VI Zu spät!

In dem Durcheinander fühlte sich Bigman völlig hilflos. Er hatte sich so gut es ging an die Rockschöße des rastlosen Morriss gehängt, er fand sich damit beschäftigt, von Gruppe zu Gruppe zu traben und dabei atemlosen Unterhaltungen zu folgen, deren Inhalt er auf Grund seiner Unkenntnis über die Verhältnisse auf der Venus, nicht immer begriff.

Morriss hatte keine ruhige Minute. Jede Sekunde bescherte ihm einen neuen Gesprächspartner, einen neuen Bericht, erforderte eine neue Entscheidung. Seitdem Bigman hinter Morriss herrannte, waren erst zwanzig Minuten vergangen, aber es waren bereits ein Dutzend Pläne ausgebrütet und wieder verworfen worden.

Gerade kam ein Mann aus dem bedrohten Abschnitt zurück. Schweratmend sagte er: »Sie haben die Spionstrahlen auf ihn gerichtet, wir können ihn jetzt sehen. Er sitzt bloß da und hält den Hebel fest. Wir haben seine Frau mit ihm sprechen lassen, erst über Funk, dann über die Lautsprecheranlage und schließlich von draußen mit einem Megaphon. Ich glaube nicht, daß er sie hört. Bewegen tut er sich jedenfalls nicht.«

Bigman biß sich auf die Lippen. Was würde Lucky jetzt unternehmen, wenn er hier wäre. Im ersten Moment hatte Bigman daran gedacht, hinter den Mann zukommen - Poppnoe hieß er - und ihn niederzuschießen. Aber darauf war jeder im ersten Augenblick verfallen. Der Gedanke war sofort verworfen worden. Der Mann, der bei dem Hebel saß, hatte sich eingeschlossen; die Kontrollkammern der Kuppel waren so angelegt, daß man mit ihnen keinen Unfug treiben konnte. Jeder Einstieg war sorgfältig verkabelt, wobei die Alarmanlagen durch ein internes Aggregat gespeist wurden. Diese Vorsichtsmaßnahme arbeitete nun umgekehrt - zu Aphrodites Verderben, statt zu ihrem Schutz.

Beim ersten Schrillen, dem Aufleuchten des ersten Warnsignals, dessen war Bigman sich sicher, würde der Hebel umgelegt sein und das Venusmeer auf Aphrodite hereinstürzen. Solange die Stadt noch nicht völlig evakuiert war, konnte man das nicht riskieren.

Jemand anderer hatte Giftgas vorgeschlagen, aber Morriss hatte, ohne sich zu einer Erklärung herbeizulassen, den Kopf geschüttelt. Bigman glaubte zu wissen, was der Mann von der Venus dabei gedacht haben mußte. Der Mann da oben am Schalthebel war weder krank oder verrückt oder auch nur böswillig, sondern stand unter Gedankenkontrolle. Diese Tatsache bedeutete, daß man es mit zwei Feinden zu tun hatte. Wenn man nur den Mann am Hebel nahm, dann war es durchaus möglich, daß er bis jenseits des Punktes, an dem er körperlich noch dazu in der Lage wäre, den Hebel zu bedienen, durch das Gas geschwächt wurde, aber bevor das eintrat, würde sich diese Schwäche in seinem Verstand widerspiegeln, und diejenigen, die Gewalt über ihn hatten, würden die Armmuskulatur ihres Werkzeuges schon schnell genug betätigen.

»Worauf warten die überhaupt noch?« stöhnte Morriss mit leiser Stimme, während ihm der Schweiß in Bächen die Wangen herunterlief. »Wenn ich doch nur eine Atomkanone auf den Punkt richten könnte.«

Bigman wußte, warum auch das unmöglich war. Eine Atomkanone, die man aus nächster Entfernung auf den Mann abfeuern wollte, mußte genug Wucht haben, sich einen Weg durch eine Viertelmeile Stahl und Beton zu bahnen und würde dabei die Kuppel genug beschädigen, um genau die Katastrophe herbeizuführen, die sie zu verhindern suchten.

Wo ist Lucky überhaupt? dachte er und sagte laut: »Wenn ihr an den Burschen nicht herankommt, wie steht es denn mit den Steuereinrichtungen?«

»Wie meinen Sie das?« erkundigte Morriss sich.

