Vier Monate! Noch vier Monate unfrei sein, heimlich zusammenkommen, mißtrauisch lächelnden Gesichtern begegnen! dachte Oblomow, die Treppe zu Iljinskys erklimmend. Mein Gott, wann wird das enden? Und Oljga wird mich zur Eile antreiben: heute, morgen. Und sie ist so beharrlich und unerschütterlich!
Oblomow war fast bis in Oljgas Zimmer gedrungen, ohne irgendwem zu begegnen. Oljga saß in ihrem kleinen Salon, der an ihr Schlafzimmer stieß, und war in das Lesen eines Buches vertieft. Er erschien plötzlich vor ihr, so daß sie zusammenfuhr, dann streckte sie ihm freundlich lächelnd die Hand hin, doch ihre Augen schienen noch das Buch zu Ende zu lesen, sie blickten zerstreut.
»Du bist allein?« fragte er sie.
»Ja, ma tante ist nach Zarskoje Selo gefahren; sie wollte mich mitnehmen. Wir werden fast allein zu Mittag essen; es kommt nur Marja Sjemjonowna; sonst hätte ich dich nicht empfangen können. Heute kannst du noch nicht mit der Tante sprechen. Wie langweilig das alles ist! Aber dafür morgen ...« fügte sie lächelnd hinzu. »Und was würdest du sagen, wenn ich heute nach Zarskoje Selo mitgefahren wäre?« fragte sie scherzend.
Er schwieg.
»Hast du Sorgen?« fragte sie.
»Ich habe einen Brief vom Gut bekommen«, sagte er mit eintöniger Stimme.
»Wo ist er? Hast du ihn hier?«
Er reichte ihr den Brief.
»Ich kann das gar nicht entziffern«, sagte sie, den Brief anblickend.
Er nahm ihn zurück und las ihn ihr vor. Sie sann nach.
»Was wird jetzt geschehen?« fragte sie nach einer Weile.
»Ich habe heute den Bruder der Hausfrau um Rat gefragt«, antwortete Oblomow, »und er hat mir einen Sachverständigen, Issaj Fomitsch Satjortij, empfohlen; ich werde ihn beauftragen, das alles zu erledigen ...«
»Einen wildfremden Menschen!« erwiderte Oljga erstaunt. »Du willst ihm das Einheben der Abgaben, das Beaufsichtigen der Bauern und das Verkaufen des Getreides anvertrauen ...«
»Er sagt, daß er der ehrlichste Mensch von der Welt ist, er arbeitet mit ihm seit zwölf Jahren zusammen ... Er stottert nur ein wenig.«
»Und wie ist denn der Bruder deiner Hausfrau? Kennst du ihn?«
»Nein, er scheint aber ein solider, tüchtiger Mann zu sein, und dann wohne ich ja bei ihm im Hause; da würde er sich wohl schämen, mich zu betrügen!«
Oljga schwieg mit gesenkten Augen.
»Sonst müßte ich selbst hinfahren«, sagte Oblomow, »und das wäre mir, offen gesagt, unangenehm. Ich bin das Reisen gar nicht mehr gewöhnt, besonders im Winter ... Da bin ich überhaupt nie irgendwohin gefahren.«
Sie blickte noch immer nach unten, indem sie die Spitze ihres Schuhes bewegte.
»Und wenn ich sogar hinfahre«, sprach Oblomow weiter, »wird dabei nichts herauskommen; die Bauern werden mich betrügen; der Dorfschulze kann sagen, was er will, und ich muß ihm glauben; er wird mir so viel Geld geben, als ihm gerade einfällt. Ach, daß Andrej nicht da ist; er hätte alles in Ordnung gebracht!« fügte er gekränkt hinzu.
Oljga lächelte, das heißt, nur ihre Lippen lächelten, aber nicht ihr Herz; in ihrem Herzen war Bitternis. Sie begann durchs Fenster zu blicken, indem sie das eine Auge ein wenig zukniff und jedem vorüberfahrenden Wagen folgte.
