Fünftes Kapitel

Bisher hatte Goldmund von seiner Mutter wohl einiges gewusst, aber nur aus den Erzählungen anderer; ihr Bild hatte er nicht mehr besessen, und von dem wenigen, was er über sie zu wissen glaubte, hatte er Narziss das meiste verschwiegen. Die Mutter war etwas, wovon man nicht sprechen durfte, man schämte sich ihrer. Eine Tänzerin war sie gewesen, ein schönes wildes Weib von vornehmer, aber unguter und heidnischer Herkunft; Goldmunds Vater hatte sie, so erzählte er, aus Armut und Schande aufgelesen; er hatte sie, da er nicht wusste, ob sie nicht Heidin sei, taufen und in der Religion unterweisen lassen; er hatte sie geheiratet und zu einer angesehenen Frau gemacht. Sie aber, nach einigen Jahren der Zahmheit und des geordneten Lebens, hatte sich ihrer alten Künste und Übungen wieder erinnert, hatte Ärgernis erregt und Männer verführt, war Tage und Wochen von zu Hause weggeblieben, war in den Ruf einer Hexe gekommen und schließlich, nachdem ihr Mann sie mehrmals wieder eingeholt und zu sich genommen hatte, für immer verschwunden. Ihr Ruf war noch eine Weile vernehmbar geblieben, ein böser Ruf, flackernd wie ein Kometenschweif, und war dann erloschen. Ihr Mann erholte sich langsam von den Jahren der Unruhe, des Schreckens, der Schande und der ewigen Überraschungen, die sie ihm bereitet hatte; an Stelle des missratenen Weibes erzog er nun sein Söhnlein, das der Mutter an Gestalt und Gesicht sehr ähnlich war; der Mann war vergrämt und frömmlerisch geworden und züchtete in Goldmund den Glauben, er müsse sein Leben Gott darbringen, um die Sünden der Mutter zu sühnen.

Dies etwa war es, was Goldmunds Vater über sein verlorengegangenes Weib zu erzählen pflegte, obwohl er nicht gerne darauf zu sprechen kam, und Andeutungen davon hatte er bei Goldmunds Einlieferung auch dem Abte gemacht; und dies alles war, als schreckliche Sage, auch dem Sohne bekannt, obwohl er gelernt hatte, es beiseite zu schieben und beinahe zu vergessen. Ganz und gar vergessen und verloren aber hatte er das wirkliche Bild der Mutter, jenes andere, ganz andere Bild, das nicht aus den Erzählungen des Vaters und der Dienstboten und aus dunklen wilden Gerüchten bestand. Seine eigene, wirkliche, erlebte Erinnerung an die Mutter hatte er vergessen. Und nun war dieses Bild, der Stern seiner frühesten Jahre, wieder aufgestiegen.

»Es ist unbegreiflich, wie ich das hatte vergessen können«, sagte er zu seinem Freunde. »Nie in meinem Leben habe ich jemand so geliebt wie meine Mutter, so unbedingt und glühend, nie habe ich jemand so verehrt, so bewundert, sie war Sonne und Mond für mich. Weiß Gott, wie es möglich war, dies strahlende Bild in meiner Seele zu verdunkeln und allmählich diese böse, bleiche, gestaltlose Hexe aus ihr zu machen, die sie für den Vater und für mich seit vielen Jahren war.«

Narziss hatte vor kurzem sein Noviziat beendet und war eingekleidet worden[41]. Merkwürdig hatte sein Verhalten zu Goldmund sich verändert. Goldmund nämlich, der des Freundes Winke und Mahnungen früher oft als lästiges Besserwissen und Besserwollen abgelehnt hatte, war seit dem großen Erlebnis voll staunender Bewunderung für die Weisheit seines Freundes. Wie viele von dessen Worten hatten sich wie Prophezeiungen erfüllt, wie tief hatte dieser Unheimliche in ihn hineingesehen, wie genau hatte er sein Lebensgeheimnis, seine verborgene Wunde erraten, wie klug hatte er ihn geheilt!

