2. Buch. Die Siegfried-Reise

Kapitel 10 Die Frau vom Schloss

I

Sie traten aus dem Jugend-Festival-Theater in die erfrischende Abendluft. Unter ihnen lag in einer Senke ein erleuchtetes Restaurant. Am Abhang des Hügels gab es noch ein anderes. Die Restaurants unterschieden sich geringfügig im Preis, doch keines war preiswert. Renata trug ein Abendkleid aus schwarzem Samt, Sir Stafford war in Frack und weißer Fliege.

«Ein sehr erlauchtes Publikum», murmelte Stafford seiner Begleiterin zu. «Da war viel Geld versammelt. Im Ganzen ein junges Publikum. Man glaubt kaum, dass sie sich das leisten können.»

«Oh, das kann man arrangieren. Das wird arrangiert.»

«Eine Unterstützung der jungen Elite? So etwas?»

«Ja.»

Sie wanderten zu dem Restaurant auf dem hohen Hügelabhang.

«Wir haben eine Stunde zur Verfügung für das Essen, oder?»

«Theoretisch eine Stunde. Praktisch eine Stunde und fünfzehn Minuten.»

«Dieses Publikum», sagte Sir Stafford Nye, «die meisten, ich würde sagen, fast alle, sind wirkliche Musikliebhaber.»

«Die meisten, ja. Das ist wichtig, wissen Sie.»

«Wie meinen Sie das – wichtig?»

«Dass die Begeisterung echt sein muss. An beiden Enden der Skala», fügte sie hinzu.

«Was genau meinen Sie damit?»

«Wer Gewalt ausübt und Gewalt organisiert, muss die Gewalt lieben, muss sie wollen, ersehnen. Mit dem Zeichen der Ekstase in jeder Bewegung, beim Zerschlagen, Verletzen, Zerstören. Das Gleiche gilt für die Musik. Das Ohr muss jeden Augenblick der Schönheit und Harmonie genießen. Es darf keine Verstellung geben in diesem Spiel.»

«Kann man die Rollen zusammenlegen – kann man Ihrer Meinung nach Gewalt und die Liebe zur Musik oder Kunst kombinieren?»

«Das ist nicht immer einfach, glaube ich, jedoch möglich. Viele sind dazu fähig. Es ist jedenfalls sicherer, wenn sie diese Rollen nicht kombinieren müssen.»

«Es ist besser, alles einfach zu halten, wie unser fetter Freund Mr. Robinson sagen würde? Sollen die Musikliebhaber die Musik lieben und die Gewalttäter die Gewalt. Meinen Sie das?»

«Ich glaube schon.»

«Ich habe viel Spaß an dieser Sache. Die zwei Tage, die wir hier verbracht haben, die beiden Musikabende, an denen wir uns erfreut haben. Nicht jedes Musikstück hat mir gefallen, vielleicht ist mein Geschmack nicht modern genug. Die Kostümierung finde ich sehr interessant.»

«Sprechen Sie von der Bühneninszenierung?»

«Nein, nein, ich spreche eher vom Publikum. Sie und ich, die Konservativen, die Altmodischen. Sie, Gräfin in Ihrem Gesellschaftskleid, und ich in Frack und Fliege. Kein bequemer Aufzug, das war es noch nie. Und dann die anderen, in Samt und Seide, die Rüschenhemden der Männer, echte Spitze, ist mir mehrfach aufgefallen – der Plüsch und die Frisuren und der Luxus der Avantgarde, der Luxus des neunzehnten Jahrhunderts, oder, man könnte fast sagen wie aus den Zeiten von Elisabeth der Ersten oder wie auf Van-Dyck-Gemälden.»

«Ja, da haben Sie recht.»

«Ich komme dem, was das hier alles bedeuten soll, immer noch nicht näher. Ich habe nichts herausgefunden.»

«Seien Sie nicht ungeduldig, das hier ist eine üppige Vorstellung, subventioniert, erwünscht, vielleicht von der Jugend verlangt und veranstaltet von –»

«Von wem?»

