»Manche sind technisch begabt, verstehen Sie. Leute mit Funkerfahrung.«
Smiley beobachtete Leclerc ungläubig. »Erlauben Sie... wird er, werden sie in diesem Monat außerdem auch noch andere Dinge lernen müssen?« forschte er. »Für manche ist es nur ein Auffrischungskurs.«
»Aha.«
»Was meinen Sie?«
»Nichts, nichts«, sagte Smiley unbestimmt und setzte dann hinzu: »Ich glaube fast, daß unsere Leute von der Technik nicht sehr von der Idee erfreut sein werden, derartige Geräte abzutreten. Es sei denn.«
»Es sei denn, es wäre ihr eigenes Trainingsprogamm?«
»Ja.« Smiley errötete. »Ja, das wollte ich sagen. Sie sind da komisch, wissen Sie? Eifersüchtig.« Leclerc verfiel in Schweigen, während er mit seinem Weinglas leicht auf die polierte Tischplatte klopfte. Plötzlich lächelte er, als sei es ihm gelungen, eine Depression zu überwinden. »Na gut. Werden wir eben nur ein konventionelles Gerät verwenden. Sind die Peilmethoden seit dem Krieg ebenfalls verfeinert worden? Das Abhören und Ausfindigmachen von Schwarzsendern?«
»O ja. Ja, natürlich!«
»Wir werden das berücksichtigen müssen. Wie lange kann man auf der Welle bleiben, ohne daß sie den Standort finden?«
»Zwei oder drei Minuten, vielleicht. Das hängt davon ab. Oft ist es eine Frage des Glücks, wie schnell sie ihn hören. Man kann ihn nur festnageln, solange er sendet. Es hängt auch viel von der Frequenz ab. So sagt man mir jedenfalls.«
»Im Krieg«, sagte Leclerc, sich erinnernd, »gaben wir den Agenten mehrere Kristalle mit. Jeder schwingt in einer ganz bestimmten Frequenz. In regelmäßigen Abständen wechselte man den Kristall. Gewöhnlich bot diese Methode genügend Sicherheit. Wir könnten es wieder so machen.«
»Ja. Ja, ich kann mich daran erinnern. Es war nur immer ein Jammer mit der Neueinstellung des Senders. Womöglich mußte die Spule gewechselt werden, entsprechend dann auch die Antenne.«
»Nehmen wir einmal an, der Mann sei mit dem konventionellen Gerät schon vertraut. Sie sagen, die Gefahr, abgefangen zu werden, sei jetzt größer als während des Krieges? Sie sagen, zwei oder drei Minuten Sendezeit kann man riskieren?«
»Oder weniger«, sagte Smiley, der ihn beobachtete. »Es hängt von so vielen Dingen ab. Glück, Empfangsbedingungen, Dichte des Funkverkehrs, Bevölkerungsdichte.«
»Angenommen, er wechselte jedesmal nach zweieinhalb Minuten Sendezeit die Frequenz. Das würde doch sicher genügen?«
»Unter Umständen kann das sehr lang sein.« Smileys trauriges, ungesund aussehendes Gesicht hatte sich besorgt gerunzelt. »Sie sind ganz sicher, daß es sich wirklich nur um eine Übung handelt?«
»Soweit ich mich erinnere«, sagte Leclerc, beharrlich seine Gedanken ausspinnend, »sind diese Kristalle nicht größer als eine kleine Streichholzschachtel. Wir könnten ihnen mehrere mitgeben. Es sollen ja nur ein paar Sendungen gemacht werden, vielleicht nur drei oder vier. Würden Sie meinen Vorschlag für durchführbar halten?«
»Das ist kaum mein Fach.«
»Was soll ich sonst tun? Ich habe Control gefragt, und er sagte, ich solle mit Ihnen sprechen. Er sagte, Sie würden mir raten, würden mir mit der Ausrüstung helfen. Was kann ich denn noch tun? Darf ich mit Ihren Technikern sprechen?«
»Tut mir leid. Control war mit der Technik ziemlich einig, daß wir jede mögliche Hilfe leisten, aber keinerlei neues Gerät aufs Spiel setzen wollen. Ich meine, das Risiko eingehen, es aufs Spiel zu setzen. Schließlich ist es ja nur eine Übung. Ich glaube, er fand, wenn Sie nicht über ausreichendes Material verfügen, sollten Sie.«
»- die Verantwortung an ihn abtreten?«
»Nein, nein«, protestierte Smiley, aber Leclerc unterbrach ihn.
»Diese jetzt im Training stehenden Männer würden im Ernstfall gegen militärische Ziele eingesetzt werden«, sagte er ärgerlich. »Rein militärische. Control hat das zur Kenntnis genommen!«
»Oh, sicher.« Smiley schien sich damit abzufinden. »Und wenn Sie ein konventionelles Gerät wollen, können wir ohne Zweifel eines auftreiben.« Der Kellner brachte eine Karaffe mit Portwein. Leclerc sah Smiley dabei zu, wie er sich etwas in sein Glas goß und die Karaffe dann vorsichtig über den polierten Tisch zu ihm herüberschob.
»Er ist recht gut, aber leider bald alle. Wenn dieser hier zu Ende ist, werden wir an die jüngeren gehen müssen. Ich spreche morgen als erstes mit Control. Ich bin sicher, daß er nichts dagegen haben wird. Gegen die Dokumente, meine ich. Und die Kristalle. Wir könnten Sie wegen der Frequenzen beraten. Bestimmt. Control hat es eigens erwähnt.«
»Control war sehr zuvorkommend«, gestand Leclerc.
Er war etwas angetrunken. »Manchmal verwirrt mich das.«
12. Kapitel
Zwei Tage später traf Leiser in Oxford ein. Sie erwarteten ihn ungeduldig auf dem Bahnsteig. Haldane spähte in die Gesichter der Vorbeihastenden. Seltsamerweise war es Avery, der ihn zuerst entdeckte: Eine reglose Gestalt in einem Kamelhaarmantel hinter dem Fenster eines leeren Abteils. »Ist er das?« fragte Avery.
»Das ist erster Klasse. Er muß die Differenz aus der eigenen Tasche bezahlt haben.« Haldane schien das als eine Beleidigung aufzufassen. Leiser ließ das Fenster herunter und reichte zwei schweinslederne Autokoffer heraus, deren Farbe zu sehr ins Rötliche spielte, um natürlich zu sein. Sie begrüßten sich lebhaft und schüttelten sich vor aller Augen die Hände. Avery wollte das Gepäck zum Taxi tragen, aber Leiser zog es vor, es selbst zu nehmen - in jeder Hand ein Stück, als gehöre das zu seinen Pflichten. Er ging etwas abseits von ihnen, mit zurückgezogenen Schultern, und starrte auf die Vorbeieilenden. Das Gedränge verwirrte ihn. Bei jedem Schritt wippte sein langes Haar.
Avery, der ihn beobachtete, fühlte sich plötzlich beunruhigt.
Er war ein Mensch, kein Schemen. Ein Mann mit einem kräftigen Körper und sinnvollen Bewegungen. Und doch war er wie ein Roboter, den sie lenken mußten. Es schien keinen Ort zu geben, zu dem er nicht marschieren würde. Er wirkte wie ein einrückender dem er nicht marschieren würde. Er wirkte wie ein einrückender Rekrut und hatte bereits dessen diensteifrige, frische Art angenommen. Aber Avery mußte sich eingestehen: keine Einzelheit dieser Unternehmung entsprach einer militärischen Dienstverpflichtung Leisers. Avery hatte sich jedoch während seiner kurzen Arbeit in der Organisation bereits mit der seltsamen Tatsache vertraut gemacht, daß einzelne Unternehmungen, die aus unerfindlichen Ursprüngen entstanden, zu keinem Ergebnis führten und doch Teil einer unendlichen Kette von Betätigungen waren. Sie verloren schließlich ihre eigene Wesenheit und hörten auf, als Einzelunternehmen erkennbar zu sein - nicht unähnlich einer fortgesetzten Reihe fruchtloser Liebesanträge, die in ihrer Gesamtheit als aktives Geschlechtsleben galten. Während er aber nun beobachtete, wie dieser Mann schnell und lebendig neben ihm dahinstapfte, erkannte er, daß sie bis zu diesem Augenblick innerhalb der Organisation nur eine Art geistiger Inzucht getrieben hatten, indem sie nichts als Ideen umwarben. Jetzt aber hatten sie es mit einem menschlichen Wesen zu tun, und hier, neben ihm, ging es, in Fleisch und Blut: Leiser. Sie stiegen in das Taxi, Leiser zuletzt, um ihnen den Vorrang zu lassen. Es war spät am Nachmittag, der Himmel hinter den kahlen Bäumen war grau. Aus den Schornsteinen von Nord-Oxford stiegen dicke Rauchsäulen wie die Zeichen keuscher Opferfeuer. Die Häuser zeigten eine bescheidene Stattlichkeit, jedes von ihnen schien als romantische Behausung einer anderen Sage herausgeputzt worden zu sein. Hier die Türmchen von König Artus' Schloß, dort die geschnitzten Gitter einer Pagode, dazwischen exotische Zwergnadelgewächse und halb sichtbare Wäsche, wie Schmetterlinge in einer falschen Jahreszeit. Die Häuser standen alle ordentlich jedes in seinem Garten, ihre Vorhänge waren säuberlich zugezogen, zuerst die Spitzengardinen und darüber der dicke Brokat, wie Unterrock und Rock. Es sah wie ein schlechtes Aquarell aus, auf dem die dunklen Farben zu schwer ausgefallen sind und der Himmel grau und schmutzig in der Dämmerung, die Farben zu stark verarbeitet. An der Straßenecke stiegen sie aus dem Taxi. Die Luft war vom Geruch modrigen Laubes durchzogen, und wenn es in der Nachbarschaft Kinder gab, so machten sie keinen Lärm. Die drei Männer gingen auf das Gartentor zu. Leiser stellte seine Koffer ab und betrachtete das Haus. »Hübsch«, sagte er anerkennend, und zu Avery gewandt: »Wer hat es ausgesucht?«
»Ich.«
»Sehr schön.« Er klopfte Avery auf die Schulter. »Gut gemacht!« Avery lächelte erfreut und öffnete das Tor. Leiser bestand darauf, erst nach den anderen hineinzugehen. Sie brachten ihn zu seinem Zimmer hinauf. Er trug immer noch seine Koffer selbst. »Ich werde später auspacken«, sagte er. »Ich mache das gern ordentlich!« Er ging mit prüfendem Blick durch das Haus und nahm einzelne Gegenstände in die Hand, um sie genauer betrachten zu können, als wolle er ein Angebot für das Haus machen. »Ein hübsches Haus«, erklärte er schließlich. »Mir gefällt's.«
»Gut«, sagte Haldane, als sei ihm das völlig gleichgültig.
Avery ging mit Leiser zu dessen Zimmer zurück, um ihm eventuell behilflich zu sein. »Wie heißen Sie?« fragte Leiser. Mit Avery allein fühlte er sich wohler, war ungezwungener. »John.«
Sie schüttelten sich noch einmal die Hand. »Guten Tag, also, John. Nett, Sie kennenzulernen. Wie alt sind Sie?«
»Vierunddreißig«, log John.
Ein Blinzeln. »Gott, ich wäre auch gern noch mal vierunddreißig. Haben Sie so was schon mal gemacht?«
»Kam von meinem Einsatz vor einer Woche zurück.«
»Und wie ist es gelaufen?«
»Prima.«
»Schau an. Wo ist Ihr Zimmer?« Avery zeigte es ihm.
»Sagen Sie, wie ist das hier eigentlich?«
»Was meinen Sie damit?«
»Wer leitet die Sache?«
»Captain Hawkins.«
»Sonst niemand?«
»Eigentlich nicht. Ich werde auch da sein.«
»Immer?«
»Ja.«
Leiser begann auszupacken. Avery sah ihm dabei zu. Er hatte mit Leder überzogene Bürsten, Haarwasser, eine ganze Batterie kleiner Flaschen mit anderen Toilettenartikeln, einen elektrischen Rasierapparat vom neuesten Typ, sowie Woll- und Seidenkrawatten, die zu seinen teuren Hemden paßten. Avery ging hinunter. Haldane hatte ihn erwartet. Er lächelte dem hereinkommenden Avery zu. »Na?« Avery hob in einer etwas übertriebenen Geste die Schultern. Er war stolz, aber gleichzeitig befangen. »Was halten Sie von ihm?« fragte er. Haldane antwortete trocken: »Ich kenne ihn ja kaum.« Er hatte eine besondere Art, Gespräche im Keim zu ersticken. »Ich möchte, daß Sie immer mit ihm zusammen sind. Gehen Sie mit ihm spazieren, machen Sie die Schießübungen mit, trinken Sie in Gottes Namen mit ihm, wenn das notwendig ist. Er darf nicht allein sein.«
»Was ist mit seinem Urlaub zwischendurch?«
»Das werden wir noch sehen. Inzwischen machen Sie, was ich Ihnen sage. Sie werden feststellen, daß er gern in Ihrer Gesellschaft sein wird. Er ist ein sehr einsamer Mensch. Und vergessen Sie nicht: er ist Engländer - Engländer bis ins Mark. Noch etwas - das ist äußerst wichtig - lassen Sie ihn nicht auf den Gedanken kommen, daß wir uns seit dem Krieg verändert haben. Die Organisation ist genau das geblieben, was sie einmal gewesen ist. Diese Illusion müssen Sie nähren, obwohl Sie natürlich« - er sagte es ohne zu lächeln - »viel zu jung sind, das überhaupt beurteilen zu können.«
Sie begannen am nächsten Morgen. Nach dem Frühstück kamen sie im Salon zusammen, und Haldane hielt eine kleine Rede.
Das Training werde in zwei jeweils vierzehn Tage dauernde und von einer kurzen Erholungspause unterbrochene Abschnitte zerfallen, sagte er. Im ersten Abschnitt sollten alte Kenntnisse aufgefrischt werden. Im zweiten werde man die neu belebten Fähigkeiten mit der bevorstehenden Aufgabe in Verbindung setzen. Erst während des zweiten Kurses würde Leiser seinen Decknamen, die dazugehörende Lebensgeschichte und den Zweck des Unternehmens erfahren; die Information würde aber nicht so weit gehen, daß man ihm das Zielgebiet oder die Einzelheiten der geplanten Einschleusung preisgeben werde. Ebenso wie in allen anderen Übungsfächern werde Leisers Training auch bei der Nachrichtenübermittlung zuerst das Grundsätzliche behandeln und dann zu den Einzelheiten seiner Aufgabe übergehen. Während der ersten Ausbildungsphase werde er sich wieder mit der Technik des Chiffrierens, mit dem Morsekode und den Wellenplänen vertraut machen. In der zweiten Phase werde er die meiste Zeit mit praktischen Sendeübungen unter beinahe einsatzmäßigen Bedingungen verbringen. Der Ausbilder werde im Laufe der Woche eintreffen.
Haldane erklärte all dies mit einer gewissen schulmeisterlichen Schärfe, während Leiser ihm aufmerksam zuhörte und durch ein gelegentliches Kopfnicken seine Zustimmung zum Ausdruck brachte. Avery fand es seltsam, daß Haldane kaum Anstrengungen machte, seinen Widerwillen zu verbergen. »In der ersten Phase werden wir feststellen, wieviel Sie noch beherrschen. Tut mir leid, aber wir werden Sie ziemlich in Trab halten. Wir möchten, daß Sie der Aufgabe gewachsen sind. Sie werden im Gebrauch von Handfeuerwaffen und unbewaffnetem Kampf unterrichtet, wir werden Ihre Nerven trainieren und die zum Handwerk gehörenden Fertigkeiten. An den Nachmittagen wollen wir so lange wie möglich Fußmärsche mit Ihnen machen.«
»Mit wem? Kommt John mit?«
»Ja. John wird Sie führen. Betrachten Sie ihn bitte als Ihren Berater in allen kleineren Fragen. Ich verlasse mich darauf, daß Sie nicht zögern, sich an einen von uns zu wenden, wenn es irgend etwas zu besprechen gibt, irgendeine Beschwerde oder Sorge.«
»In Ordnung.«
»Grundsätzlich muß ich Sie bitten, nicht allein auszugehen. Es wäre mir lieb, wenn John Sie begleitet, falls Sie einmal ins Kino, etwas einkaufen oder sonst etwas unternehmen wollen, wozu Ihnen Zeit bleibt. Ich fürchte aber, daß Sie wenig Gelegenheit zur Entspannung haben werden.«
»Das erwarte ich gar nicht«, sagte Leiser, »ich brauche es auch nicht.« Es schien so, als wollte er es gar nicht.
»Der Funk-Ausbilder wird Ihren Namen nicht wissen. Das ist eine durchaus übliche Vorsichtsmaßnahme. Bitte beachten Sie das. Die Putzfrau glaubt, daß wir an einer wissenschaftlichen Tagung teilnehmen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie in die Lage kommen, mit ihr sprechen zu müssen, aber wenn doch, denken Sie bitte daran. Wenn Sie sich nach Ihrer Tankstelle erkundigen möchten, wenden Sie sich bitte zuerst an mich. Sie sollten ohne meine Zustimmung keine Telefongespräche führen. Wir werden auch andere Besucher haben: Fotografen, Ärzte, Techniker. Alle diese Leute sind Hilfspersonal und nicht im Bilde. Die meisten glauben, Sie seien im Rahmen eines allgemeinen Schulungsprogrammes hier. Bitte denken Sie daran.«
»O. K.«, sagte Leiser. Haldane sah auf die Uhr. »Wir beginnen um zehn Uhr. Ein Auto wird uns an der Straßenecke abholen. Der Fahrer gehört nicht zu uns, also bitte keine Unterhaltung während der Fahrt.« Dann fragte er: »Haben Sie keinen anderen Anzug? Dieser ist nicht gerade das Passende für den Schießplatz.«
»Ich habe eine Sportjacke und Flanellhosen.«
»Jedenfalls sollten Sie sich weniger auffällig kleiden.« Während sie zum Umziehen hinaufgingen, sagte Leiser mit schiefem Lächeln zu Avery: »Das ist ein Kerl vom alten Schlag, was?«
»Aber gut«, entgegnete Avery. Leiser blieb auf der Treppe stehen. »Selbstverständlich! - Eine Frage: War das schon immer hier? Habt ihr das Haus schon für viele benützt?«
»Sie sind nicht der erste«, sagte Avery. »Na ja, ich weiß ja, daß Sie mir nicht viel erzählen dürfen. Ist die Einheit noch das, was sie war, hat sie noch überall ihre Leute, ist es noch derselbe Laden?«
Avery zögerte. »Ich glaube nicht, daß Sie einen großen Unterschied finden werden. Ich würde sagen, daß wir uns ein bißchen vergrößert haben.«
»Gibt's dabei noch mehr junge Leute?«
»Tut mir leid, Fred.«
Leiser legte im Weitergehen seine Hand auf Averys Rücken. Er benützte seine Hände überhaupt sehr oft. »Sie sind auch gut, John«, sagte er. »Machen Sie sich kein Kopfzerbrechen meinetwegen. Keine Bange, nicht wahr, John?«
Sie fuhren nach Abingdon: das Ministerium hatte entsprechende Vereinbarungen mit der dort stationierten Luftlandeeinheit getroffen. Der Ausbilder erwartete sie schon.
»Bestimmte Pistole gewöhnt, Sir?«
»Browning drei-acht-Automatik, bitte«, sagte Leiser wie ein Junge, der beim Lebensmittelhändler Gemüse verlangt.
»Die heißt bei uns jetzt die Neun-Millimeter. Sie werden eine vom alten Typ gehabt haben.« Haldane hielt sich im Schießstand abseits, während Avery half, die mannsgroße Zielscheibe bis zur Zehnmetermarke heranzukurbeln und Klebestreifen über die alten Löcher zu heften.
»Sie nennen mich >Stab<«, sagte der Ausbilder und wandte sich an Avery: »Sie möchten's auch versuchen, Sir?«
Ehe Avery antworten konnte, hatte Haldane schnell gesagt: »Ja, es werden bitte beide schießen, >Stab<.« Zuerst kam Leiser. Avery stand neben Haldane, während Leiser - der ihnen den Rücken zukehrte - mit dem Gesicht zu der Sperrholzfigur eines deutschen Soldaten, im leeren Schießstand wartete. Das Ziel wirkte schwarz zwischen den grob verputzten weißen Mauern; über Bauch und Oberschenkel waren mit Kreide die rohen Umrisse eines Herzens gezeichnet, dessen innere Fläche mit übereinandergeklebten Papierstücken bedeckt war.
