Drittes Kapitel

Eine wunderliche Freundschaft war es, welche zwischen Narziss und Goldmund begann; wenigen nur gefiel sie, und manchmal konnte es so scheinen, als missfiele sie den beiden selbst.

Narziss, der Denker, hatte es damit zunächst am schwersten. Ihm war alles Geist, auch die Liebe; es war ihm nicht gegeben, gedankenlos sich einer Anziehung anheimzugeben. Er war in dieser Freundschaft der führende Geist, und lange Zeit war er es allein, der Schicksal, Umfang und Sinn dieser Freundschaft bewusst erkannte. Lange Zeit blieb er einsam mitten im Lieben und wusste, dass der Freund ihm erst dann wirklich angehören werde, wenn er ihn zur Erkenntnis würde geführt haben. Innig und glühend, spielend und rechenschaftslos gab Goldmund sich dem neuen Leben hin; wissend und verantwortlich nahm Narziss das hohe Schicksal an.

Für Goldmund war es zuerst eine Erlösung und Genesung. Sein junges Liebesbedürfnis war soeben, durch den Anblick und Kuss eines hübschen Mädchens, mächtig aufgeweckt und zugleich hoffnungslos zurückgeschreckt worden. Denn dies fühlte er im Innersten, dass all sein bisheriger Lebenstraum, alles, woran er glaubte, alles, wozu er sich bestimmt und berufen meinte, durch jenen Kuss im Fenster, durch den Blick jener dunklen Augen an der Wurzel gefährdet war. VomVater zum Mönchsleben bestimmt, mit ganzem Willen diese Bestimmung annehmend, mit der Glut erster Jugendinbrunst einem frommen und asketisch-heldischen Ideal zugewandt, hatte er bei der ersten flüchtigen Begegnung, beim ersten Anruf des Lebens an seine Sinne, beim ersten Gruß des Weiblichen unweigerlich gespürt, dass hier sein Feind und Dämon stehe, dass das Weib seine Gefahr sei. Und jetzt bot ihm das Schicksal eine Rettung, jetzt kam, in der dringendsten Not, diese Freundschaft ihm entgegen und bot seinem Verlangen einen blühenden Garten, seiner Ehrfurcht einen neuen Altar. Hier war ihm zu lieben erlaubt, war ihm erlaubt, ohne Sünde sich hinzugeben, sein Herz einem bewunderten, älteren, klügeren Freunde zu schenken, die gefährlichen Flammen der Sinne in edle Opferfeuer zu verwandeln, zu vergeistigen.

Schon im ersten Frühling dieser Freundschaft aber stieß er auf wunderliche Hemmnisse, auf unerwartete, rätselhafte Kälten, auf erschreckende Forderungen. Denn ihm lag es ferne, sich seinen Freund als Widerspiel und Gegenpol zu denken. Ihm schien, es bedürfe ja nur der Liebe, nur der aufrichtigen Hingabe, um aus zweien eins zu machen, um Unterschiede auszulöschen und Gegensätze zu überbrücken.

Wie herb und sicher, wie klar und unerbittlich aber war dieser Narziss! Ihm schien ein harmloses Sichhingeben, ein dankbares gemeinsames Wandern im Lande der Freundschaft unbekannt und unerwünscht zu sein. Wege ohne Ziel, träumerisches Dahinwandeln schien er nicht zu kennen, nicht zu dulden. Wohl hatte er sich, als Goldmund krank schien, um ihn besorgt gezeigt, wohl half und riet er ihm getreulich in allen Angelegenheiten der Schule und Gelehrsamkeit, erklärte ihm schwierige Stellen der Bücher, öffnete ihm Blicke ins Reich der Grammatik, der Logik, der Theologie; aber niemals schien er so recht mit dem Freunde zufrieden und einverstanden, ja oft genug schien er ihn zu belächeln und nicht ernst zu nehmen. Goldmund fühlte zwar, dass dies nicht bloße Schulmeisterei sei, nicht bloßes Wichtigtun des Älteren und Gescheiteren, dass etwas anderes dahinterstehe, etwas Tieferes, Wichtigeres. Erkennen aber konnte er dies Tiefere nicht, und so machte seine Freundschaft ihn oft traurig und ratlos.