Denn geheilt schien der Jüngling zu sein. Nicht nur war jene Ohnmacht ohne üble Folgen geblieben; es war auch jenes gewisse Spielerische, Altkluge, Unechte in Goldmunds Wesen wie weggeschmolzen, jenes etwas frühreife Mönchtum, jenes zu ganz besonderem Gottesdienste Sichverpflichtetglauben. Der Jüngling schien zugleich jünger und älter geworden, seit er zu sich selbst gefunden hatte. All das verdankte er Narziss.

Narziss aber verhielt sich zu seinem Freunde seit einer Weile eigentümlich vorsichtig; sehr bescheiden, gar nicht mehr überlegen und belehrend sah er ihn an, während jener ihn so sehr bewunderte. Er sah Goldmund aus geheimen Quellen her mit Kräften gespeist, die ihm selbst fremd waren; er hatte ihr Wachstum fördern können, hatte aber keinen Anteil an ihnen. Mit Freude sah er den Freund sich von seiner Führerschaft befreien und war doch zuweilen traurig. Er empfand sich als überschrittene Stufe, als weggeworfene Schale; er sah das Ende dieser Freundschaft nahe, die ihm so viel gewesen war. Noch immer wusste er mehr über Goldmund als dieser selbst; denn wohl hatte Goldmund seine Seele wiedergefunden und war bereit, ihrem Ruf zu folgen[42], wohin sie ihn aber führen werde, ahnte er noch nicht. Narziss ahnte es und war machtlos; seines Lieblings Weg führte in Länder, die er selbst nie betreten würde.

Goldmunds Begierde nach den Wissenschaften war sehr viel geringer geworden. Auch seine Disputierlust in den Freundesgesprächen war vergangen, beschämt erinnerte er sich an manche ihrer einstigen Unterhaltungen. Inzwischen war bei Narziss in jüngster Zeit, sei es mit der Vollendung seines Noviziats oder infolge der Erlebnisse mit Goldmund, ein Bedürfnis nach Zurückgezogenheit, Askese und geistlichen Übungen erwacht, eine Neigung zu Fasten und langen Gebeten, häufigen Beichten, freiwilligen Bußübungen, und diese Neigung vermochte Goldmund zu verstehen, ja beinahe zu teilen. Seit seiner Genesung war sein Instinkt sehr geschärft; wusste er auch noch nicht das geringste über seine künftigen Ziele, so spürte er doch mit starker und oft beängstigender Deutlichkeit, dass sein Schicksal sich vorbereite, dass eine gewisse Schonzeit der Unschuld und Ruhe[43] nun vorüber und alles in ihm gespannt und bereit sei. Oft war die Ahnung beseligend, hielt ihn halbe Nächte wach wie eine süße Verliebtheit; oft auch war sie dunkel und tief beklemmend. Die Mutter war wieder zu ihm gekommen, die lang Verlorene; das war ein hohes Glück. Aber wohin führte ihr lockender Ruf? Ins Ungewisse, in Verstrickung, in Not, vielleicht in den Tod. Ins Stille, Sanfte, Gesicherte, in Mönchszelle und lebenslängliche Klostergemeinschaft führte sie nicht, ihr Ruf hatte nichts gemein mit jenen väterlichen Geboten, die er so lange mit seinen eigenen Wünschen verwechselt hatte. Aus diesem Gefühl, das oft stark, bang und brennend war wie ein heftiges Körpergefühl, nährte sich Goldmunds Frömmigkeit. Im Wiederholen langer Gebete an die heilige Mutter Gottes ließ er den Überschwall des Gefühls, das ihn zur eigenen Mutter zog, von sich strömen. Häufig aber endeten seine Gebete doch wieder in jenen merkwürdigen, herrlichen Träumen, die er jetzt so oft erlebte: Träumen bei Tage, bei halbwachen Sinnen, Träumen von ihr, an denen alle Sinne teilhatten. Da umduftete ihn die Mutterwelt, blickte dunkel aus rätselhaften Liebesaugen, rauschte tief wie Meer und Paradies, lallte kosend sinnlose, vielmehr mit Sinn überfüllte Koselaute, schmeckte nach Süßem und nach Salzigem, streifte mit seidigem Haar über dürstende Lippen und Augen. Nicht nur alles Holde war in der Mutter, nicht nur süßer blauer Liebesblick, holdes glückverheißendes Lächeln, kosende Tröstung; in ihr war, irgendwo unter anmutigen Hüllen, auch alles Furchtbare und Dunkle, alle Gier, alle Angst, alle Sünde, aller Jammer, alle Geburt, alles Sterbenmüssen.