Sie sahen Leiser zu, wie er nun das Gewicht der Waffe in seiner Hand prüfte, sie schnell in Augenhöhe hob und dann wieder langsam sinken ließ, das leere Magazin an seinen Platz stieß, es herauszog und wieder zurückschnappen ließ. Er warf einen schnellen Blick über die Schulter zu Avery, während er sich mit der linken Hand eine Strähne seines braunen Haares aus der Stirn strich, weil sie ihn beim Zielen behinderte. Avery lächelte aufmunternd und sagte dann unterdrückt zu Haldane: »Bin mir über ihn noch immer nicht ganz klargeworden.«
»Wieso nicht? Er ist ein ganz gewöhnlicher Pole.«
»Woher kommt er? Aus welcher Gegend?«
»Sie kennen doch seine Akte: aus Danzig.«
»Natürlich.«
Der Ausbilder begann: »Zuerst versuchen wir's mal mit der leeren Waffe, Sir, beide Augen offen, Sir, sehr schön so, und schauen Sie geradeaus, beide Füße hübsch auseinander, danke, sehr schön so. Entspannen bitte, ganz ruhig und locker, das ist die Stellung zum Schießen und nicht zum Exerzieren, jawohl, Sir, das haben wir ja schon alles geübt. Jetzt die Waffe hoch, Sir, in Position, aber ohne zu zielen. Recht so?« Der Ausbilder holte Luft, öffnete eine Holzschachtel und entnahm ihr vier Magazine. »Eins in die Waffe, eins in die linke Hand«, sagte er und gab die beiden anderen zu Avery hinüber, der fasziniert verfolgte, wie Leiser mit geübter Bewegung ein volles Magazin in den Kolben der Automatik schob und seinen Daumen an den Sicherungshebel legte. »Jetzt die Waffe spannen, Sir, halten Sie sie dabei schräg vor sich hin. Jetzt in Schußrichtung bringen, nicht zielen, schießen Sie ein Magazin leer, Sir, immer zwei Schüsse hintereinander. Wir erinnern uns, daß wir die Automatik nicht als wissenschaftliche Waffe betrachten, Sir, sondern mehr als eine Waffe für den Einsatz im Nahkampf. Jetzt langsam, ganz langsam.«
Ehe er den Satz beenden konnte, hallte der Schießstand von Leisers Schüssen wider. Leiser hielt sich sehr gerade und schoß schnell, das zweite Magazin vorschriftsmäßig wie eine Handgranate in der linken Hand: ein stummer Mann, der eine Möglichkeit gefunden hatte, seinem Ärger Ausdruck zu geben. Avery konnte mit wachsender Erregung den Zorn spüren, der in diesem Schießen lag. Erst zwei und noch einmal zwei Schüsse, dann drei, und schließlich eine ganze Ladung, während sich leichter Dunst um ihn ausbreitete und der Holzsoldat schwankte und Averys Nase sich mit dem süßlichen Geruch verbrannten Pulvers füllte.
»Elf von dreizehn im Ziel«, sagte der Ausbilder. »Sehr gut, wirklich sehr gut. Nächstes Mal bitte bei jeweils zwei Schüssen hintereinander zu bleiben. Und warten Sie, bis ich den Befehl zum Feuern gebe.« Zu Avery: »Möchten Sie's nicht auch versuchen, Sir?« Leiser war zur Scheibe gegangen und befühlte die Einschußlöcher mit seinen schlanken Fingern. Die plötzliche Stille war drückend. Er schien in tiefes Grübeln versunken, während er seine Hände über das Sperrholz gleiten ließ und mit einem Finger gedankenvoll über den Umriß des deutschen Helmes strich, bis der Ausbilder sagte: »Los jetzt, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«
Avery stand auf der Matte und wog die Waffe in seiner Hand. Der Ausbilder half ihm, das Magazin einzuführen das andere hielt er in der nervös verkrampften linken Hand. Haldane und Leiser sahen ihm zu. Avery feuerte. Der Lärm der schweren Waffe dröhnte dumpf in seinen Ohren und er merkte, wie sein junges Herz sich zusammenzog, als er die Silhouette durch seine Schüsse in träge Schwankungen versetzt sah. »Gut gemacht, John, gut gemacht«, rief Leiser. »Sehr gut«, sagte der Ausbilder automatisch. »Sehr gut fürs erste Mal, Sir.« Er wandte sich an Leiser: »Würden Sie bitte hier nicht so herumbrüllen?« Er erkannte Ausländer auf den ersten Blick. »Wieviel?« fragte Avery gierig, als er und der Unteroffizier an der Scheibe zusammentrafen und die schwärzlichen Löcher betasteten, die dünn über Brust und Bauch der Figur verstreut waren. »Wieviel, Stab?«
»Sie sollten mit mir kommen, John«, flüsterte Leiser und legte seinen Arm um Averys Schulter. »Ich könnte Sie gut brauchen, da drüben.« Einen Augenblick zuckte Avery zurück. Aber dann legte auch er lachend seinen Arm um Leiser. Er fühlte den warmen, rauhen Stoff der Sportjacke unter seiner Handfläche. Der Ausbilder führte sie über den Exerzierplatz zu einem fensterlosen Ziegelbau, dessen eines Ende höher als das andere war und der an ein Theater erinnerte. Vor dem Eingang waren zwei sich überlappende Mauern, wie vor einem Pissoir. »Bewegliche Ziele«, sagte Haldane, »und Schießen bei Dunkelheit.«
Mittags spielten sie die Tonbänder ab. Die Bänder sollten sich wie ein Leitmotiv durch die ersten vierzehn Tage seiner Ausbildung ziehen. Sie waren von alten Grammophonplatten überspielt. Eine der Platten hatte einen Sprung, der wie das Ticken eines Metronoms immer wiederkehrte. Alle Platten gehörten zu einem schweren Gesellschaftsspiel, bei dem man sich Dinge merken mußte, die von den Sprechern nicht ausdrücklich gesagt, sondern ganz nebenbei und manchmal nur indirekt erwähnt wurden, oft vor einem die Aufmerksamkeit ablenkenden Hintergrund anderer Geräusche, - Dinge, die jetzt in der Unterhaltung bestritten, dann wieder korrigiert oder bestätigt wurden. Es waren drei Hauptstimmen, zwei männliche und eine weibliche. Andere unterbrachen. Es war die Frau, die ihnen auf die Nerven ging. Sie hatte eine antiseptische Stimme, die Stewardessen ganz von selbst anzunehmen scheinen. Auf dem ersten Bandstück las sie sehr schnell Listen herunter, zuerst eine Einkaufsliste: zwei Pfund von diesem und ein Kilo von jenem. Ohne abzusetzen, sprach sie dann plötzlich von farbigen Kegeln: so und so viele grün, so und so viele gelb. Dann waren es plötzlich Waffen: Revolver, Torpedos, Munition von diesem und jenem Kaliber. Dann eine Fabrik: Kapazität, Produktion, Ausschuß, Jahresumsatz und Monatsergebnisse. Auf dem nächsten Band sprach sie noch immer von diesen Dingen, aber fremde Stimmen unterbrachen sie und lenkten die Unterhaltung in unerwartete Bahnen. Beim Einkaufen begann sie mit der Frau des Lebensmittelhändlers einen Streit über bestimmte Waren, die ihren Ansprüchen nicht mehr genügten: Eier, die nicht mehr frisch waren, oder den empörend hohen Preis der Butter. Als der Geschäftsmann sich vermittelnd einzuschalten versuchte, beschuldigte sie ihn der Parteinahme. Das Gespräch ging über Punkte und Lebensmittelkarten, die Sonderzuteilung von Einmachzucker, einen Hinweis auf unbenannte Schätze unter der Ladentheke. Die Stimme des Händlers wurde ärgerlich und laut, brach aber ab, als sich das Kind einschaltete und von den Kegeln erzählte: »Mami, Mami, ich hab die drei grünen umgeschmissen, und wie ich sie aufstellen wollte, sind die sieben schwarzen umgefallen, Mami, wieso sind nur noch acht schwarze übrig?«
Die Szene wechselte in eine Kneipe. Wieder die Stimme der Frau. Sie rezitierte aus einer Waffenstatistik. Dann fielen andere Stimmen ein. Sie zweifelten einige der Zahlen an, nannten neue Ziele und wiederholten alte. Die Wirkung einer bestimmten Waffe, weder mit Namen genannt noch beschrieben, wurde zynisch in Frage gestellt und erregt verteidigt. Alle paar Minuten brüllte eine Stimme: »Halt!« Es wirkte wie die Stimme eines Schiedsrichters, und Haldane stoppte das Bandgerät und verwickelte Leiser in ein Gespräch über Fußball oder das Wetter, oder er las laut aus einer Zeitung vor, wobei er auf seiner Uhr kontrollierte, daß es genau fünf Minuten dauerte. (Die Uhr auf dem Kaminsims war kaputt.) Dann ließ er das Band weiterlaufen, und sie hörten eine von fern irgendwie vertraut klingende Stimme, die etwas schleppend wie die eines Pfarrers klang. Es war eine junge, bittende und unsichere Stimme, die der Averys nicht unähnlich war: »Hier sind jetzt die vier Fragen: Wenn man die schlechten Eier abzieht, wie viele hat sie in den vergangenen drei Wochen gekauft? Wieviele Kegel sind es insgesamt? Wie hoch war die gesamte Jahresproduktion von geprüften und geeichten Geschützrohren während der Jahre 1937 und 1938? Schließlich geben Sie im Telegrammstil jede beliebige Information wieder, aus der die Länge der Geschützrohre ermittelt werden könnte.« Leiser lief ins Arbeitszimmer hinüber, um die Antworten niederzuschreiben. Er schien das Spiel bereits zu kennen. Sobald er das Zimmer verlassen hatte, sagte Avery anklagend: »Das waren Sie. Das am Ende ist Ihre Stimme gewesen.«
»War sie das?« fragte Haldane zurück. Es klang so, als habe er es gar nicht gewußt. Es gab auch andere Tonbänder, und sie trugen den Geruch des Todes; das Geräusch von Füßen, die über eine Holztreppe rannten, das einer zuschlagenden Tür, ein Klicken und die Stimme eines Mädchens, die in der Art, wie man Zitronen oder Sahne anbietet, fragte: »Das Schnappen eines Türschlosses? Das Spannen eines Hahnes?«
Leiser zögerte. »Eine Tür«, sagte er. »Es war nur die Tür.«
»Es war eine Pistole«, erwiderte Haldane scharf. »Eine Browning neun-Millimeter-Automatik. Das Magazin ist in die Kammer zurückgeschoben worden.« Am Nachmittag machten sie ihren ersten Spaziergang, Leiser und Avery. Sie gingen durch Port Meadow in die darunterliegende offene Landschaft hinaus. Haldane hatte sie weggeschickt. Sie gingen schnell, wobei ihre Füße durch das lange, harte Gras schleiften und der Wind Leisers Haar wild um seinen Kopf flattern ließ. Es war kalt, aber es regnete nicht. Es war ein klarer, sonnenloser Tag, und der Himmel über den flachen Feldern war dunkler als die Erde. »Sie kennen sich hier aus, nicht wahr?« fragte Leiser. »Sie sind hier in der Schule gewesen?«
»Als Student, ja.«
»Was haben Sie studiert?«
»Sprachen. Vor allem Deutsch.« Sie kletterten über einen Zauntritt und kamen auf einen engen Pfad zwischen zwei Hecken. »Verheiratet?« fragte Leiser. »Ja.«
»Kinder?«
»Eins.«
»Sagen sie mir eins, John: Als der Captain meine Karte herauszog - was geschah dann?«
»Wieso? Was soll geschehen sein?«
»Wie sieht das aus - ein Verzeichnis von so vielen Leuten. Es muß doch riesig sein, in einer Einheit wie dieser.«
»Es ist alphabetisch geordnet«, sagte Avery hilflos. »Einfach Karten. Warum?«
»Er sagte, sie hätten sich an mich erinnert: die alten Füchse. Wer hat sich eigentlich erinnert?«
»Alle haben sich erinnert. Es gibt ein Sonderverzeichnis der besten Leute. Praktisch jeder in der Organisation kennt Fred Leiser. Sogar die Neuen. Mit der Beurteilung, die Sie haben, kann man einfach nicht vergessen werden.« Er lächelte: »Sie gehören einfach dazu, wie ein Möbelstück, Fred.«
»Sagen Sie mir noch was, John. Ich möchte ja kein Quertreiber sein, verstehen Sie, aber sagen Sie mir...
wäre ich auch drinnen gut?«
»Drinnen?«
»Im Amt, mit euch zusammen. Ich nehme an, man muß dazu geboren sein, wie der Captain.«
»Ich fürchte, ja, Fred.«
»Was für Autos benützt ihr dort eigentlich?«
»Humbers.«
»Hawk oder Snipe?«
»Hawk.«
»Nur Vierzylinder? Der Snipe ist viel besser, müssen Sie wissen.«
»Ich spreche nur von normalen Dienstfahrten, nicht von Einsätzen«, sagte Avery. »Dafür haben wir jede Menge anderer Wagen.«
»Wie den Lieferwagen?«
»Genau.«
»Wie lange vorher, wie lange dauerte Ihre Schulung? Sie haben zum Beispiel gerade einen Einsatz hinter sich. Wann hat man Sie vorher.«
»Tut mir leid, Fred! Ich bin nicht befugt, nicht mal Ihnen.«
»Natürlich, John. Macht ja nichts.« Sie gingen an einer Kirche vorüber, die über der Straße auf einem Hügel lag, und kehrten am Rand eines frisch gepflügten Feldes entlang zurück in die sie willkommen heißende Umarmung des Mayfly-Hauses und des über die goldenen Rosenketten spielenden Gaslichtes. Sie waren müde, aber strahlend vergnügt. Am Abend sahen sie Filme, um das optische Erinnerungsvermögen zu schulen: sie fuhren in einem Auto über einen Truppenübungsplatz, in einem Zug an einem Flugfeld vorüber oder sie machten einen Spaziergang durch eine Stadt, und plötzlich merkten sie dann, daß sie ein Fahrzeug oder ein Gesicht, das mehrmals auftauchte, nicht wiedererkannt hatten. Manchmal wurden Bilder zusammenhangloser Gegenstände in schneller Folge auf die Leinwand projiziert, wobei sich im Hintergrund Stimmen unterhielten, die denen auf dem Tonband glichen, aber ihr Gespräch bezog sich nicht auf den Film, so daß der Schüler Augen und Gehör gleichzeitig anstrengen mußte, um das auszuwählen, was von beiden wertvoll schien.
So endete der erste Tag, der für alle folgenden den Rhythmus ihres Ablaufes festgelegt hatte: für beide sorglose, erfüllte Tage voll Arbeit und vorsichtiger, aber sich vertiefender Zuneigung, während sich die Fertigkeiten der Knabenzeit erneut zu Waffen des Krieges wandelten.
Für den unbewaffneten Kampf hatten sie einen kleinen Turnsaal nahe Headington gemietet, den sie im Krieg benutzt hatten. Per Bahn war ein Ausbilder gekommen. Sie nannten ihn Sergeant. »Wird er überhaupt ein Messer in seiner Ausrüstung haben?« fragte er und setzte höflich hinzu: »Ich will nicht neugierig sein.« Er sprach mit walisischem Akzent.
Haldane zuckte die Achseln. »Wenn er es selbst will. Wir wollen ihn nicht zu sehr behängen.«
»Ein Messer hat viel für sich, Sir.« Leiser war noch im Umkleideraum. »Wenn er damit umgehen kann. Und die Jerries haben für so was nichts übrig, nicht das geringste.« In einem Handkoffer hatte er mehrere Messer mitgebracht, die er jetzt in der Art eines Handelsreisenden, der seine Muster vorlegt, auspackte. »Sie haben kalten Stahl niemals vertragen können«, erklärte er. »Der Trick ist, daß es nicht zu lange ist, Sir. Flach, mit zwei Schneiden.« Er wählte eines aus und hielt es in die Höhe. »Es gibt tatsächlich kaum etwas Besseres als das.« Es war ein breites flaches Messer wie ein Lorbeerblatt, mit unpolierter Klinge, der Griff war geformt wie ein Stundenglas , kreuzweise schraffiert, damit er fest in der Hand lag. Leiser kam auf sie zu, während er sich mit einem Kamm das Haar glattstrich.
»Schon mal mit so was gearbeitet?« Leiser betrachtete das Messer eingehend und nickte. Der Sergeant sah ihn genau an. »Ich kenne Sie, nicht wahr? Ich bin Sandy Löwe. Ein verdammter Waliser.«
»Sie haben mich im Krieg ausgebildet.«
»Himmelherrgott«, sage Löwe leise, »natürlich. Sie haben sich nicht sehr verändert, oder?« Sie grinsten sich scheu an und wußten nicht, ob sie sich die Hände schütteln sollten. »Also, los, wollen mal sehen, was Sie noch können.« Sie gingen zu der Kokosmatte in der Mitte des Saales, Löwe warf sein Messer Leiser vor die Füße, der sich brummend danach bückte. Löwe trug eine abgeschabte, sehr alte Tweedjacke. Er trat schnell ein paar Schritte zurück, während er sie auszog und sie sich mit einer einzigen Bewegung um den linken Arm wickelte, wie ein Mann, der sich anschickt, mit einem Hund zu kämpfen. Er bewegte sich langsam um Leiser herum, wobei er sein eigenes Messer zog und sein Gewicht leicht von einem Fuß auf den anderen verlegte. Er stand gebeugt, hielt den angewinkelten Arm mit ausgestreckten Fingern und der Handfläche nach unten locker vor seinen Leib. So gedeckt, ließ er seine Klinge rastlos vor sich hin- und hertanzen, während Leisers Augen auf ihn geheftet waren. Eine Zeitlang täuschten sie einander mit Finten und Ausweichmanövern. Einmal, als Leiser ausbrach, ließ Löwe es im Zurückweichen zu, daß Leisers Messer in den Stoff der um seinen Arm gewickelten Jacke schnitt. Dann ließ sich Löwe auf die Knie fallen und tat so, als wolle er das Messer hinter Leisers Deckung hinaufstoßen, und jetzt war es an Leiser, zurückzuspringen, aber er war wohl zu langsam, denn Löwe schüttelte den Kopf und rief »Halt!«, während er aufstand.
»Erinnern Sie sich?« Er zeigte auf Bauch und Oberschenkel, wobei er Arme und Ellbogen andrückte, als wolle er sich schmaler machen. »Halten Sie die Angriffsfläche klein.« Er ließ Leiser sein Messer weglegen und zeigte ihm Griffe. Er schlang seinen linken Arm um Leisers Nacken und gab vor, ihn in die Nieren oder Magen zu stechen. Dann bat er Avery, sich als Demonstrationsobjekt zur Verfügung zu stellen, und sie gingen gelockert um ihn herum, wobei Löwe mit seinem Messer auf die betreffenden Körperteile wies und Leiser zustimmend nickte. Hie und da, wenn ihm ein besonderer Trick wieder einfiel, lächelte er. »Sie halten die Klinge nicht genügend in Bewegung. Vergessen Sie nicht: Daumen oben, Klinge parallel zum Boden, Unterarm steif, Gelenk locker. Der Gegner darf Sie nie ruhig in den Blick bekommen, keinen einzigen Augenblick. Und die linke Hand zu Ihrer eigenen Deckung, ob Sie ein Messer haben oder nicht. Seien Sie niemals großzügig mit Ihrem eigenen Körper, das sage ich auch meiner Tochter immer.« Alle außer Haldane lachten pflichtschuldig. Danach kam Avery an die Reihe. Leiser schien darauf gewartet zu haben. Er nahm seine Brille ab und hielt das Messer so, wie Löwe es ihm zeigte. Er war wachsam und zurückhaltend, während Leiser breitbeinig wie eine Krabbe von einem Fuß auf den anderen trat, mal näher kommend, mal zurückweichend, wobei ihm der Schweiß über das Gesicht lief und seine kleinen Augen in Konzentration zusammengekniffen waren. Die ganze Zeit über spürte Avery, wie sich die Rillen des Messergriffes in seine Handfläche preßten, und seine Waden und Gesäßmuskeln begannen zu schmerzen, da er sein ganzes Gewicht auf den Zehen hielt, und Leisers zornige Augen suchten seinen Blick. Dann hatte sich Leisers Fuß hinter seine Ferse gehakt. Während er das Gleichgewicht verlor, fühlte er, wie das Messer seiner Hand entwunden wurde. Er fiel unter Leisers Gewicht nach hinten, wobei sich die Hand des Angreifers an seinen Hemdkragen klammerte.