»Ich denke daran, den Hebel zu manipulieren. Man braucht doch Energie, um die Schleuse zu manipulieren, oder etwa nicht? Was passiert, wenn man den Strom abschaltet?«

»Ein netter Gedanke, Bigman. Aber jede Schleuse verfügt vor Ort über ein eigenes Notaggregat.«

»Kann es denn nicht von irgendwoher abgedreht werden?«

»Wie denn? Er ist da drinnen hermetisch abgeschlossen, und jeder Quadratmeter ist mit Alarmanlagen vollgepfropft.«

Bigman sah nach oben, und vor seinem geistigen Auge erschien der mächtige Ozean über ihnen. »Dies ist eine eingeschlossene Stadt, wie auf dem Mars. Wir müssen überall hin Luft pumpen. Tun Sie das nicht auch?«

Morriss führte ein Taschentuch an die Stirn und wischte sich mit langsamen Bewegungen den Schweiß ab. Er glotzte den kleinen Marsbewohner an. »Die Luftschächte?«

»Ja, es muß einfach einer zu der Stelle, wo die Schleuse ist, führen, oder etwa nicht?«

»Natürlich.«

»Und gibt es nicht irgendwo auf der Strecke eine Stelle, wo man einen Draht losreißen oder durchschneiden könnte, oder sonst irgendwas?«

»Warten Sie mal eine Sekunde. Anstelle des Giftgases müßte man eine Mikrobombe durch den Schacht schieben.«

»Das ist nicht sicher genug«, unterbrach ihn Bigman ungeduldig. »Schicken Sie einen Mann los. Für eine Unterwasserstadt benötigen Sie doch große Schächte, oder nicht? Würde ein Mann da nicht durchpassen?«

»So groß sind sie nun auch wieder nicht«, gab Morriss zu bedenken.

Bigman schluckte krampfhaft. Seine nächste Bemerkung kostete ihn einige Überwindung. »So groß bin ich nun auch wieder nicht, ich könnte vielleicht durchpassen.«

Und Morriss sagte, indem er mit weit aufgerissenen Augen auf den Dreikäsehoch vom Mars herabstarrte: »Bei der Venus! Sie könnten. Sie könnten wirklich! Kommen Sie mit!«

Der Betrieb der auf den Straßen von Aphrodite herrschte, ließ den Schluß zu, daß kein Mann, keine Frau und kein einziges Kind im Bett war und schlief. Direkt vor der Transittrennwand und rings um das »Rettungshauptquartier«, verstopften die Leute alle Straßen, füllten sie langsam mit schwarzen Massen schnatternder Menschen. Mann hatte Ketten gespannt, und dahinter patrouillierten Polizisten mit Betäubungsgewehren rastlos auf und ab.

Als Lucky aus dem Rettungshauptquartier raste, als ginge es um sein Leben, wurde er urplötzlich von eben diesen Ketten aufgehalten. Hunderte von verschiedenen Eindrücken drangen auf ihn ein. Da war das gleißende Zeichen aus Lucitröhren, hoch oben an Aphrodites Himmel angebracht, ohne daß man die Befestigungen erkennen konnte; es drehte sich langsam und man konnte WILLKOMMEN IN APHRODITE, DER PERLE DER VENUS lesen.

Ganz in der Nähe marschierte eine lange Reihe von Männern vorbei. Sie trugen die unterschiedlichsten Gegenstände bei sich - vollgestopfte Aktentaschen, Schmuckkästchen und über den Arm geworfene Kleidungsstücke. Nacheinander kletterten sie in Tauchgleiter. Es war klar, wer und was sie waren: Flüchtlinge aus dem bedrohten Sektor, die durch die Schleuse kamen und das mit sich führten, was ihnen wichtig war und sie tragen konnten. Die Evakuierung war offensichtlich in vollstem Gange. Bei der Gruppe befanden sich weder Frauen noch Kinder.

Lucky rief einem Polizisten mit lauter Stimme zu: »Steht hier irgendwo ein Tauchgleiter, den ich mir nehmen kann?«

Der Polizist sah hoch. »Tut mir leid, Sir, im Augenblick werden alle gebraucht.«

»Ratsangelegenheit«, erwiderte Lucky ungeduldig.

»Ich kann es auch nicht ändern. Jeder Tauchgleiter in der Stadt wird für diese Burschen da gebraucht.« Sein Daumen richtete sich auf die vorbeimarschierende Gruppe.

»Es ist aber wichtig. Ich muß hier 'raus.«

»In dem Falle werden Sie zu Fuß gehen müssen«, meinte der Polizist trocken.