Tief sank der Jüngling in diese Träume, in diese vielfädigen Gespinste beseelter Sinne. In ihnen stand nicht nur geliebte Vergangenheit wieder bezaubernd auf: Kindheit und Mutterliebe, strahlend goldener Lebensmorgen; es schwang in ihnen auch drohende, versprechende, lockende und gefährliche Zukunft. Zuweilen erschienen diese Träume, in denen Mutter, Madonna und Geliebte eins waren, ihm nachher wie entsetzliche Verbrechen und Gotteslästerungen, wie niemals mehr zu sühnende Todsünden; zu andern Malen fand er in ihnen alle Erlösung, alle Harmonie. Voll von Geheimnissen starrte das Leben ihn an, eine finstere unergründliche Welt, ein starrer stachliger Wald voll märchenhafter Gefahren – aber es waren Geheimnisse der Mutter, sie kamen von ihr, sie führten zu ihr, sie waren der kleine dunkle Kreis, der kleine drohende Abgrund in ihrem lichten Auge.

Viel vergessene Kindheit kam in diesen Mutterträumen herauf, aus unendlichen Tiefen und Verlorenheiten blühten viele kleine Erinnerungsblumen, blickten goldig, dufteten ahnungsvoll, Erinnerungen an Gefühle der Kindheit, vielleicht an Erlebnisse, vielleicht an Träume. Von Fischen träumte er zuweilen, die schwammen schwarz und silbern auf ihn zu, kühl und glatt, schwammen in ihn hinein, durch ihn hindurch, kamen wie Boten mit holden Glücksnachrichten aus einer schöneren Wirklichkeit, schwanden schwänzelnd und schattenhaft, waren dahin, hatten statt Botschaft neue Geheimnisse gebracht. Oft träumte er schwimmende Fische und fliegende Vögel, und jeder Fisch oder Vogel war sein Geschöpf, war von ihm abhängig und lenkbar wie sein Atemzug, strahlte wie ein Blick, wie ein Gedanke von ihm aus, kehrte in ihn zurück. Von einem Garten träumte er oft, einem Zaubergarten mit märchenhaften Bäumen, übergroßen Blumen, tiefen blaudunklen Höhlen; zwischen den Gräsern blickten funkelnde Augen unbekannter Tiere, an den Ästen glitten glatte sehnige Schlangen; an Reben und Gesträuchen hingen groß und feuchtglänzend riesige Beeren, die schwollen beim Pflücken in seiner Hand und vergossen warmen Saft wie Blut oder hatten Augen und bewegten sie schmachtend und listig; er lehnte sich tastend an einen Baum, griff nach einem Ast und sah und fühlte zwischen Stamm und Ast ein Gekräusel wirrer dichter Haare nisten wie das Haar in der Höhle einer Achsel. Einmal träumte er von sich selber oder von seinem Namensheiligen, träumte von Goldmund Chrysostomus, der hatte einen Mund aus Gold und sprach mit dem goldenen Munde Worte, und die Worte waren kleine schwärmende Vögel, in flatternden Scharen flogen sie davon.

Einmal träumte er: er war groß und erwachsen, saß aber wie ein Kind am Boden, hatte Lehm vor sich und knetete wie ein Kind aus dem Lehm Figuren: ein Pferdchen, einen Stier, einen kleinen Mann, eine kleine Frau. Das Kneten machte ihm Spaß, und er machte den Tieren und Männern lächerlich große Geschlechtsteile, im Traume kam ihm das sehr witzig vor. Dann wurde er des Spiels müde und ging weiter, da fühlte er hinter sich etwas leben, etwas Lautloses, Großes sich nähern, und sah zurück, und sah mit tiefem Erstaunen und mit großem Schrecken, der aber nicht ohne Freude war, seine kleinen Lehmfiguren groß und lebendig geworden. Gewaltig groß, stumme Riesen, marschierten die Figuren an ihm vorbei, noch immer wachsend, riesig und schweigend zogen sie weiter, in die Welt hinein, hoch wie Türme.