Auch er lachte mit, während sie ihm auf die Beine halfen. Leiser bürstete den Staub von seinem Anzug. Die Messer wurden während der folgenden Turnübungen weggelegt. Avery machte mit.
Als sie damit zu Ende waren, sagte Löwe: »Jetzt machen wir noch einen Augenblick Selbstverteidigung, und damit ist Schluß für heute.« Haldane sah Leiser an. »War's zuviel für Sie?«
»Keine Spur.«
Löwe nahm Avery beim Arm und führte ihn auf die Matte. Zu Leiser sagte er: »Sie setzen sich auf die Bank, während ich Ihnen ein paar Dinge zeige.« Er legte Avery eine Hand auf die Schulter. »Uns interessieren nur fünf Stellen, ob wir jetzt ein Messer haben oder nicht. Welche sind das?«
»Leisten, Nieren, Bauch, Herz und Hals«, entgegnete Leiser müde.
»Wie bricht man einem Mann den Hals?«
»Gar nicht. Man zerschlägt die Luftröhre.«
»Was ist mit einem Schlag in den Nacken?«
»Nicht mit der bloßen Hand. Nicht ohne Waffe.« Er hatte das Gesicht in die Hände genommen. »Richtig.« Löwe bewegte seine offene Hand mit langsamer Bewegung auf Averys Hals zu. »Hand offen, Finger ausgestreckt, verstanden?«
»Verstanden«, sagte Leiser. »Was fällt Ihnen noch ein?«
Pause. »Die Tigerklaue. Angriff auf die Augen.«
»Das nie«, antwortete der Sergeant kurz. »Nicht als Angriff. Es läßt Sie völlig ungeschützt. Jetzt zu den Würgegriffen. Immer von hinten, ist das klar? Biegen Sie den Kopf zurück, so, die Hand auf die Kehle, so, und jetzt zupressen.« Löwe sah über die Schulter: »Schauen Sie hierher, bitte, ich mache das nicht zu meinem eigenen Vergnügen... also kommen Sie her, wenn Sie schon alles kennen, und zeigen Sie uns ein paar Griffe!«
Leiser stand auf, umschloß Lowes Arme, und eine Zeitlang rangen sie hin und her, wobei jeder darauf wartete, daß der andere eröffnete. Dann ließ Löwe los, Leiser stolperte, und ein Schlag von Lowes Hand auf seinen Hinterkopf ließ ihn vornüber hart auf die Matte fallen.
»Das kostet Sie eine Runde«, sagte Löwe grinsend, aber da war Leiser schon über ihm, drehte ihm den Arm brutal nach hinten und warf ihn hart zu Boden, wobei Lowes schmächtiger Körper auf die Matte prallte wie ein Vogel gegen die Windschutzscheibe eines Autos.
»Spielen Sie fair!« keuchte Leiser. »Oder ich werde Ihnen verdammt weh tun.«
»Niemals auf den Gegner stützen«, sagte Löwe kurz. »Und im Turnsaal nicht die Beherrschung verlieren.« Er rief zu Avery hinüber: »Jetzt sind Sie dran, Sir. Lassen Sie ihn tüchtig arbeiten.« Avery stand auf, zog seine Jacke aus und wartete auf Leisers Angriff. Er fühlte den starken Griff auf seinen Arm, und beim Vergleich mit dieser ausgewachsenen Kraft wurde ihm plötzlich die Schwäche seines eigenen Körpers bewußt. Er versuchte, die Unterarme des älteren Mannes zu packen, aber seine Hände vermochten sie nicht zu umfassen. Er versuchte, sich loszureißen, aber Leiser hielt ihn fest. Leisers Kopf war gegen den seinen gepreßt und der Geruch von Haaröl stieg ihm in die Nase. Er spürte die feuchten Bartstoppeln und die Hitze von Leisers angespanntem Körper. Er stemmte sich gegen Leisers Brust und bemühte sich verzweifelt, der erstickenden Umklammerung dieses Mannes zu entkommen. Als er sich zurückstieß, trafen sich ihre Blicke über der schlingernden Wiege ihrer verschlungenen Arme, als sähen sie einander zum erstenmal, und Leisers vor Anstrengung verzerrtes Gesicht löste sich in einem Lächeln, sein Griff lockerte sich.
Löwe gesellte sich zu Haldane. »Er ist Ausländer, nicht wahr?«
»Pole. Wie macht er sich?«
»In seiner besten Zeit war er recht gut, würde ich sagen. Gefährlich, unangenehm. Guter Körper. Ist noch verhältnismäßig fit.«
»Ich verstehe.«
»Wie geht es Ihnen selbst, Sir? Alles in Ordnung?«
»Ja, danke.«
»Das ist gut. Zwanzig Jahre. Wirklich erstaunlich. Die Kinder sind alle schon erwachsen.«
»Tut mir leid, aber ich habe keine.«
»Ich spreche von meinen.«
»Ach so.«
»Sehen Sie noch irgendwen vom alten Verein, Sir? Wie geht's Mr. Smiley?«
»Ich fürchte, ich habe keinen Kontakt mehr. Ich bin kein geselliger Mensch. Wollen wir abrechnen?« Löwe nahm Haltung an, während Haldane sich anschickte, ihn zu bezahlen; Reisespesen, Honorar, siebenunddreißig Shilling für das Messer und zweiundzwanzig für die Scheide, die mit einer Feder versehen war, um das Herausziehen zu erleichtern. Löwe stellte ihm eine Empfangsbestätigung aus, die er aus Sicherheitsgründen mit S. L. unterschrieb. »Das Messer ist zu den Selbstkosten«, erklärte er. »Wir beziehen so was durch den Sportklub.« Er schien sehr stolz darauf zu sein.
Haldane gab Leiser einen Trenchcoat und halbhohe Stiefel, und Avery forderte ihn zu einem Spaziergang auf. Sie fuhren im Oberdeck des Autobusses bis Headington.
»Was war eigentlich heute morgen los?« fragte Avery. »Ich dachte, wir würden nur so herumblödeln, weiter nichts. Dann warf er mich.«
»Er konnte sich noch an Sie erinnern, nicht wahr?«
»Natürlich konnte er: warum hat er mir dann weh getan?«
»Es war nicht so gemeint.«
»Na gut, lassen wir das.« Er war noch immer aufgebracht.
Sie stiegen bei der Endstation aus und trotteten durch den Regen. Avery sagte: »Der Grund ist, daß er keiner von uns war - deshalb mochten Sie ihn nicht.« Leiser lachte und hakte sich bei Avery ein. Der in Schwaden langsam über die leere Straße treibende Regen lief über ihre Gesichter und in die Kragen ihrer Regenmäntel. Avery drückte seinen Arm an den Leib und hielt Leisers Hand darunter gefangen. Sie setzten ihren Spaziergang fort, beide waren zufrieden. Den Regen hatten sie vergessen oder nahmen ihn nicht ernst und sie scherten sich nicht darum, daß er ihre Kleider verdarb.
»Ist der Captain zufrieden, John?«
»Sehr. Er sagt, alles liefe nach Wunsch. Wir fangen bald mit dem Funken an, nur die Grundbegriffe. Jack Johnson soll morgen ankommen.«
»Es fällt mir alles wieder ein, John, das Schießen und all das. Ich hab' nichts vergessen.« Er lächelte. »Die alte Dreiacht.«
»Die Neun-Millimeter. Sie machen es großartig, Fred.
Wirklich gut. Der Captain hat's gesagt.«
»Der Captain hat's gesagt, John?«
»Genau das. Und er hat es nach London berichtet. Dort ist man auch zufrieden. Wir haben nur Angst, daß Sie ein bißchen zu.«
»Zu was?«
»Nun - zu britisch sind.« Leiser lachte. »Keine Bange, John.« Auf der Innenseite seines Armes, dort wo Leisers Hand lag, fühlte Avery eine angenehme, trockene Wärme.
Den Vormittag verbrachten sie mit dem Verschlüsseln. Haldane unterrichtete. Er hatte Seidentücher mitgebracht, die jeweils mit einem Kode von der Art bedruckt waren, wie Leiser ihn verwenden würde. Außerdem hatte er eine auf Karton geklebte Tabelle zur Umwandlung von Buchstaben in Zahlen bei sich. Er klemmte die Tabelle hinter die Marmoruhr auf dem Kaminsims und erläuterte sie in einem Vortrag. Seine Art war der Leclercs sehr ähnlich, aber ohne jede Geziertheit. Avery und Leiser saßen mit gezücktem Bleistift am Tisch und übertrugen nach Haldanes Anweisungen einen Text Absatz für Absatz in die auf der Tabelle angegebenen Zahlen, zogen diese von den Zahlenkolonnen auf den Seidentüchern ab und übersetzten das Ergebnis wieder zurück in Buchstaben. Es war eine Arbeit, die eher Geschicklichkeit als Konzentration erforderte, und da sich Leiser vielleicht allzusehr bemühte, wurde er unruhig und verwirrt. »Wir werden jetzt einmal zwanzig Gruppen nach der Stoppuhr übertragen«, sagte Haldane und diktierte von einem Blatt in seiner Hand eine aus elf Worten bestehende Meldung und die Unterschrift >Mayfly<. »Ab nächster Woche werden Sie es ohne Tabelle schaffen müssen. Ich stelle sie in Ihr Zimmer, und Sie müssen sie auswendig lernen. Los!«
Er drückte auf die Stoppuhr und ging zum Fenster, während die beiden Männer am Tisch fieberhaft arbeiteten und mit beinahe einstimmigem Murmeln einfache Additionen auf das Schmierpapier vor sich kritzelten. Avery konnte die wachsende Zerfahrenheit in Leisers Bewegungen bemerken, die unterdrückten Seufzer und Flüche, das ärgerliche Durchstreichen. Während er selbst nun absichtlich langsamer arbeitete, spähte er über Leisers Arm, um dessen Fortschritte festzustellen, und er sah, daß der Bleistiftstummel in Leisers Hand schweißverschmiert war. Ohne ein Wort zu sagen, tauschte er ruhig sein eigenes Blatt gegen das Leisers aus. Haldane, der sich gerade umwandte, schien es nicht bemerkt zu haben. Schon diese ersten Tage hatten genügt, deutlich zu machen, daß Leiser zu Haldane aufsah wie ein Kranker zu seinem Arzt, oder wie ein Sünder zu seinem Priester. Dieser Mann, der seine Stärke aus einem so gebrechlichen Körper gewann, hatte etwas Furchterregendes an sich.
Haldane tat so, als bemerke er Leiser gar nicht. Er hielt starrköpfig an seinen privaten Gewohnheiten fest. So unterließ er es nie, sein Kreuzworträtsel zu lösen, und bei den Mahlzeiten, während sie die Tonbänder ablaufen ließen, trank er allein seinen Burgunder, von dem er eine Kiste halber Flaschen aus der Stadt hatte liefern lassen. Seine Verschlossenheit war so vollkommen, daß man tatsächlich glauben konnte, allein die Nähe des Menschen widere ihn an. Und doch zog Haldane Leiser mit immer unwiderstehlicherer Kraft an, je ausweichender, je verschlossener er wurde. Auf Grund irgendwelcher geheimnisvoller Maßstäbe erschien er Leiser als Musterexemplar des englischen Gentleman, und was immer Haldane tat oder sagte, bestärkte Leiser nur in seiner Auffassung. Haldane war eindrucksvoller geworden. In London war er ein Mann, der langsam und pedantisch über die Korridore tappte, als suche er für seine Füße Halt. Hinter ihm stauten sich dann immer ungeduldig Büroboten und Sekretärinnen, die es nicht wagten, ihn zu überholen. Hier in Oxford dagegen zeigte er eine Beweglichkeit, die seine Londoner Kollegen erstaunt hätte. Seine vertrocknete Figur war wieder zum Leben erwacht, er hielt sich aufrecht. Selbst seine Unfreundlichkeit schien nun ein Zeichen besonderer Autorität. Nur sein Husten blieb - dasselbe gequälte, hoffnungslose Schluchzen, das diesen schmalen Brustkorb zu sprengen schien und in Haldanes magere Wangen rote Flecken trieb, was Leiser mit der stummen Sorge eines Schülers für seinen bewunderten Meister erfüllte.
»Ist der Captain krank?« fragte er Avery einmal, während er eine alte Ausgabe von Haldanes Times in die Hand nahm.
»Er spricht nie darüber.«
»Ich nehme an, das wäre ungezogen.« Seine Aufmerksamkeit war plötzlich von der Zeitung gefesselt, die offenbar noch niemand gelesen hatte - nur das Kreuzworträtsel war gelöst. Rundherum waren auf den Rand verstreut die Abwandlungen eines aus neun Buchstaben bestehenden Anagrammes gekritzelt. Verwirrt zeigte Leiser seine Entdeckung Avery. »Er liest sie nicht«, sagte er. »Er löst nur das Kreuzworträtsel.«
Als sie an diesem Abend zu Bett gingen, nahm Leiser verstohlen die Zeitung mit sich, als enthielte sie irgendein Geheimnis, das man durch sorgfältige Prüfung enthüllen könnte.
Soweit Avery es beurteilen konnte, war Haldane von Leisers Fortschritten befriedigt. Im Verlauf der vielfältigen Übungen, zu denen Leiser jetzt angehalten wurde, hatten sie ihn eingehender beobachten können.
Mit der Fähigkeit der Schwachen, scharf zu beobachten, spürten sie seine Fehler auf und schätzten seine Stärke ein. Im gleichen Maß, in dem sie sein Vertrauen gewannen, begann er zunehmend eine entwaffnende Offenheit zu zeigen. Er liebte vertrauliche Gespräche. Er war ihr Geschöpf und gab ihnen alles - und sie bewahrten alles sorgfältig auf, wie es die Armen tun. Sie sahen, daß seine überschüssigen Kräfte durch die Organisation plötzlich ein Ziel bekommen hatten: Leiser hatte wie ein Mann mit ungewöhnlicher Geschlechtsgier in seiner neuen Tätigkeit das Objekt einer Hingabe gefunden, die er durch Entwicklung besonderer Fähigkeiten zu beweisen suchte. Er schien Gefallen daran zu finden, von ihnen Befehle zu erhalten, und er gab ihnen dafür seine Stärke als Unterpfand für seinen Gehorsam. Vielleicht war es ihnen sogar bewußt, daß Leiser in ihnen die Pole einer absoluten Autorität erblickte: der eine durch sein verbittertes Festhalten an Maßstäben, denen Leiser niemals gerecht werden konnte-, der andere durch seine jugendliche Zugänglichkeit und den Reiz und die Verläßlichkeit seines Wesens.
Leiser unterhielt sich gerne mit Avery. Er sprach über seine Freundinnen oder den Krieg. Er nahm an - und Avery fand das irritierend, aber weiter nichts -, daß ein Mann Mitte Dreißig - ob er nun verheiratet war oder nicht - natürlich ein intensives und abwechslungsreiches Liebesleben hatte. Später dann, am Abend, wenn die beiden ihre Mäntel angezogen hatten und zu der Kneipe am Ende der Straße hinuntergelaufen waren, pflegte er seine Ellbogen auf den kleinen Tisch zu stützen, sich vorzubeugen und von seinen Eroberungen bis in die kleinsten Einzelheiten zu berichten. Seine Hand ruhte dabei an seinem Kinn, und die schlanken Spitzen seiner Finger öffneten und schlossen sich in einer unbewußten Nachahmung der Bewegungen seiner Lippen. Er handelte nicht aus Eitelkeit, sondern aus Freundschaft. Diese Vertraulichkeiten und Geständnisse wahr oder erfunden - stellten die einfache Münze dar, mit der sie einander ihre Freundschaft vergalten. Betty wurde dabei von Leiser niemals erwähnt.
Allmählich lernte Avery das Gesicht Leisers mit einer Genauigkeit kennen, die nicht mehr von seinem Erinnerungsvermögen abhing. Er bemerkte, wie sich die Züge Leisers seinen Stimmungen entsprechend veränderten, wie sich Depression oder Müdigkeit am Ende eines langen Tages in der Spannung der Haut über seinen Backenknochen ausdrückten, durch die Augen und Mund an ihren Winkeln aufwärts gezogen wurden, so daß sein Ausdruck plötzlich noch slawischer wurde und an Vertrautheit verlor.
Leiser hatte von seinen Nachbarn oder von seinen Kunden gewisse Wendungen aufgeschnappt, die zwar völlig sinnlos waren, aber sein fremdes Ohr doch beeindruckt hatten. Er konnte zum Beispiel von »einem gewissen Maß der Befriedigung« sprechen, indem er eine unpersönliche Wendung gebrauchte, die ihm irgendwie würdiger schien. Er hatte sich auch eine Reihe von Klischees angeeignet. Dauernd wiederholte er Ausdrücke wie >nur keine Bange<, >mach keinen Wind<, >die Katze aus dem Sack lassen<, und es schien, als bemühe er sich damit um eine Lebensart, die er nur unvollständig verstand, in die er sich aber mit derartigen Zauberformeln hineinschwindeln wollte. Einige dieser Ausdrücke waren nicht mehr modern, wie Avery bemerkte.
Ein- oder zweimal hatte Avery den Verdacht, daß Haldane sein enges Verhältnis zu Leiser mißbilligte. Dann wieder schien es so, als hätte Haldane in Avery Gefühle entfaltet, über die er selbst keine Kontrolle mehr hatte. Eines Abends, am Anfang der zweiten Woche, während Leiser sich jener zeitraubenden Körperpflege widmete, die bei ihm fast jeder Feierabendbeschäftigung vorauszugehen pflegte, erkundigte sich Avery bei Haldane, ob er nicht auch selbst auszugehen wünsche.
»Wohin, glauben Sie, soll ich gehen? Auf eine Wallfahrt zum Schrein meiner Jugend?«
»Ich dachte, Sie hätten vielleicht Freunde hier; Leute, die Sie von früher kennen.«
»Wenn ich sie hätte, wäre es unvorsichtig, sie zu besuchen. Ich bin unter einem anderen Namen hier.«
»Verzeihen Sie. Natürlich.«
Dann sagte Haldane mit strengem Lächeln: »Außerdem schließt nicht jeder von uns so leicht Freundschaft.«
Aufgebracht entgegnete Avery: »Sie haben mir selbst gesagt, ich solle immer mit ihm zusammen sein!«
»Sehr richtig, und das taten Sie auch. Es wäre unangebracht von mir, mich zu beklagen. Sie machen es bewunderungswürdig. «
»Was?«
»Befehle befolgen.«
In diesem Augenblick läutete es an der Haustür, und Avery ging hinunter, um zu öffnen. Im Licht der Straßenlampe konnte er auf der Straße die vertrauten Umrisse eines parkenden Lieferwagens der Organisation erkennen. Vor der Tür stand eine kleine, unscheinbare Gestalt in braunem Anzug und Mantel. Seine braunen Schuhspitzen glänzten. Es hätte der Gasableser sein können.
»Mein Name ist Jack Johnson«, sagte er unsicher. >»Johnson's Radioquelle<, das bin ich.«
»Kommen Sie herein«, sagte Avery. »Ich bin doch hier richtig, nicht wahr? Captain Hawkins und so?«
Er trug eine weiche Ledertasche, die er vorsichtig auf den Boden stellte, als enthielte sie seine ganze Habe. Gekonnt schüttelte er den Regen aus dem halb geschlossenen Schirm und stellte ihn dann in den Ständer unter seinem Mantel. »Ich heiße John.«
Johnson ergriff Averys Hand und drückte sie herzlich. »Freue mich sehr, Sie kennenzulernen. Der Chef hat sehr viel von Ihnen erzählt. Also Sie sind das Wunderkind, wie ich höre.« Sie lachten.