»Aber dieser Satjortij hat ein großes Gut verwaltet«, fuhr er fort, »der Gutsbesitzer hat ihn nur deswegen fortgeschickt, weil er stottert. Ich werde ihm die Vollmacht und die Pläne übergeben; er wird das Material zum Bau des Hauses besorgen, wird die Abgaben einheben, das Getreide verkaufen, das Geld bringen und dann ... Wie froh bin ich, liebe Oljga«, sagte er, ihre Hand küssend, »daß ich dich nicht zu verlassen brauche. Ich hätte die Trennung nicht ertragen; allein, ohne dich auf dem Gut zu sein ... wie entsetzlich! Wir müssen aber jetzt sehr vorsichtig sein ...«
Sie blickte ihn groß an und wartete.
»Ja«, begann er langsam, fast stotternd, »wir müssen uns selten sehen; gestern wurde bei uns wieder geklatscht, und sogar in der Wohnung der Hausfrau ... und ich will das nicht haben ... Sowie alles erledigt ist, wird der Bevollmächtigte den Bau anordnen und mir das Geld bringen ... das alles wird kaum ein Jahr dauern ... dann gibt es keine Trennung mehr, wir sagen alles der Tante, und ... und ...«
Er blickte Oljga an; sie war ohnmächtig geworden. Ihr Kopf hatte sich zur Seite geneigt, zwischen den bläulichen Lippen schauten die Zähne hervor. Er hatte im Übermaß der Freude nicht bemerkt, daß Oljga bei den Worten: »Sowie alles erledigt ist, wird der Bevollmächtigte den Bau anordnen«, erbleicht war und den Schluß des Satzes nicht gehört hatte.
»Oljga! ... Mein Gott, ihr ist übel!« sagte er und zog die Klingel.
»Dem Fräulein ist übel«, sagte er zur herbeilaufenden Katja. »Schnell Wasser! ... Äther ...«
»O Gott! Das Fräulein war den ganzen Morgen so lustig ... Was ist nur geschehen?« flüsterte Katja, vom Tisch der Tante Äther bringend und mit einem Glas Wasser hin und her laufend.
Oljga kam zu sich, stand mit Katjas und Oblomows Hilfe vom Sessel auf und ging wankend in ihr Schlafzimmer.
»Es wird vorübergehen«, sagte sie mit schwacher Stimme, »es sind nur die Nerven; ich habe heute nacht schlecht geschlafen, Katja, mach die Tür zu, warten Sie auf mich, sowie es mir besser geht, komme ich heraus.«
Oblomow blieb allein, legte das Ohr an die Tür, er konnte aber weder etwas sehen noch hören. Er ging nach einer halben Stunde durch den Korridor ins Mägdezimmer und fragte Katja, was mit dem Fräulein sei.
»Nichts«, sagte Katja, »sie hat sich hingelegt und mich hinausgeschickt; ich bin später hineingegangen und habe sie auf dem Lehnstuhl sitzen sehen.«
Oblomow ging wieder in den Salon, lauschte an der Tür; es war nichts zu hören. Er klopfte leise mit dem Finger, erhielt aber keine Antwort. Er setzte sich hin und vertiefte sich in seine Gedanken. Er dachte an vieles in diesen anderthalb Stunden, in seinen Gedanken veränderte sich viel, und er faßte viele neue Entschlüsse. Endlich blieb er dabei, daß er selbst mit dem Bevollmächtigten aufs Gut fahren würde, nachdem er bei der Tante die Einwilligung zur Hochzeit erbeten und sich dann mit Oljga hatte trauen lassen; er würde Iwan Gerassimitsch das Suchen einer Wohnung übergeben und sich sogar ein wenig Geld ausborgen ... um die Hochzeit zu arrangieren. Man könnte diese Schuld mit der Einnahme für das Getreide begleichen. Warum war er denn so mutlos gewesen? Ach Gott, wie alles sich innerhalb einer Minute verändern kann! Und dort auf dem Gut wird er mit dem Bevollmächtigten die Abgaben verteilen; ja, und dann schreibt er an Stolz; dieser wird ihm das nötige Geld geben, er wird herkommen und Oblomowka auf die erdenklich beste Weise einrichten; er wird überall Straßen bahnen, Brücken bauen und Schulen einrichten ... Und er wird mit Oljga dort leben! ... O Gott! Da war es ja, das Glück! Daß ihm das alles nicht früher eingefallen war!
