer in Erinnerungen versunken, »die wollen der unglücklichen Frau immer noch nicht die Pension auszahlen.«

Er hielt sich auf dem Motorrad sehr steif und hatte die Ellbogen an den Körper gelegt, als sitze er bei Tisch. Die Maschine machte schrecklichen Lärm, der die Morgendämmerung erfüllte, über die gefrorenen Felder hallte und die Hühner in ihren Ställen aus dem Schlaf schreckte. Der Mantel hatte lederne Schulterklappen. Seine Zipfel flatterten im Wind und schlugen mit knatterndem Geräusch gegen die Speichen des Hinterrades, während die Maschine über die Schlaglöcher holperte. Der Tag brach an. Er würde bald etwas essen müssen. Leiser verstand nicht, wieso er so hungrig war. Vielleicht kam es von der körperlichen Anstrengung. Ja, das mußte es sein. Er würde essen, aber nicht in einer Stadt, und noch nicht jetzt. Nicht in einem Cafe, in das fremde Menschen kamen. Nicht in einem Cafe, das der Junge besucht hatte.

Er fuhr weiter. Das Hungergefühl peinigte ihn. Er konnte an nichts anderes denken. Er drehte den Gashebel zurück und beugte seinen gierigen Körper vor. Er wendete in einen Feldweg und hielt. Das Haus war alt und vernachlässigt bis zum Zerfall. Der Weg zum Haus war von Karrenrädern aufgewühlt und von Gras überwachsen, der Zaun morsch. Es gab terrassenförmig angelegte Beete, auf denen das Unkraut wucherte, als könne man sie für keinen sinnvollen Zweck mehr verwenden.

Das Küchenfenster war erleuchtet. Leiser klopfte an die Tür. Seine Hand zitterte von der Fahrt auf dem Motorrad. Niemand kam. Er klopfte noch einmal, und das Geräusch erschreckte ihn. Er glaubte, ein Gesicht zu sehen. Es konnte der Schatten des Jungen sein, der gegen das Fenster sank, als er fiel, ebensogut aber konnte es die Spiegelung eines vom Wind bewegten Astes sein.

Er ging schnell zu dem Motorrad zurück. Entsetzt begriff er, daß sein Hunger gar kein Hunger war, sondern Einsamkeit. Er mußte sich irgendwo hinlegen und ausruhen. Er dachte: ich hatte ganz vergessen, wie sehr einen das mitnimmt. Er fuhr weiter, bis er in einen Wald kam. Dort legte er sich hin. Sein Gesicht preßte sich heiß in das Farnkraut. Es war Abend. Auf den Feldern war es noch hell. Aber in dem Wald, in dem er lag, breitete sich rasch die Dämmerung aus, so daß sich die roten Föhren plötzlich in schwarze Säulen verwandelten. Er klaubte sich die Blätter von seiner Jacke und schnürte die Schuhe zu. Sie drückten den Rist schmerzhaft. Er hatte keine Zeit gehabt, sie einzulaufen. Er ertappte sich bei dem Gedanken: denen kann's egal sein, und er erinnerte sich daran, daß nichts je die Kluft überbrückt, die zwischen dem Mann lag, der ging, und denen, die zurückblieben, zwischen den Lebenden und den Toten.

Es bereitete ihm Mühe, die Riemen des Rucksackes über die Schultern zu streifen, und dankbar fühlte er wieder den heißen Schmerz, als sie endlich auf ihren alten Stellen saßen. Nachdem er den Koffer aufgenommen hatte, ging er über den Acker zur Straße zurück, wo das Motorrad stand: noch fünf Kilometer bis Langdorn. Er nahm an, daß es hinter dem nächsten Hügel lag: die erste der drei Städte. Bald würde er auf die Straßensperre stoßen; bald würde er essen. Er fuhr langsam, den Koffer auf seinen Knien, während er auf die nasse Straße starrte und seine Augen anstrengte, um eine Kette roter Lichter zu sehen oder eine Ansammlung von Männern und Fahrzeugen. Nach einer Kurve sah er auf der linken Straßenseite ein Haus mit einer Bierreklame, die in einem Fenster aufgestellt war. Er fuhr in den Vorgarten. Das Motorengeräusch lockte einen alten Mann vor die Tür. Leiser bockte das Rad auf.

»Ich hätte gerne ein Bier«, sagte er, »und Wurst. Gibt's das hier?«

Er alte Mann ließ ihn eintreten und an einem Tisch im Gastzimmer Platz nehmen, von dem aus Leiser das Motorrad draußen im Auge behalten konnte. Er brachte ihm eine Flasche Bier, einige Scheiben Wurst auf einem Teller und ein Stück Schwarzbrot. Er blieb neben dem Tisch stehen und sah ihm beim Essen zu. »Wohin wollen Sie?« Sein mageres Gesicht war von Bartstoppeln bedeckt.

»Nach Norden.« Leiser kannte dieses Spiel.

»Woher sind Sie?«

»Wie heißt die nächste Ortschaft?«

»Langdorn.«

»Weit?«

»Fünf Kilometer.«

»Kann man dort übernachten?«

Der alte Mann zuckte mit den Schultern. Die Bewegung drückte weder Gleichgültigkeit noch Verneinung aus, sondern einfach Ablehnung, als lehne er alles ab und werde von allem abgelehnt. »Wie ist die Straße?« fragte Leiser. »Ganz gut.«

»Angeblich soll eine Umleitung sein.«

»Keine Umleitung«, sagte der alte Mann, als bedeute eine Umleitung Hoffnung, Trost oder Gesellschaft, irgend etwas, das die kalte Feuchtigkeit erwärmen oder die Ecken des Raumes hätte erhellen können. »Sie sind aus dem Osten«, erklärte der alte Mann. »Man erkennt's an Ihrer Sprache.«

»Meine Eltern«, sagte Leiser. »Gibt's Kaffee?« Der alte Mann brachte Kaffee, sehr schwarz und säuerlich, ohne Aroma.

»Sie sind aus Wilmsdorf«, sagte der alte Mann. »Ihr Nummernschild ist aus Wilmsdorf.«

»Viele Gäste?« fragte Leiser und sah zur Tür.

Der alte Mann schüttelte den Kopf.

»Ist keine sehr befahrene Straße, nicht?« Der alte Mann sagte immer noch nichts. »Ich hab' einen Freund in Kalkstadt. Ist das noch weit?«

»Nicht weit. Vierzig Kilometer. Bei Wilmsdorf ist ein Junge umgebracht worden.«

»Er führt ein Lokal an der Nordausfahrt, >Dorfkrug<, kennen Sie es?«

»Nein.«

Leiser senkte seine Stimme. »Es gab Ärger bei ihnen. Eine Prügelei, Soldaten aus der Stadt, Russen.«

»Gehen Sie weg«, sagte der alte Mann. Er wollte zahlen, hatte aber nur einen Fünfzigmarkschein.

»Gehen Sie weg«, sagte der Alte wieder.

Leiser nahm Rucksack und Koffer. »Alter Narr«, sagte er böse, »was glauben Sie, wer ich bin?«

»Sie sind entweder gut oder schlecht - und beides ist gefährlich. Gehen Sie.«

Es gab keine Straßensperre. Unversehens war er mitten in Langdorn. Es war schon finster. Das einzige Licht auf der Straße war der schwache Schein, der sich hinter den geschlossenen Fensterläden hervorstahl und kaum bis aufs nasse Pflaster fiel. Kein Verkehr auf der Straße. Der Lärm seines Motorrades beunruhigte ihn, es klang wie ein Fanfarenstoß über den Marktplatz. Leiser dachte, im Krieg gingen sie immer früh zu Bett, um sich warm zu halten. Vielleicht hatte sich das nicht geändert.

Es war Zeit, das Motorrad loszuwerden. Er fuhr durch die Stadt hindurch und fand am anderen Ende eine unbenutzte Kirche, wo er das Rad neben der Sakristeitür stehenließ. Er ging in die Stadt zurück, zum Bahnhof. Der Beamte war in Uniform. »Kalkstadt. Einfach.«

Der Beamte streckte die Hand aus. Leiser nahm einen Geldschein heraus und gab ihn ihm. Der Beamte schüttelte ihn ungeduldig. Einen Augenblick starrte Leiser ratlos auf die vor ihm herumfuchtelnde Hand und das ärgerliche, mißtrauische Gesicht hinter dem Schalterfenster.

Plötzlich schnauzte der Beamte: »Personalausweis!« Leiser lächelte um Verzeihung bittend. »Daran habe ich gar nicht gedacht«, sagte er und öffnete die Brieftasche, um die Karte in ihrem Zellophanfenster zu zeigen.

»Nehmen Sie sie heraus«, sagte der Beamte, und Leiser sah ihm dabei zu, wie er den Ausweis unter dem Licht seiner Schreibtischlampe prüfend betrachtete.

»Reisegenehmigung?«

»Ja, natürlich«, Leiser gab ihm das Papier.

»Warum fahren Sie nach Kalkstadt, wenn Sie nach Rostock reisen?«

»Unser Betrieb hat Maschinen per Bahn nach Kalkstadt geliefert. Schwere Turbinen und Werkzeugmaschinen. Müssen montiert werden.«

»Wie sind Sie bis hierher gekommen?«

»Jemand hat mich mitgenommen.«

»Das Mitnehmen von Anhaltern ist verboten.«

»In diesen Zeiten muß man sehen, wie man vorankommt.«

»In diesen Zeiten?«

Der Mann preßte seine Nase gegen die Scheibe und blickte auf Leisers Hände hinunter. »Mit was spielen Sie da unten herum?« fragte er grob. »Eine Kette. Meine Schlüsselkette.«

»So. Also die Maschinen müssen montiert werden, wie? Und weiter?«

»Ich kann das unterwegs erledigen. Die warten in Kalkstadt schon sechs Wochen. Der Transport hat so lange gedauert.«

»So?«

»Wir haben nachgeforscht, bei der Eisenbahn.«

»Und?«

»Keine Antwort.«

»Sie müssen eine Stunde warten. Der Zug geht um halb sieben.« Pause. »Haben Sie's schon gehört? Bei Wilmsdorf haben sie einen Jungen umgebracht«, sagte er. »Schweine.« Er gab das Wechselgeld herüber. Leiser wußte nicht, was er tun sollte. Er wagte es nicht, sein Gepäck in die Aufbewahrung zu geben. Er konnte nichts anderes tun, als eine halbe Stunde umherzulaufen, dann kehrte er zum Bahnhof zurück. Der Zug hatte Verspätung.

»Ihnen beiden gebührt große Anerkennung«, sagte Leclerc mit einem dankbaren Nicken in Richtung von Haldane und Avery. »Auch Ihnen, Johnson. Von jetzt an gibt es nichts, was irgendeiner von uns noch dazu beitragen könnte. Alles hängt jetzt von Mayfly ab.«

Avery bekam ein Extralächeln: »Was ist mit Ihnen, John? Sie sind so still. Glauben Sie, daß Sie wertvolle Erfahrungen haben sammeln können?« Und mit einem Lachen, das für die beiden anderen bestimmt war, sagte er: »Ich hoffe wirklich, daß wir nicht plötzlich eine Scheidung auf dem Gewissen haben. Wir müssen Sie jetzt so schnell als möglich zu Ihrer Frau nach Hause schicken.«

Er saß auf der Tischkante und hatte seine Hände über dem Knie gefaltet. Als Avery nichts sagte, erklärte er strahlend: »Ich habe einen Vermerk von Carol bekommen- - du weißt es, Adrian -, daß ich die junge Ehe zerstöre.«

Haldane lächelte, als sei das eine erheiternde Bemerkung. »Ich bin sicher, daß diese Gefahr nicht besteht«, sagte er.

»Er hat ja auch bei Smiley großen Eindruck gemacht: wir müssen aufpassen, daß sie ihn uns nicht wegschnappen!«


19. Kapitel


Als der Zug in Kalkstadt hielt, wartete Leiser, bis die anderen Reisenden den Bahnsteig verlassen hatten. Ein älterer Beamter sammelte die Fahrkarten ein. Er sah freundlich aus.

»Ich suche nach einem Freund«, sagte Leiser, »einen Mann namens Pritsche. Er hat hier gearbeitet.«

Der Beamte runzelte die Stirn.

»Pritsche?«

»Ja.«

»Wie ist sein Vorname?«

»Ich weiß nicht.«

»Wie alt ist er denn? Wenigstens ungefähr?« Leiser sagte auf gut Glück: »Vierzig.«

»Pritsche, hier, auf diesem Bahnhof?«

»Ja. Er wohnte in einem kleinen Haus unten am Fluß.

Junggeselle.«

»Allein in einem ganzen Haus? Und soll hier gearbeitet haben?«

»Ja.«

Der Beamte schüttelte den Kopf. »Nie von ihm gehört.« Er sah Leiser zweifelnd an. »Sind Sie sicher?« fragte er.

»Das hat er mir jedenfalls erzählt.« Plötzlich schien ihm etwas einzufallen. »Im November hat er mir geschrieben... er beschwerte sich darüber, daß Vopos den Bahnhof geschlossen hätten.«

»Sie sind ja verrückt«, sagte der Beamte. »Gute Nacht.«

»Gute Nacht«, erwiderte Leiser. Die ganze Zeit, während er davonging, spürte er den starren Blick des Mannes in seinem Rücken.

In der Hauptstraße gab es einen Gasthof. Er hieß >Alte Glocke<. Er wartete eine Zeitlang an der Theke im Gastzimmer, aber niemand kam. Er öffnete eine Tür und stand in einem großen, halbdunklen Raum. An einem Tisch saß ein Mädchen vor einem alten Grammophon. Sie saß zusammengesunken da, hatte den Kopf in die Arme gelegt und lauschte der Musik. Über ihr brannte eine einzelne Birne. Als die Platte zu Ende war, setzte sie, ohne den Kopf zu heben, die Nadel wieder an den Anfang.

»Ich brauche ein Zimmer«, sagte Leiser. »Ich bin gerade aus Langdorn angekommen.« Überall in dem Raum hingen ausgestopfte Vögel: Reiher, Fasanen und ein Eisvogel. »Ich suche ein Zimmer«, wiederholte er. Es war Tanzmusik, eine sehr alte Platte.