In Wirklichkeit wusste Narziss recht wohl, was an seinem Freunde sei, er war nicht blind für seine blühende Schönheit, noch für seine naturhafte Lebenskraft und blumige Fülle. Er war keineswegs ein Schulmeister, der eine glühende junge Seele mit Griechisch füttern, eine unschuldige Liebe mit Logik beantworten wollte. Allzusehr vielmehr liebte er den blonden Jüngling, und für ihn war dies eine Gefahr; denn Lieben war für ihn kein natürlicher Zustand, sondern ein Wunder. Er durfte sich nicht verlieben, sich nicht mit dem wohligen Anschauen dieser hübschen Augen, mit der Nähe dieser blühenden lichten Blondheit begnügen, er durfte dieser Liebe nicht erlauben, auch nur einen Augenblick beim Sinnlichen zu verweilen. Denn wenn Goldmund sich zum Mönch und Asketen und zu einem lebenslangen Streben nach Heiligkeit bestimmt fühlte – Narziss war wirklich zu einem solchen Leben bestimmt. Ihm war Lieben nur in einer einzigen, der höchsten Form erlaubt. An Goldmunds Bestimmung zum Asketen aber glaubte Narziss nicht. Deutlicher als ein anderer verstand er in Menschen zu lesen, und hier, wo er liebte, las er mit gesteigerter Klarheit. Er sah Goldmunds Natur, die er trotz des Gegensatzes innigst verstand; denn sie war die andere, verlorene Hälfte seiner eigenen. Er sah diese Natur von einer harten Schale umpanzert, von Einbildungen, Erziehungsfehlern, Vaterworten, und ahnte längst das ganze, nicht komplizierte Geheimnis dieses jungen Lebens. Seine Aufgabe war ihm klar: dies Geheimnis seinem Träger zu enthüllen, ihn von der Schale zu befreien, ihm seine eigentliche Natur zurückzugeben. Es würde schwer sein, und das Schwerste daran war, dass ihm der Freund vielleicht darüber verloren gehen würde.

Unendlich langsam rückte er dem Ziele näher. Monate vergingen, ehe auch nur ein ernster Angriff, ein tiefgreifendes Gespräch zwischen beiden möglich wurde. So weit waren sie, trotz aller Freundschaft, auseinander, so weit war der Bogen zwischen beiden gespannt. Ein Sehender und ein Blinder, so gingen sie nebeneinander; dass der Blinde von seiner eigenen Blindheit nichts wusste, war nur für diesen selbst eine Erleichterung.

Die erste Bresche schlug Narziss, als er das Erlebnis zu erforschen suchte, das ihm damals den erschütterten Knaben in einer schwachen Stunde zugetrieben hatte. Die Erforschung war weniger schwierig, als er gedacht hatte. Längst fühlte Goldmund das Bedürfnis, das Erlebnis jener Nacht zu beichten; doch gab es niemanden außer dem Abt, zu dem er genug Vertrauen fühlte, und der Abt war nicht sein Beichtvater. Als nun Narziss in einer Stunde, die ihm günstig schien, den Freund an jenen ersten Beginn ihres Bundes erinnerte und sachte an das Geheimnis rührte, sagte der ohne Umschweife: »Es ist schade, dass du die Weihen noch nicht hast[20] und noch nicht Beichte hören kannst; gern hätte ich mich von jener Sache in der Beichte befreit und gern dafür eine Strafe abgebüßt. Aber meinem Beichtvater konnte ich sie nicht sagen.«