Er faßte Avery mit einer vertraulichen Geste am Arm. »Sie verwenden Ihren eigenen Namen, nicht wahr?«
»Ja. Den Vornamen.«
»Und der Captain?«
»Hawkins.«
»Wie ist er, Mayfly, meine ich? Wie stellt er sich an?«
»Sehr gut. Einfach sehr gut.«
»Ich höre, er ist ein ziemlicher Schürzenjäger.« Während Johnson und Haldane im Wohnzimmer miteinander sprachen, ging Avery zu Leiser hinauf. »Wir können nicht weggehen, Fred. Jack ist gekommen.«
»Wer ist Jack?«
»Jack Johnson, der Funker.«
»Ich dachte, wir würden nicht vor nächster Woche damit anfangen.«
»Nur die Grundbegriffe in dieser Woche, damit Ihre Finger wieder locker werden. Kommen Sie herunter und sagen Sie guten Tag.«
Leiser trug einen dunklen Anzug und hielt eine Nagelfeile in der Hand. »Was ist also, gehen wir dann?«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, Fred, wir können heute abend nicht weg. Jack ist gekommen.« Leiser ging hinunter und schüttelte Johnson ohne Formalität kurz die Hand, als wären ihm Neuankömmlinge zuwider. Sie unterhielten sich steif eine Viertelstunde lang, bis Leiser unter dem Vorwand, daß er müde sei, mürrisch zu Bett ging. Johnson gab seinen ersten Bericht: »Er ist langsam«, sagte er. »Er hat freilich schon sehr lange nicht mehr gemorst. Aber ich traue mich nicht, ihn mit dem Gerät arbeiten zu lassen, ehe er nicht auf der Taste schneller geworden ist. Ich weiß, es ist mehr als zwanzig Jahre her, Sir, man kann ihm keinen Vorwurf machen. Aber langsam ist er, Sir, sehr sogar.« Er hatte die bedachtsame Sprechweise einer Kinderfrau, als verbrächte er viel Zeit mit Kindern. »Der Chef sagt, ich soll ihn die ganze Zeit steuern - auch beim Einsatz. Ich höre, wir fahren alle nach Deutschland rüber, Sir.«
»Ja.«
»Dann werden wir uns kennenlernen müssen, Mayfly und ich. Von dem Moment an, wo ich mit ihm auf dem Gerät zu arbeiten beginne, sollten wir viel zusammen sein, Sir. Das ist wie mit der Handschrift: Wir müssen uns beide an die Handschrift des anderen gewöhnen. Außerdem die Fahrpläne, die Zeiten, zu denen er sich melden kann, und derartiges. Die Tabelle der Zeichen für seine verschiedenen Frequenzen. Sicherheitszeichen. Das ist für vierzehn Tage ziemlich viel zu lernen.«
»Sicherheitszeichen?« fragte Avery. »Absichtlich gemachte Fehler, Sir; wie zum Beispiel ein Rechtschreibfehler in einer bestimmten Gruppe, statt eines A ein E oder so etwas. Wenn er uns mitzuteilen wünscht, daß man ihn geschnappt hat und er unter Aufsicht sendet, wird er das Zeichen auslassen.« Er wandte sich zu Haldane. »Sie kennen das ja, Captain.«
»Man hat in London davon gesprochen, ihm auch die Schnellübermittlung per Tonband beizubringen. Wissen Sie, was aus dieser Idee geworden ist?«
»Der Chef hat mir davon gesagt, Sir. Ich glaube, die Ausrüstung war nicht verfügbar. Ich kann auch nicht wirklich behaupten, daß ich viel davon verstehe. Seit meiner aktiven Zeit ist viel von diesem Transistorzeug dazugekommen. Der Chef sagte, wir sollten uns an die alten Methoden halten, aber die Frequenz alle zweieinhalb Minuten wechseln, Sir. Die Jerries sollen enorm scharf beim Peilen sein, heutzutage.«
»Welches Gerät hat man uns geschickt? Zum Herumtragen scheint es sehr schwer zu sein.«
»Es ist eines von der Art, die Mayfly im Krieg benützt hat, Sir. Das ist das Angenehme daran. Die alte B 2 im wasserdichten Gehäuse. Wenn wir wirklich nur ein paar Wochen haben, scheint kaum Zeit zu sein, irgend etwas anderes durchzunehmen. Nicht, daß er schon so weit wäre, damit arbeiten zu können.«
»Wieviel wiegt es?«
»Fast fünfzig Pfund, Sir, alles in allem. Das normale Koffergerät. Das Gewicht kommt durch die Wasserabdichtung, aber er braucht sie, wenn er über schwieriges Gelände muß. Besonders zu dieser Jahreszeit.« Er zögerte. »Aber beim Morsen ist er langsam, Sir.«
»Ja. Glauben Sie, daß Sie ihn rechtzeitig auf Touren bringen können?«
»Das kann ich nicht sagen, Sir. Nicht, bevor wir nicht auf dem Gerät arbeiten, daß uns die Finger krachen. Nicht vor dem zweiten Teil, nachdem er ein bißchen Urlaub gehabt hat. Im Augenblick werde ich ihn nur mal mit der Taste allein arbeiten lassen.«
»Danke«, sagte Haldane.
13. Kapitel
Nach Ablauf der ersten vierzehn Tage erhielt er achtundvierzig Stunden Urlaub. Er hatte es nicht verlangt, und als man ihm den Vorschlag machte, wegzufahren, schien er verwirrt. Unter keinen Umständen dürfe er sich in der Umgebung seiner Garage blicken lassen. Obwohl er schon am Freitag nach London hätte reisen können, meinte er, er wolle lieber erst am Samstag fahren, und obwohl man ihn nicht vor Montag früh zurückerwartete, sagte er, er werde womöglich schon Sonntag abend wieder da sein. Man betonte, daß er sich von allen seinen Bekannten fernhalten müsse. Seltsamerweise schien ihn das zu trösten. Avery war beunruhigt und ging zu Haldane. »Ich glaube nicht, daß wir ihn einfach so ins Blaue schicken sollten. Sie haben ihm gesagt, er dürfe weder nach South Park fahren noch seine Freunde besuchen, falls er welche hat. Ich sehe nicht ganz klar, wohin er dann gehen kann.«
»Sie glauben, er wird sich einsam fühlen?« Avery errötete. »Ich glaube, er wird sich die ganze Zeit über wünschen, zurückzukommen.«
»Dagegen können wir kaum etwas einzuwenden haben.«
Sie gaben ihm Tagegeld, alte Fünf- und Einpfundnoten. Er wollte es ablehnen, aber Haldane drängte es ihm auf, als gehe es dabei um ein Prinzip. Sie boten ihm an, ein Hotelzimmer für ihn zu bestellen, aber das lehnte er ab. Haldane schien es für selbstverständlich zu halten, daß er nach London fuhr, also machte er sich schließlich auf den Weg. Es war, als erfülle er eine Pflicht ihnen gegenüber.
»Er hat bestimmt irgendwo ein Weib«, sagte Johnson befriedigt.
Leiser fuhr mit dem Mittagszug und nahm einen schweinsledernen Koffer mit. Er trug seinen Kamelhaarmantel, der einen leicht militärischen Schnitt und Lederknöpfe hatte. Aber niemand mit Kinderstube hätte ihn je für einen englischen Offiziersmantel gehalten. Leiser gab seinen Koffer in der Aufbewahrung am Bahnhof Paddington ab und spazierte in die Praed Street hinaus, weil er nicht wußte, wo er hingehen sollte. Er schlenderte eine halbe Stunde umher, betrachtete die Schaufenster und las die in Anschlagkästen aufgehängten Anzeigen von leichten Mädchen. Es war Samstagnachmittag: eine Handvoll alter Männer mit Filzhüten und Regenmänteln strichen zwischen den Läden, die Pornographien feilboten, und den Zuhältern an der Ecke umher. Der Verkehr war sehr gering: eine hoffnungslose Feierabendstimmung erfüllte die Straße.
Im Filmklub verlangte man ein Pfund und gab ihm eine vordatierte Mitgliedskarte - wegen des Gesetzes. Dann hockte er zwischen schemenhaften Gestalten auf einem Küchenstuhl. Der Film war sehr alt; es hätte leicht sein können, daß er vor der Nazizeit aus Wien herübergekommen war. Zwei ganz nackte Mädchen tranken Tee. Es war ein Stummfilm, in dem nichts weiter geschah, als daß sie hin und wieder ihre Tassen zum Mund führten und dabei ihre Körperhaltung etwas veränderten. Sie wären jetzt wohl sechzig, wenn sie den Krieg überlebt hatten. Leiser stand auf, um zu gehen. Es war schon nach halb sechs, und die Kneipen machten auf. Als er am Kiosk neben dem Eingang vorbeikam, sagte der Manager: »Ich kenne ein Mädchen, das sich gerne einen netten Abend macht. Sehr jung.«
»Nein, danke.«
»Zweieinhalb Pfund; sie hat Ausländer gern. Sie macht es Ihnen ausländisch, wenn Sie wollen. Französisch.«
»Hauen Sie ab.«
»Sie haben's notwendig, mir das zu sagen.«
»Hauen Sie ab.« Leiser ging noch einmal zurück, und seine kleinen Augen funkelten plötzlich. »Wenn Sie mir das nächste Mal ein Mädchen anbieten, dann was Englisches, verstanden?«
Die Luft war jetzt milder. Der Wind hatte sich gelegt und die Straße war leer: der Betrieb hatte sich nach drinnen verlagert. Die Frau hinter der Bar sagte: »Kann Ihnen jetzt nichts mixen, mein Lieber, nicht ehe der Rummel vorbei ist. Sie sehen's ja selbst.«
»Ich trinke aber nichts anderes.«
»Tut mir leid, mein Lieber.«
Er bestellte Gin und Wermuth. Das Getränk war lauwarm und ohne Kirsche. Das Gehen hatte ihn ermüdet. Er saß auf der langen Polsterbank, die an der Wand entlanglief, und sah einer Runde von vier Männern zu, die Wurfpfeile in das an der Wand hängende Zielbrett schleuderten. Sie spielten, ohne ein Wort zu sagen, aber mit tiefer Hingabe, als seien sie sich bewußt, irgendeine rituelle Handlung auszuüben. Es war beinahe wie im Filmklub. Als einer von ihnen zu einer Verabredung mußte, riefen sie Leiser zu: »Machen Sie den Vierten?«
»Gerne.« Er war froh, daß ihn jemand angesprochen hatte, und stand auf. Aber im gleichen Augenblick kam ein Bekannter der drei herein, ein Mann namens Henry, und der spielte an seiner Stelle. Leiser war nahe daran, einen Streit zu beginnen, aber es schien ihm dann doch keinen Zweck zu haben. Auch Avery war allein ausgegangen. Zu Haldane hatte er gesagt, er mache einen Spaziergang, zu Johnson, er gehe ins Kino. Avery hatte eine Art zu lügen, die sich Vernunftsgründen entzog. Es trieb ihn einfach zu den alten, von früher her vertrauten Orten zurück: zu seinem College, zu den Buchläden, Kneipen und Bibliotheken. Das Semester ging gerade zu Ende. Oxford roch irgendwie weihnachtlich und trug dem Anlaß mit zimperlicher Bosheit Rechnung, indem es seine Schaufenster mit dem Flitter vergangener Weihnachten schmückte.
Er ging die Banbury Road bis zu der Straße hinunter, in der er und Sarah im ersten Jahr ihrer Ehe gewohnt hatten. Die Fenster der Wohnung waren dunkel. Während er vor dem Haus stand, versuchte er zuerst hinter den Mauern und dann in sich selbst eine Spur von Gefühl, Zuneigung, Liebe oder sonst etwas zu finden, das ihre Heirat gerechtfertigt hätte, aber er konnte nichts finden und nahm an, daß es nie etwas Derartiges gegeben hatte. Er suchte verzweifelt, wollte verstehen, was ihn bewegt hatte; aber er fand nichts: er starrte ein leeres Haus an. Er eilte heim, dorthin, wo Leiser wohnte.
»Guter Film?« fragte Johnson. »Sehr nett.«
»Ich dachte, Sie wollten Spazierengehen«, sagte Haldane vorwurfsvoll und sah vom Kreuzworträtsel auf. »Ich hab' mir's anders überlegt.«
»Übrigens«, sagte Haldane, »was Leisers Pistole betrifft: er scheint die Drei-acht besonders zu schätzen.«
»Ja. Jetzt wird sie Neun-Millimeter genannt.«
»Nach seiner Rückkehr sollte er beginnen, sie bei sich zu tragen.
Natürlich ungeladen.« Er warf einen Blick auf Johnson. »Besonders wenn er mit dem Funkkurs beginnt. Gleich von Anfang an. Er muß sie die ganze Zeit über bei sich haben. Wir wollen ihn dazu bringen, daß er sich ohne sie verloren fühlt. Ich habe eine besorgen lassen. Sie werden sie in Ihrem Zimmer finden, Avery, mit verschiedenen Halftern. Vielleicht erklären Sie es ihm, bitte?«
»Wollen Sie es ihm nicht selbst sagen?«
»Das machen besser Sie. Sie kommen so gut mit ihm aus.«
Avery ging hinauf, um Sarah anzurufen. Sie war zu ihrer Mutter gezogen. Es war ein sehr steifes Gespräch.
Leiser wählte Bettys Nummer, aber er bekam keine Antwort.
Erleichtert ging er in einen billigen Juwelierladen neben dem Bahnhof, der auch am Samstagnachmittag geöffnet war, und kaufte einen goldenen Anhänger für ihr Armband: eine Kutsche mit Pferden. Er kostete elf Pfund - genau die Summe, die er als Tagegeld erhalten hatte. Er bat den Verkäufer, den Anhänger eingeschrieben an ihre Adresse in South Park zu schicken. Er legte einen Zettel mit folgenden Worten bei: »Bin in zwei Wochen zurück. Sei brav!« Nachdem er schon gedankenlos mit »F. Leiser« unterschrieben hatte, strich er es wieder durch und ersetzte es durch »Fred«.
Er ging ein bißchen spazieren, spielte mit dem Gedanken, ein Mädchen anzusprechen, und nahm sich schließlich in dem Hotel neben dem Bahnhof ein Zimmer. Er schlief wegen des lärmenden Verkehrs sehr schlecht. Am Morgen rief er nochmals bei Betty an, aber wieder hob niemand ab. Rasch legte er den Hörer auf die Gabel zurück; eigentlich hätte er länger warten müssen. Nach dem Frühstück ging er die Sonntagszeitungen kaufen und las in seinem Zimmer die Fußballberichte, bis es Mittag war. Nach dem Essen machte er den gewohnten Spaziergang. Er hatte nur eine unklare Vorstellung davon, durch welche Teile Londons er lief. Er ging den Fluß entlang bis Charing Cross und fand sich schließlich im strömenden Regen in einem leeren Park. Die asphaltierten Wege waren mit gelben Blättern übersät. Im Musikpavillon saß einsam ein alter Mann. Er trug einen schwarzen Mantel und hatte einen Rucksack aus grünem Leinen, wie ein Gasmaskenbeutel, bei sich. Er schlief oder lauschte unhörbarer Musik. Leiser wartete bis zum Abend, um Avery nicht zu enttäuschen. Dann nahm er den letzten Zug heim nach Oxford. Avery kannte eine Kneipe hinter dem Balliol College, in der man an Sonntagen Tischbillard spielen konnte. Johnson spielte gerne eine Partie. Er trank Bier, Avery Whisky. Sie lachten viel; es war eine harte Woche gewesen. Johnson gewann immer. Er spielte methodisch nur die einfachen Löcher, mit den niedrigen Zahlen, während Avery über die Bande das Hunderterloch zu erreichen versuchte.
»Ich hätte nichts gegen ein bißchen Spaß, wie Fred ihn jetzt hat«, sagte Johnson kichernd. Er zielte, stieß zu, und eine weiße Kugel fiel pflichtbewußt in ihr Loch. »Diese Polen sind schrecklich brünstig. Decken alles, diese Polen. Besonders Fred, der ist ein richtiger Reißer. Man kann's an seinem Gang sehen.«
»Sind Sie auch so, Jack?«
»Wenn mir danach ist, schon! Hätte im Augenblick nichts dagegen, wenn ich ehrlich bin.« Sie spielten noch einige Löcher - jeder versunken in seine vom Alkohol beflügelten erotischen Phantasien. »Trotzdem stecke ich lieber in unserer Haut«, sagte Johnson zufrieden. »Sie nicht?«
»Na und ob.«
»Wissen Sie«, sagte Johnson, während er Kreide auf die Spitze seines Billardstockes rieb, »eigentlich sollte ich mit Ihnen gar nicht so sprechen. Sie waren im College und so. Sie gehören einer anderen Klasse an, John.«
Sie tranken einander zu und dachten dabei an Leiser. »Herrgott noch mal«, sagte Avery, »wir kämpfen doch im selben Krieg, oder nicht?«
»Ganz richtig.«
Johnson goß sich den Rest des Bieres ein. Er tat es sehr sorgfältig, aber ein wenig lief über und floß auf den Tisch.
»Auf Fred«, sagte Avery.
»Auf Fred. Hier und dort draußen. Wünsch ihm verdammt viel Glück!«
»Viel Glück, Fred!«
»Ich weiß nicht, wie er mit der B 2 fertigwerden wird«, murmelte Johnson. »Er hat noch sehr viel vor sich.«
»Auf Fred!«
»Fred. Er ist ein lieber Junge. Sagen Sie mal, kennen Sie diesen Kerl Woodford, der mich angeheuert hat?«
»Klar. Er kommt nächste Woche heraus.«
»Haben Sie mal Babs kennengelernt, seine Frau? Das war ein Mädchen, Gott, war das ein Mädchen! Ging mit jedem... Herrgott, die dürfte jetzt auch schon drüber hinaus sein, nehme ich an. Trotzdem, sie macht's immer noch gut, was?«
»Stimmt.« Sie tranken.
»Sie ging mal mit diesem Bürohengst Jimmy Gorton. - Was ist aus dem geworden?«
»Er ist in Hamburg. Geht ihm ausgezeichnet.«
Sie kamen noch vor Leiser nach Hause. Haldane war schon schlafen gegangen.
Es war nach Mitternacht, als Leiser in der Halle seinen nassen Kamelhaarmantel auszog und - da er ein ordentlicher Mensch war - auf einen Bügel hängte. Dann schlich er auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer und machte Licht. Sein Blick schweifte zärtlich über die schweren Möbelstücke, über die mit Schnitzereien und schweren Messingbeschlägen verzierte Kredenz, über den Schreibtisch und den Bibeltisch. Liebevoll betrachtete er wieder die hübschen Damen auf der Croquetwiese und die hübschen Männer auf dem Schlachtfeld, die hochmütigen Jungengesichter unter Strohhüten und die Mädchen in Cheltenham: eine lange Porträtgalerie des Unbehagens, in der auch der leiseste Hauch von Leidenschaft fehlte. Die auf dem Kaminaufsatz stehende Uhr war ein kleiner Pavillon aus blauem Marmor. Die goldenen Zeiger waren so reich verziert, so verschnörkelt und mit Blumen überladen, daß man nur schwer erkennen konnte, wohin die Spitzen deuteten. Sie hatten sich seit seiner Abreise nicht bewegt, vielleicht seit seiner Geburt nicht, und in gewisser Weise war das für eine alte Uhr eine große Leistung.
Leiser nahm seinen Koffer und stieg die Treppe hinauf. Haldane hustete, aber es war dunkel in seinem Zimmer. Leiser klopfte an Averys Tür. »Sind Sie da, John?«
Nach einem Augenblick hörte er, wie sich Avery im Bett aufsetzte. »War's nett, Fred?«
»Das will ich meinen!«
»Mit den Weibern alles klargegangen?«
»Wie gewünscht. Bis morgen, John.«
»Bis morgen, Fred. Fred...«
»Ja, John?«
»Jack und ich hatten eine ziemliche Sitzung. Nur Sie haben dabei noch gefehlt.«
»Das ist wahr, John.«
Langsam, zufrieden und müde ging er den Gang entlang, trat in sein Zimmer, zog seine Jacke aus, zündete eine Zigarette an und warf sich dankbar in den Lehnstuhl. Es war ein großer und sehr bequemer Sessel mit Ohrenbacken. Während er hineinsank, bemerkte er etwas: eine Tabelle zur Umrechnung von Buchstaben in Zahlen hing an der Wand und darunter, in der Mitte der Daunendecke, lag ein alter dunkelgrüner Leinenkoffer mit lederbezogenen Ecken. Er war aufgeklappt und darin befanden sich zwei graue Stahlkassetten. Leiser stand auf und starrte in wortlosem Erkennen auf sie hinunter, streckte seine Hand aus und berührte sie, vorsichtig, als könnten sie heiß sein. Er drehte an dem Abstimmungsknopf, hielt inne und las die Aufschrift an den Schaltern. Es hätte das gleiche Gerät sein können, das er in Holland gehabt hatte: Sender und Empfänger in der einen Kassette, Morsetaster und Kopfhörer in der anderen. Die Kristalle - ein Dutzend - waren in einem Beutel aus Fallschirmseide, der oben mit einer grünen Schnur zusammengezogen war. Er probierte die Morsetaste mit dem Finger, sie kam ihm viel kleiner vor, als er sie in Erinnerung hatte.