»Fragen Sie an der Theke.«

»Es ist niemand da.«

»Es gibt sowieso nichts. Die dürfen Sie hier gar nicht wohnen lassen. Neben der Kirche ist eine Herberge. Sie müssen dort wohnen.«

»Wo ist die Kirche?«

Sie stellte mit einem übertriebenen Seufzer das Grammophon ab, und Leiser wußte, daß sie froh war, mit jemandem reden zu können.

»Sie ist zerbombt«, erklärte sie. »Wir sprechen nur noch von ihr. Bloß der Turm steht noch.«

Schließlich sagte er: »Die haben sicher ein Bett hier.

Es ist doch ein großes Haus.« Er stellte den Rucksack in eine Ecke und setzte sich neben sie an den Tisch.

Mit der Hand fuhr er sich durch das dichte, trockene Haar.

»Sie sehen ganz erledigt aus«, sagte das Mädchen. Seine blauen Hosen waren noch vom Lehm an der Grenze verkrustet. »War den ganzen Tag unterwegs. Das nimmt einen mit.«

Sie stand befangen auf und ging bis ans Ende des Raumes, wo eine hölzerne Stiege zu einem schwachen Lichtschimmer hinaufführte. Sie rief, aber niemand kam.

»Steinhäger?« fragte sie aus der Dunkelheit. »Ja.«

Sie kam mit einer Flasche und einem Glas zurück. Sie trug einen alten braunen Militärregenmantel mit Schulterstücken und eckigen Schultern. »Woher sind Sie?« fragte sie.

»Magdeburg. Ich fahre nach Norden. Habe in Rostock eine Stelle bekommen.«

Wie oft würde er das noch sagen? »In dieser Herberge - kann ich da ein Einzelzimmer haben?«

»Wenn Sie eins wollen.«

Die Beleuchtung war so schwach, daß er sie zuerst kaum erkennen konnte. Nach und nach nahm sie Gestalt an. Sie war ungefähr achtzehn und grobknochig.

Ein ganz hübsches Gesicht, aber eine sehr unreine Haut. So alt wie der Junge an der Grenze, ein bißchen älter vielleicht.

»Wer sind Sie«, fragte er. Sie antwortete nicht. »Was machen Sie?«

Sie nahm sein Glas, trank daraus und sah ihn altklug über den Rand des Glases hinweg an. Sie schien sich für eine große Schönheit zu halten. Dann stellte sie das Glas langsam auf den Tisch zurück, während sie ihn weiter ansah und sich das Haar aus dem Gesicht strich. Auch von dieser Geste schien sie viel zu halten. »Schon lange hier?«

»Zwei Jahre.«

»Was machen Sie?«

»Was Sie wollen.« Ihre Stimme war ganz ernst.

»Viel los hier?«

»Ach - völlig tot. Nichts.«

»Keine Jungs?«

»Manchmal.«

»Soldaten?« - Eine Pause.

»Ab und zu. Wissen Sie nicht, daß diese Frage verboten ist?«

Leiser goß sich noch einen Steinhäger aus der Flasche ein.

Sie nahm sein Glas, wobei sie mit seinen Fingern spielte.

»Was ist mit dieser Stadt los?« fragte er. »Ich habe schon vor sechs Wochen versucht, herzukommen. Man ließ mich nicht herein. Kalkstadt, Langdorn, Wolken - alles gesperrt, sagten sie. Was war los?« Ihre Fingerspitzen strichen über seine Hand. »Was ging hier vor?« wiederholte er. »Nichts war gesperrt.«

»Mach halblang«, sagte Leiser. »Sie wollten mich nicht mal in die Nähe lassen, ich schwör dir's. Sperren hier und auf der Straße nach Wolken.« Er dachte:

schon zwanzig nach acht, nur noch zwei Stunden bis zu meinem ersten Funkkontakt. »Nichts war gesperrt.« Plötzlich setzte sie hinzu: »Du kommst also von Westen, auf der Straße. Nach so jemandem suchen sie hier gerade.« Er stand auf. »Ich muß mich nach dieser Herberge umsehen.« Er legte Geld auf den Tisch. Das Mädchen flüsterte: »Ich hab' mein eigenes Zimmer. Der Neubau hinterm Friedensplatz. Es sind Arbeiterwohnungen. Sie haben nichts dagegen, dort. Ich mach', was du willst.«

Leiser schüttelte den Kopf. Er nahm sein Gepäck und ging zur Tür. Sie sah ihn noch immer an, und er wußte, daß sie mißtrauisch war. »Wiedersehen«, sagte er. »Ich würde auch nichts sagen. Nimm mich mit.«

»Ich trank einen Steinhäger«, murmelte Leiser. »Wir haben kein Wort miteinander geredet. Du hast die ganze Zeit deine Platten gespielt.« Sie hatten beide Angst.

Das Mädchen sagte: »Ja. Die ganze Zeit Platten.«

»Es war nie gesperrt, bist du ganz sicher? Langdorn, Wolken, Kalkstadt, vor sechs Wochen?«

»Wozu sollte irgend jemand hier Sperren errichten?«

»Nicht mal der Bahnhof?«

Sie sagte schnell: »Vom Bahnhof weiß ich nichts. Im November war das Gebiet einmal für drei Tage gesperrt. Niemand hat eine Ahnung, warum, 'ne russische Einheit war da, ungefähr fünfzig Mann. Sie lagen hier in der Stadt. Mitte November.«

»Fünfzig? Panzer, oder was?«

»Mit Lastwagen. Weiter im Norden waren Manöver. Bleib bei mir heute nacht. Bleib. Nimm mich mit. Ich geh' überall hin.«

»Welche Farbe hatten die Schulterklappen?«

»Weiß nicht.«

»Woher kamen sie?«

»Sie waren neu. Ein paar waren aus Leningrad, zwei Brüder.«

»Wohin gingen sie von hier?«

»Norden. Hör zu, niemand wird etwas davon erfahren. Ich rede nicht. Zu der Sorte gehöre ich nicht. Ich mach' dir alles, alles, was du willst.«

»In Richtung Rostock?«

»Sie sagten, daß sie nach Rostock gehen. Wir sollen nicht darüber sprechen. Die Parteileute waren deshalb in jedem Haus.«

Leiser nickte. Er schwitzte. »Wiedersehen«, sagte er. »Wie ist es mit morgen? Morgen abend? Ich mach', was du willst.«

»Vielleicht. Sag es niemandem. Verstehst du?« Sie schüttelte den Kopf: »Ich werd's ihnen nicht sagen. Mir ist das doch egal. Frag nur nach dem Hochhaus hinterm Friedensplatz. Tür neunzehn. Kannst jederzeit kommen. Ich mach selbst auf. Wenn du zweimal läutest, weiß ich, daß es für mich ist. Brauchst nichts zu bezahlen.« Dann sagte sie: »Gib acht auf dich. Überall sind Leute. In Wilmsdorf ist ein Junge umgebracht worden.«

Er ging zum Marktplatz, nun wieder vorsichtig, denn er fühlte sich von allen Seiten bedroht, suchte den Kirchturm und die Herberge. In der Dunkelheit huschten vermummte Gestalten an ihm vorbei. Manche trugen noch alte Uniformstücke, Feldmützen oder die langen Mäntel, die sie im Krieg gehabt hatten. Ab und zu, wenn er gerade unter einer der matten Straßenlaternen vorbeikam, versuchte er einen Blick in ihre Gesichter zu werfen, und dann forschte er in diesen verschlossenen, ausdruckslosen Mienen nach dem, was er haßte. Er sagte sich: »Hasse diesen Kerl - er ist alt genug.« Aber es berührte ihn nicht. Sie waren nichts. In einer anderen Stadt, an einem anderen Ort hätte er vielleicht jemanden für seinen Haß finden können. Hier nicht. Diese Leute hier waren alt und nichts weiter. Arm und allein wie er selbst. Der Kirchturm war schwarz und leer. Er erinnerte ihn plötzlich an den Turm an der Grenze, an die Garage nach elf Uhr abends, an den Augenblick, als er den Posten tötete: ein Kind noch, wie er selbst es im Krieg gewesen war, jünger sogar noch als Avery. »Jetzt sollte er eigentlich schon dort sein«, sagte Avery.

»Ganz richtig, John. Er sollte wohl schon dort sein, nicht wahr? Nur noch eine Stunde. Noch ein Fluß zu überqueren.« Er begann zu singen, aber niemand fiel ein.

Schweigend saßen sie einander gegenüber. »Kennen Sie übrigens den Alias-Club?« fragte Johnson plötzlich. »Bei der Villiers Street? Vom alten Haufen kommen ziemlich viele dort hin. Sollten einmal am Abend mitkommen, wenn wir wieder zu Hause sind.«

»Danke«, sagte Avery. »Mach ich gerne.«

»In der Weihnachtszeit ist es dort sehr nett«, sagte Johnson. »Das ist die Zeit, in der ich oft dort bin. Ein netter Verein. Ein oder zwei kommen sogar in Uniform.«

»Klingt sehr nett.«

»Silvester machen sie eine Party mit Damen. Sie könnten Ihre Frau mitbringen.«

»Prima.«

Johnson zwinkerte. »Oder Ihre Freundin.«

»Für mich gibt's nur Sarah«, sagte Avery. Das Telefon läutete. Leclerc stand auf, um abzuheben.

20. Kapitel

HEIMKEHR


Er stellte Rucksack und Koffer ab und inspizierte das Zimmer. Neben dem Fenster war eine elektrische Steckdose. Die Tür hatte kein Schloß, deshalb stellte er den Lehnstuhl davor. Er zog die Schuhe aus und legte sich aufs Bett. Er dachte an die Finger des Mädchens, die über seine Hände strichen und an das nervöse Zittern ihrer Lippen. Dann fiel ihm der trügerische Blick ein, mit dem sie ihn aus dem Dunkel heraus beobachtet hatte, und er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis sie ihn verriet. Avery fiel ihm ein: die menschliche Wärme und typisch englische Anständigkeit am Beginn ihrer Kameradschaft. Er sah wieder sein junges, im Regen glänzendes Gesicht vor sich und den scheuen, verwirrten Ausdruck Averys, als er seine Brille abwischte, und er dachte: sicher hat er nie etwas anderes als zweiunddreißig gesagt. Ich habe mich verhört. Er sah zur Decke. In einer Stunde würde er die Antenne spannen.

Das Zimmer war groß und kahl, und in einer Ecke gab es ein rundes Waschbecken aus Marmor. Unter dem Becken führte ein Rohr zum Fußboden, und er hoffte, daß es für die Erdung genügen würde. Er drehte den Wasserhahn auf, und zu seiner Erleichterung kam kaltes Wasser, denn Jack hatte gesagt, bei einer Heißwasserleitung sei es riskant. Er nahm sein Messer und kratzte das Rohr an einer Seite sorgfältig sauber. Die Erdung war sehr wichtig - Jack hatte das gesagt. Wenn es gar keine andere Möglichkeit gibt, hatte er gesagt, dann legen Sie das Erdkabel im Zick-Zack unter den Teppich, und zwar in der gleichen Länge, die die Antenne hat. Aber es gab hier keinen Teppich.

Er mußte es mit dem Rohr versuchen. Kein Teppich, keine Gardinen.

An der gegenüberliegenden Wand stand ein ausladender schwerer Kleiderschrank. Früher mußte es einmal das beste Hotel am Platz gewesen sein. Es roch nach türkischen Zigaretten und Desinfektionsmitteln. Die Wände waren grau getüncht, und die Feuchtigkeit hatte über sie dunkle Schatten verteilt, nach der gleichen geheimnisvollen Eigengesetzlichkeit des Mauerwerks, durch die auch der trockene Streifen entstanden war, der quer über die Decke lief. An manchen Stellen war der Verputz abgebröckelt und hatte gezackte Inseln aus weißem Schimmel hinterlassen, an anderen hatte er sich zusammengezogen und die Sprünge waren vom Maler mit der gleichen Masse gefüllt worden, die in den Ecken des Zimmer weiße Flußläufe zeichnete. Leiser s Blick folgte ihnen aufmerksam, während er angestrengt auf das leiseste Geräusch außerhalb des Raumes achtete. An der Wand hing ein Bild. Es zeigte Feldarbeiter und ein Pferd vor einem Pflug. Am Horizont war ein Traktor zu sehen. Er hörte Johnsons gutmütige Stimme die Anweisungen wegen der Antenne herunterleiern: »In einem geschlossenen Raum ist es ein Jammer, und es wird in einem geschlossenen Raum sein. Also hören Sie zu: im Zick-Zack durchs Zimmer, ein Viertel Ihrer Wellenlänge und dreißig Zentimeter unterhalb der Decke. Zwischenräume möglichst weit, Fred, und auf keinen Fall parallel zu Eisenträgern, elektrischen Leitungen und derartigem. Lassen Sie sie gestreckt, biegen Sie sie nicht auf sich selbst zurück, sonst gibt's eine schöne Schweinerei, klar?« Immer der gleiche Scherz, die Anspielung auf den Geschlechtsakt, um das Gedächtnis eines einfachen Mannes zu stützen. Leiser dachte: Ich werde sie zum Bilderrahmen spannen und von dort hin und her bis zur hinteren Ecke. In diesen weichen Verputz werde ich sicher einen Nagel stecken können. Er sah sich nach einem Nagel oder etwas Ähnlichem um und entdeckte im Holz des Fensterrahmens einen alten Gardinenhaken. Er stand auf und schraubte den Griff seines Rasierapparates auf. Man mußte ihn dazu nach rechts drehen, was allgemein für einen genialen Einfall gehalten wurde, da ein mißtrauischer Fremder, den Griff wie üblich nach links zu drehen versuchte, gegen das Gewinde schrauben würde. Aus der Höhlung zog er das zusammengefaltete Seidentuch heraus und glättete es mit seinen dicken Fingern über dem Knie. In der Tasche fand er einen Bleistift. Er spitzte ihn, wobei er auf der Bettkante sitzen blieb, damit ihm das Seidentuch nicht verrutschte. Zweimal brach ihm die Spitze ab. Zwischen seinen Füßen sammelten sich auf dem Boden die Späne an. Dann begann er in seinem Notizbuch zu schreiben. Er kritzelte mit großen Buchstaben wie ein Häftling, der an seine Frau schreibt, und um jeden Punkt zog er einen Kreis, wie man es ihm vor langer Zeit beigebracht hatte.