In dieser Traumwelt lebte er mehr als in der wirklichen. Die wirkliche Welt: Schulsaal, Klosterhof, Bibliothek, Schlafsaal und Kapelle, war nur Oberfläche, nur eine dünne zitternde Haut über der traumgefüllten, überwirklichen Bilderwelt. Ein Nichts war genug, um in diese dünne Haut ein Loch zu stoßen: etwas Ahnungsvolles im Klang eines griechischen Wortes mitten in der nüchternen Lektion, eine Welle Duft aus der Kräutertasche des botanisierenden Paters Anselm, der Blick auf eine steinerne Blattranke, die oben aus der Säule eines Fensterbogens quoll – solche kleine Anreize genügten schon, um die Haut der Wirklichkeit zu durchstoßen und hinter der friedlich dürren Wirklichkeit die tosenden Abgründe, Ströme und Milchstraßen jener Seelenbilderwelt zu entfesseln. Ein lateinisches Initial wurde zum duftenden Gesicht der Mutter, ein langgezogener Ton im Ave[44] zum Paradiestor, ein griechischer Buchstabe zum rennenden Pferd, zur bäumenden Schlange, still wälzte sie sich unter Blumen davon, und schon stand an ihrer Stelle wieder die starre Seite der Grammatik.

Selten sprach er davon, nur wenige Male gab er Narziss eine Andeutung von dieser Traumwelt.

»Ich glaube«, sagte er einmal, »dass ein Blumenblatt oder ein kleiner Wurm auf dem Wege viel mehr sagt und enthält als alle Bücher der ganzen Bibliothek. Mit Buchstaben und mit Worten kann man nichts sagen. Manchmal schreibe ich irgendeinen griechischen Buchstaben, ein Theta oder Omega[45], und indem ich die Feder ein klein wenig drehe, schwänzelt der Buchstabe und ist ein Fisch und erinnert in einer Sekunde an alle Bäche und Ströme der Welt, an alles Kühle und Feuchte, an den Ozean Homers und an das Wasser, auf dem Petrus[46] wandelte, oder der Buchstabe wird ein Vogel, stellt den Schwanz, sträubt die Federn, bläst sich auf, lacht, fliegt davon. – Nun, Narziss, du hältst wohl nicht viel von solchen Buchstaben? Aber ich sage dir: mit ihnen schrieb Gott die Welt.«

»Ich halte viel von ihnen«, sagte Narziss traurig. »Es sind Zauberbuchstaben, man kann alle Dämonen mit ihnen beschwören. Nur freilich zum Betreiben der Wissenschaften sind sie ungeeignet. Der Geist liebt das Feste, Gestaltete, er will sich auf seine Zeichen verlassen können, er liebt das Seiende, nicht das Werdende, das Wirkliche und nicht das Mögliche. Er duldet nicht, dass ein Omega eine Schlange oder ein Vogel werde. In der Natur kann der Geist nicht leben, nur gegen sie, nur als ihr Gegenspiel. Glaubst du mir jetzt, Goldmund, dass du nie ein Gelehrter sein wirst?«

O ja, Goldmund glaubte es längst, er war damit einverstanden.

»Ich bin gar nicht mehr in das Streben nach eurem Geist verbissen«, sagte er, halb lachend. »Es geht mir mit dem Geist und mit der Gelehrsamkeit ähnlich, wie es mir mit meinem Vater gegangen ist: ich glaubte ihn sehr zu lieben und ihm ähnlich zu sein, ich schwor auf alles, was er sagte. Aber kaum war meine Mutter wieder da, so wusste ich erst wieder, was Liebe ist, und neben ihrem Bild war das des Vaters plötzlich klein und unfroh und beinah widerwärtig geworden. Und jetzt neige ich dazu, alles Geistige als väterlich, als unmütterlich und mutterfeindlich anzusehen und es ein wenig gering zu achten.«