Er ging wieder zum Lehnstuhl zurück, während sein Blick auf den Koffer geheftet blieb. Dann saß er steif und schlaflos im Sessel, wie ein Mann auf Totenwache.
Er kam zu spät zum Frühstück. Haldane sagte: »Sie verbringen den ganzen Tag mit Johnson. Vormittag und Nachmittag.«
»Kein Spaziergang?«
Avery war damit beschäftigt, sein Ei aufzuklopfen. »Vielleicht morgen. Von jetzt an sind wir im technischen Training, Spaziergänge stehen leider an zweiter Stelle.«
Control verbrachte die Montagabende recht oft in London, weil er behauptete, das sei der einzige Tag, an dem er in seinem Klub einen Stuhl bekommen könne. Smiley hatte den Verdacht, daß er nur nicht bei seiner Frau bleiben wollte.
»In der Blackfriars Road sprießen die Blumen, wie ich höre«, sagte er. »Leclerc soll in einem Rolls Royce durch die Gegend fahren.«
»Es ist ein ganz gewöhnlicher Humber«, entgegnete Smiley. »Aus dem Fuhrpark des Ministeriums.«
»Daher stammt er?« fragte Control mit hochgezogenen Brauen. »Ist das nicht lustig? Die Black Friars fahren nicht schlecht.«
14. Kapitel
»Sie kennen also das Gerät?« fragte Johnson. »Die B2.«
»O. K. Offizielle Bezeichnung: Type drei, Marke zwei; wird mit Wechselstrom oder einer 6-Volt-Autobatterie betrieben, aber Sie werden den Netzanschluß verwenden, nicht wahr? Man hat festgestellt, daß Sie dort Wechselstrom haben werden. Ihr Verbrauch ist 57 Watt beim Senden und 25 bei Empfang. Also, falls Sie irgendwohin verschlagen werden, wo es nur Gleichstrom gibt, werden Sie sich wohl eine Batterie leihen müssen, was?« Leiser lachte nicht.
»Ihr Netzkabel ist mit Steckern versehen, die in alle europäischen Steckdosen passen.«
»Ich weiß.« Leiser sah Johnson zu, wie er das Gerät einsatzbereit machte. Zuerst verband er Sender und Empfänger durch einen Stecker mit Transformator und Gleichrichter, die in einem eigenen Gehäuse montiert waren. Er verschraubte die Kabelanschlüsse. Nachdem er das Gerät ans Netz angeschlossen und eingeschaltet hatte, stöpselte er das Kabel der winzigen Morsetaste in die Buchsen am Sender und das der Kopfhörer in die des Empfängers. »Das ist eine kleinere Taste als die, die wir im Krieg hatten«, wandte Leiser ein. »Ich hab' sie vergangene Nacht ausprobiert. Meine Finger rutschten dauernd ab.«
Johnson schüttelte den Kopf.
»Tut mir leid, Fred, es ist genau die gleiche.« Er zwinkerte ihm zu. »Vielleicht ist Ihr Finger gewachsen.«
»Schon gut. Nur weiter.«
Johnson zog aus der Zubehörschachtel eine aufgerollte Litze mit Plastikisolierung und befestigte eines ihrer Enden am Antennenausgang. »Die meisten Ihrer Kristalle liegen im Drei-Megahertz-Bereich, so daß Sie Ihre Spule nicht zu wechseln brauchen. Verlegen Sie die Antenne hübsch gespannt, Fred - und nichts mehr kann schiefgehen. Besonders nicht bei Nacht. Jetzt auf die Abstimmung achten: Sie haben Antenne, Erde, Taste, Kopfhörer und Energiequellen hübsch angeschlossen, jetzt schauen Sie auf Ihren Sendeplan und stellen fest, auf welcher Frequenz Sie heute sind, dann suchen Sie den entsprechenden Kristall heraus, klar?« Er hielt eine kleine Kapsel aus schwarzem Bakelit hoch und steckte sie dann mit den aus ihr herausragenden Drahtstiften in den passenden Sockel des Senders. »Die männlichen Teile schön in die Wallalas einführen, sehen Sie, so! Soweit alles klar, Fred? Mache ich zu rasch für Sie?«
»Ich schau schon zu. Fragen Sie nicht dauernd.«
»Jetzt die Kristall-Wahlscheibe auf >alle Kristalle< drehen und den Zeiger der Wellenskala auf Ihre Frequenz einstellen. Wenn Sie auf dreieinhalb Megahertz müssen, stellen Sie den Frequenzknopf zwischen die Drei und die Vier. So, sehen Sie? Jetzt stecken Sie die entsprechende Spule ein, wie herum ist egal, Fred, es ist genug Spielraum da.«
Leiser stützte seinen Kopf mit der Hand, während er sich verzweifelt an die Reihenfolge der Handgriffe zu erinnern versuchte, die ihm früher einmal schon so selbstverständlich gewesen waren. Johnson fuhr methodisch fort: ein Mann, dem sein Beruf eine Selbstverständlichkeit ist. Die sanfte Stimme, deren Monolog die automatischen Bewegungen seiner Hand von Schalter zu Schalter begleitete, war angenehm und sehr geduldig.
»ASE-Knopf auf A für Abstimmung. Das bringt die Anzeige von Anode und Antenne auf zehn. Jetzt können Sie den Trafo einschalten, ja?« Er deutete auf die Meßskala: »Sie sollten eine Anzeige von dreihundert bekommen. Es ist nahe genug dran, Fred. Jetzt kann ich's versuchen: ich drehe den Wahlknopf des Meßinstrumentes auf drei und spiel' mit der V-Abstimmung, bis ich den größten Ausschlag bekomme. Jetzt dreh' ich weiter auf sechs.«
»Was ist V?«
»Verstärker, Fred. Wußten Sie das nicht?«
»Weiter.«
»Ich drehe die Anodenabstimmung bis zum kleinsten Anschlag - hier ist er! Hundert, nicht mehr, wenn der Knopf auf zwei zeigt. Jetzt den ASE rüber auf S - S für Sender, Fred - und Sie können auch schon die Antenne trimmen. Hier - drücken Sie auf die Taste. So ist's recht sehen Sie? Sie bekommen einen höheren Ausschlag, weil Sie zusätzlich Energie in die Antenne schicken, ist ja klar, nicht?« Schweigend vollzog er das kurze Ritual der Antennenabstimmung, bis die Nadel des Meßinstrumentes gehorsam ihren vorgesehenen Platz einnahm. »Schon erledigt«, erklärte er triumphierend. »So, jetzt ist Fred dran. Hier, Ihre Hände sind ja ganz naß. Sie müssen aber ein Wochenende gehabt haben, mein Lieber! Warten Sie, Fred!« Johnson ging aus dem Zimmer und kam mit einer riesigen weißen Pfeffermühle zurück, aus der er sorgfältig Kreidestaub auf den schwarzen Knopf der Morsetaste streute. Er sagte: »Wenn Sie mich fragen, Fred, dann lassen Sie die Mädchen in Ruhe, von jetzt an!« Leiser betrachtete seine geöffnete Hand. In den Falten hatten sich Schweißperlen gesammelt. »Ich konnte nicht schlafen.«
»Das glaube ich Ihnen sofort.« Johnson tätschelte liebevoll den Gerätekoffer. »Von jetzt an werden Sie mit ihr hier schlafen. Sie ist Mrs. Fred, klar? Und niemand anderer!« Er baute das Gerät wieder ab und wartete, bis Leiser mit kindlicher Langsamkeit begann, es mühsam erneut zusammenzusetzen - so viele Jahre waren seit damals vergangen. Tag für Tag saßen Leiser und Johnson im Schlafzimmer an dem kleinen Tisch und klopften ihre Meldungen herunter. Manchmal fuhr Johnson auch mit dem Lieferwagen weg und ließ Leiser allein. Dann ging es zwischen ihnen bis zum Morgengrauen hin und her. Oder Leiser und Avery fuhren zu einem in Fairford gemieteten Haus - Leiser wurde nicht allein fortgelassen -, von wo sie nach ihrem Erkennungszeichen Meldungen absetzten, die wie die Sprüche von Amateurfunkern aufgemacht waren. Leiser hatte sich merklich verändert; er war nervös und unsicher geworden. Er beschwerte sich bei Haldane darüber, wie mühsam es sei, immer wieder die Frequenz wechseln zu müssen, wie schwer es war, jedesmal das Gerät neu abzustimmen, wie wenig Zeit er dafür hatte. Johnson gegenüber verhielt er sich stets unsicher. Johnson war später zu ihnen gestoßen, und aus irgendeinem Grund bestand Leiser darauf, ihn als Außenseiter zu behandeln, dem er keine volle Zugehörigkeit zu der verschworenen Gemeinschaft zubilligen wollte, von der er sich einbildete, daß sie zwischen Avery, Haldane und ihm selbst bestehe. Eine besonders lächerliche Szene ereignete sich einmal beim Frühstück. Leiser hob den Deckel eines Marmeladetopfes, betrachtete den Inhalt und fragte, indem er sich an Avery wandte: »Ist das Bienenhonig?«
Johnson beugte sich mit dem Messer in der einen und dem Butterbrot in der anderen Hand über den Tisch. »In England sagt man das nicht, Fred. Wir nennen es einfach Honig.«
»Das meine ich: Honig, Bienenhonig.«
»Einfach: Honig«, wiederholte Johnson. »Engländer sagen einfach Honig dazu.«
Leiser setzte den Deckel wieder sorgfältig auf den Topf, Er war blaß vor Zorn. »Ich brauche keine Belehrungen von Ihnen.«
Haldane sah von seiner Zeitung auf und sagte scharf: »Seien Sie still, Johnson. Bienenhonig ist absolut korrekt.«
Leisers Höflichkeit hatte etwas Unterwürfiges, seine Streitigkeiten mit Johnson erinnerten an den Hinterhof. Von derartigen Zusammenstößen abgesehen, entwickelten die beiden jedoch wie alle Männer, die täglich an einer gemeinsamen Aufgabe zusammenarbeiten müssen, eine zunehmende Abhängigkeit von den gleichen Hoffnungen, Stimmungen und Depressionen. Hatte es beim Unterricht keine Schwierigkeiten gegeben, so verlief die folgende Mahlzeit in fröhlicher Stimmung. Die beiden warfen sich dann nur für Eingeweihte verständliche Bemerkungen über den Zustand der Ionosphäre, das Überwechseln auf eine andere Frequenz oder einen ungewöhnlichen Instrumentenausschlag zu, der sich während des Abstimmens ergeben hatte. Wenn der Unterricht schlecht verlaufen war, sprachen sie wenig oder überhaupt nicht, und alle außer Haldane schlangen hastig ihr Essen hinunter, da sie nichts zu sagen hatten. Manchmal fragte Leiser, ob er nicht einen Spaziergang mit Avery machen könne, aber Haldane schüttelte dann den Kopf und sagte, dafür sei keine Zeit. Avery, ein schuldbewußter Liebhaber, machte keine Anstalten, ihm zu Hilfe zu kommen.
Als die zwei Wochen ihrem Ende entgegengingen, erhielt das Mayfly-Haus den Besuch verschiedener Spezialisten aus London. Ein großer Mann mit tiefliegenden Augen unterwies Leiser im Gebrauch einer überkleinen Miniaturkamera mit Wechseloptik, und ein Arzt - gütig und vollkommen uninteressiert - lauschte endlos lange auf Leisers Herzschlag. Auf diesem Besuch hatte das Schatzamt bestanden, da es um die Frage der Hinterbliebenenrente ging. Leiser erklärte zwar, keine Angehörigen zu besitzen, aber um das Schatzamt zufriedenzustellen, wurde er dennoch untersucht.
Die Pistole übte eine sehr beruhigende Wirkung auf Leiser aus. Avery hatte sie ihm nach der Rückkehr von seinem freien Wochenende gegeben. Er bevorzugte ein Achselhalfter - der Schnitt seiner Jacke ließ die Ausbuchtung kaum erkennen -, und am Ende eines langen Tages pflegte er die Waffe hervorzuholen und mit ihr zu spielen, indem er durch ihren Lauf blickte, sie hob und senkte wie damals im Schießstand. »Es gibt keine bessere Pistole«, sagte er dann, »zumindest nicht in diesem Kaliber. Nicht geschenkt möchte ich eine von den Typen, die sie auf dem Festland verwenden. Das sind Waffen für Weiber. Wie ihre Autos. Ich kann Ihnen versichern, John, die Drei-Acht ist die Beste.«
»Man nennt sie jetzt Neun-Millimeter.« Die Ablehnung, die Leiser unverhohlen gegenüber Fremden zeigte, erreichte ihren unerwarteten Höhepunkt, als Hyde zu Besuch kam, ein Mann aus dem Rondell. Es war ein Vormittag, an dem alles schiefging. Leiser hatte nach der Stoppuhr geprobt, vierzig Gruppen entschlüsselt und dann gesendet. Eine Funkbrücke verband sein Schlafzimmer mit dem Johnsons, über die sie hinter verschlossenen Türen Meldungen austauschten. Johnson hatte ihm eine Reihe international üblicher Kode-Abkürzungen beigebracht: QRJ - Ihre Zeichen sind zu schwach, QRW - bitte schneller, QSD - Sie morsen schlecht, QSM - letzte Meldung wiederholen, QSZ - bitte jedes Wort zweimal senden, QRU - ich habe nichts für Sie. Obwohl Johnsons Bemerkungen über die zunehmend ungleichmäßiger werdenden Morsezeichen Leisers derart verschlüsselt waren, verwirrten sie Leiser noch mehr, bis er schließlich mit einem Fluch sein Gerät abschaltete und zu Avery hinunterging. Johnson folgte ihm.
»Hat keinen Sinn, aufzugeben, Fred.«
»Lassen Sie mich in Ruhe!«
»Schauen Sie, Fred: Sie haben es ganz verkehrt gemacht. Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollten die Anzahl der kommenden Gruppen vor jeder Meldung senden. Sie können sich aber auch gar nichts merken!«
»Und ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen mich in Ruhe lassen!« Er wollte gerade noch etwas hinzusetzen, als die Türglocke läutete. Es war Hyde. Mit ihm kam ein Assistent, ein dicker Mensch, der irgendein Mittel gegen die Folgen des schlechten Wetters lutschte. Beim Mittagessen wurden keine Tonbänder abgespielt. Ihre Gäste saßen nebeneinander und kauten mürrisch, als hätten sie jeden Tag das gleiche Essen, das sie nur wegen des Nährwertes zu sich nahmen. Hyde war ein magerer, dunkelhäutiger Mann ohne den geringsten Anflug von Humor. Er erinnerte Avery an Sutherland. Er war gekommen, um Leiser eine neue Identität zu geben. Er hatte Papiere mitgebracht, die Leiser unterschreiben mußte Ausweise, eine Art Lebensmittelkarten, einen Führerschein, einen Erlaubnisschein, der zum Betreten des Grenzgebietes innerhalb eines gewissen Abschnittes berechtigte -, sowie ein altes Hemd, das er aus der Aktentasche zog. Nach dem Essen breitete er alles auf dem Tisch im Salon aus, während der Assistent seine Kamera fertig machte.
Leiser mußte das Hemd anziehen, und sie fotografierten ihn von vorn, so daß seine beiden Ohren entsprechend den ostdeutschen Vorschriften zu sehen waren. Dann zeigten sie ihm, wie er zu unterschreiben hatte.
Er wirkte nervös.
»Wir werden Sie Freiser nennen«, sagte Hyde, als sei die Angelegenheit damit erledigt. »Freiser? Das klingt ja wie mein richtiger Name.«
»Eben. Das soll es auch. Ihre Leute wollten es so haben. Für die Unterschriften und so - damit's keine Schwierigkeiten damit gibt. Besser, Sie versuchen es vorher ein paarmal, ehe Sie unterschreiben.«
»Ich hätte es lieber anders. Ganz anders.«
»Wir werden bei Freiser bleiben, glaube ich«, sagte Hyde. »So ist es auf höherer Ebene entschieden worden.« Hyde war ein Mann, der sich ganz auf passive Verbalformen verließ. Eine ungemütliche Stille folgte. »Ich will's anders. Mir gefällt Freiser nicht, und ich möchte es anders.« Auch Hyde gefiel ihm nicht, und er war drauf und dran, das ebenfalls zu sagen. Haldane mischte sich ein. »Sie haben sich den Anweisungen zu fügen. Die Organisation hat die Entscheidung getroffen. Von Änderungen kann keine Rede sein.«
Leiser war sehr blaß geworden. »Dann kann man diese Anweisungen verdammt einfach durch neue ersetzen. Ich will einen anderen Namen, weiter nichts. Das ist doch nicht viel, Herrgott, oder? Ich will nicht mehr als einen anderen Namen. Einen anständigen, nicht so eine halbseidene Imitation.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Hyde. »Es ist doch nur für eine Übung, nicht?«
»Sie brauchen gar nichts zu verstehen, Sie sollen es nur ändern. Mehr nicht. Wer, zum Teufel, glauben Sie eigentlich zu sein, daß Sie hier einfach reinkommen und mich herumkommandieren? «
»Ich werde mit London sprechen«, sagte Haldane und ging in sein Zimmer hinauf. Während sie warteten, bis er wieder herunterkam, herrschte peinliches Schweigen.
»Sind Sie mit >Hartbeck< zufrieden?« fragte Haldane. Seine Stimme war nicht ohne Sarkasmus. Leiser lächelte. »Hartbeck. Das ist gut.« Er breitete seine Arme in einer Entschuldigung heischenden Geste aus. »Hartbeck ist gut.«
Leiser übte die Unterschrift zehn Minuten, dann unterzeichnete er die Papiere, wobei er jedesmal zuerst eine kleine Bewegung machte, als müsse er Staub entfernen.
Hyde erklärte ihnen die Dokumente. Er brauchte sehr lange dazu. In Ostdeutschland, sagte er, gebe es derzeit kein richtiges Rationierungssystem, aber man lasse sich bei bestimmten Geschäften einschreiben und erhalte eine Bestätigung darüber. Er erklärte das Prinzip der Reisegenehmigungen und die Voraussetzungen, unter denen man welche bekomme. Er sprach lange darüber, daß Leiser seinen Personalausweis jedesmal ungefragt vorlegen müsse, wenn er eine Fahrkarte kaufen oder ein Hotelzimmer nehmen wolle. Leiser begann mit ihm zu streiten, und Haldane versuchte, die Sitzung abzubrechen. Hyde achtete nicht auf ihn. Erst als er fertig war, nickte er ihnen zu und ging, gemeinsam mit seinem Fotografen, nachdem er noch das alte Hemd zusammengelegt und in seiner Aktentasche verstaut hatte, als gehöre es zu seiner Ausrüstung.
Der Ausbruch Leisers schien Haldane sehr zu beschäftigen. Er rief in London an und befahl seinem Assistenten Gladstone, in Leisers Akte nach irgendeinem Hinweis auf den Namen Freiser zu suchen. Er ließ in allen Namenslisten nachsehen - ohne Erfolg. Als Avery andeutete, Haldane messe dem Zwischenfall wohl zuviel Bedeutung bei, schüttelte der andere den Kopf. »Wir warten auf den zweiten Schwur«, sagte er.
Nach Hydes Besuch erhielt Leiser nun täglich Unterricht über seine neue Identität. Er, Avery und Haldane entwarfen Schritt für Schritt eine bis ins kleinste Detail gehende Lebensgeschichte des Mannes Hartbeck. Sie führten ihn in seinen Berufsalltag ein, in seine Vorlieben und Freizeitgewohnheiten, sein Liebesleben und die Wahl seines Freundeskreises. Zusammen drangen sie bis in die entlegensten Ecken des mutmaßlichen Daseins dieses Mannes vor, verliehen ihm Fähigkeiten und Eigenschaften, die Leiser selbst kaum besaß.
Woodford brachte die neuesten Nachrichten aus London.
»Der Direktor hält sich großartig.« Die Art, in der Woodford das sagte, klang, als ringe Leclerc mit einer schweren Krankheit. »Heute in einer Woche fahren wir nach Lübeck. Jimmy Gorton hat sich um die deutschen Grenzer gekümmert. Er sagt, sie seien ziemlich zuverlässig. Wir haben die Stelle für den Übergang festgelegt, und ein Bauernhaus außerhalb der Stadt gemietet. Er hat ausgestreut, wir wären eine Gruppe von Wissenschaftlern, die Ruhe und frische Luft haben wollen.« Woodford warf Haldane einen Blick geheimen Einverständnisses zu. »Die Organisation arbeitet großartig. Wie 'ne Eins. Und welcher Geist dahintersteckt, Adrian! Jetzt fragt kein Mensch nach den Dienststunden. Oder nach dem Rang - Dennison, Sandford. wir sind einfach ein Team, Sie sollten mal sehen, wie sich Clarkie im Ministerium wegen der Pension für die Frau des armen Taylor schlägt.« Mit leiser Stimme setzte er hinzu: »Wie macht sich Mayfly?«
»Ganz gut. Er ist oben und morst.«
»Seine Nerven? Ist er noch mal so explodiert, oder was Ähnliches?«
»Nicht, daß ich wüßte«, erwiderte Haldane, als sei es ohnehin nicht zu erwarten, daß er Bescheid wisse.