Als er seine Nachricht formuliert hatte, zog er nach jeweils zwei Buchstaben einen senkrechten Strich und unter die so entstehenden Abteilungen schrieb er die der Buchstabengruppe entsprechende Zahl, wie er es von der Tabelle auswendig gelernt hatte. Manchmal mußte er sich auf einen mnemonischen Reim stützen, um sich an die Zahlenkolonnen zu erinnern. Manchmal hatte er eine falsche Zahl geschrieben, dann mußte er sie ausradieren und von neuem beginnen. Als er fertig war, teilte er die Zahlenreihe in Gruppen von jeweils vier Zahlen und zog sie von den Zahlen auf dem Seidentuch ab. Schließlich übertrug er die Zahlen wieder in Buchstaben, die er wieder in Vierergruppen aufteilte.

Wie ein altes Leiden machte sich wieder die Furcht in seinem Leib bemerkbar. Er blickte bei jedem eingebildeten Geräusch scharf zur Tür hinüber. Seine Hand stockte dabei mitten im Schreiben. Aber er hörte nichts, nur das Knarren im Gebälk eines alten Hauses, das klang wie das Geräusch des Windes in der Takelage eines Schiffes. Er betrachtete den fertigen Text mit dem Bewußtsein, daß er viel zu lang geworden war und daß er ihn kürzen könnte, wäre er nur etwas besser in dieser Art Arbeit und wäre sein Geist nur ein wenig beweglicher, aber im Augenblick fiel ihm beim besten Willen keine Lösung ein. Außerdem hatte er gelernt, daß es besser war, ein Wort oder zwei zuviel zu schreiben, als daß die Nachricht am anderen Ende mißverstanden werden konnte. Es waren zweiundvierzig Buchstabengruppen.

Er zog den Tisch vom Fenster weg und hob den Koffer hinauf. Mit dem Schlüssel von seiner Kette sperrte er ihn auf, wobei er betete, es möge auf der Reise nichts kaputtgegangen sein. Er öffnete die Schachtel mit den Ersatzteilen und ertastete mit zitternden Fingern den seidenen, oben mit einem grünen Band zusammengebundenen Beutel, in dem die Kristalle waren. Er knüpfte das Band auf und schüttelte die Kristalle auf die rauhe Bettdecke. An jedem klebte ein kleines Etikett, auf dem mit Johnsons Schrift die Frequenz und darunter mit einer Zahl die Stelle vermerkt war, auf der der Kristall im Sendeplan stand. Er ordnete sie entsprechend und legte sie in einer Reihe nebeneinander, wobei er sie auf die Decke preßte, damit sie nicht umherkollerten. Die Kristalle waren das einfachste. Er versuchte, ob sich die Tür trotz des unter die Klinke geschobenen Stuhls öffnen ließ. Die Klinke rutschte in seiner Handfläche, der Stuhl leistete Widerstand. Ihm fiel ein, daß er im Krieg immer Metallkeile mitbekommen hatte. Er ging zu dem Koffer zurück und schloß Sender und Empfänger an den Transformator an, stöpselte die Kopfhörer ein und löste die Schraube, die die Morsetaste im Deckel der Schachtel festhielt. Dabei sah er es.

In den Deckel des Koffers war ein Stück Papier geklebt, auf dem ein halbes Dutzend Buchstabengruppen und daneben die dazugehörenden Morsezeichen vermerkt waren. Es war der internationale Morsekode für die stehenden Phrasen, die er sich nie hatte merken können.

Als er diese mit Johnsons säuberlicher Buchhalterschrift gemalten Buchstaben sah, stiegen Tränen der Dankbarkeit in seine Augen. Das hat er mir gar nicht gesagt, dachte er, er hat gar nicht gesagt, daß er das gemacht hat. Jack war doch ganz in Ordnung, trotz allem. Jack, der Captain und Johnnyboy: welch ein Team, für das er arbeitete. Andere Leute hatten nicht das Glück, solche Burschen zu finden, egal, wie lange sie suchten. Er versuchte ruhig zu werden und preßte seine Hände fest gegen die Tischplatte. Er zitterte ein wenig, es mochte vor Kälte sein. Sein verschwitztes Hemd klebte an seinem Rücken, aber er war glücklich. Er warf einen schnellen Blick auf den Sessel vor der Tür und dachte: Wenn ich die Kopfhörer aufhabe, werde ich sie gar nicht kommen hören, so wie mich der Junge wegen des Windes nicht gehört hatte. Als nächstes steckte er Erde und Antenne in ihre Buchsen, zog das Erdkabel bis zur Wasserleitung und befestigte die blanken Enden mit Klebestreifen auf der abgeschabten Stelle des Rohres. Er stieg auf das Bett und spannte die Antenne in acht Windungen dicht unter der Decke aus, wie Johnson ihn angewiesen hatte, wobei er sie an der Vorhangstange und mit Hilfe des Gardinenhakens an der Wand befestigte. Nachdem das erledigt war, setzte er sich wieder vor das Gerät und drehte den Zeiger der Bandskala zwischen die Drei und die Vier, weil er wußte, daß die Frequenzen aller Kristalle im Drei-Megahertz-Bereich lagen. Er nahm den ersten der in einer Reihe auf dem Bett liegenden Kristalle, steckte ihn an der hinteren linken Ecke des Gerätes in seinen Sockel und begann, den Sender abzustimmen, wobei er jeden Handgriff vor sich hinmurmelte: Stelle Kristallknopf auf >Alle Kristalle< stecke die Spule ein, Anodenabstimmung und entsprechende Antennenkontrolle auf zehn. Er zögerte, während er versuchte, sich an den nächsten Schritt zu erinnern. In seinem Kopf bildete sich ein Klumpen. »V - wissen Sie nicht, was V bedeutet?« Er schaltete den Knopf des Meßgerätes auf drei, um die Netzspannung am Verstärker abzulesen. ASE-Knopf auf A für Abstimmung. Jetzt kam die Erinnerung langsam zurück. Meßinstrument auf sechs, um die Verstärker-End-Spannung abzulesen. Anodenknopf bis zum geringsten Anschlag des Zeigers drehen. Nun schaltete er den ASE-Knopf auf S für Senden, drückte kurz auf die Morsetaste, las dabei die Messung ab, drehte die Antennenabstimmung, bis der Zeiger etwas höher kletterte, und stellte hastig die Anodenabstimmung neu ein. Dann wiederholte er die Prozedur, bis er mit unendlicher Erleichterung vor dem weißen Hintergrund der nierenförmigen Skala den Zeiger ausschlagen sah und wußte, daß Sender und Antenne einwandfrei abgestimmt waren, und daß er nun mit John und Jack sprechen konnte. Er lehnte sich mit einem zufriedenen Grunzen zurück und zündete eine Zigarette an. Er wünschte, es wäre eine englische gewesen, denn wenn sie jetzt hereingeplatzt kämen, spielte die Zigarettensorte schon keine Rolle mehr. Er sah auf die Uhr und zog sie, entsetzt von der Vorstellung, daß sie abgelaufen sein könnte, bis zum Anschlag auf. Sie war nach Averys Uhr gestellt, und diese Tatsache gab ihm auf simple Art ein beruhigendes Gefühl. Wie zwei voneinander getrennte Liebende blickten sie zu demselben Stern empor.

Er hatte diesen Jungen getötet. Noch drei Minuten bis zum festgesetzten Sendetermin. Er hatte die Morsetaste von dem Deckel der Schachtel abgeschraubt, weil er sie dort nicht richtig bedienen konnte. Jack hatte gesagt, das sei ganz in Ordnung, es mache nichts aus. Leiser mußte nun das Brettchen, auf dem die Taste befestigt war, mit der linken Hand festhalten, damit sie nicht wegrutschte, aber Jack sagte, jeder Funker habe nun mal seine eigenen Marotten. Leiser war sicher, daß die Taste kleiner war als die, die man ihm im Krieg gegeben hatte. Er war ganz sicher. Es hingen noch Spuren von Kreide an dem Arm der Taste. Er legte seine Ellbogen an den Körper und straffte den Rücken. Der Mittelfinger seiner rechten Hand krümmte sich über der Taste. JAJ ist mein erstes Rufzeichen, dachte er, Johnson ist mein Name und man nennt mich Jack, das ist wirklich leicht zu behalten. JA, John Avery. JJ, Jack Johnson. Dann klopfte er es in den Äther hinaus: einmal kurz und dreimal lang, kurzlang, einmal kurz und dreimal lang. Und er dachte dabei: es ist wie in dem Haus in Holland, aber diesmal bin ich allein. Sag's zweimal, Fred, und dann schalte ab. Er ging auf Empfang, schob das Blatt Papier weiter in die Mitte des Tisches und merkte plötzlich, daß er nichts zum Schreiben hatte, wenn Jack jetzt durchkam. Er stand auf und sah sich suchend nach seinem Notizbuch und dem Bleistift um, wobei auf seinem Rücken der Schweiß ausbrach. Sie waren nirgends zu sehen. Er ließ sich hastig auf Hände und Knie fallen und tastete in dem dicken Staub unter dem Bett herum, bis er den Bleistift fand. Das Notizbuch suchte er vergeblich. Während er aufstand, hörte er aus den Kopfhörern ein knackendes Geräusch. Er rannte zum Tisch und preßte einen der Hörer an sein Ohr, gleichzeitig versuchte er, das Papier festzuhalten, um neben seine eigene Nachricht etwas an den Rand kritzeln zu können.

»QSA3« - wir hören Sie gut - mehr sagten sie nicht. »Ruhig, Junge, ruhig«, murmelte er. Er schob sich auf den Stuhl, schaltete auf Senden, blickte auf den Zettel mit seiner verschlüsselten Nachricht und klopfte die Zahlen vierzwei in die Tasten, denn es waren zweiundvierzig Gruppen. Seine Hand war schweißnaß und der Staub klebte an ihr; sein rechter Arm schmerzte, vielleicht vom Tragen des Koffers oder vom Kampf mit dem Jungen.

Sie haben soviel Zeit, wie Sie wollen, hatte Johnson gesagt. Wir hören zu, es ist ja kein Examen. Er holte das Taschentuch heraus und wischte sich den Schmutz von den Händen. Er war schrecklich müde. Die Müdigkeit war wie eine körperliche Verzweiflung, wie der Augenblick drückenden Schuldgefühls vor dem Liebesakt. Gruppen von jeweils vier Buchstaben, hatte Johnson gesagt. Denken Sie einfach an Worte, die vier Buchstaben haben, was, Fred! Sie brauchen ja nicht alles auf einmal zu geben, machen Sie eine kleine Pause in der Mitte, wenn Sie wollen. Zweieinhalb Minuten auf der ersten Frequenz, zweieinhalb auf der zweiten, das ist unsere Masche, Frau Hartbeck wird Geduld haben, bestimmt. Er machte mit dem Bleistift einen dicken Strich unter den neunten Buchstaben, denn an dieser Stelle mußte der absichtlich gemachte Fehler kommen, damit sie wußten, daß alles in Ordnung war. Das war etwas, an das er nur flüchtig zu denken wagte.

Er stützte sein Gesicht in die Hand und sammelte das Letzte an Konzentration. Dann griff er nach der Taste und begann zu klopfen. Die Hand locker lassen, Zeige- und Mittelfinger auf der Taste, Daumen eingezogen. Handgelenk nicht auf der Tischplatte auflegen, Fred, regelmäßig atmen, Fred, Sie werden merken, daß das entspannt.

Mein Gott, warum waren seine Hände nur so langsam? Einmal nahm er die Finger von der Taste und starrte kraftlos auf die Handfläche, dann wieder strich er sich mit der linken Hand über die Stirn, damit ihm der Schweiß nicht in die Augen floß, und er spürte, wie die Taste unter seinen klopfenden Fingern davonrutschte. Sein Handgelenk war zu steif: die Hand, mit der er den Jungen getötet hatte. Die ganze Zeit sagte er sich die Zeichen vor: kurzkurzlang, dann ein K, das hatte er immer leichter behalten, einfach ein Punkt zwischen zwei Strichen - seine Lippen formten lautlos die Buchstaben, aber seine Hand folgte nicht. Es war ein Gestammel, das immer schlimmer wurde, je länger er sprach - und in seinen Gedanken immer der Junge, nichts als der Junge. Aber vielleicht war er doch schneller, als er glaubte. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren. Der Schweiß lief ihm in die Augen. Er konnte ihn nicht mehr aufhalten. Er fuhr fort, die Punkte und Striche vor sich hin zu murmeln, und er wußte, daß Johnson darüber ärgerlich gewesen wäre, denn er hätte überhaupt nicht in Punkten und Strichen denken sollen, sondern in Tönen - di dah dah di di - so wie es die Berufsfunker tun, aber Johnson hatte nicht den Jungen umgelegt. Die Schläge seines Herzens übertönten das schwache Klopfen der Taste, seine Hand schien immer schwerer und schwerer zu werden, und doch fuhr er fort zu morsen, denn das war das einzige, was ihm zu tun geblieben war, das einzige, an dem er sich festhalten konnte, während sein Körper aufgab. Er erwartete sie jetzt geradezu, er wünschte, daß sie kämen - holt mich, holt alles - er sehnte sich nach den Schritten im Korridor. Hilf uns, John, hilf uns.

Als er schließlich fertig geworden war, ging er zum Bett hinüber. Fast gleichzeitig bemerkte er die säuberlich in einer Reihe auf der Decke ausgelegten unberührten Kristalle, still und bereit, schön ausgerichtet und numeriert, wie die Leichen getöteter Posten. Avery sah auf seine Uhr. Es war Viertel vor zehn. »In fünf Minuten müßte er anfangen«, sagte er. Leclerc verkündete unerwartet: »Gorton hat angerufen. Er hat ein Telegramm vom Minister bekommen. Sie haben offenbar eine Mitteilung für uns. Ein Kurier ist unterwegs.«

»Was könnte das sein?« fragte Avery.

»Ich denke, es wird diese ungarische Sache sein.

Fieldens Bericht. Ich werde womöglich nach London zurück müssen.« Ein selbstzufriedenes Lächeln.

»Aber ich glaube, ihr Leute werdet auch ohne mich zurechtkommen.«

Johnson hatte die Kopfhörer über den Ohren und saß vorgebeugt auf einem hochlehnigen Holzstuhl, der aus der Küche heraufgebracht worden war. Der dunkelgrüne Empfänger ließ das leise Brummen des Transformators hören. Die von innen erleuchtete Meßskala glomm fahl in dem unter dem Dach herrschenden Halbdunkel.