Er sprach scherzend, doch gelang es ihm nicht, seines Freundes trauriges Gesicht heiter zu machen. Narziss sah ihn schweigend an, sein Blick war wie eine Liebkosung. Dann sagte er: »Ich verstehe dich wohl. Wir brauchen jetzt nicht mehr zu streiten; du bist erwacht, und du hast ja jetzt auch den Unterschied zwischen dir und mir erkannt, den Unterschied zwischen mütterlichen und väterlichen Herkünften, zwischen Seele und Geist. Und nun wirst du ja wohl bald auch das noch erkennen, dass dein Leben im Kloster und dein Streben nach einem mönchischen Leben ein Irrtum war, eine Erfindung deines Vaters, der damit das Andenken deiner Mutter entsündigen oder auch nur sich an ihr rächen wollte. Oder glaubst du noch immer, dass es deine Bestimmung sei, dein ganzes Leben im Kloster zu bleiben?«

Nachdenklich betrachtete Goldmund seines Freundes Hände, diese vornehmen, ebenso strengen wie zarten, mageren und weißen Hände. Niemand konnte bezweifeln, dass dies Asketen- und Gelehrtenhände seien.

»Ich weiß nicht«, sagte er mit der singenden, etwas zögernden, lang auf jedem Laut verweilenden Stimme, die er seit einiger Zeit bekommen hatte. »Ich weiß es wirklich nicht. Du urteilst etwas hart über meinen Vater. Er hat es nicht leicht gehabt. Aber vielleicht hast du auch hierin recht. Ich bin seit mehr als drei Jahren hier in der Klosterschule, und er hat mich noch nie besucht. Er hoft, dass ich für immer hierbleiben werde. Vielleicht wäre es das beste, ich habe es ja auch selber immer gewünscht. Aber heut weiß ich nicht mehr, was ich eigentlich will und wünsche. Früher war alles einfach, so einfach wie die Buchstaben im Lesebuch. Jetzt ist nichts mehr einfach, nicht einmal mehr die Buchstaben. Alles hat viele Bedeutungen und Gesichter bekommen. Ich weiß nicht, was aus mir werden soll, ich kann jetzt nicht an solche Sachen denken.«

»Das sollst du auch nicht«, meinte Narziss. »Es wird sich schon zeigen, wohin dein Weg führt. Er hat begonnen, dich zu deiner Mutter zurückzuführen und wird dich ihr noch näherbringen. Was aber deinen Vater betrift, so urteile ich über ihn nicht zu hart. Würdest du denn zu ihm zurückkehren wollen?«

»Nein, Narziss, gewiss nicht. Sonst würde ich es tun, sobald ich mit der Schule fertig bin, oder schon jetzt. Denn da ich doch kein Gelehrter werde, habe ich eigentlich Latein, Griechisch und Mathematik genug gelernt. Nein, ich will nicht zum Vater zurück…«

Nachdenklich sah er vor sich hin, und plötzlich rief er: »Aber wie machst du das nur, dass du mir immer wieder Worte sagst oder Fragen stellst, die in mich hineinleuchten und mich mir selbst klarmachen? Auch jetzt wieder war es nur deine Frage, ob ich denn zu meinem Vater würde zurückkehren wollen, die mir plötzlich gezeigt hat, dass ich es nicht will. Wie machst du das? Du scheinst alles zu wissen. Du hast mir manche Worte über dich und mich gesagt, die ich im Augenblick des Hörens gar nicht recht begriff und die mir nachher so wichtig geworden sind! Du warst es, der meine Herkunft eine mütterliche nannte, und du hast entdeckt, dass ich unter einem Bann stand und meine Kindheit vergessen hatte! Woher kennst du die Menschen so gut? Kann ich das nicht auch lernen?« Narziss schüttelte lächelnd den Kopf.