»Entwickelt er Unternehmungslust? Manchmal wollen sie hin und wieder ein Mädchen.« Woodford hatte Zeichnungen von sowjetischen Raketen mitgebracht. Sie waren von Zeichnern des Ministeriums nach Fotografien aus der Auswertungsabteilung angefertigt worden und maßen 60 mal 90 Zentimenter. Man hatte sie säuberlich auf Karton aufgezogen. Einige waren als Geheimsache gestempelt. Besonders wichtige Merkmale waren mit kleinen Pfeilen bezeichnet, und die Beschriftung wirkte seltsam kindisch: Flosse, Spitze, Treibsatz, Ladung. Neben jeder Rakete stand eine lustige kleine Figur, die wie ein Pinguin mit Sturzhelm aussah, und daneben hieß es in Druckschrift: »Menschliche Durchschnittsgröße«. Woodford verteilte sie an den Wänden des Zimmers, als seien sie sein eigenes Werk. Avery und Haldane sahen ihm schweigend dabei zu.
»Er kann sie sich nach dem Essen ansehen«, sagte Haldane. »Lassen Sie sie bis dahin zusammen.«
»Ich habe auch einen Film mitgebracht, um ihm etwas Hintergrundinformationen zu geben: Startvorbereitungen, wie diese Dinge transportiert werden, ein bißchen über ihre Zerstörungskraft. Der Direktor meinte, es wäre nicht schlecht, wenn er weiß, was man damit anrichten kann. Es könnte ihn anfeuern.«
»Er braucht keine Anfeuerung«, sagte Avery. Dann fiel Woodford etwas ein. »Ach ja: Ihr kleiner Gladstone möchte mit Ihnen sprechen. Er sagte, es sei dringend - wußte nur nicht, wie er Sie erreichen kann. Ich sagte ihm, Sie würden anrufen, sobald Sie Zeit haben. Offenbar haben Sie ihn gebeten, irgendwas im Mayfly-Gebiet zu erledigen. Wegen der Industrie - oder waren es Manöver? Er sagte, er hätte die Antwort jetzt vorliegen. Er gehört zur besten Kategorie untergeordneter Dienstgrade, dieser Bursche.« Nach einem Blick zur Decke fragte er: »Wann kommt Fred herunter?«
Haldane sagte scharf: »Ich möchte nicht, daß Sie ihn sehen, Bruce.« Es kam nicht oft vor, daß Haldane einen Vornamen benützte. »Sie werden leider in der Stadt essen müssen. Verrechnen Sie es.«
»Warum denn das, um Himmels willen?«
»Sicherheit. Ich sehe keine Notwendigkeit, daß er mehr Leute von uns kennt, als unbedingt erforderlich ist. Die Zeichnungen sprechen für sich selbst. Nehme an, der Film nicht weniger.«
Woodford ging, zutiefst verletzt. Jetzt wußte Avery, daß Haldane Leisers Irrglauben aufrechterhalten wollte, die Organisation beschäftige keine Trottel. Für den letzten Tag des Kurses hatte Haldane eine ausgedehnte Übung vorgesehen, die von zehn Uhr vormittags bis acht Uhr abends dauern sollte. Sie verband optische Beobachtungen in der Stadt, heimliches Fotografieren und das Abhören von Tonbändern miteinander. Die von Leiser tagsüber gesammelten Informationen waren dann in einen Bericht zusammenzufassen, der verschlüsselt und am Abend per Funk an Johnson durchzugeben war. Am Morgen, während der Befehlsausgabe, herrschte Ausgelassenheit. Johnson machte eine scherzhafte Bemerkung darüber, daß man nicht aus Versehen die Polizei von Oxford fotografieren solle, worüber Leiser herzhaft lachte. Selbst Haldane erlaubte sich ein schiefes Lächeln. Es war Semesterschluß, die Jungen standen kurz vor der Heimfahrt.
Die Übung war ein großer Erfolg. Johnson war zufrieden, Avery begeistert, Leiser deutlich entzückt. Sie hatten zwei Sendungen gemacht, die fehlerlos ausgefallen waren, wie Johnson berichtete. Fred sei ruhig und sicher wie ein Felsen gewesen. Als sie um acht Uhr zum Abendessen zusammenkamen, trugen sie ihre besten Anzüge. Das Essen war besonders gut, und Haldane stellte den Rest seines Burgunders zur Verfügung, mit dem sie Trinksprüche ausbrachten. Sie sprachen von regelmäßigen Treffen, zu denen sie in künftigen Jahren zusammenkommen wollten. Leiser sah sehr schneidig aus in seinem dunkelblauen Anzug mit der silbernen Moirekrawatte. Johnson wurde ziemlich betrunken und ließ sich nicht davon abhalten, Leisers Funkgerät herunterzuholen, dem er dann mehrmals als der >Frau Hartbeck< zuprostete. Avery und Leiser saßen beisammen. Die Entfremdung der letzten Woche war gewichen.
Am nächsten Tag, einem Samstag, kehrte Avery mit Haldane nach London zurück. Leiser mußte mit Johnson bis zur Abreise der ganzen Gruppe nach Deutschland in Oxford zurückbleiben. Die Abreise sollte Montag erfolgen. Am Sonntag würde ein Lieferwagen der Luftwaffe kommen und Leisers Gerätekoffer abholen, der unabhängig von ihnen zu Gorton nach Hamburg, und zusammen mit Johnsons transportabler Funkstation zu dem Bauernhaus in der Nähe von Lübeck gebracht werden sollte, von dem aus das Unternehmen Mayfly seinen Ausgang nehmen würde. Ehe Avery das Haus verließ, machte er noch einen letzten Rundgang, teils aus Sentimentalität, teils aus Sorge um die Einrichtung, da er den Mietvertrag unterschrieben hatte.
Während der Reise nach London war Haldane sehr unruhig.
Offenbar wartete er noch immer auf irgendeine unvorhergesehene Krise Leisers.
15. Kapitel
Es war am selben Abend. Sarah war schon im Bett. Ihre Mutter hatte sie nach London gebracht. »Wann immer du mich brauchst«, sagte er, »komme ich zu dir, wo du auch bist.«
»Du meinst, wenn ich im Sterben liege.« Analysierend fügte sie hinzu: »Das gleiche tue ich für dich, John.
Darf ich meine Frage jetzt wiederholen?«
»Montag. Es fährt eine Gruppe von uns.« Wie Kinder spielten sie getrennt, jeder für sich.
»Ich welchen Teil Deutschlands?«
»Einfach Deutschland, Westdeutschland. Zu einer Konferenz.«
»Noch mehr Leichen?«
»Himmelherrgott, Sarah, glaubst du, ich will dir etwas verheimlichen?«
»Ja, John, das glaube ich«, sagte sie einfach. »Ich glaube, dir würde an dem Job gar nichts mehr liegen, wenn du mir davon erzählen dürftest. Es gibt dir eine Freiheit, von der ich ausgeschlossen bin.«
»Ich kann dir nur sagen, daß es eine große Sache ist... ein große Operation. Mit Agenten. Ich habe sie geschult.«
»Wer ist der Leiter?«
»Haldane.«
»Ist das nicht derselbe, der dir Intimitäten über seine Frau erzählt? Ich finde ihn einfach widerlich.«
»Nein, das ist Woodford. Haldane ist ganz anders. Er ist seltsam. Pedantisch, zurückhaltend. Sehr fähig.«
»Aber sie sind alle fähig, nicht wahr? Auch Woodford ist fähig.«
Ihre Mutter brachte den Tee herein. »Wann kannst du aufstehen?« fragte er. »Wahrscheinlich Montag. Hängt vom Doktor ab.«
»Sie wird Ruhe brauchen«, sagte ihre Mutter und ging hinaus.
»Wenn du daran glaubst, tu es«, sagte Sarah. »Aber mach nicht...« Sie brach ab und schüttelte den Kopf, jetzt das kleine Mädchen.
»Du bist eifersüchtig. Du bist eifersüchtig auf meine Arbeit und die Schweigepflicht. Du willst nicht, daß ich an meine Arbeit glaube!«
»Mach weiter. Glaube an sie, wenn du kannst.« Eine Zeitlang sahen sie einander nicht an. »Wenn es nicht wegen Anthony wäre, würde ich dich wirklich verlassen«, sagte Sarah schließlich. »Weshalb?« fragte Avery hoffnungslos. Dann bemerkte er die günstige Gelegenheit: »Laß dich durch Anthony nicht abhalten.«
»Du redest nie mit mir: genausowenig wie du mit Anthony redest. Er kennt dich kaum.«
»Worüber kann man schon reden?«
»Ach Gott!«
»Du weißt, daß ich nicht über meine Arbeit sprechen kann. Ich erzähle dir sowieso mehr, als ich dürfte: das ist der Grund, warum du immer über die Organisation spottest, nicht wahr? Du kannst sie nicht verstehen und willst es auch nicht. Es paßt dir nicht, daß sie geheim ist, aber du verachtest mich, wenn ich gegen diese Regel verstoße.«
»Fang nicht wieder damit an.«
»Ich tue es auch nicht«, sagte Avery. »Ich habe mich entschieden.«
»Aber vergiß diesmal wenigstens das Geschenk für Anthony nicht.«
»Ich habe ihm doch diesen Milchwagen gekauft.« Wieder schwiegen sie.
»Du solltest Leclerc kennenlernen«, sagte Avery. »Ich glaube, du solltest mit ihm sprechen. Er schlägt es immer wieder vor. Ein Abendessen. er würde dich vielleicht überzeugen.«
»Wovon?«
Sie hatte entdeckt, daß vom Saum ihres Bettjäckchens ein Faden herunterhing. Seufzend nahm sie aus der Lade des Nachttisches eine Nagelschere und schnitt ihn ab.
»Du hättest ihn vernähen sollen. So machst du nur deine Kleider kaputt«, sagte Avery. »Wie sind sie?« fragte sie, »diese Agenten. Warum tun sie es?«
»Zum Teil aus Loyalität, zum Teil für Geld, nehme ich an.«
»Du willst sagen, du bestichst sie?«
»Halt den Mund!«
»Sind es Engländer?«
»Einer von ihnen. Stell mir keine Fragen mehr, Sarah; ich kann es dir nicht sagen.« Sein Kopf näherte sich dem ihren. »Frag mich nicht, Liebes.« Er griff nach ihrer Hand. Sie zog sie nicht zurück. »Und es sind alles Männer?«
»Ja.«
Plötzlich sagte sie schnell und mit völlig veränderter Stimme, ohne Tränen zwar, aber sehr bewegt, als sei die Zeit der Gespräche vorbei und dies ihr Entschluß: »John, ich möchte es wissen. Ich muß es wissen, jetzt, bevor du gehst. Es ist eine schrecklich unenglische Frage, aber seit du dort arbeitest, hast du mir immer wieder gesagt, daß Menschen nicht zählten, ich nicht, Anthony nicht, und nicht die Agenten. Du hast mir gesagt, du hättest eine Berufung gefunden. Was ruft dich, das möchte ich wissen. Was ist das für eine Art Berufung? Das ist die Frage, auf die du mir nie eine Antwort gegeben hast und derentwegen du dich vor mir versteckst. Bist du ein Märtyrer, John? Sollte ich dich für deine Taten bewundern? Bringst du Opfer?«
Avery sagte kurz, wobei er es vermied, sie anzusehen: »Es ist nichts von alledem. Ich mache eine Arbeit. Ich bin ein Techniker, ein Rädchen im Apparat. Du willst mich zu dem Geständnis bringen, daß ich auf zwei verschiedenen Ebenen denke. Du willst mir den Widerspruch beweisen.«
»Nein. Du hast schon gesagt, was ich hören wollte: daß ihr euer Leben abschirmen müßtet und diese Abschirmung nicht durchbrechen dürftet. Das ist nicht auf zwei Ebenen gedacht, sondern überhaupt nicht. Es ist so demütig gehandelt. Hältst du dich wirklich für so klein?«
»Du hast mich klein gemacht. Verhöhne mich nicht. Jetzt machst du mich klein.«
»John, ich schwöre dir, daß ich das nicht will. Als du gestern abend nach Hause kamst, hast du wie frisch verliebt ausgesehen. Auf eine Art verliebt, bei der man zufrieden und glücklich ist. Du wirktest befreit und gelockert. Einen Augenblick dachte ich, du hättest eine Frau gefunden. Das war der Grund, warum ich gefragt habe, ob es nur Männer gebe. Ich dachte, du wärest verliebt. Jetzt sagst du mir, du seist eine Null, und scheinst auch noch stolz darauf zu sein.« Er wartete, dann sagte er mit dem gleichen Lächeln, das er auch Leiser zu schenken pflegte: »Du hast mir schrecklich gefehlt, Sarah. Ich bin in Oxford zu dem Haus gegangen, dem Haus in der Chandos Road, erinnerst du dich? Es ist für uns schön dort gewesen, nicht wahr?« Er drückte ihre Hand. »Sehr schön. Ich dachte daran, an unsere Heirat, an dich. Und an Anthony. Ich liebe dich, Sarah. Ich liebe dich wirklich. Für alles. wie du unseren Sohn erziehst.« Er lachte leise. »Ihr seid beide so verletzbar, daß ich euch manchmal kaum auseinanderhalten kann.« Sie antwortete nicht, also fuhr er fort: »Ich dachte, wir könnten vielleicht aufs Land ziehen, ein Haus kaufen. Ich bin jetzt fest drin: Leclerc würde uns sicher helfen, einen Kredit zu bekommen. Dann könnte Anthony im Garten spielen. Man braucht sich nicht mit allem abzufinden. Wir könnten ins Theater gehen, wie in Oxford.«
Sie sagte abwesend: »Ja, taten wir das? Auf dem Land können wir doch nicht ins Theater gehen, oder?«
»Die Organisation bedeutet mir etwas, verstehst du das nicht? Es ist eine wirkliche Position. Und wichtig, Sarah.«
Sie schob ihn sanft weg. »Meine Mutter hat uns für Weihnachten nach Reigate eingeladen.«
»Wird sehr nett sein. Schau, wegen des Büros: Nach allem, was ich getan habe, ist man mir jetzt verpflichtet. Sie erkennen mich als Gleichwertigen an, als Kollegen. Ich bin einer von ihnen.«
»Du trägst also keine Verantwortung? Du bist nur ein Teil der Gruppe. Also brauchst du keine Opfer zu bringen.« Sie waren so weit wie am Anfang. Avery, der das nicht begriffen hatte, fuhr sanft fort: »Ich kann ihm doch sagen, daß du kommen wirst? Daß wir einmal zusammen essen gehen?«
»Herrgott noch mal, John«, fuhr sie ihn an, »hör auf, mich wie einen deiner verdammten Agenten zu behandeln.«
Haldane saß inzwischen an seinem Schreibtisch und studierte Gladstones Bericht. Zweimal hatte es in der Gegend von Kalkstadt Manöver gegeben: 1952 und 1960. Beim zweitenmal hatte russische Infanterie ohne Deckung aus der Luft, aber mit der Unterstützung schwerer Panzer einen Angriff auf Rostock simuliert. Über das Manöver im Jahre 1952 wußte man wenig, außer, daß ein großer Truppenteil die Stadt Wolken besetzt hatte. Man nahm an, daß sie magentarote Schulterstücke getragen hatten. Der Bericht war nicht zuverlässig. Beide Male war die Gegend zum Sperrgebiet erklärt gewesen, und zwar bis zur Küste im Norden. Der Bericht enthielt auch eine lange Aufzählung der wichtigsten Industrieanlagen dieser Gegend. Es gab einige Hinweise - sie stammten vom Rondell, das sich aber weigerte, die Quelle anzugeben -, daß auf einem Plateau östlich von Wolken eine neue Raffinerie errichtet würde, und daß die maschinelle Ausrüstung aus Leipzig geliefert worden war. Es war zwar unwahrscheinlich, aber doch denkbar, daß das Material auf dem Schienenweg über Kalkstadt befördert worden war. Es gab weder einen Hinweis auf irgendwelche Veränderungen der Bevölkerung oder der Industrie noch irgendeinen Vorfall, der auf eine vorübergehende Absperrung dieser Stadt hätte schließen lassen können.
Unter Haldanes Eingängen lag eine Notiz vom Archiv: Man habe die von ihm angeforderten Akten herausgesucht, er könne sie aber nur in der Bibliothek lesen, da einige den Geheimhaltungsvorschriften unterlägen. Er ging hinunter, öffnete das Kombinationsschloß an der Stahltür zum Archiv und tastete vergebens nach dem Lichtschalter. Schließlich gab er es auf und tastete sich im Dunkeln zwischen den Regalen hindurch bis zu dem kleinen fensterlosen Raum im hintersten Teil des Gebäudes, wo die wichtigsten und strengst geheimen Dokumente aufbewahrt wurden. Es war stockdunkel. Er riß ein Streichholz an, fand den Schalter und machte Licht. Auf dem Tisch lagen zwei mit rotem Band verschnürte Aktenbündel. Das eine war die Akte Mayfly, die bereits drei Ordner füllte und nur einem sehr beschränkten Personenkreis zugänglich war. Eine Liste der entsprechenden Namen war auf den Deckel geklebt. Das zweite Bündel trug die Anschrift: >Betrüger (Sowj. und Ostdeutschland), und war eine in Kartonmappen musterhaft angelegte Sammlung von Papieren und Fotografien. Nach einem kurzen Blick in die Akte Mayfly wandte Haldane seine Aufmerksamkeit den Mappen zu und blätterte in der entmutigenden Ansammlung von Schurken, Doppelagenten und Verrückten, die in jedem denkbaren Winkel der Erde unter jedem denkbaren Vorwand - und manchmal sogar mit Erfolg - versucht hatten, die westlichen Nachrichtendienste zu täuschen. Ihre Arbeitsweise war von langwieriger Gleichförmigkeit: ein Körnchen Wahrheit, das aus Berichten der Tagespresse und dem Tratsch des Wochenmarktes stammte, wurde mit eigenen Zufallsbeobachtungen vermischt, die jegliche Sorgfalt vermissen ließen und dadurch die Verachtung des Betrügers für den Betrogenen verrieten, um sich schließlich in einem Schwall blühender Phantasie aufzulösen, der mit seiner schon beinahe künstlerischen Unverschämtheit auch noch die letzte Beziehung zur Wahrheit zerstörte.
Einer der Berichte war durch einen eingelegten Zettel mit Gladstones Initialen gekennzeichnet, auf dem in behutsamer runder Handschrift vermerkt war: »Könnte für Sie interessant sein.«
Es war der Bericht eines Flüchtlings über Versuche, die angeblich mit sowjetischen Panzern in der Nähe von Gutsweiler angestellt worden waren. Er trug den Vermerk: »Nicht verwenden. Erfindung!« Der Vermerk war mit einer ausführlichen Begründung versehen, aus der hervorging, daß ganze Absätze wortwörtlich von einem 1949 erschienenen sowjetischen Militärhandbuch abgeschrieben waren. Der Verfasser schien einfach jede Zahlenangabe des Originals um rund ein Drittel vergrößert und das Ganze mit einigen eigenen Einfallen gewürzt zu haben. Er hatte sechs sehr verwackelte Fotos beigelegt, die den Eindruck erweckten, als seien sie mit dem Teleobjektiv aus einem fahrenden Zug aufgenommen worden. Auf der Rückseite der Fotos stand in McCullochs sorgfältiger Schrift: »Benützte angeblich Exa Zwei-Kamera. Ostdeutsches Fabrikat, schlechtes Gehäuse. Exakta Tele-Optik. Niedere Verschlußgeschwindigkeit. Negative durch Rütteln des Zuges sehr verwackelt. Sehr zweifelhaft.« Das alles sagte nicht viel. Die gleiche Kameramarke, mehr nicht. Er schloß das Archiv ab und ging nach Hause. Leclerc hatte gesagt, es sei nicht seine Aufgabe, den Beweis zu erbringen, daß Christus wirklich am Weihnachtstag auf die Welt gekommen sei. Noch viel weniger, dachte Haldane, war es seine Aufgabe, den Beweis dafür zu erbringen, daß Taylor wirklich ermordet worden war.