Lucky knirschte frustriert mit den Zähnen. Es war gar nicht daran zu denken, zu Fuß oder auf Rädern durch diese Menschenmenge zu kommen. Das ging nur durch die Luft, und es mußte jetzt gleich geschehen.

»Gibt es nicht irgend etwas, was ich nehmen kann? Irgend etwas?« Mann konnte nicht behaupten, daß er noch den Polizisten anredete, vielmehr sprach er zu seinem ungeduldigen Selbst. Das der Feind ihn so einfach ausgetrickst hatte, machte ihn rasend vor Wut.

Aber der Polizist antwortete ihm ironisch: »Es sei denn, Sie wollen mit einem Hopper vorlieb nehmen.«

»Ein Hopper? Wo steht das Ding?« Luckys Augen leuchteten auf.

»Ich habe doch nur Spaß gemacht«, erwiderte der Polizist.

»Aber ich nicht. Wo steht der Hopper?«

Im Keller des Gebäudes, aus dem sie gekommen sind, standen mehrere. Sie waren in Einzelteile zerlegt. Vier Mann wurden dienstverpflichtet, um die bestaussehende Maschine draußen zusammenzusetzen. Die Menschenmenge in der Nähe sah neugierig zu, und einige riefen spaßeshalber: »Hüpf, Hopper, hüpf!«

Das war der alte Schlachtruf bei den Hopperrennen. Vor fünf Jahren war das ganze eine Modekrankheit gewesen, die sich über das gesamte Sonnensystem erstreckt hatte; es ging dabei um Wettrennen über verwinkelte, hindernisübersäte Strecken. Solange sich diese Torheit gehalten hatte, waren die Venusbewohner voll bei der Sache gewesen. Wahrscheinlich hatte die Hälfte aller Haushalte aus Aphrodite Hopper in ihren Kellern gehabt.

Lucky überprüfte den Mikroreaktor, er war aktiv. Er warf den Motor an und versetzte das Gyroskop in Rotation. Sofort richtete der Hopper sich auf und stand starr auf seinem einen Bein.

Hopper sind wahrscheinlich die groteskesten Fortbewegungsmittel, die je erfunden wurden. Sie bestehen aus einem geschwungenen Chassis, das gerade groß genug ist, einen Mann an den Steueraggregaten Platz zu bieten, dann sind da noch ein Rotor mit einer vierblättrigen Luftschraube und ein einziger Metallfuß mit einem Gummipuffer darunter. Das Ganze sieht aus wie ein großer Stelzvogel, der schlafen gegangen ist und eines seiner Beine unter dem Körper versteckt hat.

Lucky bestätigte den Sprungknopf, und prompt zog sich das Standbein des Hoppers zusammen. Das Chassis sank herab, bis es höchstens noch zwei Meter über dem Boden war, während das Bein sich gleichzeitig durch die kurz hinter dem Armaturenbrett eingelassene Röhre schob. Mit einem lauten Klicken wurde das Bein zum Zeitpunkt der größten Federspannung losgeschnellt und der Hopper sprang zehn Meter in die Höhe.

Die Rotationsblätter über dem Hopper hielten ihn viele Sekunden lang auf dem Scheitelpunkt der Flugbahn in Schwebestellung. In dieser Zeit konnte sich Lucky einen Eindruck über die Menge unter ihm verschaffen. Von seinem Standpunkt aus gesehen, erstreckten sich die Menschenmassen über eine halbe Meile nach außen, was bedeutete, daß er mehrere Hüpfer machen mußte. Dabei wurden wertvolle Minuten vergeudet.

Der Hopper schwebte nun wieder Richtung Erde, dabei war sein langes Bein ganz ausgefahren. Die Menge unter ihm versuchte auf die Seite zu gehen, aber das war gar nicht notwendig. Vier Druckluftdüsen bliesen die Leute weit genug zur Seite, und das Bein setzte harmlos auf dem Boden auf. Der Fuß traf auf Beton und zog sich wieder zusammen. Für den Bruchteil einer Sekunde sah Lucky in die überraschten Gesichter der Menschen in seiner Nähe, dann schoß der Hopper wieder in die Höhe.

Lucky mußte sich eingestehen, daß Hopperrennen eine aufregende Sache waren. Als Jugendlicher hatte er an mehreren teilgenommen. Ein gewiefter >Hopperjockey< war in der Lage, mit seinem seltsamen Roß die unmöglichsten Kapriolen zu schlagen und dabei noch Stellen zum Aufsetzen zu finden, die gar nicht vorhanden zu sein schienen. Hier in den überkuppelten Städten auf der Venus mußten die Rennen im Vergleich zu den halsbrecherischen Wettkämpfen auf dem felsigen und unebenen Untergrund auf der Erde ziemlich zahm gewesen sein.