Vorsichtig, listig grub Narziss weiter, die Fährte war gefunden[21]. »Du erinnerst dich«, probierte er, »an jenen Morgen, wo du krank zu sein schienst; du hast ihn nicht vergessen, denn damals sind wir ja Freunde geworden. Ich habe oft daran denken müssen. Vielleicht hast du es nicht beachtet, aber ich war damals recht hilflos.«

»Du hilflos!?« rief der Freund ungläubig. »Aber der Hilflose war ja ich! Ich war es doch, der dastand und schluckte und kein Wort herausbrachte und schließlich wie ein Kind zu weinen anfing! Pfui, ich schäme mich noch heute dieser Stunde; ich glaubte, ich würde dir nie mehr vor die Augen treten können. Dass du mich so jämmerlich schwach gesehen hast!«

Tastend drang Narziss vor.

»Ich verstehe«, sagte er, »dass dir das unangenehm war. Ein so fester und tapferer Kerl wie du, und vor einem Fremden weinen, gar noch vor einem Lehrer, das passte in der Tat nicht zu dir. Nun, damals hielt ich dich eben für krank. Wenn das Fieber ihn schüttelt, mag auch ein Aristoteles[22] sich sonderbar benehmen. Aber dann warst du ja gar nicht krank! Es war ja gar kein Fieber! Und das ist es, wessen du dich schämtest. Niemand schämt sich, einem Fieber zu unterliegen, nicht wahr? Du schämtest dich, weil du etwas anderem erlegen warst, weil da etwas dich überwältigt hatte. War denn etwas Besonderes geschehen?«

Goldmund zögerte ein wenig, dann sagte er langsam: »Ja, es war etwas Besonderes geschehen. Lass mich annehmen, du seiest mein Beichtvater; es muss ja doch einmal gesagt sein.«

Mit gesenktem Kopf erzählte er dem Freunde die Geschichte jener Nacht.

Lächelnd sagte darauf Narziss: »Nun ja, das »Ins Dorf gehen« ist in der Tat verboten. Aber man kann vieles Verbotene tun und kann darüber lachen, oder man kann es beichten, und es ist erledigt und geht einen nichts mehr an. Warum solltest du denn nicht auch einmal, wie fast jeder Schüler, diese kleinen Torheiten begehen? Ist denn das so schlimm?«

Ohne Hemmung, zornig brach nun Goldmund los: »Du sprichst wirklich wie ein Schullehrer! Du weißt ja genau, um was es sich handelt! Natürlich sehe ich keine große Sünde darin, einmal den Hausregeln ein Schnippchen zu schlagen[23] und einen Schülerstreich mitzumachen, obwohl auch das ja nicht gerade zu den Vorübungen des Klosterlebens gehört.«

»Halt!« rief Narziss scharf. »Weißt du nicht, Freund, dass für viele fromme Väter gerade diese Vorübungen nötig waren? Weißt du nicht, dass einer der kürzesten Wege zum Leben eines Heiligen das Leben des Wüstlings sein kann?«

»Ach, rede nicht!« wehrte Goldmund ab. »Ich wollte sagen: nicht das bisschen Ungehorsam war es, das mein Gewissen belud. Es war etwas anderes. Es war das Mädchen. Es war ein Gefühl, das ich dir nicht schildern kann! Ein Gefühl, dass, wenn ich dieser Verlockung nachgäbe, wenn ich auch nur die Hand ausstreckte, um das Mädchen anzurühren, ich niemals mehr zurück könne, dass mich dann die Sünde wie ein Höllenschlund einschlucken und nie mehr herausgeben werde. Dass es dann mit allen schönen Träumen, mit aller Tugend, mit aller Liebe zu Gott und dem Guten ein Ende hätte.«

Narziss nickte, sehr nachdenklich.

