Es waren fünf Jahre vergangen. Auch auf der Wiborgskajastraße hatte sich vieles verändert: die leere Straße, die zum Hause der Pschenizina führte, war mit Landhäusern verbaut, zwischen denen sich ein langes, steinernes Staatsgebäude ausstreckte, das die Sonnenstrahlen daran hinderte, lustig in die Fenster des stillen Obdaches der Trägheit und Ruhe zu scheinen. Auch das Häuschen selbst war ein wenig gealtert und sah nachlässig und schmutzig aus, wie ein unrasierter und ungewaschener Mensch. Die Farbe war verblaßt, die Dachrinnen waren teilweise zerbrochen; infolgedessen befanden sich auf dem Hofe große Pfützen, über die wie früher ein schmales Brett gelegt war. Wenn jemand auf den Hof trat, zerrte die alte Arapka nicht mehr an der Kette, sondern bellte heiser und träge, ohne ihre Hütte zu verlassen. Und welche Veränderungen waren im Innern des Hauses vorgegangen! Dort herrschte eine fremde Frau und spielten fremde Kinder. Dort erschien ab und zu das rote Säufergesicht des streitsüchtigen Tarantjew, aber der sanfte, bescheidene Alexejew läßt sich dort nicht mehr blicken. Weder Sachar noch Anissja sind zu sehen. Die neue, dicke Köchin herrscht in der Küche und erfüllt ungern und ungenau die stillen Befehle Agafja Matwejewnas, und Akulina wäscht mit dem in den Gürtel gesteckten Kleidersaum die Tröge und Töpfe; derselbe schläfrige Hausbesorger beendet seine Tage müßig in demselben Schlafpelz in seiner Ecke. An dem Gitterzaun huscht zu den bestimmten Stunden des frühen Morgens und der Mittagszeit wieder die Gestalt des Bruders mit einem Paket unter dem Arm und Sommer und Winter in Gummigaloschen vorüber.
Was ist aus Oblomow geworden? Wo ist er? Seine irdische Hülle ruht auf dem nahen Friedhof, unter einer bescheidenen Urne, an einem stillen Ort zwischen Gebüsch. Die von einer Freundeshand gepflanzten Fliederzweige schlummern über dem Grabe, und darüber duftet friedlich der Wermut. Es schien, daß der Engel der Stille selbst seinen Schlaf bewachte. So wachsam das liebende Auge der Frau jeden Augenblick seines Lebens auch behütet hatte, wurde die Maschine seines Lebens durch die ewige Ruhe und Stille und durch das träge Hinkriechen der Tage doch aufgehalten. Ilja Iljitsch schien ohne Schmerzen und ohne Qualen verschieden zu sein, wie eine Uhr, welche stehenbleibt, weil man sie aufzuziehen vergessen hat. Niemand sah seine letzten Augenblicke und hörte seinen letzten Seufzer. Der Schlaganfall wiederholte sich nach einem Jahre und ging wieder glücklich vorüber; aber Ilja Iljitsch wurde bleich und schwach, begann wenig zu essen, ging selten im Garten spazieren, wurde immer schweigsamer und sinnender und weinte sogar manchmal. Er ahnte den nahen Tod und fürchtete ihn. Er fühlte sich ein paarmal unwohl, doch das verging. Eines Morgens brachte ihm Agafja Matwejewna wie gewöhnlich den Kaffee und traf ihn auf seinem Sterbelager ebensosanft ruhend an, wie er im Schlafe aussah, nur sein Kopf war ein wenig vom Kissen herabgeglitten, und er hatte die Hand krampfhaft ans Herz gepreßt, wo sich offenbar der Schmerz konzentrierte und das Blut zu zirkulieren aufgehört hatte.