Woodfords Frau gab etwas Soda in ihren Scotch, nur einen Spritzer: mehr aus Gewohnheit, als aus Bedürfnis.
»Du meine Güte, im Büro schlafen!« sagte sie. »Bekommst du Einsatzzulage?«
»Ja, selbstverständlich.«
»Also ist es keine Konferenz, nicht wahr? Eine Konferenz ist kein Einsatz. Außer«, fügte sie kichernd hinzu, »ihr habt sie im Kreml.«
»Also gut, es ist keine Konferenz. Es ist ein Einsatz. Und deshalb die Zulage.«
Sie betrachtete ihn durch den aufsteigenden Rauch der zwischen ihren Lippen steckenden Zigarette mit einem erbarmungslosen Blick ihrer halb geschlossenen Augen. Sie war eine magere, kinderlose Frau. »In Wirklichkeit ist überhaupt nichts los. Du hast das alles erfunden.« Sie begann zu lachen. Es klang hart und böse. »Du armer Dummkopf.« Wieder lachte sie. »Wie geht's dem kleinen Clarkie? Ihr habt alle Angst vor ihm, nicht wahr? Warum sagst du nie etwas gegen ihn? Jimmy Gorton war anders. Der hat ihn durchschaut.«
»Erzähl mir nichts von Jimmy Gorton.«
»Jimmy ist wunderbar!«
»Babs, ich warne dich!«
»Der arme Clarkie.« Sie wurde nachdenklich. »Erinnerst du dich an die Einladung zu diesem netten kleinen Abendessen in seinem Club? Damals, als er sich plötzlich erinnert hatte, daß er sich auch uns gegenüber einmal als Wohltäter erweisen müßte? Steak und Nieren und tiefgekühlte Erbsen.« Sie nippte an ihrem Whisky. »Und warmer Gin.« Plötzlich durchfuhr sie ein Gedanke. »Ich frage mich, ob er jemals eine Frau gehabt hat«, sagte sie. »Herrgott, warum ist mir das nicht schon eher eingefallen!« Woodford kehrte auf festeren Boden zurück. »Also gut, es ist nichts los.« Er stand mit einem dummen Grinsen auf und holte sich Streichhölzer vom Schreibtisch.
»Hier wirst du deine verdammte Pfeife nicht rauchen«, sagte sie automatisch.
»Also es ist nichts los«, wiederholte er zufrieden, zündete seine Pfeife an und sog geräuschvoll daran. »Gott, ich hasse dich!«
Woodford schüttelte, noch immer grinsend, den Kopf. »Mach dir nichts draus«, sagte er. »Mach dir einfach nichts draus. Du hast es gesagt, meine Liebe, und nicht ich. Ich schlafe nicht im Büro. Damit ist alles in Ordnung, nicht wahr? Ich bin auch nicht in Oxford gewesen. Ich war nicht einmal im Ministerium. Ich habe auch kein Auto bekommen, das mich am Abend nach Hause bringt.«
Sie beugte sich vor. Ihre Stimme klang plötzlich drängend und gefährlich. »Was ist los?« stieß sie hervor. »Ich habe ein Recht darauf, es zu erfahren. Ich bin deine Frau, oder nicht? Diesen kleinen Huren im Büro erzählt ihr es ja auch, oder? Also rede!«
»Wir schicken einen Mann über die Grenze«, sagte Woodford. Jetzt war es an ihm, zu triumphieren. »Hier in London habe ich die Sache in der Hand. Es ist eine Krise, vielleicht gibt's sogar einen Krieg. Es handelt sich um eine verdammt heikle Sache.« Das Streichholz war ausgegangen, aber er schwenkte es noch immer mit weit ausholender Armbewegung hin und her, während er sie triumphierend ansah. »Verdammter Lügner«, sagte sie. »Das kannst du jemand anderem erzählen!«
In der Kneipe in Oxford waren fast keine Menschen. Die paar Gäste standen an der Theke, und sie hatten die Tische für sich allein. Leiser nippte an einem White Lady, während der Funker das teuerste Bier bestellt hatte. Es ging auf Rechnung der Organisation. »Nehmen Sie's einfach mit der Ruhe, Fred«, drängte er freundschaftlich. »Mehr brauchen Sie nicht zu tun. Sie sind beim letztenmal großartig gewesen. Wir werden Sie sehr gut hören können. Da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Sie sind nur hundert Kilometer hinter der Grenze. Es ist ein Kinderspiel, solange Sie sich an die Regeln erinnern. Lassen Sie sich nur beim Abstimmen Zeit, sonst sind wir alle aufgeschmissen.«
»Werde daran denken. Keine Bange.«
»Sie können ganz unbesorgt sein. Die Jerries werden Sie nicht hören. Sie geben ja keine Liebesbriefe durch, sondern nur eine Handvoll Zahlengruppen. Dann ein neues Rufzeichen und eine andere Frequenz. Die werden's nie herausfinden, nicht in der kurzen Zeit, die Sie drüben sind.«
»Vielleicht können sie es doch, heutzutage«, sagte Leiser. »Womöglich haben sie seit dem Krieg dazugelernt.«
»Die müssen sich mit allen möglichen Arten von Funkverkehr herumschlagen. Seefahrt, Militär, Luftsicherung, Gott weiß was noch. Die sind auch keine Übermenschen, Fred. Die sind wie wir. Ein träger Haufen. Keine Bange.«
»Ich habe keine Bange. Im Krieg haben sie mich auch nicht gefaßt. Lange nicht.«
»Passen Sie auf, Fred. Was halten Sie davon: noch einen Drink und dann schleichen wir uns hier und machen uns eine gemütliche Stunde mit Frau Hartbeck? Ohne Licht, hm? Sie ist schüchtern, hat's lieber im Dunkeln. Dann haben wir's ganz sicher, ehe wir uns langlegen. Und morgen machen wir blau.« Dann setzte er fürsorglich hinzu: »Schließlich ist morgen Sonntag, nicht wahr?«
»Ich möchte schlafen. Kann ich nicht mal etwas schlafen, Jack?«
»Morgen, Fred. Morgen können Sie sich hübsch ausruhen.« Er drückte Leisers Ellbogen. »Jetzt sind Sie verheiratet, Fred. Da kann man nicht immer schlafen, wissen Sie? Sie haben nun mal den Schwur geleistet. Das pflegten wir früher immer zu sagen.«
»Schon recht, nun lassen Sie das endlich, ja?« Leisers Stimme klang gereizt. »Hören Sie bloß damit auf.«
»Tut mir leid, Fred.«
»Wann fahren wir nach London?«
»Montag, Fred.«
»Wird John dort sein?«
»Wir treffen ihn auf dem Flugplatz. Und den Captain. Sie wollten, daß wir noch ein bißchen üben, die Routinesachen und so.«
Leiser nickte, während er mit dem Zeige- und Mittelfinger leicht auf den Tisch klopfte, als würde er morsen. »Also - weshalb erzählen Sie nicht ein bißchen von den Mädchen, die Sie bei Ihrem Urlaub in London vernascht haben?« schlug Johnson vor. Leiser schüttelte den Kopf.
»Na gut, dann schmeiß ich jetzt noch 'ne Runde, und Sie laden mich auf eine Partie Billard ein.«
Leiser lächelte schüchtern. Er hatte seinen Ärger vergessen. »Ich habe viel mehr Geld als Sie, Jack. Der White Lady kostet 'ne Menge. Lassen Sie nur.« Er kreidete seinen Billardstock und warf eine Münze ein. »Ich spiel doppelt oder nichts gegen Sie - für gestern abend.«
»Schauen Sie, Fred«, bat Johnson ruhig, »setzen Sie nicht dauernd aufs große Geld. Nicht immer nur mit der Roten auf Hundert - bleiben Sie bei den Zwanzigern und Fünfzigern, die leppern sich auch ganz schön zusammen. Damit kommen Sie heil nach Hause.«
Plötzlich war Leiser ärgerlich. Er stellte seinen Stock zurück in den Halter und nahm seinen Kamelhaarmantel vom Haken.
»Was ist denn, Fred? Was, zum Teufel, ist jetzt wieder los?«
»Lassen Sie mich in Gottes Namen in Frieden! Hören Sie auf, sich wie ein beschissener Gefängniswärter aufzuspielen. Ich gehe auf einen Job, wie wir's alle im Krieg getan haben. Ich sitze schließlich nicht in der Exekutionszelle.«
»Seien Sie nicht verrückt«, sagte Johnson sanft, nahm ihm den Mantel ab und hängte ihn wieder an den Haken zurück. »Außerdem sagen wir nicht Exekution, wir sagen Todeszelle.«
Carol stellte den Kaffee vor Leclerc auf den Schreibtisch. Er sah lächelnd auf und sagte >Danke<, müde, aber gut erzogen, wie ein Kind am Ende einer Geburtstagsparty.
»Adrian Haldane ist schon heimgegangen«, bemerkte Carol. Leclerc beugte sich wieder über die Landkarte.
»Ich habe in sein Büro geschaut. >Gute Nacht< hätte er schon sagen können.«
»Das tut er nie«, antwortete Leclerc stolz.
»Kann ich noch irgendwas tun?«
»Ich vergesse immer wieder, wie man Yards in Meter umrechnet.«
»Das weiß ich leider auch nicht.«
»Das Rondell sagte, dieser Graben sei zweihundert Meter lang. Das wären rund zweihundertfünfzig Yards, nicht?«
»Ich glaube; ich werde nachsehen.« Sie ging in ihr Büro und holte sich aus dem Regal ein Buch mit den Umrechnungstabellen. »Ein Meter hat neununddreißig komma siebenunddreißig Zoll«, las sie laut vor. »Hundert Meter sind hundertneun Yards und dreizehn Zoll.« Leclerc schrieb es auf.
»Ich glaube, wir sollten Gorton ein Telegramm mit der Bestätigung schicken, daß alles wie vorgesehen ablaufen wird. Trinken Sie ruhig erst Ihren Kaffee. Bringen Sie Ihren Block dann mit.«
»Ich trinke keinen Kaffee.« Sie holte den Block. »Amtspriorität genügt. Wir wollen den alten Jimmy nicht aus dem Bett holen.« Er strich sich mit seiner kleinen Hand kurz übers Haar. »Erstens: Vorausgruppe Haldane, Avery, Johnson und Mayfly ankommen BEA-Flug soundsoviel, soundsoviel Uhr am 9. Dezember.« Er blickte auf. »Die Einzelheiten lassen Sie sich von der Verwaltung sagen. Zweitens: Alle reisen unter den echten Namen und fahren mit dem Zug weiter nach Lübeck. Aus Sicherheitsgründen werden Sie Gruppe nicht - wiederhole: nicht - am Flughafen treffen, können jedoch mit Avery im Standquartier Lübeck Telefonkontakt herstellen.« Mit einem kurzen Lachen bemerkte er: »Dem alten Adrian kann ich ihn schlecht auf den Hals laden. Die beiden verstehen sich überhaupt nicht.« Mit erhobener Stimme: »Drittens: Gruppe zwo bestehend aus Direktor ohne Begleitung ankommt erst mit Morgenmaschine 10. Dezember. Erbitte Abholung am Flugplatz für kurze Besprechung vor Weiterreise nach Lübeck. Viertens: Ihre Aufgabe ist unauffällige Leistung von Rat und Hilfe mit dem Ziel, Unternehmen Mayfly erfolgreich abzuschließen.« Sie stand auf.
»Muß John Avery fahren? Seine arme Frau hat ihn schon seit Wochen nicht gesehen.«
»Soldatenschicksal«, erwiderte Leclerc, ohne sie anzusehen. »Wie lange braucht ein Mann, um zweihundertzwanzig Yards weit zu kriechen?« Er murmelte vor sich hin. »Ach, Carol - bitte schreiben Sie noch einen Satz dazu. >Fünftens: Waidmannsheil.< Der alte Jimmy schätzt ein bißchen Aufmunterung, ganz allein da draußen, wie er ist.«
Er nahm eine Akte aus dem Eingangskorb und betrachtete kritisch ihre Aufschrift. Er spürte wohl, daß Carols Augen auf ihn gerichtet waren.
»Aha!« Ein beherrschtes Lächeln. »Das muß der Bericht aus Ungarn sein. Haben Sie Arthur Fielden in Wien schon kennengelernt?«
»Nein.«
»Netter Kerl. Würde Ihnen gefallen. Einer unserer besten. er kennt sich aus. Bruce sagte mir, er habe einen recht guten Bericht über Truppenverschiebungen in Ungarn geliefert. Ich muß ihn mal Adrian zeigen. Zur Zeit passiert wirklich derart viel.« Er schlug die Akte auf und begann zu lesen. Control sagte: »Haben Sie mit Hyde gesprochen?«
»Ja.«
»Und, was hat er gesagt? Wie sieht's dort bei denen aus?«
Smiley gab ihm einen Whisky Soda. Sie waren in Smileys Haus in der Bywater Street. Control saß in seinem Lieblingsstuhl, gleich neben dem Kamin. »Er sagt, sie hätten Lampenfieber.«
»Das soll Hyde gesagt haben? Er hat wirklich diesen Ausdruck gebraucht? Das ist erstaunlich.«
»Sie haben sich ein Haus in Oxford zugelegt. Es war nur dieser eine Agent da, ein Pole, ungefähr vierzig, und sie wollten für ihn Dokumente auf den Namen Freiser, Mechaniker aus Magdeburg. Sie verlangten Reisepapiere für eine Fahrt nach Rostock.«
»Wer war noch dort?«
»Haldane und dieser Neue, Avery. Derselbe, der wegen des finnischen Kuriers bei mir war. Und ein Funker, Jack Johnson. Er war im Krieg bei uns. Sonst war niemand da. Soviel über ihren großen Agentenstab.«
»Was haben die nur vor? Und wer soll denen das ganze Geld gegeben haben, nur für eine Übung? - Wir haben ihnen Ausrüstung geborgt, nicht wahr?«
»Ja, eine B 2.«
»Was, zum Teufel, ist denn das?«
»Ein Gerät aus der Kriegszeit«, erwiderte Smiley ärgerlich. »Sie selbst sagten, daß wir ihnen nichts anderes geben dürften. Nur dieses Gerät und die Kristalle. Warum haben Sie sich eigentlich auch noch um die Kristalle gekümmert?«
»Aus Gutmütigkeit. - Eine B2 war das? Na gut.« Und mit deutlicher Erleichterung bemerkte er: »Damit werden Sie aber nicht weit kommen, oder?«
»Fahren Sie heute nach Hause?« fragte Smiley ungeduldig.
»Ich möchte Sie eigentlich bitten, mir hier ein Bett zu überlassen«, schlug Control vor. »Diese Bummelei bis nach Hause ist immer eine fürchterliche Plackerei. Solche Menschenmassen... es scheint von Mal zu Mal schlimmer zu werden.«
Leiser saß im Dunkeln vor seinem Tisch. Er hatte noch immer den Geschmack der White Ladies auf der Zunge. Er starrte auf das Leuchtzifferblatt seiner Uhr, vor sich den geöffneten Koffer. Elf Uhr achtzehn. Der Sekundenzeiger schob sich ruckartig auf die Zwölf. Er begann zu klopfen; JAJ, JAJ - daran können Sie sich leicht erinnern, Fred, ich heiße Jack Johnson, nicht wahr? Dann ging er auf Empfang, und da kam auch schon Johnsons Antwort, sicher wie ein Fels. Lassen Sie sich Zeit, hatte Johnson gesagt, nur nicht querfeldein. Wir hören Ihnen die ganze Nacht zu, wenn's sein muß, es gibt genügend Frequenzen. Im Licht einer kleinen Taschenlampe zählte er die Zahlengruppen. Es waren achtunddreißig. Er knipste die Lampe aus und klopfte eine Drei und eine Acht. Zahlen waren sehr einfach, nur lang. Sein Kopf war ganz klar. Er hatte noch Johnsons höfliche Stimme im Ohr, die wieder und wieder gesagt hatte: Sie machen die Punkte zu kurz, Fred. Ein Punkt ist ein Drittel von einem Strich, verstehen Sie? Das ist länger, als Sie glauben. Nehmen Sie die Lücken schön mit: fünfmal kurz zwischen jedem Wort, dreimal kurz zwischen jedem Buchstaben. Unterarm in einer geraden Linie mit dem Hebel der Taste. Ellbogen nicht an den Körper anlegen. Es ist wie das Kämpfen mit dem Messer, dachte er lächelnd, und begann zu morsen. Finger locker, Fred, entspannt, Handgelenk nicht auf dem Tisch auflegen. Er klopfte die ersten beiden Gruppen hinaus, wobei er bei den Zwischenräumen ein bißchen schluderte, aber nicht so viel wie sonst. Jetzt die dritte Gruppe: das Sicherheitszeichen. Er morste ein S, das er wieder zurücknahm, ehe er die nächsten zehn Gruppen funkte, wobei er hin und wieder auf seine Uhr schaute. Nach zweieinhalb Minuten schaltete er ab, tastete nach der kleinen Kapsel, die den Kristall enthielt, fühlte mit den Fingerspitzen, wo sich die Fassung befand, zog den alten Kristall heraus, steckte den neuen ein und ging dann Schritt für Schritt die ganze Abstimmungsprozedur durch, indem er die Regelknöpfe bediente und mit seiner Taschenlampe auf das halbmondförmige Instrumentenfenster leuchtete, hinter dem er die Nadel auf und ab zittern sah.
Dann klopfte er sein zweites Rufzeichen hinaus, PRE, PRE, schaltete schnell auf Empfang und wieder war da Johnsons QRK 4: Ihr Zeichen verstanden. Abermals begann er zu senden, wobei sich seine Hand langsam, aber in regelmäßigem Rhythmus bewegte und seine Augen der Reihe sinnloser Buchstaben folgten, bis er mit zufriedenem Kopfnicken Johnsons Antwort hörte: Signal empfangen. QRU - Ich habe nichts für Sie.
Nachdem sie fertig waren, bestand Leiser auf einen kurzen Spaziergang. Es war bitter kalt. Sie gingen die Walton Street bis zum Tor von Worcester und von dort durch die Banbury Road wieder zurück zum bürgerlichen Sanktuarium ihres dunklen Hauses in Nord-Oxford.
16. Kapitel
START
Es war der gleiche Wind. Der Wind, der auch schon an Taylors gefrorenem Körper gezerrt und den Regen gegen die rußgeschwärzten Mauern in der Blackfriars Road geworfen hatte. Der gleiche Wind, der schon das Gras von Port Meadow gepeitscht hatte, rüttelte jetzt an den Fensterläden des Bauernhauses. Im Hause roch es nach Katzen. Es gab keine Teppiche und die Fußböden waren aus Stein: nichts würde sie trocknen. Sofort nach ihrer Ankunft machte Johnson im Kachelofen in der Stube Feuer, aber die Feuchtigkeit lag noch immer auf den Fliesen und sammelte sich in den Rillen wie eine müde Armee. Sie sahen während ihres ganzen Aufenthaltes keine einzige Katze, aber man roch sie überall. Johnson legte Corned Beef auf die Türschwelle. In zehn Minuten war es verschwunden.
Das Haus war ebenerdig, mit einem Speicher unter seinem hohen Ziegeldach, und es lehnte sich unter dem weiten friesischen Himmel an ein kleines Dickicht. Ein langes, rechtwinkeliges Gebäude, an dessen geschützter Seite die Viehställe waren. Es lag vier Kilometer nördlich von Lübeck. Leclerc hatte gesagt, daß sie die Stadt nicht betreten dürften. Eine Leiter führte auf den Heuboden, und dort installierte Johnson seinen Sender, wobei er die Antenne von einem Tragbalken aus durch das Dachfenster zu einer Ulme am Straßenrand spannte. Im Haus trug er braune Militärschuhe mit Gummisohlen und einen Blazer, auf dem das Wappen einer Schwadron aufgenäht war. Gorton hatte von der britischen Versorgungstruppe in Celle Lebensmittel liefern lassen, die in alten Pappkartons auf dem Boden der Küche herumstanden. Auf der beiliegenden Rechnung stand >Mr. Gortons Gesellschaft<. Zwei Flaschen Gin und drei Flaschen Whisky waren dabei. Es gab zwei Schlafräume. Gorton hatte Armeebetten kommen lassen, für jedes Zimmer zwei, und Leselampen mit grünen Schirmen. Haldane war wegen der Betten verärgert. »Er muß es jeder verdammten Abteilung in der Gegend erzählt haben«, klagte er. »Billiger Whisky, Armeerationen, Feldbetten. Wahrscheinlich werden wir auch noch hören, daß er das Nachbarhaus requiriert hat. Mein Gott, was für eine Art, einen Einsatz vorzubereiten.«
Es war schon später Nachmittag, als sie ankamen. Sobald Johnson sein Gerät montiert hatte, machte er sich in der Küche zu schaffen. Er war sehr häuslich, kochte und wusch das Geschirr, ohne zu murren, wobei er sich in seinen sauberen Schuhen geschickt auf den Fliesen bewegte. Er braute aus Büchsenfleisch und Eiern ein Haschee zusammen. Dazu gab es stark gesüßten Kakao. Sie aßen in der Halle vor dem Kachelofen, Johnson bestritt den Großteil des Gesprächs. Leiser war sehr still und rührte das Essen kaum an.