Es wurde ihm plötzlich so leicht und froh ums Herz; er begann aus einer Ecke in die andere zu gehen, schnalzte sogar leise mit den Fingern, schrie vor Freude fast auf, trat an Oljgas Tür heran und rief sie leise mit fröhlicher Stimme:
»Oljga, Oljga! Was ich Ihnen mitzuteilen habe«, sagte er, die Lippen an die Tür haltend, »das erwarten Sie keinesfalls zu hören ...«
Er beschloß sogar, jetzt noch nicht von ihr fortzugehen, sondern auf die Tante zu warten. »Wir werden ihr noch heute alles sagen, und ich werde von hier als Bräutigam fortgehen ...«
Die Tür öffnete sich leise, und darin erschien Oljga; er blickte sie an, und ihm sank plötzlich der Mut; seine Freude entschwand; Oljga erschien ein wenig gealtert. Sie war bleich, doch ihre Augen leuchteten; in den zusammengepreßten Lippen, in jedem Zug zitterte gespanntes, innerliches Leben, das mit gewaltsamer Ruhe und Unbeweglichkeit wie mit Eis gefesselt war. Er las in ihrem Blick einen Entschluß, er wußte noch nicht, was für einen, aber das Herz klopfte ihm wie noch nie. Solche Augenblicke waren in seinem Leben noch nicht vorgekommen.
»Höre, Oljga! Sieh mich nicht so an. Mir wird angst!« sagte er. »Ich habe mir alles überlegt. Man muß die Sache ganz anders einrichten ...« fuhr er fort, die Stimme immer mehr senkend, sich unterbrechend und in diesen ihm neuen Ausdruck ihrer Augen, Lippen und beredten Brauen einzudringen versuchend. »Ich habe beschlossen, mit dem Bevollmächtigten zusammen auf das Gut zu reisen ... um dort ...« schloß er kaum hörbar.
Sie schwieg und blickte ihn starr wie ein Gespenst an. Er ahnte dunkel, welchen Urteilsspruch er zu erwarten hatte, griff nach seinem Hut, zögerte aber, sie zu fragen. Er fürchtete sich, den verhängnisvollen und vielleicht unwiderruflichen Entschluß zu hören. Endlich beherrschte er sich.
»Habe ich recht verstanden? ...« fragte er sie mit veränderter Stimme.
Sie nickte langsam und sanft mit dem Kopf, als Zeichen der Zustimmung.
Er hatte ihren Gedanken zwar schon erraten; er erbleichte aber und blieb vor ihr stehen. Sie war etwas ermattet, erschien aber so ruhig und reglos wie eine steinerne Statue. Das war jene übernatürliche Ruhe, wenn ein fester Vorsatz oder ein verletztes Gefühl dem Menschen plötzlich die ganze Kraft gibt, sich an sich zu halten, aber nur für einen Augenblick. Sie erinnerte an einen Verwundeten, der die Wunde mit der Hand zudrückt, um das Nötigste zu Ende zu sprechen und dann zu sterben.
»Du wirst mich hassen?« fragte er.
»Wofür?« sagte sie leise.
»Für alles, was ich mit dir getan habe ...«
»Was hast du getan?«
»Ich habe dich geliebt. Das ist eine Beleidigung.«
Sie lächelte mitleidig.