«Das wissen wir noch nicht. Aber wir werden es erfahren.»

«Ich bin sehr froh, dass Sie sich so sicher sind.»

Sie betraten das Restaurant und setzten sich. Das Essen war gut, aber in keiner Weise üppig oder luxuriös. Ein- oder zweimal wurden sie von Bekannten oder Freunden angesprochen. Zwei Leute, die Sir Stafford Nye erkannten, drückten ihre Freude und Überraschung aus, ihn hier zu sehen. Renata hatten einen größeren Bekanntenkreis, da sie mehr Ausländer kannte – wohlgekleidete Frauen, ein oder zwei Männer, meist Deutsche oder Österreicher, dachte Stafford Nye, ein oder zwei Amerikaner. Sie wechselten nur ein paar belanglose Worte. Wo die Leute herkamen oder wo sie hinreisten, Kritik oder Lob am Musikprogramm. Keiner verschwendete viel Zeit, da die Essenspause ohnehin nicht sehr lang war.

Sie kehrten für die beiden letzten Musikstücke auf ihre Plätze zurück. Ein symphonisches Gedicht, ‹Auflösung in Freude›, von einem neuen jungen Komponisten, Selukonov, und dann die feierliche Pracht des Marsches aus den Meistersingern.

Sie traten wieder in die Nacht hinaus. Der Wagen, den sie täglich zur Verfügung hatten, stand bereit, um sie in das kleine, aber exklusive Hotel an der Dorfstraße zurückzubringen. Stafford Nye wünschte Renata eine gute Nacht. Sie antwortete mit gesenkter Stimme.

«Vier Uhr morgens», sagte sie. «Halten Sie sich bereit.»

Sie ging sofort in ihr Zimmer und schloss die Tür, und er ging in seines.

Das schwache Fingerkratzen an seiner Tür kam etwa drei Minuten vor vier am nächsten Morgen. Er öffnete die Tür und war bereit.

«Der Wagen wartet», sagte sie. «Kommen Sie.»

II

Sie aßen in einem kleinen Gasthaus in den Bergen zu Mittag. Das Wetter war gut, die Berge wunderschön. Gelegentlich fragte sich Stafford Nye, was um Himmels willen er hier eigentlich machte. Er verstand seine Reisegefährtin immer weniger. Er ertappte sich dabei, wie er ihr Profil beobachtete. Wo fuhr sie ihn hin? Was war ihr wirklicher Beweggrund? Schließlich, fast schon bei Sonnenuntergang, sagte er:

«Wohin fahren wir, darf ich das fragen?»

«Fragen dürfen Sie, ja.»

«Aber sie antworten nicht?»

«Ich könnte schon antworten. Ich könnte Ihnen etwas erzählen, aber würde das etwas bedeuten? Es scheint mir, wenn Sie dort, wo wir hinfahren, ohne erklärende Vorbereitung meinerseits (die ohnehin per se bedeutungslos wäre) ankommen, wird ihr erster Eindruck unverfälschter sein.»

Er betrachtete sie wieder nachdenklich. Sie trug einen pelzbesetzten Tweedmantel, elegante Reisekleidung, fremdländisch in Verarbeitung und Schnitt.

«Mary Ann», sagte er nachdenklich.

Es lag eine leichte Frage darin.

«Nein», sagte sie. «Im Augenblick nicht.»

«Ach, Sie sind also immer noch die Gräfin Zerkowski.»

«Im Augenblick bin ich noch die Gräfin Zerkowski.»

«Befinden Sie sich hier in Ihrem eigenen Teil der Welt?»

«Mehr oder weniger. Ich bin als Kind hier aufgewachsen. Jeden Herbst kamen wir für einen guten Teil des Jahres hierher, auf ein Schloss nicht weit von hier entfernt.»

Er lächelte und sagte nachdenklich: «Was für ein hübsches Wort. Schloss. Klingt so solide.»

«Schlösser stehen heutzutage nicht auf sehr solidem Grund, sie sind meistens baufällig.»

«Das hier ist Hitler-Land, nicht wahr? Wir sind nicht weit entfernt von Berchtesgaden, oder?»