»Was ist los, Fred? Keinen Hunger?«
»Tut mir leid, Jack.«
»Sie haben im Flugzeug zuviel Bonbons gelutscht.« Johnson zwinkerte zu Avery hinüber. »Ich hab' gesehen, was Sie der Hosteß für Blicke zugeworfen haben. Das hätten Sie nicht tun sollen, Fred, wissen Sie! Sie kann dann nicht schlafen.« Er runzelte die Stirn und sah die anderen mit gespielter Mißbilligung an. »Er hat sie mit den Blicken ausgezogen, wißt ihr. Von Kopf bis Fuß.«
Avery grinste pflichtschuldig. Haldane nahm keine Notiz davon.
Leiser machte sich wegen des Mondes Sorgen, und so gingen sie nach dem Abendessen zur Hintertür. Die kleine, vor Kälte zitternde Gruppe starrte zum Himmel hinauf. Es herrschte eine seltsame Helligkeit. Die Wolken trieben wie schwarze Rauchschwaden so tief über den Bäumen, daß es aussah, als streiften sie an die schwankenden Äste des Dickichts; die grauen Felder dahinter lagen im Halbdunkel. »An der Grenze wird es nicht so hell sein, Fred«, sagte Avery. »Sie liegt höher, das Land ist dort hügelig.« Haldane sagte, sie sollten früh zu Bett gehen. Sie tranken noch einen Whisky, und Viertel nach zehn legten sie sich schlafen, Johnson und Leiser in einem Raum, Avery und Haldane im anderen. Niemand traf die Einteilung. Offenbar wußte jeder, wohin er gehörte.
Es war Mitternacht, als Johnson in ihr Zimmer trat. Das Quietschen seiner Gummisohlen weckte Avery. »John, sind Sie wach?« Haldane setzte sich auf.
»Es ist wegen Fred. Er sitzt allein in der Halle. Ich habe ihm gesagt, er soll zu schlafen versuchen, Sir. Hab ihm ein paar Tabletten gegeben, die auch meine Mutter nimmt. Zuerst wollte er sich nicht einmal hinlegen, und jetzt ist er wieder aufgestanden und in die Halle hinüber gegangen.«
Haldane sagte: »Lassen Sie ihn in Ruhe. Es fehlt ihm nichts. Bei diesem verdammten Wind kann keiner von uns schlafen.«
Johnson ging in sein Zimmer zurück. Eine Stunde mußte vergangen sein, aber in der Halle hatte sich noch immer nichts gerührt. Haldane sagte: »Sehen Sie lieber, was er macht.«
Avery zog seinen Mantel an und ging durch den Korridor, vorbei an Tapisserien mit biblischen Legenden und einem alten Stich vom Lübecker Hafen. Leiser saß auf einem Stuhl neben dem Kachelofen. »Hallo, Fred.« Leiser wirkte alt und müde.
»Es ist hier in der Nähe, nicht wahr? Wo ich hingehe?« fragte er.
»Ungefähr fünf Kilometer von hier. Der Direktor wird uns morgen früh einweisen. Man ist der Meinung, daß es ein ziemlich leichter Einsatz ist. Er wird Ihnen alle Ihre Papiere und so geben. Am Nachmittag werden wir Ihnen die Stelle zeigen. Man hat in London viel daran gearbeitet.«
»In London«, wiederholte Leiser. Dann sagte er plötzlich: »Ich hab' im Krieg in Holland einen Einsatz gemacht. Die Holländer waren nette Leute. Wir schickten eine Menge Agenten nach Holland. Frauen. Man hat sie alle geschnappt. - Sie sind damals noch ein Kind gewesen, nicht?«
»Ich habe darüber gelesen.«
»Die Deutschen schnappten einen Funker. Unsere Leute wußten es nicht und schickten immer weiter Agenten hinein. Man sagte, es gebe keine andere Wahl.« Er sprach schneller. »Ich war damals noch ein Junge. Sie suchten jemanden für einen schnellen Einsatz, nur hinein und wieder heraus. Sie hatten zu wenig Funker. Man sagte mir, es mache nichts, daß ich kein Holländisch spreche, denn ich würde gleich bei der Landung von jemand in Empfang genommen. Ich brauche nichts zu tun, als zu funken. Sie hätten einen sicheren Unterschlupf für mich.« Er schien abwesend. »Wir fliegen hinüber. Nichts rührt sich, kein Scheinwerfer, kein Schuß, und ich bin ganz dran. Als ich lande, sind sie da: zwei Männer und eine Frau. Nach dem Erkennungswort führen sie mich zu den Fahrrädern. Keine Zeit, den Fallschirm zu vergraben. Wir finden das Haus, ich bekomme zu essen. Danach gehen wir hinauf zum Gerät. Es gab damals keine Sendezeiten, London war Tag und Nacht auf Empfang. Man gibt mir den Zettel mit der Meldung. Ich gebe das Rufzeichen: >TYR kommen, TYR kommen< und danach die Meldung, einundzwanzig Gruppen, zu vier Buchstaben.« Er brach ab. »Und?«
»Sie sahen mir zu, verstehen Sie? Sie wollten nur wissen, wann das Sicherheitszeichen kam. Es war der neunte Buchstabe. Sie warteten, bis ich fertig war, und dann waren sie auf mir drauf, einer schlug mich - das Haus war voller Männer.«
»Wer, Fred? Wer waren sie?«
»Das kann man nicht sagen. So etwas weiß man nie. Ganz so einfach ist das nicht.«
»Wessen Schuld war das, um Himmels willen? Wer hat Sie verraten, Fred?«
»Irgend jemand. Das kann man nie sagen. Sie werden das auch noch lernen.« Er schien aufgegeben zu haben.
»Diesmal sind Sie allein. Niemand weiß davon. Niemand erwartet Sie.«
»Ja. Das stimmt.« Seine Hände lagen gefaltet im Schoß. Er saß zusammengekauert da, sein Körper wirkte klein und alt. »Im Krieg war es leichter, gleichgültig wie schlimm es war, weil man daran glaubte, daß wir eines Tages gewinnen. Selbst wenn man geschnappt wurde, sagte man sich: >Sie werden mich rausholen, ein paar Männer werden abspringen, oder sie greifen an.< Auch wenn man ganz genau wußte, daß sie das niemals tun würden, konnte man es sich ausmalen, verstehen Sie? Man wollte nichts, als in Ruhe gelassen werden, damit man daran denken konnte. Aber diesen Krieg wird niemand gewinnen, oder?«
»Man kann es nicht vergleichen. Aber dies hier ist wichtiger.«
»Was tun Sie, wenn man mich schnappt?«
»Wir werden Sie herausholen. Keine Bange, was, Fred?«
»Ja, aber wie?«
»Wir haben einen großen Apparat. Es geht eine Menge vor, wovon Sie nichts wissen. Verbindungen da und dort. Sie können nicht das ganze Bild sehen.«
»Können Sie es denn?«
»Das ganze nicht, Fred. Nur der Direktor sieht das ganze. Sogar der Captain sieht es nicht.«
»Wie ist er, der Direktor?«
»Er ist seit langem bei dieser Arbeit. Sie werden ihn morgen kennenlernen. Ein bemerkenswerter Mann.«
»Und der Captain - mag er ihn?«
»Natürlich.«
»Er spricht aber nie über ihn«, sagte Leiser. »Niemand von uns redet über ihn.«
»Ich hatte da einmal ein Mädchen. Sie arbeitete in der Bank. Ich sagte ihr, daß ich wegginge. Wenn was schiefgehen sollte - ich möchte nicht, daß sie etwas erfährt, ja? Sie ist ja noch ein Kind.«
»Wie hieß sie?«
Ein kurzer mißtrauischer Blick. »Ist ja egal. Aber machen Sie keinen Wirbel, wenn sie bei Ihnen auftauchen sollte.«
»Was meinen Sie, Fred?«
»Ist ja egal.«
Danach sagte Leiser nichts mehr. Als es dämmerte, ging Avery in sein Zimmer zurück.
»Was war denn los?« fragte Haldane.
»Er war im Krieg in einem Schlamassel, in Holland. Er wurde verraten.«
»Aber er gibt uns eine zweite Chance. Wie nett von ihm! Genau, was die immer gesagt haben.« Dann: »Leclerc kommt heute früh an.« Das Taxi traf um elf Uhr ein. Noch ehe es ganz angehalten hatte, war Leclerc schon ausgestiegen. Er trug einen Dufflecoat, schwere braune Wanderschuhe und eine weiche Mütze. Er sah sehr gut aus. »Wo ist Mayfly?«
»Bei Johnson«, sagte Haldane. »Habt ihr ein Bett für mich?«
»Du kannst das von Mayfly haben, wenn er fort ist.« Um elf Uhr dreißig gab Leclerc seine Instruktionen. Für den Nachmittag war eine Besichtigungsfahrt zur Grenze vorgesehen.
Die Befehlsausgabe fand in der Halle statt. Leiser kam als letzter herein. Er stand auf der Schwelle und sah Leclerc an, der ihm gewinnend zulächelte, als gefalle ihm, was er sah. Sie waren ungefähr gleich groß. Avery sagte: »Herr Direktor, das ist Mayfly.« Seinen Blick noch auf Leiser geheftet, antwortete Leclerc: »Ich glaube, ich darf ihn Fred nennen. Guten Tag.« Er trat auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand. Beide waren so steif wie zwei Figuren aus einem Wetterhäuschen.
»Guten Tag«, sagte Leiser.
»Ich hoffe, man hat Sie nicht zu hart angefaßt?«
»Alles in Ordnung, Sir.«
»Wir sind alle sehr beeindruckt«, sagte Leclerc. »Sie haben ausgezeichnete Arbeit geleistet.«
»Ich habe ja noch gar nicht angefangen.«
»Ich bin der Meinung, durch eine gute Ausbildung seien schon drei Viertel der Schlacht gewonnen. Meist du nicht auch, Adrian?«
»Ja.«
Sie setzten sich. Leclerc stand etwas abseits. Er hatte eine Karte an die Wand gehängt. Auf unerklärliche Weise - vielleicht durch die Landkarten, vielleicht durch seine knappe Ausdrucksweise oder womöglich auch durch sein entschiedenes Auftreten, das sowohl von dem Gedanken an die augenblickliche Zweckmäßigkeit wie von anerzogener Selbstbeherrschung diktiert war - erzeugte Leclerc die gleiche hoffnungsfrohe und tatendurstige Atmosphäre, die bereits einen Monat früher die Instruktionsstunde in der Blackfriars Road gekennzeichnet hatte. Er hatte die Gabe eines Zauberkünstlers, den Eindruck größter Vertrautheit mit den von ihm behandelten Gegenständen zu erwecken, ob er nun von Raketen oder Funkverkehr, von Tarnung oder dem Grenzabschnitt sprach, an dem Leiser hinübergehen sollte.
»Ihr Ziel ist Kalkstadt« - ein kleines Grinsen -, »das bisher nur durch seine bemerkenswerte gotische Kirche bekannt war.« Alle, auch Leiser, lachten. Daß Leclerc selbst über alte Kirchen Bescheid wußte! Er hatte eine mit verschiedenfarbigen Tinten gezeichnete Skizze der Übergangsstelle mitgebracht, auf der ein roter Strich die Grenze markierte. Alles war sehr einfach. Auf der westlichen Seite - so sagte er - sei ein niedriger, mit Ginster und Farn bewachsener Hügel, der parallel zur Grenze verlief, bis er in einem scharfen Winkel nach Osten bog und knapp zweihundert Meter vor ihr genau gegenüber einem Wachtturm abbrach. Der Turm befand sich ein gutes Stück jenseits der Demarkationslinie, an seinem Fuß verlief der Stacheldrahtzaun. Man habe festgestellt, daß der Zaun an dieser Stelle nur aus einem einzelnen Draht bestand, der zudem nur lose an seinem Pfosten befestigt war. Ostdeutsche Grenzwachen seien dabei gesehen worden, wie sie ihn auf Patrouillengängen aushakten, um in den ungeschützten Geländestreifen zwischen der Demarkationslinie und der Grenzbefestigung hinauszugehen. Leclerc würde den betreffenden Pfosten am Nachmittag Leiser zeigen. Mayfly - so sagte er - brauche bei dem Gedanken, so nah am Wachtturm die Grenze zu überschreiten, nicht erschrecken. Die Erfahrung lehre, daß die Wachen viel mehr Aufmerksamkeit auf das entfernter liegende Gelände konzentrierten. Diese Nacht sei besonders günstig. Der Wetterbericht habe starken Wind angekündigt, der Mond werde nicht scheinen. Leclerc hatte den Augenblick des Grenzüberganges auf 2.35 Uhr morgens angesetzt. Die Wachen wurden um Mitternacht abgelöst, sie blieben jeweils drei Stunden. Man konnte mit gutem Grund annehmen, daß sie nach zweieinhalb Stunden Wachdienst nicht mehr die gleiche Aufmerksamkeit zeigen würden wie zu Beginn ihrer Schicht. Die Ablösung, die von einer weiter nördlich liegenden Kaserne kam, würde zu dieser Zeit noch nicht auf dem Anmarsch sein. Man habe - fuhr Leclerc fort - große Sorgfalt auf die Klärung der Frage verwandt, ob möglicherweise Minen verlegt seien. Sie könnten hier auf der Karte sehen - sein kleiner Zeigefinger folgte der dünnen Linie grüner Punkte, die sich vom Ende des Hügels direkt über die Grenze hinüberzog -, daß hier ein alter Fußweg existiere, der tatsächlich den gleichen Verlauf nahm wie Leisers vorgesehene Route. Die Grenzwachen hatten diesen Fußweg immer vermieden und waren stets etwa zehn Meter südlich davon durchs Gebüsch gekommen. Die Schlußfolgerung sei, wie Leclerc erklärte, daß der Weg vermint sein müsse, während ein Streifen rechts davon für die Patrouillen freigelassen worden war. Leclerc machte den Vorschlag, daß Leiser den von Grenzwachen ausgetretenen Pfad nehmen sollte.
Leiser sollte die rund zweihundert Meter lange Strecke vom Fuß des Hügels bis zum Wachtturm wenn möglich kriechend zurücklegen und seinen Kopf dabei unterhalb der Farnkrautspitzen halten. Das schloß die ohnedies geringe Möglichkeit aus, daß man ihn vom Turm aus bemerkte. Leiser wäre es sicher angenehm zu hören, bemerkte Leclerc mit einem kleinen Lächeln, daß in den Nachtstunden niemand je Patrouillen westlich des Zaunes bemerkt hatte. Die ostdeutschen Wachen schienen zu befürchten, einer ihrer eigenen Leute könnte sich ungesehen aus dem Staub machen.
Einmal drüben, sollte sich Leiser von jedem vorgezeichneten Weg fernhalten. Das Gelände sei hügelig und zum Teil bewaldet. Das erschwere seinen Marsch, erhöhe aber auch seine Sicherheit. Er müsse nach Süden gehen. Der Grund dafür sei einfach: weiter südlich schwinge die Grenze etwas über zehn Kilometer nach Westen aus, so daß Leiser in einer halben Stunde nicht zwei, sondern fünfzehn Kilometer zwischen sich und die Grenze bringen könne und auf diese Weise schneller aus dem Bereich der die Zugänge zur Grenze bewachenden Streifen entkomme. Leclerc wolle ihm deshalb den Rat geben - er zog dabei seine Hand aus der Tasche des Dufflecoats und zündete sich im Bewußtsein, daß aller Augen auf ihn gerichtet waren, eine Zigarette an -, ungefähr eine halbe Stunde lang nach Osten zu gehen und sich dann direkt nach Süden zu wenden, bis er den Marienhorster See erreiche. Am östlichen Ende des Sees befinde sich ein unbenutztes Bootshaus, wo er sich ein Stündchen hinlegen und etwas essen könne. Er werde inzwischen vielleicht auch schon Lust auf einen Drink bekommen haben - erleichtertes Gelächter - und für diesen Zweck werde er ein kleines Fläschchen Weinbrand in seinem Rucksack finden. Leclerc hatte die Angewohnheit, stramme Haltung anzunehmen, wenn er einen Witz machte, und dabei die Fersen vom Boden zu heben, als wolle er seinen Geist in höhere Regionen abfeuern. »Es könnte wohl nichts mit Gin sein, oder?« fragte Leiser. »An sich trinke ich immer White Lady.« Einen Augenblick lang herrschte betretenes Schweigen.
»Ausgeschlossen«, sagte Leclerc kurz - ganz Leisers Vorgesetzter.
Nach der Rast sollte er bis zum Dorf Marienhorst weitergehen und sich nach einer Transportmöglichkeit Richtung Schwerin umsehen. Von da an, ergänzte Leclerc obenhin, sei er auf sich selbst gestellt. »Sie haben alle Papiere, die zu einer Reise von Magdeburg nach Rostock nötig sind. Ab Schwerin sind Sie also auf der normalen Strecke. Über Ihre Tarnung möchte ich gar nicht mehr viel sagen. Das haben Sie ja schon alles mit dem Captain durchgenommen. Ihr Name ist Fred Hartbeck. Sie sind ein unverheirateter Mechaniker aus Magdeburg und haben ein Arbeitsangebot für die volkseigene Schiffswerft in Rostock.« Leclerc lächelte. »Ich bin überzeugt, daß Sie all dies bis ins kleinste Detail im Schlaf beherrschen. Ihre Amouren, Höhe des Lohnes, welche Krankheiten Sie gehabt haben, Militärdienst und so weiter. Nur eine Kleinigkeit über die Tarnung möchte ich noch hinzufügen: drängen Sie derartige Auskünfte niemandem freiwillig auf. Niemand erwartet von seinem Mitmenschen, daß er irgend etwas von sich aus erklärt. Wenn man Sie in die Ecke treibt, verlassen Sie sich auf Ihr Fingerspitzengefühl. Immer so nahe wie möglich an der Wahrheit bleiben.« Und mit erhobener Stimme erklärte Leclerc eine seiner Lieblingsthesen: »Tarnung sollte niemals freie Erfindung, sondern immer nur eine Verlängerung der Wahrheit sein.« Leiser lachte verhalten. Es wirkte so, als wäre ihm wohler gewesen, wenn Leclerc über etwas mehr Körpergröße verfügt hätte.
Johnson kam aus der Küche und brachte Kaffee, wofür ihm Leclerc ein munteres >Danke, Jack<, zurief, als sei alles genau so, wie es zu sein hatte. Nun wandte sich Leclerc der eigentlichen Aufgabe Leisers zu. Er schilderte zusammenfassend die verschiedenen Hinweise, die - wie er durchblicken ließ - nur einen Verdacht bestärkten, den er persönlich schon längst gehegt habe. Er schlug dabei einen Ton an, den Avery noch nie bei ihm wahrgenommen hatte: er bemühte sich, sowohl durch Weglassen und stillschweigende Schlußfolgerungen wie durch direkte Hinweise auszudrücken, daß sie alle einer ungemein erfahrenen und bestens informierten Organisation angehörten, die sich nicht nur durch ihre Geldmittel, sondern auch durch ihre Beziehungen zu anderen Dienststellen wie durch ihre unfehlbare Urteilsfähigkeit einer derart überirdischen und hellseherischen Unantastbarkeit erfreute, daß sich Leiser sehr wohl hätte fragen können, weshalb er sein Leben überhaupt riskieren mußte, wenn das alles wirklich so war. »Die Raketen befinden sich jetzt in dem bezeichneten Gebiet«, sagte Leclerc. »Der Captain hat Ihnen bereits auseinandergesetzt, nach welchen besonderen Merkmalen Sie Ausschau halten müssen. Wir möchten wissen, wie sie aussehen, wo sie sich genau befinden und vor allem, von welchen Einheiten sie bedient werden.«