Mit vier Sprüngen hatte Lucky die Menschenansammlung hinter sich gebracht. Er stellte den Motor ab, und nach einer Reihe kleinerer Sprünge kam der Hopper zum Stillstand. Lucky sprang ab. Fliegen war wahrscheinlich immer noch unmöglich, aber nun konnte er irgendein Bodenfahrzeug auftreiben.

Aber er würde weitere Zeit verlieren.

*

Bigman war außer Atem und legte eine Pause ein, um Luft zu schöpfen. Die Dinge hatten einen rasanten Verlauf genommen; er war mit einer Woge mitgerissen worden, die ihn immer noch weiterwirbelte.

Vor zwanzig Minuten hatte er Morriss seinen Vorschlag unterbreitet. Jetzt steckte er in einer Röhre, die seinen Körper fest umschloß und ihn in Finsternis tauchte.

Wieder kroch er auf den Ellenbogen ein Stück weiter, tiefer in den Schacht hinein. Von Zeit zu Zeit mußte er anhalten, um die kleine Taschenlampe einzuschalten, deren gebündelter Strahl die milchigen Wände zeigte, die sich vor ihm im Nichts verengten. In einem seiner Ärmel trug er eine hastig hingekritzelte Skizze des Schachtsystems.

Morriss hatte ihm die Hand geschüttelt, ehe Bigman halb kletternd, halb grinsend in die Öffnung auf einer Seite der Pumpenstation gestiegen war. Die Schaufelblätter des riesigen Ventilators hatte man angehalten, der Luftzug war versiegt.

»Ich hoffe, daß ihn das nicht aktiv werden läßt«, hatte Morriss gemurmelt, und dann hatten sie sich die Hand gegeben.

Bigman hatte gegrinst, was hätte er auch sonst tun sollen, und dann war er in die Dunkelheit gekrochen, während die anderen weggegangen waren. Niemand hatte es für nötig befunden, das Offensichtliche zu erwähnen. Bigman würde sich auf der falschen Seite der Transitschranke befinden, der Seite, von der sich die anderen nun zurückzogen. Falls der Hebel an der Kuppelschleuse zu irgend einem Zeitpunkt betätigt würde, zermalmte das eindringende Wasser die Schachtanlage und das Mauerwerk, durch das die Röhren verliefen, als handele es sich dabei um eine Konstruktion aus Pappe.

Während er sich mühselig dahinschlängelte, fragte sich Bigman, ob er gleich das Dröhnen des Wassers hören oder, ob die hereinströmende See sich irgendwie bemerkbar machen würde, bevor es ihn erreichte. Er hoffte inständig, daß dem nicht so war. Er wollte nicht eine einzige Sekunde der Vorwarnung haben. Falls die Wassermassen einbrachen, wollte er es schnell hinter sich haben.

Er bemerkte, daß die Wand sich zu krümmen begann. Er hielt an, um auf seine Karte zu schauen; der Strahl seiner kleinen Lampe erhellte den Raum ringsherum mit einem kaltschimmernden Schein. Es handelte sich um die zweite vermerkte Krümmung auf der für ihn gezeichneten Karte; ab jetzt würde der Schacht nach oben führen.

Bigman brachte sich in Seitenlage und schaute um die Biegung.

»Bei allen Marswüsten!« murmelte er. Die Muskulatur seiner Oberschenkel schmerzte, als er nun die Knie gegen die Röhrenwände stemmte, um ein Abrutschen in die Tiefe zu verhindern. Zentimeterweise krallte er sich den sanften Anstieg empor.

Morriss hatte die Skizze nach den hyroglyphischen Karten gezeichnet, die man ihm vom städtischen Bauamt von Aphrodite aus über einen Sichttransmitter vorgehalten hatte. Er war den gewundenen bunten Linien gefolgt, und hatte Fragen über die Bezeichnungen und Symbole gestellt.

Bigman kam an eine der Verbundstreben, die diagonal in den Schächten verspannt waren. Die Strebe war ihm willkommen, da er sie greifen und mit den Händen umfassen konnte, um so den Druck von seinen Ellenbogen und Knien zu nehmen. Er stopfte die Karte wieder in den Ärmel und klammerte sich mit der Linken an die Strebe. Mit der rechten Hand drehte er die Lampe so herum, daß ihr Ende eine Seite der Strebe berührte.