Haldane und Avery saßen auf einer unbequemen Bank. Vor Johnson lagen ein Block und ein Bleistift. Er schob den Kopfhörer von einem Ohr weg und sagte zu Leclerc, der neben ihm stand: »Ich werde ihn ganz routinemäßig kommen lassen, Sir. Ich werde versuchen, Sie dabei gleich auf dem laufenden zu halten. Aber bitte bedenken Sie, daß ich zur Sicherheit auch selbst mitschreibe.«

»Ich verstehe.«

Sie warteten schweigend. Plötzlich - für sie alle ein Augenblick höchster Verzauberung - straffte sich Johnsons Körper, er nickte ihnen kurz zu und schaltete das Tonbandgerät ein. Er lächelte und legte den Schalter am Sender um. Er klopfte auf seine Morsetaste. »Komm nur, Fred«, sagte er laut, »höre dich gut.«

»Er hat's geschafft!« zischte Leclerc. »Jetzt ist er dran am Ziel.« Seine Augen leuchteten vor Begeisterung. »Hören Sie, John? Hören Sie das?«

»Wollen wir nicht still sein?« schlug Haldane vor. »Da kommt er schon«, sagte Johnson. Seine Stimme war ruhig und beherrscht. »Zweiundvierzig Gruppen.«

»Zweiundvierzig!« wiederholte Leclerc. Johnsons Körper war bewegungslos. Sein Kopf war ein wenig zur Seite geneigt, seine ganze Konzentration galt den Kopfhörern. Sein Gesicht war in dem bleichen Licht der Skalenbeleuchtung ohne jeden Ausdruck.

»Ich bitte um Ruhe, jetzt.«

Ungefähr zwei Minuten lang huschte seine geschickte Hand über den Block. Ab und zu murmelte er unhörbar, flüsterte einen Buchstaben oder schüttelte den Kopf, bis die Morsezeichen langsamer zu kommen schienen und sein Bleistift - während er lauschend wartete - zwischen den einzelnen Zeichen stillhielt, bis er jeden einzelnen Buchstaben mit quälender Sorgfalt aufs Papier malte. Er warf einen schnellen Blick auf seine Uhr.

»Los, Fred«, drängte er, »los, geh auf die andere Frequenz. Das sind schon fast drei Minuten.« Aber die Meldung tröpfelte weiter, Buchstabe für Buchstabe, und Johnsons einfaches Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an.

»Was ist los?« fragte Leclerc. »Warum hat er die Frequenz nicht gewechselt?«

Aber Johnson sagte nur: »Schalt ab, Fred, um Himmels willen, schalt ab!«

Leclerc klopfte ihm ungeduldig auf den Arm. Johnson hob eine der Muscheln vom Ohr.

»Warum hat er die Frequenz nicht gewechselt? Warum spricht er noch immer?«

»Er muß es vergessen haben! Im Training hat er's nie vergessen. Ich weiß ja, daß er langsam ist, aber guter Gott!« Er schrieb noch immer automatisch mit. »Fünf Minuten«, murmelte er. »Fünf beschissene Minuten. Tausch endlich den beschissenen Kristall aus.«

»Können Sie es ihm nicht sagen?« rief Leclerc. »Natürlich kann ich nicht! Wie soll ich das? Er kann doch nicht gleichzeitig empfangen und senden!« Sie saßen oder standen wie hypnotisiert herum. Johnson, der sich zu ihnen umgewandt hatte, sagte flehentlich: »Ich hab's ihm gesagt! Ich hab's ihm nicht einmal, ich hab's ihm Dutzende Male gesagt. Es ist der reinste Selbstmord, was er da macht!« Er sah auf seine Uhr. »Jetzt sendet er schon fast an die sechs Minuten. Verdammter, verdammter, verdammter Narr!«

»Was werden sie tun?« fragte Haldane. »Wenn sie die Sendung auffangen? - Eine zweite Abhörstation anrufen, ihn anpeilen, der Rest ist einfachste Trigonometrie, wenn jemand so lange am Äther bleibt.« Er schlug mit der flachen Hand hilflos auf den Tisch und zeigte auf das Gerät, als sei es eine Beleidigung. »Ein Kind kann das erledigen. Mit nichts als zwei Kompassen. Großer Gott! Wach auf, Fred, um Gottes willen, wach endlich auf!« Er schrieb noch eine Handvoll Buchstaben auf, und warf dann den Bleistift hin. »Es ist sowieso auf Band«, sagte er. Leclerc wandte sich an Haldane. »Sicher gibt's doch etwas, was wir unternehmen könnten«, sagte er. »Sei still«, sagte Haldane.

Die Meldung brach ab. Johnson klopfte die Bestätigung, schnell und haßerfüllt. Er spulte das Tonband zurück und begann die Morsezeichen zu übertragen. Nachdem er die Kode-Tabelle vor sich hingelegt hatte, arbeitete er rund eine Viertelstunde ohne Unterbrechung. Gelegentlich warf er einfache Additionen auf das Schmierblatt neben seinem Arm. Niemand sprach. Als er fertig war, stand er in einer fast schon vergessenen Geste des Respekts vor Leclerc auf. »Meldung lautet: Gebiet Kalkstadt Mitte November drei Tage gesperrt, als fünfzig nicht identifizierte Sowjetsoldaten in der Stadt waren. Ohne Spezialausrüstung. Gerüchte von Sowjetmanövern im Norden. Einheit angeblich nach Rostock verlegt. Pritsche in Kalkstadt Bahnhof nicht wiederhole nicht bekannt. Keine Sperren auf Straße nach Kalkstadt.« Er warf das Blatt auf den Tisch. »Danach kommen noch fünfzehn Gruppen, die ich nicht entziffern kann. Wahrscheinlich hat er seinen Kode durcheinandergebracht.« Der Unteroffizier der Volkspolizei in Rostock nahm den Telefonhörer auf. Er war ein älterer Mann mit grau werdendem Haar und gedankenvollem Gesicht. Er lauschte einige Zeit der aus dem Hörer dringenden Stimme und begann dann, auf einem anderen Apparat eine Nummer zu wählen. »Das muß ein Kind sein«, sagte er, während er die Wählscheibe drehte. »Was für eine Frequenz, sagten Sie?« Er hob den zweiten Hörer an sein Ohr und sprach schnell ein paar Sätze hinein, wobei er die Frequenz dreimal wiederholte. Dann ging er in die angrenzende Baracke hinüber. »Wismar wird jeden Augenblick durchkommen«, sagte er. »Sie machen schon eine Peilung. Hören Sie ihn noch?« Der Feldwebel nickte. Der Unteroffizier drückte einen freien Hörer ans Ohr.

»Das kann kein Amateur sein«, murmelte er. »Verletzt die Vorschrift. Aber was dann? Kein Agent morst auf diese Art, wenn er seine fünf Sinne beisammen hat. Welche Frequenzen liegen daneben? Militär oder Zivil?«

»Es ist nahe bei Militär. Sehr nahe.«

»Komisch«, sagte der Unteroffizier, »das paßt eigentlich dazu, was? Genauso haben sie's im Krieg gemacht.«

Der Feldwebel starrte auf das Tonbandgerät, dessen Spulen sich träge um ihre Achsen drehten. »Er sendet immer noch. Vierergruppen.«

»Vierer?« Der Unteroffizier suchte in seiner. Erinnerung nach irgend etwas, das sich vor langer, langer Zeit zugetragen hatte.

»Lassen Sie mich mal hören. Hören Sie doch, hören Sie sich diesen Narren an! Er ist so langsam wie ein Anfänger.«

Das piepsende Geräusch schlug irgendeine Seite in seinem Gedächtnis an. Diese verwischten Pausen, die Punkte so knapp, daß sie nicht viel mehr als Klick waren. Er hätte schwören können, daß er diese Hand kannte... aus dem Krieg, in Norwegen... aber nicht so langsam: niemand hatte je so langsam gesendet wie dieser da.

Nicht Norwegen. Frankreich. Vielleicht war es nur Einbildung. Ja, sicher war es Einbildung.

»Oder ein alter Mann«, sagte der Feldwebel.

Das Telefon läutete. Der Unteroffizier lauschte einen Augenblick und rannte dann, rannte, so schnell er konnte, durch die Baracke zum Ausgang und über den asphaltierten Weg in die Offiziersmesse hinüber.

Der russische Hauptmann trank gerade Bier. Seine Jacke hing über der Lehne seines Stuhles und er sah sehr gelangweilt aus.

»Sie wollen etwas, Unteroffizier?« Er gab sich gerne so angeödet.

»Er ist gekommen. Der Mann, über den man uns informiert hat. Der den Jungen umgelegt hat.« Der Hauptmann stellte schnell sein Bierglas nieder. »Haben Sie ihn gehört?«

»Wir haben eine Peilung. Mit Wismar. Vierergruppen. Sehr langsame Hand. Kommt aus der Kalkstadt-Gegend. Liegt nahe bei einer unserer eigenen Frequenzen. Sommer hat die Meldung mitgeschnitten.«

»Du lieber Gott«, sagte der Russe ruhig. Der Unteroffizier runzelte die Stirn.

»Was sucht er dort? Wozu sollten sie ihn dorthin geschickt haben?« fragte er.

Der Hauptmann knöpfte schon seine Jacke zu. »Fragen Sie in Leipzig an. Vielleicht wissen die auch darauf eine Antwort.«


21. Kapitel

Es war sehr spät.

Das Feuer im Kamin brannte recht gut, aber Control stocherte dennoch mit weibischer Unzufriedenheit darin herum. Er haßte es, nachts zu arbeiten. »Man will Sie jetzt im Ministerium sprechen«, sagte er gereizt. »Ausgerechnet jetzt, mitten in der Nacht. Es ist wirklich zu dumm! Warum regen sich alle gerade an einem Donnerstag so auf? Das ganze Wochenende ist sicher wieder hin.« Er legte den Schürhaken aus der Hand und ging zu seinem Schreibtisch zurück. »Die sind dort in einer fürchterlichen Verfassung. Irgendein Idiot spricht von einem Stein, der Kreise zieht. Es ist erstaunlich, wie die Nacht manche Leute verändert. Wirklich, ich verabscheue das Telefon.« Auf dem Tisch vor ihm standen etliche Apparate. Smiley bot ihm eine Zigarette an, und er nahm sie ohne hinzusehen, als könne man ihn nicht mehr für die Handlungen seines Körpers verantwortlich machen. »Welches Ministerium?« fragte Smiley. »Leclercs. Haben Sie eine Ahnung, was da los ist?« Smiley sagte: »Ja. Sie nicht?«

»Leclerc ist so entsetzlich gewöhnlich. Ja, ich muß gestehen, daß ich ihn gewöhnlich finde. Er glaubt, wir lägen in Konkurrenz. Was, zum Teufel, sollte ich schon mit seinem schrecklichen Volkssturmhaufen anfangen wollen? Europa nach fahrenden Wäschereien durchkämmen? Er bildet sich ein, ich wolle ihn auffressen.«

»Wollen Sie das denn nicht? Warum sonst haben wir diesen Paß für ungültig erklärt?«

»Was für ein dummer gewöhnlicher Mensch. Wie konnte Haldane nur auf so etwas reinfallen?«

»Er hat einmal ein Gewissen gehabt. Er ist wie wir alle. Er hat gelernt, ohne eines zu leben.«

»Ach, mein Guter! Ist das ein Seitenhieb auf mich?«

»Was will das Ministerium?« fragte Smiley scharf. Control hielt einige Blatt Papier hoch und wedelte damit herum. »Haben Sie das hier aus Berlin gesehen?«

»Ja. Kam vor einer Stunde herein: Die Amerikaner haben eine Peilung. Vierergruppen, primitiver Buchstaben-Kode. Sie sagen, es komme aus der Gegend von Kalkstadt.«

»Wo, zum Teufel, ist das wieder?«

»Südlich von Rostock. Die Meldung lief sechs Minuten auf derselben Frequenz. Sie sagten, es habe geklungen wie der erste Versuch eines Amateurs. Es müsse eines der alten Geräte aus dem Krieg sein. Sie wollten wissen, ob es eines von den unseren war.«

»Und Ihre Antwort?« fragte Control schnell. »Ich sagte nein.«

»Das möchte ich hoffen. Guter Gott.«

»Es scheint Ihnen nicht viel auszumachen«, sagte Smiley. Control schien sich an etwas weit Zurückliegendes zu erinnern. »Ich höre, daß Leclerc in Lübeck ist. Also, das ist wirklich ein hübsches Städtchen. Ich schwärme für Lübeck. Das Ministerium wollte Sie sofort sprechen. Ich sagte, Sie würden hinkommen. Es ist irgendeine Besprechung.« Und mit großem Ernst fügte er hinzu: »Sie müssen, George! Wir waren die größten Dummköpfe. In jeder ostdeutschen Zeitung steht's schon. Sie regen sich mächtig wegen Friedenskonferenzen und Sabotage auf.« Er klopfte auf eines der Telefone. »Und das Ministerium ebenfalls. Gott, wie verabscheue ich diese Beamten.« Smiley beobachtete ihn voller Skepsis. »Wir hätten sie ja bremsen können. Genug gewußt haben wir.«

»Natürlich hätten wir können«, sagte Control sanft. »Wissen Sie, weshalb wir nicht haben? Pure, idiotische christliche Nächstenliebe. Wir wollten ihnen ihr Kriegsspiel nicht verderben. Aber jetzt gehen Sie lieber. - Und, Smiley...«

»Ja?«

»Seien Sie liebenswürdig.« Und mit seiner einfältigen Stimme setzte er hinzu: »Um Lübeck beneide ich die Leute trotz allem sehr. Gibt's da nicht dieses Restaurant - wie heißt es doch? Der Platz, wo Thomas Mann immer aß. Es ist so interessant!«

»Er hat nie dort gegessen«, sagte Smiley. »Das Lokal, das Sie meinen, ist im Krieg zerbombt worden.« Er ging noch immer nicht. »Ich frage mich«, sagte er. »Sie werden es mir niemals verraten, nicht wahr? Ich frage mich nur.« Er sah Control nicht an. »Mein lieber George, was ist denn jetzt über Sie gekommen?«

»Wir haben diese Leute doch hineingejagt. Der Paß, der dann eingezogen wurde. die Hilfe unseres Kurierdienstes, die sie nie gebraucht haben. ein ausrangiertes Funkgerät. falsche Papiere, Berichte über die Grenze. wer hat Berlin aufgefordert, den Abhördienst auf ihn anzusetzen? Wer hat ihnen die Frequenzen durchgesagt? Wir haben Leclerc sogar die Kristalle gegeben, oder nicht? War das auch christliche Nächstenliebe? Pure, idiotische christliche Nächstenliebe?«

Control war schockiert.