»Die Liebe zu Gott«, sagte er langsam, die Worte suchend, »ist nicht immer eins mit der Liebe zum Guten. Ach, wenn es so einfach wäre! Was gut ist, wissen wir, es steht in den Geboten. Aber Gott ist nicht nur in den Geboten, du, sie sind nur der kleinste Teil von ihm. Du kannst bei den Geboten stehen und kannst weit von Gott weg sein.«

»Verstehst du mich denn nicht?« klagte Goldmund.

»Gewiss verstehe ich dich. Du fühlst im Weib, im Geschlecht, den Inbegriff alles dessen, was du »Welt« und »Sünde« nennst. Aller anderen Sünden, so scheint es dir, bist du entweder gar nicht fähig oder aber sie würden, wenn du sie begingest, dich doch nicht erdrücken, sie würden sich beichten und gutmachen lassen. Nur die eine Sünde nicht!«

»Jawohl, genau so fühle ich es.«

»Du siehst, ich verstehe dich. Du hast ja auch nicht so sehr unrecht, die Geschichte von Eva und der Schlange[24] ist ja wahrlich keine müßige Fabel. Und doch hast du nicht recht, Lieber. Du hättest recht, wenn du der Abt Daniel wärest oder dein Taufpatron, der heilige Chrysostomus, wenn du ein Bischof oder Priester oder auch nur ein kleiner simpler Mönch wärest. Der bist du ja aber nicht. Du bist ein Schüler, und wenn du auch den Wunsch hast, für immer im Kloster zu bleiben, oder wenn dein Vater diesen Wunsch für dich hat, so hast du doch noch kein Gelübde abgelegt[25], noch keine Weihe erhalten[26]. Wenn du heut oder morgen durch ein hübsches Mädchen verführt würdest und der Versuchung erlägest, so hättest du keinen Schwur gebrochen, kein Gelübde verletzt.«

»Kein geschriebenes Gelübde!« rief Goldmund in großer Erregung. »Wohl aber ein ungeschriebenes, das heiligste, das ich in mir trage. Kannst du denn nicht sehen, dass, was für viele andere gelten mag, für mich nicht gilt? Hast denn nicht auch du selber noch keine Weihe, hast noch kein Gelübde getan, und doch würdest du dir niemals erlauben, ein Weib anzurühren! Oder täusche ich mich da? Bist du gar nicht so? Bist du gar nicht der, für den ich dich hielt? Hast nicht auch du den Schwur, den du mit Worten und vor den Oberen noch nicht geleistet hast, doch längst im Herzen geleistet und fühlst dich durch ihn für immer verpflichtet? Bist du denn nicht meinesgleichen?«

»Nein, Goldmund, ich bin nicht deinesgleichen, nicht so wie du glaubst. Wohl halte auch ich ein ungesprochenes Gelübde, darin hast du recht. Aber deinesgleichen bin ich keineswegs. Ich sage dir heut ein Wort, an das wirst du einmal denken. Ich sage dir: unsere Freundschaft hat überhaupt kein anderes Ziel und keinen anderen Sinn, als dir zu zeigen, wie vollkommen ungleich du mir bist!«

Betroffen blieb Goldmund stehen; Narziss hatte mit dem Blick und Ton gesprochen, dem nicht zu widerstehen war. Er schwieg. Aber warum sagte Narziss solche Worte? Warum sollte Narzissens ungesprochenes Gelübde heiliger sein als seines? Nahm er ihn überhaupt nicht ernst, sah er bloß ein Kind in ihm? Die Verwirrungen und Traurigkeiten dieser sonderbaren Freundschaft begannen von neuem.

Narziss war nicht mehr im Zweifel über die Natur von Goldmunds Geheimnis. Es war Eva, es war die Urmutter, die dahinterstand. Wie aber war es möglich, dass in einem so schönen, so gesunden, so blühenden Jüngling das erwachende Geschlecht auf so erbitterte Feindschaft stieß? Es musste ein Dämon am Werke gewesen sein, ein heimlicher Feind, dem es gelungen war, diesen herrlichen Menschen in sich zu spalten und mit seinen Urtrieben zu entzweien. Gut, der Dämon musste gefunden, musste beschworen und sichtbar gemacht werden, dann war er zu besiegen.