»Nein, mein Lieber, du kannst es nicht. Es gibt Menschen, die viel lernen können, aber du gehörst nicht zu ihnen. Du wirst nie ein Lerner sein. Wozu denn auch? Du hast das nicht nötig. Du hast andere Gaben. Du hast mehr Gaben als ich, du bist reicher als ich und bist auch schwächer, du wirst einen schöneren und schwereren Weg haben als ich. Manchmal wolltest du mich nicht verstehen, oft hast du dich gesträubt wie ein Füllen, es war nicht immer leicht, und oft habe ich dir auch weh tun müssen. Ich musste dich erwecken, du schliefst ja. Auch dass ich dich an deine Mutter erinnerte, hat zuerst weh getan, sehr weh, man fand dich wie einen Toten im Kreuzgang liegen. Es musste sein. – Nein, streichle mein Haar nicht! Nein, lass es! Ich kann es nicht leiden.«

»Und lernen kann ich also nichts? Ich werde immer dumm und ein Kind bleiben?«

»Es werden andere da sein, von denen du lernst. Was du von mir lernen konntest, du Kind, damit sind wir zu Ende.«

»O nein«, rief Goldmund, »dazu sind wir nicht Freunde geworden! Was wäre das für eine Freundschaft, die nach einer kurzen Strecke ihr Ziel erreicht hat und einfach aufhören kann! Hast du denn genug von mir? Bin ich dir denn entleidet?«

Narziss ging heftig auf und ab, die Blicke am Boden, dann blieb er vor dem Freunde stehen.

»Lass gut sein«, sagte er sanft, »du weißt wohl, dass du mir nicht entleidet bist.«

Zweifelnd betrachtete er den Freund, nahm alsdann seine Wanderung wieder auf, hin und her, blieb nochmals stehen und sah Goldmund an, mit festem Blick aus dem harten und hagern Gesicht. Mit leiser Stimme, aber fest und hart, sagte er: »Hör zu, Goldmund! Unsere Freundschaft ist gut gewesen; sie hat ein Ziel gehabt und hat es erreicht, sie hat dich wach gemacht. Ich hoffe, sie sei nicht zu Ende; ich hoffe, sie werde sich nochmals und immer wieder erneuern und zu neuen Zielen führen. Für den Augenblick ist kein Ziel da. Das deine ist ungewiss, ich kann dich da weder führen noch begleiten. Frage deine Mutter, frage ihr Bild, höre auf sie! Mein Ziel aber liegt nicht im Ungewissen, es liegt hier, im Kloster, es fordert mich zu jeder Stunde. Ich darf dein Freund sein, aber ich darf nicht verliebt sein. Ich bin Mönch, ich habe das Gelübde getan. Ich werde, ehe ich die Weihen erhalte, mich vom Lehramt beurlauben lassen Und viele Wochen mich zu Fasten und Exerzitien zurückziehen. Ich werde in dieser Zeit nichts Weltliches sprechen, auch mit dir nicht.«

Goldmund verstand. Traurig sagte er: »Du wirst nun also das tun, was auch ich getan hätte, wenn ich für immer in den Orden getreten wäre. Und wenn deine Übungen absolviert sind, wenn du genug gefastet und gebetet und gewacht hast – wohin wirst du dann zielen?«

»Du weißt es«, sagte Narziss.

»Nun ja. Du wirst in einigen Jahren erster Lehrer sein, vielleicht auch schon Schulvorsteher. Du wirst den Unterricht verbessern, wirst die Bibliothek vergrößern. Vielleicht wirst du selbst Bücher verfassen. Nicht? Nun, also nicht. Aber wo wird das Ziel sein?«

Narziss lächelte schwach. »Das Ziel? Vielleicht werde ich als Schulvorsteher sterben oder als Abt oder Bischof. Einerlei. Das Ziel ist dies: mich immer dahin zu stellen, wo ich am besten dienen kann, wo meine Art, meine Eigenschaften und Gaben den besten Boden, das größte Wirkungsfeld finden. Es gibt kein anderes Ziel.«

Goldmund: »Kein anderes Ziel für einen Mönch?«

Narziss: »O ja, Ziele genug. Es kann für einen Mönch Lebensziel sein, Hebräisch zu lernen, den Aristoteles zu kommentieren oder die Klosterkirche auszuschmücken oder sich einzuschließen und zu meditieren oder hundert andere Dinge zu tun. Für mich sind das keine Ziele. Ich will weder den Reichtum des Klosters vermehren noch den Orden reformieren oder die Kirche. Ich will innerhalb des mir Möglichen dem Geist dienen, so wie ich ihn verstehe, nichts anderes. Ist das kein Ziel?«

Lange überlegte sich Goldmund die Antwort.