»Dafür«, sagte er mit gesenktem Kopf, »daß du dich geirrt hast ... Vielleicht wirst du mir verzeihen, wenn du dich daran erinnerst, daß ich dich gewarnt habe, du würdest dich schämen und bereuen ...«
»Ich bereue nicht. Mir ist nur so weh, so weh ums Herz ...« sagte sie und hielt inne, um Atem zu holen.
»Um so schlimmer für mich!« antwortete Oblomow. »Doch ich habe es verdient. Warum quälst du dich aber so?«
»Ich war zu stolz«, sagte sie, »ich bin gestraft, ich habe von meiner Kraft zuviel erwartet - das war mein Irrtum, nicht das, was du gefürchtet hast. Ich habe nicht von der ersten Jugend und von Schönheit geträumt, ich dachte, ich würde dich beleben, du würdest noch für mich leben können - und du bist schon längst gestorben. - Ich habe diesen Irrtum nicht vorausgesehen, ich habe immer gewartet und gehofft ... und jetzt! ...« sprach sie seufzend und mit Mühe zu Ende.
Sie schwieg und setzte sich.
»Ich kann nicht stehen; meine Beine zittern mir. Ein Stein würde bei dem, was ich getan habe, lebendig werden«, sprach sie mit zerschlagener Stimme weiter. »Jetzt mache ich nichts mehr, keinen Schritt, ich gehe nicht einmal mehr in den Sommergarten. Es ist alles umsonst - du bist gestorben! Du stimmst mir bei, Ilja?« fügte sie dann nach einem Schweigen hinzu. »Du wirst mir nie vorwerfen, ich hätte dich aus Stolz oder wegen einer Laune verlassen!«
Er schüttelte verneinend den Kopf.
»Bist du davon überzeugt, daß uns nichts geblieben ist, gar keine Hoffnung?«
»Ja«, sagte er, »es ist wahr ... Aber vielleicht ...« fügte er dann unschlüssig hinzu, »in einem Jahr ...« Er hatte nicht den Mut, seinem Glücke einen endgültigen Schlag zu versetzen.
»Glaubst du denn wirklich, daß du in einem Jahre deine Angelegenheiten und dein Leben geordnet haben wirst?« fragte sie. »Überlege es dir!«
Er seufzte, vertiefte sich in seine Gedanken und kämpfte mit sich. Sie las diesen Kampf von seinem Gesichte ab.
»Höre«, sagte sie, »ich habe soeben das Bild meiner Mutter angeschaut, und ich glaube in ihren Augen Rat und Kraft gefunden zu haben. Wenn du jetzt ein ehrlicher Mensch bist ... Vergiß nicht, Ilja, daß wir keine Kinder sind und nicht scherzen. Es handelt sich um das ganze Leben. Befrage streng dein Gewissen und sprich dann - ich werde dir glauben, ich kenne dich. Hast du genug Kraft für ein ganzes Leben? Wirst du mir das sein, was ich brauche? Du kennst mich, du verstehst also, was ich sagen will. Wenn du mutig und wohlüberlegt ja sagst, dann nehme ich meinen Entschluß zurück, dann reiche ich dir die Hand und folge dir, wohin du willst; ins Ausland, aufs Gut, sogar in die Wiborgskajastraße!«
Er schwieg.
»Wenn du wüßtest, wie ich dich liebe ...«
»Ich erwarte keine Liebeserklärungen, sondern eine kurze Antwort!« unterbrach sie ihn fast trocken.
»Quäle mich nicht, Oljga!« flehte er traurig.
»Wie ist's, Ilja, habe ich recht oder nicht?«
»Ja«, sagte er deutlich und entschlossen, »du hast recht!«
»Dann ist es Zeit, daß wir uns trennen«, beschloß sie, »bevor man dich hier angetroffen und gesehen hat, wie aufgeregt ich bin!«
Er ging noch immer nicht.
»Wenn du mich auch geheiratet hättest, was dann?« fragte sie.
Er schwieg.