»Was wollen Sie damit bitte andeuten? Nein, wie abscheulich! Wer könnte so etwas jemals tun!« Smiley zog seinen Mantel an.

»Gute Nacht, George«, sagte Control. Und bitter, als sei er der Feinfühligkeit überdrüssig, setzte er hinzu: »Nun gehen Sie schon. Und behalten Sie unsere Auseinandersetzung für sich. Ihr Land braucht Sie. Es ist nicht mein Fehler, daß diese Leute so lange gebraucht haben, sich den Hals zu brechen.« Die Dämmerung kam bereits, und Leiser hatte immer noch kein Auge zugetan. Er wäre gerne zur Toilette gegangen, aber er wagte sich nicht auf den Korridor. Er wagte nicht, sich zu bewegen. Wenn man schon nach ihm suchte, mußte er ganz normal gehen und nicht vor Anbruch des Morgens aus der Herberge stürzen. Niemals rennen, hatte es immer geheißen: gehe, wie die Menge geht. Um sechs konnte er aufbrechen: das war spät genug. Er rieb sich mit dem Handrücken das Kinn. Es war rauh und stachelig und hinterließ Kratzer auf der braunen Haut seiner Hand. Er war hungrig und wußte nicht mehr, was er tun sollte, aber davonlaufen würde er nicht. Er drehte sich im Bett um, zog aus dem Bund seiner Hose das Messer und hielt es sich vor die Augen. Ein Schauer überlief ihn. Auf seiner Stirn fühlte er eine unnatürliche Fieberhitze. Er betrachtete das Messer und dachte an die reine, freundliche Art, in der man darüber geredet hatte: Daumen oben, Klinge parallel zum Boden, Unterarm steif. »Gehen Sie weg«, hatte der alte Mann gesagt, »Sie sind entweder gut oder böse, und beides ist gefährlich.« Wie hatte er das Messer zu halten, wenn die Leute in dieser Art mit ihm sprachen? So, wie bei dem Jungen? Dann war es sechs. Er stand auf. Seine Beine waren schwer und steif. Seine Schultern schmerzten immer noch von der Last des Rucksacks. Seine Kleider rochen nach Tannennadeln und moderndem Laub, wie er merkte. Er kratzte den halb getrockneten Lehm von seiner Hose und zog das andere Paar Schuhe an. Er ging hinunter, um jemanden zu suchen, bei dem er bezahlen konnte, und die neuen Schuhe quietschten auf den Stufen der Holztreppe. Er fand eine alte Frau, die eine weiße Schürze trug und Linsen auslas, während sie zu einer Katze sprach. »Was bin ich schuldig?«

»Daß Sie den Meldezettel ausfüllen«, sagte sie säuerlich. »Das ist das erste, was Sie schuldig sind. Sie hätten es schon tun sollen, als Sie ankamen.«

»Tut mir leid.«

Sie fuhr ihn an, unterdrückt, da sie nicht wagte, die Stimme zu heben: »Wissen Sie nicht, daß es verboten ist, sich in einer Stadt aufzuhalten, ohne sich bei der Polizei zu melden?« Sie blickte auf seine neuen Schuhe hinunter. »Oder sind Sie so reich, daß Sie glauben, das habe für Sie keine Geltung?«

»Tut mir leid«, sagte Leiser noch einmal. »Geben Sie den Zettel her, und ich fülle ihn aus. Ich bin nicht reich.«

Die Frau wurde still, während sie emsig weiter in den Linsen herumstocherte. »Woher kommen Sie?« fragte sie dann. »Osten«, sagte Leiser. Er meinte Süden, von Magdeburg, oder Westen, von Wilmsdorf. »Sie hätten sich gestern abend anmelden müssen. Jetzt ist es zu spät.«

»Was habe ich zu zahlen?«

»Sie können nicht zahlen«, erwiderte die Frau. »Macht nichts. Sie haben den Zettel nicht ausgefüllt. Was werden Sie sagen, wenn man Sie fragen sollte?«

»Daß ich bei einem Mädchen war.«

»Es schneit draußen«, sagte die Frau. »Geben Sie auf Ihre hübschen Schuhe acht.«

Harte Schneekörnchen trieben verloren vor dem Wind her und sammelten sich in den Fugen zwischen den schwarzen Pflastersteinen oder blieben in den Stuckverzierungen an den Hauswänden hängen. Es war ein grauer, nutzloser Schnee, der sich dort, wo er hinfiel, bald auflöste.

Leiser überquerte den Friedensplatz und sah ein neues gelbes Gebäude, das sich auf einem öden Grundstück sechs oder sieben Stockwerke hoch erhob. Auf den Balkonen hing Wäsche, mit einer dünnen Schicht Schnee bedeckt. Im Treppenhaus roch es nach Essen und Heizöl. Die Wohnung war im dritten Stock. Er konnte das Geschrei eines Kindes und das Dudeln eines Radios hören. Einen Augenblick lang überlegte er, ob er nicht umkehren und weggehen sollte, da er eine Gefahr für sie war. Er drückte zweimal auf die Klingel, wie es das Mädchen ihm gesagt hatte. Sie öffnete schlaftrunken die Tür. Über das baumwollene Nachthemd hatte sie ihren Regenmantel gezogen und hielt ihn am Hals zu, um sich vor der beißenden Kälte zu schützen. Als sie Leiser sah, zögerte sie, als wüßte sie nicht, was sie tun sollte, als bringe er schlechte Nachrichten. Er sagte nichts, sondern stand nur da, mit dem leise hin und her schwingenden Koffer in der Hand. Sie machte eine einladende Bewegung mit dem Kopf, und er folgte ihr durch den Flur zu ihrem Zimmer, wo er Koffer und Rucksack in eine Ecke abstellte.

An den Wänden hingen Werbeplakate von Ferienzielen: Bilder von Wüsten, Palmen und dem Mond über der tropischen See. Sie legten sich ins Bett, und sie deckte ihn mit ihrem schweren Körper zu. Sie zitterte ein wenig, denn sie hatte Angst. »Ich möchte schlafen«, sagte er. »Laß mich erst mal schlafen.«

Der russische Hauptmann sagte: »Er hat in Wilmsdorf ein Motorrad gestohlen und am Bahnhof nach Pritsche gefragt. Was wird er jetzt unternehmen?«

»Er wird wieder senden. Heute abend«, antwortete der Unteroffizier, »falls er etwas hat, was er mitteilen kann.«

»Um die gleiche Zeit?«

»Gewiß nicht. Auch nicht die gleiche Frequenz. Noch von der gleichen Stelle. Vielleicht geht er nach Wismar oder Langdorn oder Wolken; womöglich sogar nach Rostock. Oder er bleibt in Kalkstadt, geht in ein anderes Haus. Oder er sendet überhaupt nicht.«

»In ein Haus? Wer wird schon einen Spion beherbergen?«

Der Unteroffizier zuckte mit den Schultern, als wolle er andeuten, daß er selbst dazu fähig wäre. Gekränkt fragte der Hauptmann: »Woher wissen Sie, daß er aus einem Haus sendet? Warum nicht im Wald oder auf dem Feld? Woher wollen Sie das so genau wissen?«

»Es ist ein kräftiges Signal. Ein sehr starker Sender. Soviel Energie könnte er aus einer Batterie nicht entnehmen. Nicht aus einer, die er allein mit sich herumschleppen kann. Er benützt den Netzanschluß.«

»Riegeln Sie die Stadt ab und durchsuchen Sie jedes Haus«, sagte der Hauptmann.

»Wir wollen ihn lebend.« Der Unteroffizier sah auf seine Hände hinunter. »Sie wollen ihn doch lebend.«

»Was sollen wir sonst tun?« beharrte der Hauptmann. »Können Sie mir das verraten?«

»Man muß dafür sorgen, daß er sendet. Das ist das wichtigste. Und daß er in Kalkstadt bleibt.«

»Ja, und?«

»Wir müssen schnell sein«, meinte der Unteroffizier. »Ja, und?«

»Sie sollten ein paar Einheiten in die Stadt bringen.

Was Sie gerade auftreiben können. So schnell wie möglich. Panzer, Infanterie, ganz gleich was. Schaffen Sie Bewegung. Machen Sie ihn aufmerksam. Aber seien Sie schnell!«

»Ich werde gleich gehen«, sagte Leiser. »Behalte mich nicht hier. Gib mir Kaffee, und ich werde gehen.«

»Kaffee?«

»Ich habe Geld«, sagte Leiser, als sei das das einzige, was er habe. »Hier.« Er kletterte aus dem Bett, holte die Brieftasche aus seiner Jacke und zog einen Hundertmarkschein aus dem Bündel. »Behalte das.« Sie nahm die Brieftasche und leerte sie leise lachend auf die Bettdecke aus. Sie hatte eine täppische, katzenhaft verspielte Art, die nicht ganz normal wirkte, und den schnellen Instinkt einer Ungebildeten. Er betrachtete sie unbeteiligt, während seine Finger über ihre nackte Schulter strichen. Sie hielt das Bild einer Frau hoch, eine Blondine mit rundem Gesicht. »Wer ist das? Wie heißt sie?«

»Sie existiert gar nicht.«

Sie entdeckte die Briefe und las einen davon laut vor. Bei den leidenschaftlichen Stellen lachte sie laut. »Wer ist das?« bohrte sie weiter. »Wer ist sie?«

»Ich sage dir doch, daß es sie gar nicht gibt.«

»Dann kann ich die Briefe zerreißen?« Sie hielt einen der Briefe mit beiden Händen vor ihm hoch und tat so, als wolle sie ihn zerreißen, während sie auf seinen Protest wartete. Leiser sagte nichts. Sie riß ein Stück ein und beobachtete ihn noch immer, dann zerriß sie das Blatt, dann noch eines und noch eines. Sie stieß auf das Bild eines Kindes, eines Mädchens mit Brille, vielleicht acht oder neun Jahre alt, und wieder fragte sie: »Wer ist das? Ist das dein Kind? Gibt's dieses Mädchen?«

»Nein. Das ist niemand. Niemandes Kind. Bloß ein Foto.« Sie zerriß auch das und verstreute die Schnitzel mit großer Gebärde über das Bett. Dann warf sie sich über ihn und küßte ihn auf Gesicht und Hals. »Wer bist du? Wie heißt du?« Er wollte es ihr gerade sagen, als sie ihn zurückstieß. »Nein«, rief sie schnell. »Nein!« Sie senkte die Stimme. »Ich will dich ohne irgend etwas. Ganz allein. Nur du und ich. Wir werden unsere eigenen Namen erfinden, unsere eigenen Gesetze. Niemand sonst, überhaupt niemand. Kein Vater, keine Mutter. Wir drucken unsere eigene Zeitung, unsere Pässe, unsere Marken. Wir machen uns unsere eigenen Menschen.« Sie flüsterte jetzt, und ihre Augen leuchteten. »Du bist ein Spion«, sagte sie mit den Lippen an seinem Ohr. »Ein Geheimagent. Du hast eine Pistole.«

»Ein Messer macht weniger Lärm«, sagte er. Sie lachte sich darüber halbtot, bis sie die blauen Flecken auf seinen Schultern entdeckte. Sie berührte sie neugierig und respektvoll, wie wohl ein Kind etwas Totes berühren würde.

Sie verließ die Wohnung mit dem Einkaufskorb in der Hand, den Regenmantel hielt sie immer noch am Hals zusammen. Leiser zog sich an, rasierte sich - es gab nur kaltes Wasser -, und starrte sein zerfurchtes Gesicht in dem zersprungenen Spiegel über dem Becken an. Als sie zurückkam, war es beinahe Mittag, und sie sah besorgt aus.

»Die Stadt ist voll mit Soldaten. Und Militärlastwagen.

Was wollen die hier?«

»Vielleicht suchen sie nach jemandem.«

»Sie sitzen nur herum und trinken.«

»Was sind das für Soldaten?«

»Ich weiß nicht. Russen. Woher soll ich das wissen?«

Er ging zur Tür. »Bin in einer Stunde zurück.«

Sie sagte: »Du willst nur von mir weglaufen.« Sie hielt ihn am Arm, sah zu ihm auf, im Begriff, eine Szene zu machen.

»Ich komme zurück. Vielleicht erst später. Vielleicht heute abend. Aber wenn ich komme.«

»Ja?«

»Es wird gefährlich sein. Dann muß ich, ich muß hier etwas tun. Etwas sehr Gefährliches.« Sie küßte ihn. Es war ein leichter, einfältiger Kuß. »Ich mag die Gefahr.«

»Vier Stunden noch«, sagte Johnson. »Falls er noch lebt.«

»Natürlich lebt er«, sagte Avery ärgerlich. »Warum reden Sie solches Zeug?« Haldane mischte sich ein. »Seien Sie kein Esel, Avery. Es ist ein technischer Ausdruck. Tote oder lebende Agenten. Es hat nichts mit seinem physischen Zustand zu tun.« Leclerc trommelte mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte. »Er ist ganz in Ordnung«, sagte er. »Fred kann man nicht so leicht umbringen. Er ist ein alter Hase.« Offenbar hatte ihn das Tageslicht wieder munter gemacht. Er sah auf seine Uhr. »Was, zum Teufel, ist mit diesem Kurier passiert, frage ich mich.«

Leiser blinzelte zu den Soldaten hinüber, als komme er aus einer dunklen Höhle ans Tageslicht. Sie füllten die Cafes, starrten in die Schaufenster, glotzten den Mädchen nach. Auf dem Platz waren Lastwagen abgestellt. Ihre Reifen waren vom rötlichen Schlamm verschmiert und über ihren Motorhauben lag ein dünner Überzug aus Schnee. Er zählte neun Wagen. Einige hatten schwere Anhängerkupplungen an ihrer Rückfront. Andere trugen auf den zerbeulten Türen des Fahrerhauses Aufschriften in kyrillischen Buchstaben oder das aufgemalte Wappen irgendeiner Einheit und eine Nummer. Er prägte sich die Einzelheiten der Uniformen ein, die die Fahrer trugen, die Farbe ihrer Schulterstücke. Es wurde ihm klar, daß sie verschiedenen Einheiten angehörten. Auf dem Rückweg zur Hauptstraße trat er in ein Cafe und bestellte etwas zu trinken. An einem Tisch saß ein halbes Dutzend mißvergnügter Soldaten, die sich drei Flaschen Bier teilten. Leiser grinste zu ihnen hinüber, es war wie die Aufforderung einer müden Hure. Er hob seine Faust zum sowjetischen Gruß, und sie starrten zu ihm herüber, als sei er verrückt. Er ließ sein Glas stehen und ging zum Platz zurück. Um die Lastwagen hatte sich eine Gruppe von Kindern versammelt, und die Fahrer sagten ihnen immer wieder, sie sollten verschwinden.