Inzwischen war Goldmund von den Kameraden mehr und mehr gemieden und im Stich gelassen worden[27], vielmehr sie fühlten sich von ihm im Stich gelassen und gewissermaßen verraten. Niemand sah seine Freundschaft mit Narziss gerne. Die Hämischen brachten sie als naturwidrig in Verruf[28], namentlich jene, welche selbst in einen der beiden Jünglinge verliebt gewesen waren. Aber auch die andern, denen es einleuchtete, dass hier kein Laster zu beargwöhnen sei, schüttelten die Köpfe. Niemand gönnte diese beiden Menschen einander; durch ihren Zusammenschluss hatten sie, so schien es, sich hochmütig als Aristokraten von den andern abgesondert, die ihnen nicht gut genug waren; das war nicht kollegial, war nicht klösterlich, war nicht christlich.

Dem Abt Daniel kam manches über die beiden zu Ohren, Gerüchte, Anklagen, Verleumdungen. Viele Jünglingsfreundschaften hatte er in mehr, als vierzig Jahren Klosterlebens mit angesehen, sie gehörten ins Bild des Klosters, sie waren eine hübsche Zugabe, waren zuweilen ein Spaß, waren zuweilen eine Gefahr. Er hielt sich zurück, er hielt die Augen offen, ohne sich einzumischen. Eine Freundschaft von solcher Heftigkeit und Ausschließlichkeit war etwas Seltenes, sie war ohne Zweifel etwas nicht Ungefährliches; aber da er an ihrer Reinheit keinen Augenblick zweifelte, ließ er der Sache ihren Lauf[29]. Wäre Narziss nicht in einer Ausnahmestellung zwischen Schülern und Lehrern gewesen, so hätte der Abt nicht gezögert, einige trennende Verordnungen zwischen die beiden zu legen. Es war für Goldmund nicht gut, dass er sich von den Mitschülern zurückzog und einzig mit einem Älteren, einem Lehrer, nahen Umgang pflegte. Aber durfte man Narziss, den Ungewöhnlichen, Hochbegabten, den von allen Lehrern als geistig ihresgleichen, ja als überlegen Betrachteten, in seiner bevorzugten Laufbahn stören und der Lehrtätigkeit wieder entheben? Hätte Narziss sich als Lehrer nicht bewährt, hätte seine Freundschaft ihn zu Nachlässigkeit und Parteilichkeit verführt, er hätte ihn sofort abberufen. Aber es lag nichts gegen ihn vor, nichts als Gerüchte, nichts als eifersüchtiges Misstrauen der andern. Außerdem wusste der Abt von Narzissens besonderen Gaben, von seiner merkwürdig eindringenden, vielleicht etwas anmaßenden Menschenkenntnis. Er überschätzte solche Gaben nicht, andere Gaben wären ihm an Narziss willkommener gewesen;

aber er zweifelte nicht, dass Narziss an dem Schüler Goldmund Besonderes wahrgenommen habe und ihn weit besser kenne, als er oder irgendein anderer ihn kannte. Ihm selbst, dem Abt, war an Goldmund außer der gewinnenden Anmut seines Wesens nichts anderes aufgefallen als ein gewisser verfrühter, sogar etwas altkluger Eifer, mit dem er schon jetzt, als bloßer Schüler und Gast, sich im Kloster als zugehörig und schon beinahe als Mitbruder zu fühlen schien. Dass Narziss diesen rührenden, aber unreifen Eifer begünstigen und noch mehr anstacheln werde, glaubte er nicht befürchten zu müssen. Zu fürchten für Goldmund war eher, dass sein Freund ihn mit einem gewissen Geistdünkel und gelehrten Hochmut anstecken werde; aber die Gefahr schien ihm gerade für diesen Schüler nicht groß zu sein; man konnte es darauf ankommen lassen[30]. Wenn er daran dachte, wieviel einfacher, friedlicher und bequemer es für einen Vorsteher sei, Durchschnittsmenschen statt großer und starker Naturen zu regieren, so musste er zugleich seufzen und lächeln. Nein, er wollte sich nicht vom Misstrauen anstecken lassen, er wollte nicht undankbar dafür sein, dass ihm zwei Ausnahmemenschen anvertraut waren.