Agafja Matwejewna war schon seit drei Jahren Witwe; während der Zeit hatte ihr Leben seinen ursprünglichen Gang wieder aufgenommen. Der Bruder hatte sich in verschiedene Spekulationen eingelassen, verlor aber dabei sein ganzes Geld, und es gelang ihm durch List und Unterwürfigkeit, seinen früheren Posten als Sekretär in der Kanzlei, »in der man die Bauern eintrug«, wiederzubekommen; jetzt ging er wie früher zu Fuß ins Amt und brachte Zwanzig-, Fünfundzwanzig- und Fünfzigkopekenstücke mit, die er in einen wohlverwahrten Koffer einfüllte. Die Wirtschaft wurde ebenso ordinär und einfach, aber auch ebenso reichlich geführt wie früher, vor Oblomows Zeit. Die Hauptrolle im Hause spielte die Frau des Bruders, Irina Pantelejewna, das heißt, sie nahm sich das Recht, spät aufzustehen, dreimal am Tage Kaffee zu trinken, dreimal die Kleider zu wechseln und sich in der Wirtschaft nur um das eine zu kümmern, daß ihre Röcke möglichst steif gestärkt wurden. Sonst kümmerte sie sich um nichts, und Agafja Matwejewna war wie früher der lebendige Pendel des Hauses; sie befaßte sich mit der Küche, bereitete für das ganze Haus den Tee und den Kaffee, nähte für alle, hielt die Wäsche in Ordnung und beaufsichtigte die Kinder, Akulina und den Hausbesorger. Aber warum tat sie es? Sie war ja Frau Oblomowa, eine Gutsbesitzerin; die hätte ja allein und unabhängig leben können, ohne sich um irgend jemand zu kümmern! Was hatte sie denn dazu gezwungen, die Last einer fremden Wirtschaft, der Sorge um die fremden Kinder und um all die Kleinigkeiten auf sich zu nehmen, der eine Frau sich nur entweder aus Liebe, aus Pflichtgefühl oder aus Sorge um das liebe Brot unterwirft? Wo waren denn Sachar, Anissja und die ihr nach allen Rechten zukommenden Diener? Wo war endlich das lebendige Vermächtnis ihres Mannes, der kleine Andrjuscha? Wo waren die Kinder ihres ersten Mannes?
Ihre Kinder waren versorgt, das heißt, Wanjuscha hatte den Lehrkursus absolviert und einen Posten bekommen; Maschenjka hatte den Verwalter eines Staatsgebäudes geheiratet, und Andrjuscha war von Stolz und dessen Frau an Kindes statt angenommen worden und wurde dort erzogen. Agafja Matwejewna hatte Andrjuschas Zukunft nie mit dem Schicksal ihrer andern Kinder vermengt und den ihrigen gleichgestellt, wenn sie vielleicht auch unbewußt in ihrem Herzen ihnen allen den gleichen Anteil zusprach. Aber sie teilte die Erziehung, die Lebensweise und die Zukunft Andrjuschas durch einen ganzen Abgrund vom Leben Wanjuschas und Maschenjkas ab.
»Was sind denn die? Ebensolche Aschenbrödel wie ich selbst«, sagte sie wegwerfend, »sie sind von gemeinem Blut, und dieser«, fügte sie, fast mit Hochachtung an Andrjuscha denkend, hinzu, indem sie ihn, wenn nicht schüchtern, so doch vorsichtig liebkoste, »dieses herrschaftliche Kind! Wie weiß er ist, wie ein Glasapfel! Was für kleine Händchen und Füßchen und was für seidene Haare er hat! Er ist ganz dem Verstorbenen nachgeraten!«
Darum ging sie ohne Widerspruch und sogar mit einer gewissen Freude auf Stolz' Vorschlag, ihn zu erziehen, ein, da sie glaubte, daß er sich dort, und nicht hier in der »Gemeinheit«, zusammen mit ihren schmutzigen Neffen, den Kindern des Bruders, in der ihm gebührenden Umgebung befinden würde.