Er machte eine Runde durch die Stadt und ging in ein Dutzend Cafes, aber niemand wollte mit ihm sprechen, weil er ein Fremder war. Überall saßen oder standen die Soldaten in Gruppen herum, gekränkt und verwirrt, als habe man sie ohne Grund hochgescheucht.

Er aß irgendwo eine Wurst und trank einen Steinhäger dazu, dann ging er zum Bahnhof, um zu sehen, ob dort irgend etwas los war. Derselbe Beamte war wieder dort und beobachtete ihn durch sein kleines Fensterchen - diesmal ohne Mißtrauen; Leiser spürte, aber es war ihm gleichgültig, daß der Mann die Polizei verständigt hatte.

Auf dem Weg zurück ins Stadtzentrum kam er an einem Kino vorbei. Ein paar Mädchen hatten sich vor den ausgehängten Bildern versammelt; er stellte sich zu ihnen und tat, als betrachte er die Fotos. Dann hörte er den Lärm. Es war ein metallisches, unregelmäßiges Dröhnen, das die Luft mit dem Heulen und Rasseln von Motoren, mit Stahl und Krieg erfüllte. Er zog sich in die Deckung des Kinoeinganges zurück, sah die Mädchen sich umdrehen und die Kartenverkäuferin in ihrem Verschlag aufstehen. Ein alter Mann bekreuzigte sich. Er hatte nur noch ein Auge und trug den Hut schief auf dem Kopf. Die Panzer rollten durch die Stadt; auf ihnen saßen Soldaten mit ihren Karabinern in den Händen. Die Geschützrohre waren zu lang und weiß von Schnee überzuckert. Er ließ sie vorbei und ging dann schnell über den Platz. Sie lächelte, als er hereinkam. Er war außer Atem. »Was machen sie?« fragte das Mädchen. Dann bemerkte sie seinen Gesichtsausdruck. »Du hast Angst«, flüsterte sie, aber er schüttelte den Kopf. »Du hast Angst«, wiederholte sie. »Ich habe den Jungen umgebracht«, sagte er. Er ging zum Waschbecken und studierte sein Gesicht mit der großen Sorgfalt eines Mannes, der verurteilt ist. Sie trat hinter ihn, legte die Arme um seinen Brustkasten und preßte sich gegen seinen Rücken. Er drehte sich um und griff wild nach ihr, hielt sie ungeschickt und drängte sie durch das Zimmer. Sie wehrte sich mit der Wut eines Kindes, mit irgendeinem Namen auf den Lippen und dem Haß gegen irgend jemand im Herzen, sie verfluchte und nahm ihn, die Welt brannte, und sie allein lebten. Sie weinten und lachten zusammen im Fallen, ungeschickt in der Liebe und plump im Triumph, in dem sie nicht einander, sondern jeder nur sich selbst erkannten, und für einen Augenblick die ungelebt gebliebenen Teile ihrer Leben nachholten. In diesem Augenblick dachten sie nicht an die große, verfluchte Dunkelheit. Johnson beugte sich aus dem Fenster und zog sanft an der Antenne, um sich zu vergewissern, ob sie noch fest war. Dann begann er wie ein Rennfahrer vor dem Start noch einmal seine Apparaturen zu überprüfen, indem er die Kabelverbindungen berührte und unnötig an den Knöpfen herumdrehte. Leclerc sah ihm voll Bewunderung zu.

»Johnson, das haben Sie das letzte Mal wirklich fein gemacht. Wirklich fein. Wir schulden Ihnen unsere dankbare Anerkennung.« Leclercs Gesicht glänzte, als habe er sich gerade erst rasiert. In dem blassen Licht sah er seltsam zerbrechlich aus. »Ich denke, ich werde mir noch eine Sendung anhören und dann nach London zurückfahren.« Er lachte. »Wir haben einen Haufen Arbeit, wissen Sie. Es ist nicht gerade die richtige Zeit für Ferien am Kontinent.« Johnson tat so, als habe er ihn nicht gehört. Er hob die Hand. »Dreißig Minuten«, sagte er. »Ich werde Sie bald um etwas Ruhe bitten müssen, meine Herren.« Er benahm sich wie ein Zauberer auf einem Kinderfest. »Fred ist immer verteufelt pünktlich«, bemerkte er laut.

Leclerc wandte sich an Avery. »Sie gehören zu den glücklichen Leuten, John, die in Friedenszeiten eine Aktion erleben konnten.« Er schien unbedingt mit jemandem sprechen zu müssen. »Ja. Ich bin auch sehr dankbar.«

»Das brauchen sie gar nicht zu sein. Sie haben hervorragende Arbeit geleistet, und das erkennen wir auch an. Von Dankbarkeit kann keine Rede sein. Sie haben etwas erreicht, das bei unserer Tätigkeit sehr selten ist. Ich frage mich, ob Sie wissen, was ich damit meine?«

Avery sagte, er wisse es nicht. »Sie haben einen Agenten dazu gebracht, daß er Sie gern hat. Normalerweise - Adrian wird das bestätigen - wird die Beziehung zwischen einem Agenten und seinen Führern von Mißtrauen beherrscht. Vor allem hat er etwas gegen sie, weil sie die Arbeit nicht selbst verrichten. Er verdächtigt sie irgendwelcher Hintergedanken, hält sie für unfähig und verlogen. Aber wir sind nicht das Rondell, John: so etwas ist nicht unsere Art.«

Avery nickte: »Nein, ganz richtig.«

»Sie haben noch etwas geleistet - Sie und Adrian. Es wäre mir sehr willkommen, wenn wir - im Falle einer ähnlichen Notwendigkeit- in Zukunft die gleiche Technik anwenden könnten, die gleichen Möglichkeiten, das gleiche fachmännische Geschick. Ich meine die Avery-Haldane-Methode. Was ich sagen will, ist -« Leclerc hob die Hand und strich sie mit einer ganz ungewöhnlichen Geste englischer Schüchternheit mit Daumen und Zeigefinger über den Nasenrücken-, »daß die von Ihnen gesammelten Erfahrungen zu unser aller Nutzen sind. Ich danke Ihnen.« Haldane ging zum Ofen und begann seine Hände zu wärmen, indem er sie leicht aneinander rieb, als wolle er Körner aus einer Ähre lösen. »Diese ungarische Angelegenheit«, fuhr Leclerc fort, wobei er die Stimme hob - teils aus Begeisterung, teils aber wohl auch, um die plötzlich entstehende Atmosphäre der Vertraulichkeit zu zerstören - »ist eine vollständige Reorganisation. Nichts weniger. Sie ziehen ihre Panzer an der Grenze zusammen, verstehen sie. Im Ministerium spricht man von Angriffsstrategie. Man ist sehr interessiert daran.« Avery sagte: »Mehr als an Mayfly?«

»Nein, nein«, protestierte Leclerc leichthin. »Es gehört alles zum selben Komplex. Dort denkt man in sehr großen Zusammenhängen, wissen Sie. Hier eine Bewegung, dort eine Bewegung - es muß alles zum Gesamtbild zusammengesetzt werden.«

»Natürlich«, sagte Avery zuvorkommend. »Wir selbst können das gar nicht überblicken, oder? Wir können das Gesamtbild nicht erkennen.« Er versuchte, Leclerc die Situation zu erleichtern. »Wir haben nicht den Überblick.«

»Sobald wir nach London zurückkommen«, schlug Leclerc vor, »müssen Sie mal bei mir zu Abend essen, John. Sie und Ihre Frau, kommen Sie doch beide. Ich wollte es schon seit langem vorschlagen. Wir werden in meinen Club gehen. Sie servieren im Damensalon immer ein recht anständiges Essen. Es würde Ihrer Frau gefallen.«

»Sie erwähnten es schon einmal. Ich habe Sarah gefragt. Wir würden sehr gerne kommen. Meine Schwiegermutter ist gerade bei uns und sie könnte auf das Kind aufpassen.«

»Wie gut. Vergessen Sie es nicht.«

»Wir freuen uns darauf.«

»Bin ich nicht eingeladen?« fragte Haldane kokett. »Aber selbstverständlich, Adrian. Dann sind wir vier. Ausgezeichnet.« Seine Stimme nahm einen anderen Ton an. »Übrigens haben sich die Besitzer des Hauses in Oxford beschwert. Sie behaupten, wir hätten es in schlechtem Zustand zurückgelassen.«

»Schlechtem Zustand?« echote Haldane ärgerlich. »Angeblich haben wir die elektrischen Leitungen überlastet. Irgendwas scheint fast ausgebrannt zu sein. Ich sagte Woodford, er solle sich damit befassen.«

»Wir sollten unser eigenes Haus haben«, sagte Avery. »Dann brauchten wir uns wegen so was keine Sorgen zu machen.«

»Ganz meiner Meinung. Ich habe schon mit dem Minister darüber gesprochen. Was wir brauchen, ist ein Ausbildungszentrum. Er war ganz begeistert. Er ist jetzt ganz scharf auf so etwas. Sie haben dort schon eine Abkürzung dafür. Sie sprechen von SAEs. Strategische Aufklärungs-Einsätze. Er meint, wir sollen ein Haus suchen und es zunächst für sechs Monate mieten. Er hat vorgeschlagen, daß er wegen des Pachtvertrags mit dem Schatzamt sprechen wird.«

»Das ist großartig«, sagte Avery. »Es könnte sehr nützlich sein. Wir dürfen auf keinen Fall das in uns gesetzte Vertrauen enttäuschen.«

»Natürlich.«

Ein plötzlicher Luftzug und das leise Geräusch, wie jemand vorsichtig die Treppe heraufstieg. In der Tür zum Dachboden erschien eine Gestalt. Sie trug einen teuren Mantel aus braunem Tweed mit etwas zu langen Ärmeln. Es war Smiley.

22. Kapitel

Smiley sah sich im Raum um, betrachtete Johnson, der jetzt die Kopfhörer über den Ohren hatte und mit den Schaltern und Knöpfen seines Gerätes beschäftigt war, sah auf Avery, der über Haldanes Schulter hinweg auf die Funkzeichentabelle spähte, auf den steif wie ein Soldat dastehenden Leclerc, der ihn, als einziger bisher, bemerkt hatte, und dessen Gesicht - obwohl es ihm zugewandt war - keinen Ausdruck zeigte.

»Was wollen Sie hier?« fragte Leclerc schließlich.

»Was wünschen Sie von mir?«

»Tut mir leid, aber man hat mich geschickt.«

»Das hat man uns alle«, sagte Haldane, ohne sich zu bewegen.

Ein warnender Unterton schwang in Leclercs Stimme mit, als er sagte: »Das ist meine Operation, Smiley. Wir haben hier keinen Platz für Ihre Leute.« Smileys Miene verriet nichts als Mitgefühl, und in seiner Stimme lag nichts als die erschreckende Sanftmut, mit der man zu Irren spricht.

»Ich bin nicht von Control geschickt worden«, sagte er. »Es war das Ministerium. Sie haben mich angefordert, verstehen Sie, und Control gab mich frei. Das Ministerium stellte das Flugzeug.«

»Warum?« erkundigte sich Haldane. Er schien fast belustigt.

Einer nach dem anderen bewegte sich, als erwachten sie aus dem gleichen Traum. Johnson legte vorsichtig seine Kopfhörer auf den Tisch. »Nun?« fragte Leclerc. »Warum hat man Sie geschickt?«

»Man rief mich in der vergangenen Nacht ins Ministerium.« Es gelang ihm anzudeuten, daß er ebenso verwirrt war wie sie. »Ich müßte Ihre Operation wirklich bewundern - die Art, in der Sie und Haldane die ganze Sache aus dem Nichts aufgebaut haben. Man hat mir die Akten gezeigt. Sehr sorgfältig geführt: das Archiv-Stück, die Arbeitskopie, die abgestempelten Protokolle - alles wie im Krieg. Ich gratuliere Ihnen aufrichtig.«

»Man hat Ihnen die Akten gezeigt? Unsere Akten?« wiederholte Leclerc. »Das ist ein Bruch der Sicherheitsbestimmungen. Die Vorgänge in den einzelnen Abteilungen sind geheim. Sie haben sich eines Vergehens schuldig gemacht, Smiley. Diese Leute müssen verrückt sein! Adrian, hast du gehört, was Smiley mir mitgeteilt hat?«

Smiley fragte: »Ist für heute ein Funkkontakt vorgesehen, Johnson?«

»Jawohl, Sir. Um einundzwanzig nullnull.«

»Ich war überrascht, Adrian, daß Sie die Hinweise für überzeugend genug hielten, um eine so große Operation zu rechtfertigen.«

»Haldane war nicht dafür verantwortlich«, sagte Leclerc trocken. »Es war eine Entscheidung, die gemeinsam getroffen wurde: von uns einerseits, vom Ministerium andererseits.« Seine Stimme wechselte ihren Klang. »Wenn die Sendung beendet ist, werde ich von Ihnen Aufklärung darüber verlangen - und ich habe das Recht dazu, Smiley -, wie Sie dazu gekommen sind, Einsicht in unsere Akten zu nehmen.« Es war seine Stimme für Vorstandssitzungen; sie war kräftig und volltönend, und zum erstenmal klang sie würdig.