Narziss dachte viel über seinen Freund nach. Sein besonderes Vermögen, die Artung und Bestimmung der Menschen zu schauen und fühlend zu erkennen, hatte ihm über Goldmund längst Bescheid gesagt. Alles Lebendige und Strahlende an diesem Jüngling sprach so deutlich: er trug alle Zeichen eines starken, in den Sinnen und der Seele reich begabten Menschen, eines Künstlers vielleicht, jedenfalls aber eines Menschen von großer Liebeskraft, dessen Bestimmung und Glück darin bestand, entzündbar zu sein[31] und sich hingeben zu können. Warum war nun dieser Liebesmensch, dieser Mensch mit den feinen, reichen Sinnen, der einen Blumenduft, eine Morgensonne, ein Pferd, einen Vogelflug, eine Musik so tief erleben und lieben konnte, warum nur war er darauf versessen, ein Geistmensch und Asket zu sein? Viel grübelte Narziss darüber nach. Er wusste, dass Goldmunds Vater diese Versessenheit begünstigt hatte. Aber konnte er sie hervorgebracht haben? Mit welchem Zauber hatte er den Sohn verhext, dass er an eine solche Bestimmung und Pflicht glaubte? Was für ein Mensch mochte dieser Vater sein? Obwohl er absichtlich sehr oft die Rede auf ihn gebracht und Goldmund nicht wenig von ihm gesprochen hatte, konnte Narziss sich doch diesen Vater nicht vorstellen, er konnte ihn nicht sehen. War das nicht merkwürdig und verdächtig? Wenn Goldmund von einer Forelle sprach, die er als Knabe gefangen hatte, wenn er einen Schmetterling beschrieb, einen Vogelruf nachahmte, von einem Kameraden, einem Hund oder einem Bettler erzählte, dann entstanden Bilder, dann sah man etwas. Wenn er von seinem Vater sprach, dann sah man nichts. Nein, wäre dieser Vater wirklich in Goldmunds Leben eine so wichtige, mächtige, beherrschende Figur gewesen, er hätte ihn anders zu schildern, er hätte andere Bilder von ihm hinzustellen vermocht! Narziss dachte nicht hoch von diesem Vater, er gefiel ihm nicht; er zweifelte manchmal sogar, ob er wirklich Goldmunds Vater sei. Er war ein leerer Götze. Aber woher hatte er diese Macht? Wie hatte er Goldmunds Seele mit Träumen füllen können, die dem Kern dieser Seele so fremd waren?

Auch Goldmund grübelte viel. So sehr er der herzlichen Liebe seines Freundes sich sicher fühlte, er hatte doch immer wieder das lästige Gefühl, von ihm nicht ernst genug genommen und immer ein wenig wie ein Kind behandelt zu werden. Und was bedeutete das, dass der Freund ihm immer wieder zu verstehen gab, er sei nicht seinesgleichen?