Ein halbes Jahr lang nach Oblomows Tod lebte sie mit Anissja und Sachar in ihrem Hause, in tiefen Gram versunken. Sie hatte zum Grabe ihres Mannes einen Weg ausgetreten und sich die Augen ausgeweint, sie aß fast nichts, nährte sich nur von Tee, schloß manchmal ganze Nächte lang kein Auge und ermattete ganz. Sie beklagte sich nie bei jemand und schien sich in dem Maßstabe, als sie dem Augenblicke der Trennung ferner rückte, immer mehr in sich und ihrem Schmerz zu verschließen und teilte sich niemand, nicht einmal Anissja, mit.
»Ihre Gnädige beweint noch immer ihren Mann«, sagte der Händler auf dem Markte, bei dem die Hausvorräte gekauft wurden, zu der Köchin. »Sie trauert noch immer um ihren Mann«, sagte der Küster in der Friedhofskirche der Hostienverkäuferin, auf die trostlose Witwe hinweisend, die jede Woche beten und weinen kam. »Sie grämt sich immer noch!« sprach man im Hause des Bruders.
Eines Tages kam zu ihr unerwartet die ganze Familie des Bruders mit den Kindern und sogar mit ihr Tarantjew, unter dem Vorwande, Trost zuzusprechen. Sie wurde mit banalen Ratschlägen überschüttet, »sich nicht zugrunde zu richten und der Kinder wegen zu schonen«, alles das, was ihr vor fünfzehn Jahren aus Anlaß des Todes ihres ersten Mannes gesagt wurde und was damals die gewünschte Wirkung erzielte, ihr jetzt aber Langeweile und Ekel einflößte. Es wurde ihr aber viel wohler ums Herz, als man von etwas anderem zu sprechen begann und ihr mitteilte, sie könnten jetzt wieder zusammen leben, es würde ihr viel leichter sein, unter den Ihrigen den Schmerz zu vergessen, das würde auch ihnen angenehm sein, denn niemand verstehe es so wie sie, das Haus in Ordnung zu halten. Sie bat um Bedenkzeit, grämte sich noch zwei Monate lang und willigte endlich ein, mit ihnen zusammen zu leben. Um diesen Zeitpunkt nahm Stolz Andrjuscha zu sich.
Jetzt geht sie in dunklem Kleide, mit einem schwarzen Tuch um den Hals, wie ein Schatten aus dem Zimmer in die Küche, öffnet und schließt wie früher die Schränke, näht, bügelt Spitzen; sie tut es aber langsam und ohne Energie, sie spricht ungern, mit leiser Stimme und blickt nicht mehr mit sorglos von einem Gegenstand zum andern irrenden Augen, sondern mit einem innerlichen Ausdruck und einem verborgenen tiefen Inhalt darin. Dieser Ausdruck schien in dem Augenblick, als sie bewußt und lange das tote Gesicht ihres Mannes betrachtete, unsichtbar in ihr aufzusteigen und verließ sie seitdem nicht mehr. Sie ging im Hause herum, besorgte alles, was nötig war, eigenhändig, doch ihre Gedanken nahmen an alledem nicht teil. Als sie ihren Mann verloren hatte und über seiner Leiche stand, begriff sie plötzlich ihr Leben und dachte über dessen Sinn nach, und dieser Gedanke legte sich für immer wie ein Schatten auf ihr Gesicht. Als die Tränen dann ihren Schmerz erleichtert hatten, vertiefte sie sich in das Bewußtsein ihres Verlustes; alles außer dem kleinen Andrjuscha war für sie gestorben. Sowie sie ihn erblickte, erwachten in ihr Anzeichen des Lebens, die Gesichtszüge erhellten sich, die Augen erfüllten sich mit freudigem Strahlen und dann mit Tränen der Erinnerung. Ihre ganze Umgebung war ihr fremd; sie beachtete es nicht, wenn der Bruder ihr eines verausgabten oder nicht erhandelten Rubels, eines angebrannten Bratens oder nicht frischen Fisches wegen zürnte, wenn die Schwägerin eines nicht genügend gestärkten Rockes oder des zu schwachen, kalten Tees wegen schmollte oder wenn die dicke Köchin mit ihr grob war, als ob es sich gar um sie handelte, sie hörte nicht einmal das giftige Flüstern: »Gnädige Frau Gutsbesitzerin!