»Du würdest mit jedem Tag immer fester einschlafen - nicht wahr? Und ich? Du siehst, wie ich bin! Ich werde niemals altern und des Lebens müde werden. Und mit dir zusammen müßte ich einen Tag wie den anderen verleben, wir würden auf Weihnachten und dann auf den Karneval warten, Besuche machen, tanzen und an nichts denken; wir würden uns schlafen legen und Gott danken, daß der Tag so schnell vergangen ist, und des Morgens würden wir mit dem Wunsche erwachen, das Heute möchte dem Gestern ähnlich sehen ... Das ist unsere Zukunft - ja? - Heißt denn das leben? Ich werde zugrunde gehen und sterben ... warum, Ilja? Wirst du denn glücklich sein? ...«
Er ließ seine Augen gequält über den Plafond gleiten, wollte sich erheben und fortstürzen - doch die Füße gehorchten ihm nicht. Er wollte etwas sagen; sein Mund war ausgetrocknet, die Zunge rührte sich nicht, die Stimme wollte nicht aus der Kehle dringen. Er streckte ihr die Hand hin.
»Also ...« begann er mit gesenkter Stimme, sprach aber nicht weiter und schloß mit dem Blicke »Lebewohl!«.
Auch sie wollte etwas sagen, tat es aber nicht und reichte ihm die Hand hin, doch diese sank herab, bevor sie die seinige berührt hatte; sie wollte ihm auch »Lebewohl« zurufen, doch die Stimme versagte ihr in der Mitte des Wortes und schlug einen falschen Ton an; das Gesicht verzerrte sich in einem Krampf; sie legte ihm den Kopf und die Hand auf die Schulter und schluchzte. Es war, als hätte man ihr die Waffe aus der Hand gerissen. Der Verstand versagte, sie war jetzt einfach ein vom Gram überwältigtes Weib.
»Leb wohl, leb wohl ...« stieß sie zwischen den Anfällen von Schluchzen hervor.
Er schwieg und hörte entsetzt ihrem Weinen zu, ohne zu wagen, ihm Einhalt zu tun. Er empfand weder ihr noch sich selbst gegenüber Mitleid; er war sehr elend. Sie ließ sich in den Lehnstuhl sinken, preßte das Tuch vors Gesicht, stützte sich auf den Tisch und weinte bitterlich. Die Tränen brachen nicht wie eine unerwartet hervorströmende heiße Quelle hervor, von plötzlichem, vergänglichem Schmerz hervorgerufen, wie damals im Parke, sondern flossen trostlos in kalten Strömen, wie Herbstregen, der unerbittlich die Felder netzt.
»Oljga«, sagte er endlich, »warum quälst du dich? Wenn ich des Glückes auch unwürdig bin, so schone doch dich selbst! Du liebst mich, du wirst die Trennung nicht ertragen! Nimm mich, wie ich bin, liebe in mir das, was ich in mir Gutes habe.«
Sie schüttelte ablehnend den Kopf, ohne ihn zu erheben. »Nein ... nein ...« sagte sie dann mit Mühe, »mache dir keine Sorgen um mich und um mein Glück. Ich kenne mich. Ich werde mein Leid ausweinen und werde dann ruhig sein. Und störe mich jetzt nicht ... geh ... Ach, nein, warte! ... Gott straft mich! ... Es ist mir so weh, ach, so weh ums Herz ...«
Das Schluchzen erneuerte sich.