Indessen füllte dies Grübeln Goldmunds Tage nicht aus. Lange zu grübeln, das vermochte er nicht. Es gab anderes zu tun den langen Tag hindurch. Er steckte oft beim Bruder Pförtner, mit dem stand er sehr gut. Er erbettelte und erlistete sich immer einmal wieder die Gelegenheit, eine Stunde oder zwei auf dem Pferde Bless zu reiten, und sehr beliebt war er bei den paar Umsassen des Klosters, namentlich beim Müller; oft lauerte er mit dessen Knecht dem Fischotter auf, oder sie buken Fladen aus dem feinen Prälatenmehl, das Goldmund geschlossenen Auges, nur am Geruch, aus allen Mehlarten herauskannte. War er auch viel mit Narziss zusammen, es blieben doch manche Stunden, in denen er seinen alten Gewohnheiten und Freuden nachging. Auch die Gottesdienste waren ihm meistens eine Freude, gerne sang er im Chor der Schüler mit, gern betete er einen Rosenkranz vor einem Lieblingsaltar, hörte das schöne, feierliche Latein der Messe, sah im Weihrauchgewölk das Gold der Geräte und Zierate funkeln und die stillen, ehrwürdigen Heiligenfiguren auf den Säulen stehen, die Evangelisten mit den Tieren, den Jakobus[32] mit Hut und Pilgertasche.

Von diesen Gestalten fühlte er sich angezogen, diese steinernen und hölzernen Figuren dachte er sich gerne in geheimnisvoller Beziehung zu seiner Person, etwa als unsterbliche allwissende Paten, Beschützer und Wegweiser seines Lebens. Ebenso spürte er eine Liebe und eine geheime holde Beziehung zu den Säulen und Kapitalen[33] der Fenster und Türen, den Ornamenten der Altäre, zu diesen schön profilierten Stäben und Kränzen, zu diesen Blumen und krautig wuchernden Blättern, die aus dem Stein der Säulen brachen und sich so sprechend und eindringlich falteten. Es schien ihm ein wertvolles, inniges Geheimnis: dass es außer der Natur, ihren Pflanzen und Tieren noch diese zweite, stumme, von Menschen gemachte Natur gab, diese Menschen, Tiere und Pflanzen aus Stein und Holz. Nicht selten brachte er eine Freistunde damit hin, diese Figuren, Tierköpfe und Blätterbündel nachzuzeichnen, und auch wirkliche Blumen, Pferde, Menschengesichter versuchte er manchmal zu zeichnen.

Und sehr liebte er die Kirchengesänge, namentlich die Marienlieder. Er liebte den festen strengen Gang dieser Gesänge, ihre immer wiederkehrenden Anflehungen und Lobpreisungen. Er konnte ihrem ehrwürdigen Sinn anbetend folgen oder konnte auch, des Sinnes vergessend, nur die feierlichen Maße dieser Verse lieben und sich von ihnen erfüllen lassen, von den langgezogenen tiefen Tönen, von den vollen tönenden Vokalen, von den frommen Wiederholungen. Im innersten Herzen liebte er nicht die Gelehrsamkeit, nicht Grammatik und Logik, obwohl auch sie ihre Schönheit hatten, sondern mehr liebte er die Bilderund und Klangwelt der Liturgie.

Immer wieder unterbrach er auch für Augenblicke die zwischen ihm und den Mitschülern eingetretene Entfremdung. Auf die Dauer war es ihm ärgerlich und langweilig, von Ablehnung und Kühle umgeben zu sein; immer wieder brachte er einen mürrischen Pultnachbarn zum Lachen, einen schweigsamen Bettnachbarn zum Plaudern, gab sich eine Stunde lang Mühe, warb und war lieb und gewann ein paar Augen, ein paar Gesichter, ein paar Herzen für eine Weile für sich zurück. Zweimal erreichte er es durch solche Annäherungen, sehr wider seine Absicht, dass er wieder aufgefordert wurde, mit »ins Dorf zu gehen«. Da erschrak er und zuckte rasch zurück. Nein, er ging nicht mehr ins Dorf, und es war ihm gelungen, das Mädchen mit den Zöpfen zu vergessen, ihrer nie mehr zu gedenken, oder doch beinahe nie mehr.

Загрузка...