»Du hast recht«, sagte er. »Habe ich dich auf dem Weg zu deinem Ziel sehr gehindert?«

»Gehindert? O Goldmund, niemand hat mich mehr gefördert als du. Du hast mir Schwierigkeiten gemacht, aber ich bin kein Feind von Schwierigkeiten. Ich habe an ihnen gelernt, ich habe sie zum Teil überwunden.«

Goldmund unterbrach ihn, halb scherzend sagte er: »Wunderbar hast du sie überwunden! Aber sage doch: wenn du mir geholfen, mich geführt und befreit und meine Seele gesund gemacht hast – hast du denn damit wirklich dem Geist gedient? Du hast damit wahrscheinlich dem Kloster einen eifrigen und gutgewillten Novizen entzogen und hast dem Geist vielleicht einen Gegner erzogen, einen, der gerade das Gegenteil von dem tun und glauben und anstreben wird, was du für gut hältst!«

»Warum nicht?« sagte Narziss mit tiefem Ernst, »Mein Freund, du kennst mich noch immer so wenig! Ich habe in dir wahrscheinlich einen künftigen Mönch verdorben und habe dafür in dir einen Weg freigemacht für ein nicht gewöhnliches Schicksal. Auch wenn du morgen unser ganzes hübsches Kloster niederbrennen würdest oder irgendeine tolle Irrlehre in der Welt verkündigen, ich würde keinen Augenblick bereuen, dir auf den Weg dazu geholfen zu haben.«

Freundlich legte er dem Freunde beide Hände auf die Schultern.

»Sieh, kleiner Goldmund, zu meinem Ziel gehört auch dies: mag ich Lehrer oder Abt, Beichtvater oder was immer sein, niemals möchte ich in die Lage kommen, einem starken, wertvollen und besonderen Menschen zu begegnen und ihn nicht zu verstehen, ihn nicht erschließen, ihn nicht fördern zu können. Und ich sage dir: mag aus dir und aus mir dies oder jenes werden, mag es uns so oder anders gehen, nie wirst du im Augenblick, wo du mich ernstlich rufst und zu brauchen meinst, mich dir verschlossen finden. Niemals.«

Das klang wie Abschiednehmen, und wirklich war es der Vorgeschmack des Abschieds. Wie Goldmund vor seinem Freunde stand und ihn betrachtete, das entschlossene Gesicht, das auf Ziele gerichtete Auge, da fühlte er untrüglich, dass sie beide jetzt nicht mehr Brüder und Kameraden und ihresgleichen waren, dass ihre Wege sich schon getrennt hatten. Dieser hier, der vor ihm stand, war kein Träumer und wartete auch nicht auf irgendwelche Zurufe des Schicksals; er war ein Mönch, er hatte sich verschrieben, er gehörte einer festen Ordnung und Pflicht, war ein Diener und Soldat des Ordens, der Kirche, des Geistes. Er selbst aber, dies war ihm heute klargeworden, gehörte nicht hierher, er war ohne Heimat, eine unbekannte Welt wartete auf ihn. So war es einst auch seiner Mutter gegangen. Sie hatte Haus und Hof, Mann und Kind, Gemeinschaft und Ordnung, Pflicht und Ehre verlassen und war ins Ungewisse hinausgegangen, war wohl längst darin untergegangen, Sie hatte kein Ziel gehabt, wie auch er keines hatte. Ziele zu haben, das war anderen gegeben, ihm nicht. O wie gut hatte Narziss dies alles schon vor langer Zeit gesehen, wie recht hatte er gehabt!