Smiley trat in die Mitte des Raumes. »Es ist etwas passiert, von dem Sie nichts wissen können: Leiser hat an der Grenze einen Mann getötet. Er brachte ihn während des Grenzübertritts mit seinem Messer um, drei Kilometer von hier entfernt, direkt an der Übergangsstelle.«

Haldane sagte: »Das ist Unsinn. Wieso Leiser? Genausogut kann es ein Flüchtling gewesen sein, der nach dem Westen wollte. Irgendwer kann es gewesen sein.«

»Sie fanden Fußspuren, die nach Osten führten, Blutspuren in der Bootshütte am See. Die Zeitungen in Ostdeutschland sind voll davon. Seit gestern mittag strahlen sie es über den Rundfunk aus...« Leclerc schrie: »Ich glaube einfach nicht, daß er es getan hat. Es ist wieder irgendein Trick von Control.«

»Nein«, erwiderte Smiley freundlich. »Sie müssen es mir schon glauben. Es ist wahr.«

»Taylor ist umgebracht worden«, sagte Leclerc. »Haben Sie das schon vergessen?«

»Nein, natürlich nicht. Aber wir werden das nie genau wissen, oder? Wie er starb, meine ich. ob er wirklich ermordet wurde.« Und hastig fuhr er fort: »Ihr Ministerium hat das Außenamt gestern nachmittag informiert. Die Deutschen müssen ihn ganz einfach erwischen, verstehen Sie. Das müssen wir unterstellen. Er funkt langsam, sehr langsam sogar. Jeder Polizist, jeder Soldat ist hinter ihm her. Sie wollen ihn lebend. Wir können überzeugt sein, daß sie einen großen Schauprozeß aufziehen werden, mit einem öffentlichen Geständnis und einer Ausstellung seiner Ausrüstung. Das kann für uns sehr unangenehm werden. Man braucht kein Politiker zu sein, um die Gefühle eines Ministers zu verstehen. Es stellt sich also die Frage, was wir jetzt tun sollen.«

Leclerc sagte: »Achten Sie auf die Uhr, Johnson.« Johnson nahm die Kopfhörer und stülpte sie sich wieder über die Ohren, aber ohne innere Überzeugung.

Offenbar wartete Smiley darauf, daß ein anderer etwas sagen würde, da aber alle schwiegen, wiederholte er schwerfällig: »Es stellt sich also die Frage, was wir unternehmen sollen. Wie ich schon sagte, sind wir keine Politiker, aber wir können die Gefahren sehen, die daraus entstehen werden: in einem Bauernhaus, drei Kilometer von der Stelle, wo die Leiche gefunden wurde, eine Gesellschaft von Engländern, die sich als Wissenschaftler ausgeben, Lebensmittel von der Armeeversorgungsstelle und das ganze Haus voll Funkgeräten haben. Verstehen Sie, was ich meine?« Und weiter: »Sie senden Ihre Signale auf der gleichen Frequenz wie Leiser, immer die gleiche Frequenz - das könnte wirklich einen Riesenskandal geben. Man kann sich vorstellen, daß sogar die Westdeutschen schrecklich verärgert wären.«

Als erster sprach Haldane wieder: »Was wollen Sie damit zum Ausdruck bringen?«

»In Hamburg wartet eine Militärmaschine. Sie werden in zwei Stunden abfliegen - Sie alle. Ein Lastwagen wird die Geräte abholen. Sie dürfen nichts hier zurücklassen, nicht mal eine Nadel. Das ist mein Auftrag.« Leclerc fragte: »Und was ist mit dem Ziel? Hat man vergessen, wozu wir hier sind? Man verlangt viel von uns, wissen Sie, Smiley, sehr viel!«

»Ja, das Ziel«, gab Smiley zu. »Wir werden das in London besprechen. Vielleicht könnten wir eine gemeinsame Operation einleiten.«

»Es ist ein militärisches Ziel. Ich werde darauf bestehen, daß mein Ministerium vertreten ist. Kein monolithischer Apparat. Das ist ein für alle Male festgesetzt worden, wie Sie wissen.«

»Natürlich. Und es wird Ihre Angelegenheit sein.«

»Ich schlage vor, daß wir für das Ergebnis gemeinsam die Verantwortung übernehmen. Mein Ministerium könnte unter diesen Umständen seine Selbständigkeit in den Fragen der Ausführung behalten. Ich kann mir vorstellen, daß diese Lösung die Einwände entkräftet, die man offensichtlich hat. Was ist mit Ihren Leuten?«

»Ja, ich glaube, daß Control damit einverstanden wäre.«

Leclerc bemerkte beiläufig, und alle hörten aufmerksam zu: »Und die Sendung? Wer kümmert sich darum? Wir haben doch einen Agenten im Einsatz.« Es schien ein bedeutungsloser Einwand. »Er wird sich um sich selbst kümmern müssen.«

»Die Kriegsregeln«, sagte Leclerc stolz. »Wir spielen nach den Regeln des Krieges. Er wußte das. Seine Ausbildung war gut.« Er schien beruhigt. Das Thema war für ihn erledigt.

Zum erstenmal ergriff Avery das Wort: »Sie können ihn doch nicht allein da draußen sitzenlassen!« Seine Stimme war tonlos.

Leclerc mischte sich ein: »Sie kennen Avery, meinen Assistenten?« Diesmal kam ihm niemand zu Hilfe. Smiley achtete nicht auf ihn. Er sagte: »Der Mann wurde wahrscheinlich schon geschnappt. Das Ganze ist nur noch eine Frage von Stunden.«

»Sie lassen ihn dort verrecken!« Avery faßte Mut. »Wir streiten ab, daß er zu uns gehört. Das ist nie sehr hübsch. Aber er ist schon so gut wie gefangen, sehen Sie das nicht ein?«

»Das können Sie doch nicht tun!« rief Avery. »Sie können ihn doch nicht aus schmutzigen diplomatischen Gründen einfach sitzenlassen!« Diesmal fuhr Haldane Avery wütend an. »Sie sind der letzte, der sich beschweren darf. Sie waren es doch, der immer vom Glauben an unsere Arbeit sprach, oder? Sie wollten ein elftes Gebot, das Ihrer eigenartigen Seele genügt!« Er deutete auf Smiley und Leclerc. »Na bitte, hier ist es: hier ist das Gesetz, das Sie gesucht haben. Beglückwünschen Sie sich - Sie haben es gefunden. Wir schickten ihn hinüber, weil es notwendig war, wir lassen ihn im Stich, weil wir müssen. Das ist Ihre bewunderte Disziplin!« Er wandte sich zu Smiley: »Und Sie! Sie sind gemein. Zuerst stoßen Sie uns das Messer in den Rücken und dann beten Sie für die Sterbenden. Scheren Sie sich weg! Wir sind Techniker und keine Poeten. Scheren Sie sich weg!«

Smiley sagte: »Ja, Sie sind ein sehr guter Techniker, Adrian. Sie fühlen keinen Schmerz mehr. Sie haben die Technik zu Ihrem Lebensstil gemacht. Wie eine Hure. Technik anstelle von Liebe.« Er zögerte. »Kleine Fähnchen... der alte Krieg läutet den neuen ein. All das war da, nicht wahr? Und dazu der Mann... Ihr müßt euch berauscht haben an ihm. Beruhigen Sie sich, Adrian, Sie waren nicht auf der Höhe.« Er straffte seinen Rücken und erklärte: »Ein in England naturalisierter vorbestrafter Pole flieht über die Grenze nach Ostdeutschland. Einen Auslieferungsvertrag gibt es nicht. Die Deutschen werden sagen, er sei ein Spion, und als Beweis seine Ausrüstung vorlegen. Wir werden erklären, daß man ihm die Ausrüstung untergeschoben hat, und darauf hinweisen, daß sie fünfundzwanzig Jahre alt ist. Ich nehme an, daß er sich eine Geschichte zurechtgelegt hat. Er will an einem Kurs in Coventry teilgenommen haben. Das ist leicht widerlegt: es gibt keine derartigen Kurse. Die Schlußfolgerung ist, daß er aus England fliehen wollte. Wir werden zu verstehen geben, daß er in Geldschwierigkeiten war. Er hielt ein junges Mädchen aus, wie Sie wissen. Sie arbeitete in einer Bank. Das paßt alles sehr gut zusammen. Mit dem Vorstrafenregister, meine ich, da wir es ohnehin erst erfinden müssen.« Er nickte vor sich hin. »Wie ich schon sagte, ist es kein schöner Vorgang. Bis dahin werden wir alle schon wieder in London sein.«

»Und er wird senden«, sagte Avery, »und niemand wird ihm zuhören!«

»Im Gegenteil«, erwiderte Smiley bitter. »Viele werden ihm zuhören.«

Haldane fragte: »Auch Control, ohne Zweifel. Habe ich nicht recht?«

»Schluß!« schrie Avery plötzlich. »Hört um Gottes willen auf! Wenn irgend etwas wichtig, irgend etwas ehrlich ist auf dieser Welt, dann müssen wir ihn jetzt anhören! Und wenn es nur aus. aus.«

»Nun?« fragte Haldane spöttisch. »Liebe wäre. Jawohl, Liebe. Nicht Ihre, Haldane, sondern meine! Smiley hat recht! Sie haben mich angestiftet, es für Sie zu tun. Ich sollte ihn lieben! Sie konnten so etwas schon nicht mehr! Ich habe ihn zu Ihnen gebracht, habe ihn in Ihrem Haus festgehalten, brachte ihn dazu, daß er zur Musik Ihres verdammten Krieges tanzte! Ich habe dazu aufgespielt, aber jetzt habe ich keinen Atem mehr. Er ist das letzte Opfer des Rattenfängers, Haldane, das allerletzte, die letzte Liebe - die Musik ist aus!«

Haldane sah Smiley an. »Aber bringen Sie Control meine Glückwünsche«, sagte er. »Danken Sie ihm in meinem Namen, bitte. Dank für die Hilfe, die technische Hilfe, Smiley, für die Ermunterung, Dank für den Strick! Auch für die freundlichen Worte, und daß er Sie als Überbringer der Blumen hergeliehen hat. So gut gemacht, das alles!«

Aber Leclerc schien von der äußerlich netten Form beeindruckt. »Sei nicht so hart zu Smiley, Adrian. Er tut nur seine Pflicht. Wir müssen alle nach London zurück. Außerdem ist da der Fielden-Bericht. Ich würde mich freuen, wenn Sie ihn sich mal anschauen wollten, Smiley. Truppenverschiebungen in Ungarn: etwas ganz Neues.«

»Und ich würde mich freuen, ihn sehen zu dürfen«, antwortete Smiley höflich.

»Er hat recht, wissen Sie, Avery«, wiederholte Leclerc. Seine Stimme war sehr eindringlich. »Sie sind Soldat. So ist nun mal der Krieg, halten Sie sich an die Regeln! Bei unserem Spiel gelten die Regeln des Krieges. Bei Ihnen, Smiley, muß ich mich wohl entschuldigen, auch bei Control, fürchte ich. Ich hatte geglaubt, die alte Eifersucht sei immer noch wach. Ich habe mich geirrt.« Er senkte den Kopf. »Sie müssen einmal mit mir essen, in London. Mein Club ist nicht ganz Ihr Niveau, ich weiß, aber es ist ruhig dort. Sehr gut geführt. Wirklich gut. Haldane muß mitkommen. Adrian, ich lade dich ein!«

Avery hatte sein Gesicht mit den Händen bedeckt. »Dann gibt's da noch etwas, das ich mit dir besprechen möchte, Adrian - Sie werden nichts dagegen haben, Smiley, Sie gehören ja praktisch zur Familie -, es ist das Problem des Archivs. Unser jetziges System der Archiv-Akten ist wirklich veraltet. Bruce hat mich deshalb schon angesprochen - gerade als ich wegfuhr. Die arme Miss Courtney kann kaum noch zurechtkommen. Ich fürchte, wir müssen in Zukunft zusätzliche Kopien machen. Originalblatt für den Sachbearbeiter, Durchschläge für die Informationen. Es gibt jetzt eine neue Maschine für billige Fotokopien, das Stück kommt nur auf dreieinhalb Pence, scheint mir nicht teuer in diesen Zeiten. Ich muß mit den Leuten mal darüber reden. im Ministerium. die erkennen sofort, was brauchbar ist. Vielleicht.« Er unterbrach sich. »Es wäre schön, Johnson, wenn Sie weniger Krach machen würden. Wir sind noch immer im Einsatz, wissen Sie.« Er sprach wie jemand, der auf sein Auftreten sehr bedacht und sehr traditionsbewußt ist.

Johnson war zum Fenster gegangen. Er stützte sich auf das Fensterbrett, lehnte sich weit hinaus und begann mit gewohnter Präzision die Antenne einzuholen. Er hielt eine Spule in der linken Hand und drehte sie gemächlich hin und her wie ein spinnendes altes Weib ihre Spindel, während er den Draht einzog. Avery schluchzte wie ein kleines Kind. Niemand beachtete ihn.

23. Kapitel

Der grüne Lieferwagen rollte langsam die Straße entlang. Er überquerte den Bahnhofsplatz mit dem leeren Brunnen. Auf dem Dach des Wagens drehte sich die Ringantenne hierhin und dorthin, wie eine Hand, die die Windrichtung prüft. Dahinter, in engem Abstand, kamen zwei Lkw. Der Schnee blieb jetzt liegen. Sie fuhren mit Standlicht, zwanzig Meter hintereinander, jeder in den frischen Radspuren des vorausfahrenden Wagens.