Die Energie des eingebauten Mikroreaktors, der normalerweise Elektrizität in die kleine Birne der Taschenlampe speiste und die Energie in kaltes Licht verwandelte, konnte, wenn man sie entsprechend umstellte, ein begrenztes Kraftfeld am entgegengesetzten Ende aufbauen.

Dieses Kraftfeld durchtrennte augenblicklich alles, was aus gewöhnlicher Materie bestand und ihm in die Quere kam. Bigman schaltete um und wußte, daß das eine Ende der Strebe gelöst war.

Er nahm die andere Hand. Er hielt seinen Schneider an das andere Ende der Verspannung. Noch eine Berührung, und weg war sie. Nun hielt er die Strebe in Händen. Bigman nestelte sie mühselig an seinem Körper vorbei, und als sie bei seinen Füßen angekommen war, ließ er sie fallen. Sie geriet ins Rutschen und klapperte den Luftschacht hinab.

Das Wasser kam immer noch nicht. Der keuchende und robbende Bigman war sich dessen vage bewußt. Er gelangte an zwei weitere Streben, es folgte eine weitere Krümmung. Dann wurde der Weg wieder flacher, und zuletzt kam er an eine Gruppe von Stauplatten, genau da, wo sie auf der Karte eingezeichnet waren. Die Strecke, die er zurückgelegt hatte, betrug wahrscheinlich weniger als zweihundert Meter, aber wie lange hatte er dafür gebraucht?

Und das Wasser kam immer noch nicht.

Die Stauplatten, Metall streifen, die abwechselnd an beiden Seiten der Schachtwand herausragten, um den Luftstrom zu verwirbeln, waren sein letzter Orientierungspunkt. Mit einer raschen Bewegung des Lampenendes trennte er die Streifen einen nach dem anderen ab, und jetzt mußte er genau zwei Meter und siebzig von dem letzten Streifen an gerechnet abmessen, dazu benutzte er wieder seine Lampe. Sie war genau zehn Zentimeter lang, er brauchte sie also bloß siebenundzwanzig Mal aneinanderzulegen.

Zweimal glitt sie ihm aus den Händen, und zweimal mußte er bis zu der schwach eingeritzten Markierung, welche die Stelle zeigte, an der sich zuvor der letzte Stauplattenstreifen befunden hatte, zurückkrabbeln. Er rutschte dabei auf allen Vieren und fluchte leise vor sich in: »Bei allen Wüsten des Mars!«

Beim dritten Anlauf kam er mit dem siebenundzwanzigmaligen Umlegen genau hin. Er hielt einen Daumen auf die Stelle. Morriss hatte ihm gesagt, daß der entsprechende Punkt beinahe direkt über seinem Kopf sein würde. Bigman schaltete seine Lampe ein und fuhr mit dem Finger die gewölbte Innenseite des Schachtes entlang, dazu mußte er sich auf den Rücken legen.

Er nahm wieder den Schneideknauf und hielt ihn, so gut er das in der Dunkelheit abschätzen konnte, einen halben Zentimeter von der eigentlichen Berührungsstelle (das Kraftfeld sollte nicht zu weit hindurchschneiden). Er führte eine Kreisbewegung aus. Ein herausgetrenntes Metallstück fiel ihm entgegen, er schob es zur Seite.

Er richtete die Lampe auf die freigelegte Verkabelung und schaute sich die Sache genau an. Ein paar Zentimeter weiter befand sich das Innere eines Raumes, der keine dreißig Meter von dem Mann an der Schleuse entfernt war. Saß er immer noch da? Offensichtlich hatte er den Hebel noch nicht betätigt (worauf wartete er eigentlich), oder Bigman hätte bereits ganz schön unter Wasser gestanden, wäre mausetot. War er etwa irgendwie gestoppt worden? Befand er sich vielleicht schon in Gewahrsam?

Ein saures Lächeln breitete sich auf Bigmans Gesicht aus, er dachte daran, daß er sich möglicherweise ganz umsonst durch das Innere eines Metallwurms gewunden hatte.

Er folgte den Drähten. Hier sollte doch irgendwo ein Relais sein. Sachte zupfte er an den Drähten, erst an einem, dann an einem zweiten. Einer bewegte sich, und eine kleine schwarze, sichelförmige Verschalung wurde sichtbar. Bigman stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Er klemmte die Stablampe zwischen die Zähne, so hatte er beide Hände frei.