Schon bald nach diesem Tage war Narziss wie verschwunden, er schien plötzlich unsichtbar geworden zu sein. Ein anderer Lehrer gab seine Lektionen, sein Lesepult in der Bibliothek blieb leer. Er war noch da, er war nicht völlig unsichtbar, man konnte ihn zuweilen den Kreuzgang durchschreiten sehen, konnte ihn manchmal in einer der Kapellen murmeln hören, auf dem Steinboden kniend;

man wusste, dass er die große Übung angetreten hatte, dass er fastete und dreimal in der Nacht zu Exerzitien sich erhob. Er war noch da und war doch in eine andere Welt hinübergegangen; man konnte ihn sehen, selten genug, konnte ihn aber nicht erreichen, nichts mit ihm gemein haben, nicht mit ihm sprechen. Goldmund wusste: Narziss würde wieder erscheinen, er würde sein Arbeitspult, seinen Stuhl im Refektorium[47] wieder einnehmen, würde wieder sprechen – aber von dem Gewesenen würde nichts wiederkommen, Narziss würde nicht wieder ihm gehören. Indem er es bedachte, wurde auch das ihm klar, dass es einzig Narziss gewesen war, durch welchen ihm Kloster und Mönchtum, Grammatik und Logik, Studium und Geist wichtig und lieb geworden war. Sein Vorbild hatte ihn gelockt, wie er zu werden, war sein Ideal gewesen. Wohl, auch der Abt war noch da, auch ihn hatte er verehrt, auch ihn geliebt und ein hohes Vorbild in ihm gesehen. Aber die andern, die Lehrer, die Mitschüler, der Schlafsaal, der Speisesaal, die Schule, die Übungen, die Gottesdienste, das ganze Kloster – ohne Narziss ging es ihn nichts mehr an. Was tat er noch hier?

Er wartete, er stand unterm Dach des Klosters wie ein unentschlossener Wanderer bei Regen unter irgendeinem Dach oder Baum stehenbleibt, bloß um zu warten, bloß als Gast, bloß aus Angst vor der Unwirtlichkeit der Fremde.

Goldmunds Leben in dieser Zeit war nur noch ein Zögern und Abschiednehmen. Alle Orte suchteer auf, die ihm lieb oder bedeutsam geworden waren. Mit wunderlicher Befremdung stellte er fest, wie wenige Menschen und Gesichter da waren, von welchen der Abschied ihm schwerfallen würde. Da war Narziss und der alte Abt Daniel und auch noch der gute liebe Pater Anselm und auch etwa noch der freundliche Pförtner und der lebenslustige Nachbar Müller – aber auch diese waren schon beinahe unwirklich geworden. Schwerer als von ihnen würde er Abschied nehmen von der großen steinernen Madonna in der Kapelle, von den Aposteln des Portals. Lange stand er vor ihnen, auch vor den schönen Schnitzereien des Chorgestühls, vor dem Brunnen im Kreuzgang, vor der Säule mit den drei Tierköpfen, lehnte sich im Hof an die Linden, an den Kastanienbaum. Dies alles würde ihm einmal eine Erinnerung sein, ein kleines Bilderbuch in seinem Herzen. Schon jetzt, da er noch mittendrin war, begann es ihm zu entgleiten, verlor an Wirklichkeit, wandelte sich gespenstisch in etwas Gewesenes. Mit Pater Anselm, der ihn gern um sich hatte, ging er auf die Kräutersuche, beim Klostermüller sah er den Knechten zu und ließ sich je und je zu Wein und gebackenen Fischen einladen; aber alles war schon fremd und halb wie Erinnerung. So wie drüben in der Kirchendämmerung und der Bußzelle sein Freund Narziss zwar wandelte und lebte, für ihn aber ein Schatten geworden war, so stand alles rings um ihn entwirklicht, atmete Herbst und Vergänglichkeit.

Wirklich und lebendig war nichts mehr als das Leben in ihm innen, das bange Schlagen des Herzens, der wehe Stachel der Sehnsucht, die Freuden und Ängste seiner Träume. Ihnen gehörte er an und gab sich hin. Mitten im Lesen oder Lernen, mitten zwischen den Schulkameraden konnte er in sich versinken und alles vergessen, nur den Strömen und Stimmen des Innern hingegeben, die ihn hinwegzogen, in tiefe Brunnen voll dunkler Melodie, in farbige Abgründe voll märchenhafter Erlebnisse, deren Klänge alle wie die Stimme der Mutter klangen, deren tausend Augen alle die Augen der Mutter waren.

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