»Und wenn der Schmerz nicht vergeht«, sagte er, »und deine Gesundheit darunter leidet? Deine Tränen sind Gift; Oljga, mein Engel, weine nicht ... vergiß alles ...«
»Nein, laß mich weinen! Ich weine nicht über die Zukunft, sondern über die Vergangenheit ...« sagte sie mit Mühe, »sie ist ›verblaßt und verwelkt‹ ... Nicht ich, sondern die Erinnerungen weinen! Der Sommer ... der Park ... weißt du noch? Es ist mir leid um unsere Allee und um den Flieder ... Das alles ist mir ans Herz gewachsen; es tut so weh, es fortzureißen ...!«
Sie schüttelte verzweifelt den Kopf und schluchzte, indem sie wiederholte:
»O wie weh, wie weh!«
»Und wenn du stirbst?« sagte Oblomow plötzlich entsetzt. »Denke nur, Oljga ...«
»Nein!« unterbrach sie, den Kopf erhebend, und bestrebte sich, ihn durch ihre Tränen hindurch anzublicken. »Ich habe erst vor kurzem erfahren, daß ich in dir dasjenige geliebt habe, was ich in dir sehen wollte, was Stolz mir gezeigt hat, was wir uns zusammen ausgedacht haben. Ich habe den zukünftigen Oblomow geliebt, Ilja. Du bist sanft und ehrlich, Ilja; du bist zärtlich wie ein Täuberich; du versteckst den Kopf unter den Flügel - und willst nichts mehr; du bist bereit, das ganze Leben unter dem Dache zu girren ... ich aber bin nicht so; das genügt mir nicht, ich brauche noch etwas, ich weiß nicht was! Kannst du mich denn darüber belehren und mir sagen, was es ist, was mir fehlt, mir das alles geben, damit ich ...? Zärtlichkeit ... wo findet man sie nicht!«
Oblomow versagten die Knie. Er setzte sich auf den Lehnstuhl und wischte sich mit dem Tuche Hände und Stirne ab.
Das Wort war grausam; es verletzte Oblomow tief; es schien ihn innerlich zu verbrennen und wehte ihn äußerlich kalt an. Anstatt zu antworten, lächelte er so kläglich und krankhaft verschämt, wie ein Bettler, dem man seine Blöße vorgeworfen hat. Er saß mit diesem kraftlosen Lächeln vor Erregung und Kränkung ermattet da, und sein erloschener Blick sagte deutlich: Ja, ich bin arm, elend, ein Bettler ... schlagt und beschimpft mich! ...
Oljga sah plötzlich, wieviel Gift in ihren Worten enthalten war; sie stürzte schnell zu ihm hin.
»Verzeihe mir, mein Freund!« begann sie zärtlich und fast weinend. »Ich weiß nicht, was ich sage; ich bin wahnsinnig! Vergiß alles, laß alles beim alten bleiben, wie's früher war ...«
»Nein!« sagte er, sich plötzlich erhebend und sie mit einer entschlossenen Handbewegung von sich weisend. »Es wird nicht beim alten bleiben! Rege dich nicht darüber auf, daß du die Wahrheit gesagt hast. Ich habe es verdient ...« fügte er traurig hinzu.
»Ich bin eine Träumerin, eine Grillenfängerin!« sagte sie. »Was für einen unglücklichen Charakter ich habe! Warum sind die andern, warum ist Sonitschka so glücklich ...«
Sie weinte auf.
»Geh!« schloß sie, an dem nassen Tuche mit den Händen zerrend. »Ich ertrage es sonst nicht; mir ist die Vergangenheit noch teuer ...«
Sie bedeckte sich das Gesicht wieder mit dem Tuche und bestrebte sich, das Schluchzen zu unterdrücken.
»Warum ist alles zugrunde gegangen?« fragte sie plötzlich, den Kopf erhebend. »Wer hat dich verflucht, Ilja? Was hast du getan? Du bist gut, klug, zärtlich und edel ... und ... gehst zugrunde! Was hat dich dem Verderben geweiht? Dieses Übel hat keinen Namen ...«
»Es hat einen«, sagte er kaum hörbar.
Sie blickte ihn fragend mit tränenerfüllten Augen an.
»Die Oblomowerei!« flüsterte er, erfaßte dann ihre Hand, wollte sie küssen, konnte aber nicht, sondern preßte sie nur fest an die Lippen, und heiße Tränen tropften auf ihre Finger herab. Ohne den Kopf zu erheben und ihr das Gesicht zuzuwenden, wandte er sich um und ging.