« Sie beantwortete alles mit der Würde ihres Schmerzes und mit stolzem Schweigen. An Feiertagen, zu Ostern, an den lustigen Karnevalsabenden, da alles im Hause jubelte, sang, aß und trank, brach sie plötzlich, inmitten der allgemeinen Fröhlichkeit, in heiße Tränen aus und versteckte sich in ihre Ecke. Doch dann sammelte sie sich wieder und blickte sogar manchmal den Bruder und dessen Frau gleichsam bedauernd und stolz an. Sie begriff, daß es mit ihrem Glück vorüber war, daß Gott diesem Leben eine Seele eingehaucht und sie ihm wieder genommen hatte; daß die Sonne in ihr aufgeleuchtet und dann für immer wieder erloschen war ... Ja, für immer; aber dafür hatte ihr Leben einen Sinn erhalten; jetzt wußte sie schon, warum sie gelebt hatte und daß es nicht vergeblich war.
Sie hatte so viel und so aus ganzer Seele geliebt; sie hatte Oblomow als Geliebten, als Gatten und als ihren Herrn geliebt, doch sie konnte das niemals jemand erzählen. Es würde sie auch niemand von ihrer Umgebung verstanden haben. Wo würde sie die nötigen Ausdrücke hergenommen haben? Im Lexikon ihres Bruders, Tarantjews und der Schwägerin gab es keine solchen Worte, weil es keine solchen Begriffe gab; nur Ilja Iljitsch hätte sie verstanden, doch sie hatte es ihm gegenüber niemals geäußert, da sie es damals selbst noch nicht begriff. Mit den Jahren wurde ihr die Vergangenheit immer verständlicher und klarer, sie verbarg sie immer tiefer und wurde immer schweigsamer und verschlossener. Die wie ein Augenblick vorübergeflogenen sieben Jahre hatten ihr ganzes Leben wie mit Strahlen und stillem Licht erfüllt, und sie hatte keine Wünsche und keine Ziele mehr. Nur wenn Stolz im Winter vom Gut kam, lief sie in sein Haus, blickte Andrjuscha gierig an, liebkoste ihn mit zärtlicher Schüchternheit und wollte dann Andrej Iwanitsch etwas sagen, ihm danken und ihm endlich alles das, was unwandelbar in ihrem Herzen lebte und sich darin angesammelt hatte, mitteilen; er würde das verstehen, sie konnte es aber nicht sagen, stürzte nur zu Oljga hin, schmiegte ihre Lippen an deren Hände und brach in einen Strom so heißer Tränen aus, daß auch Oljga unwillkürlich mit ihr zu weinen begann und Andrej erregt und eilig das Zimmer verließ. Sie alle waren durch eine allgemeine Sympathie und durch die Erinnerung an die kristallreine Seele des Verstorbenen verbunden. Sie baten sie, mit ihnen aufs Gut zu reisen und mit ihnen zusammen neben Andrjuscha zu leben - sie antwortete aber immer nur das eine: »Man muß dort sterben, wo man geboren ist und wo man das ganze Leben verbracht hat.« Stolz berichtete ihr vergeblich über die Verwaltung des Gutes und schickte ihr die ihr zukommenden Einkünfte; sie gab alles zurück und bat, es für Andrjuscha aufzuheben. »Das gehört ihm und nicht mir«, wiederholte sie eigensinnig, »er wird das brauchen, er ist ein Edelmann, und ich werde mein Leben auch so fristen.«