Behutsam, sehr behutsam bog er die beiden Hälften der Verschalung in entgegengesetzte Richtungen. Die Magnoklammer gab nach, die beiden Hälften gingen auseinander und gaben den Inhalt frei. Dieser bestand aus einem Unterbrecherrelais: zwei glitzernde Kontaktenden; das eine war in seinen Feldkollektor eingeschlossen und von dem anderen nur durch einen kaum wahrnehmbaren Abstand getrennt. Wurde der richtige Impuls ausgelöst, wie zum Beispiel das Umlegen eines kleinen Hebels, würde der Feldkollektor die nötige Spannung aufbauen, die dann ihrerseits den anderen Kontakt herunterziehen würde, Strom am Kontaktpunkt vorbeischicken und so eine der Schleusen in der Kuppel öffnen. Das Ganze würde sich im millionsten Bruchteil einer Sekunde abspielen.

Bigman schwitzte und erwartete halbwegs, daß der letzte Moment jetzt, jetzt kommen würde, wo er seine Aufgabe fast ausgeführt hatte. Er fummelte in seiner Westentasche und holte ein Stück Isolierplastik hervor. Durch die Körperwärme war es bereits weich geworden. Er knetete die Masse einen Augenblick und plazierte sie vorsichtig an dem Punkt, an dem die beiden Kontakte sich fast berührten. Er hielt solange fest, bis er bis drei gezählt hatte, dann nahm er sie wieder ab.

Jetzt konnten die Kontakte ruhig schließen, dazwischen befand sich nunmehr ein dünner Film dieser Plastikmasse, durch den der Strom nicht fließen konnte.

Der Hebel durfte jetzt umgelegt werden: die Schleuse würde sich nicht öffnen.

Lachend krabbelte Bigman zurück, bahnte sich einen Weg an den Überbleibseln der Prallplatten vorbei, kam an den Streben die er abgetrennt hatte vorbei, schlitterte die Gefällestücke hinab.

*

In dem Wirrwarr, der jetzt die ganze Stadt beherrschte, suchte Bigman verzweifelt nach Lucky. Der Mann an dem Hebel befand sich in Gewahrsam, die Transitsperre war aufgehoben worden und die Bevölkerung flutete in ihre Behausungen zurück, die sie aufgegeben hatte. (Die meisten waren wütend darüber, daß die Stadtverwaltung es überhaupt zugelassen hatte, daß dies alles passieren konnte.) Für diejenigen, die auf die Katastrophe gewartet hatten, war die Beseitigung der Furcht das Startsignal für ein ausgelassenes Volksfest.

Am Schluß erschien Morriss aus dem Nichts und legte eine Hand auf Bigmans Ärmel. »Lucky ruft nach Ihnen.«

Überrascht sagte Bigman: »Von wo?«

»Aus meinem Zimmer im Ratsbüro. Ich habe ihm schon erzählt, was Sie gemacht haben.«

Bigman lief vor Freude rot an. Lucky würde stolz auf ihn sein. »Ich will mit ihm sprechen.«

Luckys Miene auf dem Bildschirm sah jedoch grimmig aus. »Meine Glückwünsche, Bigman, du bist toll gewesen, habe ich gehört.«

»War gar nichts dabei«, erwiderte Bigman grinsend. »Aber wo hast du bloß gesteckt?«

»Ist Dr. Morriss da? Ich kann ihn nicht sehen.«

Morriss quetschte sein Gesicht vor den Bildschirm. »Hier bin ich.«

»Nach allem, was ich gehört habe, konnten Sie den Mann am Hebel festsetzen.« »Stimmt. Wir haben es dank Bigman geschafft«, sagte Morriss.

»Dann lassen Sie mich mal raten. Als Sie sich ihm genähert haben, hat er da nicht versucht, den Hebel zu ziehen. Er hat sang- und klanglos aufgegeben.«

»Ja«, antwortete Morriss mit gerunzelter Stirn. »Wieso können Sie das erraten?«

»Weil der Zwischenfall an der Schleuse ein Ablenkungsmanöver gewesen ist. Der wirkliche Schaden sollte an diesem Ende der Stadt eintreten. Als mir das klar geworden war, bin ich verschwunden. Ich habe versucht, hierher zukommen. Ich sah mich gezwungen, dazu einen Hopper zu benutzen, um durch die Menge zu gelangen. Das letzte Stück fuhr ich in einem Wagen.«

»Und?« fragte Morris gespannt.

»Ich bin zu spät gekommen!«

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