Der Hauptmann saß im Laderaum des Lieferwagens. Er hatte ein Mikrofon, durch das er mit dem Fahrer sprechen konnte, und neben ihm saß, in seine Erinnerungen versunken, der Unteroffizier. Der Feldwebel hockte vor dem Empfänger, seine Hand drehte unermüdlich an dem Skalenknopf, während er die zitternde Linie auf dem kleinen Bildschirm beobachtete. »Jetzt hat er aufgehört«, sagte er plötzlich. »Wieviele Gruppen haben Sie bis jetzt aufgenommen?« fragte der Unteroffizier. »Ein Dutzend. Zuerst immer wieder das Rufzeichen, dann ein Teil einer Durchgabe. Ich glaube nicht, daß er eine Antwort bekommt.«

»Fünf Buchstaben oder vier?«

»Immer noch vier.«

»Hat er das Schlußzeichen gesendet?«

»Nein.«

»Welche Frequenz hat er benützt?«

»Drei sechs fünf null.«

»Suchen Sie im Nebenbereich weiter. Zweihundert nach jeder Seite.«

»Da ist aber nichts.«

»Suchen Sie!« sagte der Unteroffizier scharf. »Tasten Sie das ganze Band ab. Er hat den Kristall gewechselt. Er wird ein paar Minuten zum Abstimmen brauchen.«

Der Funker begann, den großen Skalenknopf langsam weiterzudrehen, während er das Öffnen und Schließen des in der Mitte des Gerätes sitzenden grünen Auges beobachtete und einen Sender nach dem anderen abtastete. »Da ist er! Drei acht sieben null. Ein anderes Rufzeichen, aber dieselbe Handschrift. Schneller als gestern, besser.« Neben seinem Ellbogen drehten sich eintönig die Spulen des Tonbandgerätes. »Er arbeitet mit verschiedenen Kristallen«, sagte der Unteroffizier. »Wie sie es im Krieg gemacht haben. Es ist der gleiche Trick!« Er war verwirrt: ein älterer Mann, der plötzlich seiner eigenen Vergangenheit wiederbegegnet. Der Feldwebel hob langsam den Kopf. »Hier sind wir«, sagte er. »Null. Wir sind genau auf ihm drauf.« Die beiden Männer stiegen leise aus dem Wagen. »Warten Sie hier«, sagte der Unteroffizier zu dem Feldwebel. »Hören Sie ihm weiter zu. Sobald er unterbricht - und wenn's nur einen Augenblick ist - dann lassen Sie den Fahrer die Scheinwerfer ausmachen. Haben Sie verstanden?«

»Ich werde es ihm sagen.« Der Feldwebel sah verängstigt aus.

»Wenn er ganz aufhört, suchen Sie ihn weiter und lassen Sie es mich wissen.«

»Passen Sie auf«, warnte der Hauptmann, während er hinauskletterte. Der Unteroffizier wartete schon ungeduldig. Der Hauptmann sah hinter ihm ein großes Gebäude auf einem öden Platz.

Entfernt standen kleine Häuser, halb verborgen vom fallenden Schnee, Reihe an Reihe. Kein Laut war zu hören.

»Wie heißt das hier?« fragte der Hauptmann.

»Es ist ein Hochhaus mit Arbeiterwohnungen. Man hat ihm noch keinen Namen gegeben.«

»Nein, dahinter.«

»Weiß nicht. - Kommen Sie«, sagte der Unteroffizier. Fast in jedem Fenster schimmerte fahles Licht, sechs Stockwerke hoch. Dick mit Laub bedeckte Steinstufen führten in den Keller hinunter. Der Unteroffizier ging voran, wobei er mit seiner Taschenlampe die schäbige Mauer vor ihnen ableuchtete. Der Hauptmann stürzte beinahe. Der erste Kellerraum war groß und stickig, mit Wänden aus rohen Ziegeln, nur teilweise verputzt. Am anderen Ende waren zwei Stahltüren. Von der Decke fiel das Licht einer Birne, die von einem Drahtkäfig geschützt war. Die Taschenlampe des Unteroffiziers brannte immer noch, er leuchtete damit sinnlos in alle Ecken.

»Wonach suchen Sie?« fragte der Hauptmann. Die Stahltüren waren abgesperrt. »Holen Sie den Hausmeister. Schnell!« befahl der Unteroffizier.

Der Hauptmann rannte die Treppe hinauf und kam mit einem alten unrasierten Mann zurück, der leise vor sich hin brummte. Er hatte an einer Kette einen Bund langer Schlüssel bei sich. Einige waren rostig. »Die Sicherungen«, sagte der Unteroffizier. »Für die Wohnungen. Wo sind sie?«

Der alte Mann suchte an seinem Schlüsselbund. Er steckte einen Schlüssel in das Schloß der Stahltür, aber er paßte nicht. Er versuchte es mit weiteren. »Schnell, Sie Idiot!« schrie der Hauptmann.

»Bringen Sie ihn nicht durcheinander«, sagte der Unteroffizier.

Die Tür ging auf. Sie drängten sich in den dahinter liegenden Korridor. Die Kegel ihrer Lampen tanzten über den weißen Verputz. Der Hausmeister hielt grinsend einen Schlüssel in die Höhe. »Immer ist es der letzte«, sagte er. Der Unteroffizier hatte gefunden, was er suchte. Hinter der Tür verborgen, hing ein Kasten mit Glastüren an der Wand. Der Hauptmann legte seine Hand auf den Hauptschalter und hatte ihn schon halb heruntergezogen, als der andere ihn unsanft wegstieß.

»Nein. Gehen Sie zur Treppe hinauf. Sagen Sie mir, wann die Scheinwerfer ausgehen.«

»Wer befiehlt hier?« beschwerte sich der Hauptmann. »Tun Sie, was ich sage.« Er hatte den Kasten geöffnet und drehte vorsichtig an der ersten Sicherung. Seine Augen blinzelten durch die goldumrandete Brille - ein gütiger älterer Mann.

Mit emsigen Chirurgenfingern schraubte der Unteroffizier die Sicherung heraus, vorsichtig, als erwarte er einen elektrischen Schlag. Dann schraubte er sie sofort wieder fest, wobei sich sein Blick der Gestalt am oberen Ende der Kellertreppe zuwandte. Er schraubte an der zweiten Sicherung. Noch immer sagte der Hauptmann nichts. Draußen beobachteten die bewegungslosen Soldaten die Fenster des Häuserblocks, in denen Stockwerk nach Stockwerk die Lichter erloschen und gleich wieder aufflammten. Der Unteroffizier versuchte eine dritte und vierte Sicherung. Diesmal hörte er einen aufgeregten Ruf von oben: »Die Scheinwerfer! Jetzt sind sie ausgegangen!«

»Ruhig! Gehen Sie und fragen Sie den Fahrer, in welchem Stock. Aber bitte leise!«

»Bei diesem Wind kann uns niemand hören«, sagte der Hauptmann gereizt. Einen Augenblick später kam er zurück: »Der Fahrer sagt, im dritten. Als im dritten das Licht ausging, hörte auch das Funken auf. Es hat jetzt wieder angefangen.«

»Lassen Sie das Gebäude umstellen«, sagte der Unteroffizier. »Und nehmen Sie fünf Mann, die mit uns hinaufgehen. Er sitzt im dritten Stock.« Leise wie Tiere kletterten die Vopos von den Lastwagen herunter, die Karabiner locker in den Händen. Sie gingen in unregelmäßiger Linie gegen das Gebäude vor. Ihre Stiefel durchpflügten den dünnen Schnee und verwandelten ihn in Nichts. Einige gingen bis zur Hausmauer, andere blieben entfernter stehen und starrten zu den Fenstern hinauf. Einige hatten Stahlhelme auf, und ihre eckigen Silhouetten erinnerten an den Krieg. Von da und dort kam ein leises Klicken, als die erste Patrone weich in den Lauf geschoben wurde. Das Geräusch steigerte sich zu einem schwachen Prasseln und erstarb.

Leiser hakte die Antenne aus und spulte sie auf, schraubte die Morsetaste in den Deckel, legte die Kopfhörer in die Schachtel zurück und faltete das Seidentuch in den Griff des Rasierapparates. »Zwanzig Jahre«, protestierte er, indem er den Rasierapparat hochhielt. »Und noch immer haben sie keinen besseren Platz dafür gefunden!«

»Warum machst du das?« Sie saß zufrieden auf dem Bett, im Nachthemd und darüber den Regenmantel, als fühle sie sich damit weniger allein. »Mit wem sprichst du da?« fragte sie noch einmal. »Mit niemandem. Niemand hat es gehört.«

»Warum machst du es dann?« Er mußte etwas sagen, also sagte er: »Für den Frieden.«

Er zog seine Jacke an, ging zum Fenster und spähte hinaus. Auf den Dächern lag Schnee. Der Wind pfiff bösartig über sie hinweg. Er sah in den Hof hinunter, wo die Silhouetten warteten.

»Wessen Frieden?« fragte sie.

»Das Licht ging einmal aus, während ich am Gerät war, nicht?«

»Tatsächlich?«

»Nur ganz kurz, eine Sekunde oder zwei, wie manchmal bei einer Störung im Werk?«

»Ja.«

»Mach's jetzt wieder aus.« Er war sehr ruhig. »Mach das Licht aus.«

»Warum?«

»Ich schau gerne auf den Schnee hinaus.« Sie löschte das Licht, und er zog die verschlissenen Vorhänge zur Seite. Der Schnee draußen warf einen blassen Schimmer zum Himmel zurück. Im Zimmer war es fast ganz finster.

»Du hast gesagt, jetzt würden wir uns lieben«, beschwerte sie sich. »Paß auf: wie heißt du?« Er hörte das Rascheln des Regenmantels. »Also wie?« Seine Stimme war rauh. »Anna.«

»Hör zu, Anna.« Er ging zum Bett. »Ich möchte dich heiraten«, sagte er. »Als ich dich traf, in diesem Lokal, als ich dich dort sitzen und den Platten zuhören sah, da habe ich mich in dich verliebt, verstehst du? Ich bin ein Monteur aus Magdeburg, das habe ich dir dort gesagt. Hörst du mir zu?«

Er griff ihre Arme und schüttelte sie. Seine Stimme klang drängend.

»Nimm mich von hier fort«, sagte sie. »Das ist richtig: ich habe dir dort gesagt, ich würde dich lieben und dich mitnehmen, überallhin in die Länder, von denen du immer geträumt hast, verstehst du?« Er deutete auf die Plakate an den Wänden. »Auf Inseln, in sonnige Gegenden.«

»Warum?« flüsterte sie.

»Ich habe dich hierher begleitet. Du dachtest, ich käme mit, um mit dir ins Bett zu gehen, aber als ich hier war, zog ich mein Messer heraus und bedrohte dich. Ich sagte, daß ich dich beim geringsten Laut umbringen würde, wie diesen - ich erzählte dir, daß ich den Jungen umgebracht hätte und daß ich auch dich töten würde.«

»Warum?«

»Ich mußte mein Funkgerät benützen. Ich brauchte einen Unterschlupf, klar? Eine Möglichkeit, das Gerät aufzustellen. Ich wußte ja nicht, wohin ich gehen sollte. Also habe ich dich aufgelesen und dich benützt. Hör gut zu: wenn sie dich fragen, dann mußt du es genau so erzählen.«

Sie lachte. Sie hatte Angst. Sie legte sich zögernd auf ihrem Bett zurück, eine Aufforderung an ihn, sie zu nehmen, als wäre es dies, was er wollte. »Wenn man dich fragt, dann erinnere dich, was ich dir gesagt habe.«

»Mach mich glücklich. Ich liebe dich.« Sie streckte ihre Arme aus und zog seinen Kopf an sich heran. Ihre Lippen waren kalt und klamm. Sie waren zu schmal im Verhältnis zu ihren kräftigen Zähnen. Er wich zurück, aber sie hielt ihn weiter fest. Er lauschte angespannt nach einem anderen Geräusch als dem Heulen des Windes, aber er hörte nichts. »Unterhalten wir uns ein bißchen«, sagte er. »Bist du einsam, Anna? Wen hast du?«

»Wie meinst du das?«

»Eltern, Freunde, irgend jemand.« Sie schüttelte in der Dunkelheit den Kopf. »Nur dich.«

»Hör mal, wir wollen deinen Mantel zuknöpfen. Ich unterhalte mich gerne zuerst. Ich werde dir von London erzählen. Ich wette, daß du gerne etwas von London hörst. Einmal, als ich spazierenging - es regnete -, da traf ich einen Mann am Fluß, der im Regen Bilder aufs Pflaster malte. Komisch, so etwas! Im Regen mit Kreide malen, und der Regen wäscht es gleichzeitig wieder weg.«

»Komm jetzt. Komm.«

»Weißt du, was er gezeichnet hat? Bloß Hunde, kleine Häuser und solches Zeug. Und die Leute - hör dir das an, Anna - standen im Regen und schauten ihm zu.«

»Ich will dich. Halte mich! Ich hab' Angst.«

»Hör gut zu! Weißt du, weshalb ich spazierenging? Man wollte von mir, daß ich mit einem Mädchen ins Bett gehe. Man hatte mich dazu nach London geschickt, und ich ging statt dessen im Regen spazieren.«

Er konnte erkennen, wie sie ihn beobachtete und nach irgendeinem Instinkt beurteilte, der ihm unverständlich war.

»Bist du auch allein?«

»Ja.«

»Warum bist du gekommen?«

»Die Engländer sind ein verrücktes Volk! Dieser alte Kerl am Fluß: sie denken, die Themse sei der größte Fluß der Welt, hast du das gewußt? Dabei ist sie gar nichts! Nur gerade so ein kleiner brauner Fluß, an manchen Stellen kann man fast hinüberspringen!«

»Was war das für ein Geräusch?« sagte sie plötzlich. »Das kenne ich! Es war ein Revolver. Das Schloß von einem Revolver!«

Er hielt sie fest, um ihr Zittern zu unterdrücken. »Es war nur eine Tür«, sagte er. »Die Klinke einer Tür. Dieses Haus ist ja aus Papier. Wie hast du überhaupt etwas hören können, bei diesem Wind?« Auf dem Korridor waren Schritte. In panischer Angst schlug sie auf ihn ein, ihr Regenmantel schwang um ihren Körper. Als sie ins Zimmer traten, stand er über ihr, mit dem Messer an ihrer Kehle, den Daumen oben und die Klinge parallel zum Boden. Er hielt seinen Rücken ganz steif, und sein mageres Gesicht war ihr zugewandt, ausdruckslos und gestrafft von einer nur ihm noch faßbaren inneren Disziplin: ein Mann, noch einmal auf sein Auftreten bedacht und sich der Tradition bewußt.

Das Bauernhaus stand dunkel und leer mit blinden Fenstern unter den wehenden Zweigen und den am Nachthimmel ziehenden Wolken. Sie hatten vergessen, einen Fensterladen zu schließen, und er schlug je nach der Stärke des Sturmes langsam und unregelmäßig auf und zu, auf und zu. Schnee wurde wie Asche zusammengeweht und zerstreut. Sie waren gegangen und hatten nichts zurückgelassen als Reifenspuren in dem gefrierenden Schlamm, ein Knäuel Draht und das schlaflose Klopfen des Nordwindes.


** ENDE **

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