«Es liegt dort drüben, nach Nordosten hin.»

«Und Ihre Verwandtschaft, Ihre Freunde – haben sie Hitler akzeptiert, an ihn geglaubt? Vielleicht sollte ich solche Dinge lieber nicht fragen.»

«Sie mochten ihn und alles, wofür er stand, nicht. Aber sie haben ‹Heil Hitler› gesagt. Sie haben hingenommen, was mit ihrem Land geschah. Was sonst hätten sie tun können? Was hätte irgendjemand tun können zu jener Zeit?»

«Wir fahren in Richtung Dolomiten, nicht wahr?»

«Ist es wichtig, wo wir uns befinden, auf welcher Straße wir fahren?»

«Nun, dies ist eine Sondierungsreise, nicht wahr?»

«Ja, aber die Sondierung ist nicht geografisch. Wir werden eine bestimmte Persönlichkeit aufsuchen.»

«Sie geben mir das Gefühl –», Sir Stafford Nye sah hinauf in die Landschaft aufgetürmter Berge, die bis in den Himmel reichten, «als ob wir den berühmten Alten vom Berge aufsuchen würden.»

«Meinen Sie den Meister der Assassinen, der seine Gefolgsleute unter Drogen hielt, sodass sie von ganzem Herzen für ihn in den Tod gingen? Dass sie töteten in dem Bewusstsein, selbst auch getötet zu werden, aber auch in dem Glauben, dass sie unmittelbar ins muslimische Paradies versetzt würden – schöne Frauen, Haschisch und erotische Träume – perfektes und nie endendes Glück?»

Sie hielt einen Augenblick inne und sagte dann: «Fesselnde Persönlichkeiten. Ich glaube, es hat sie immer gegeben, zu allen Zeiten. Menschen, die andere an sich glauben machen, sodass diese sogar bereit sind, für sie zu sterben. Nicht nur Assassinen. Die Christen sind auch gestorben.»

«Die heiligen Märtyrer? Lord Altamount?»

«Warum erwähnen Sie Lord Altamount?»

«Ich habe ihn – ganz plötzlich – so gesehen an jenem Abend. In Stein gemeißelt – vielleicht in einer Kathedrale aus dem dreizehnten Jahrhundert.»

«Einer von uns wird vielleicht sterben müssen oder sogar mehrere.»

Sie hielt das, was sie zunächst noch sagen wollte, zurück und fuhr dann fort:

«Ich denke da manchmal noch an etwas anderes. An einen Vers im Neuen Testament – Lukas, glaube ich. Christus sagte beim Letzten Abendmahl zu seinen Jüngern: ‹Ihr seid meine Gefährten und Freunde, doch einer unter Euch ist ein Teufel.› So ist aller Wahrscheinlichkeit nach einer von uns ein Teufel.»

«Halten Sie das für möglich?»

«Fast. Einer, dem wir vertrauen und den wir kennen, der aber abends schlafen geht und nicht vom Martyrium träumt, sondern von den dreißig Silberlingen, und der mit dem Gefühl erwacht, sie bereits in Händen zu halten.»

«Geldgier?»

«Ehrgeiz bezeichnet es besser. Wie erkennt man einen Teufel? Wie würde man es wissen? Ein Teufel würde auffallen in der Menge – wäre schillernd – und würde Aufmerksamkeit erregen – und die Führung in die Hand nehmen.»

Sie schwieg einen Augenblick und sagte dann mit nachdenklicher Stimme:

«Ich hatte mal eine Freundin im diplomatischen Dienst, die erzählte mir, sie habe einer deutschen Frau gesagt, wie bewegt sie war von dem Passionsspiel in Oberammergau. Aber die Frau sagte verächtlich: ‹Sie verstehen das nicht. Wir Deutsche brauchen keinen Jesus Christus. Wir haben unseren Adolf Hitler. Er ist größer als jeder Jesus, den es je gegeben hat.› Sie war eine sehr nette, ganz normale Frau. Aber sie empfand das so. Eine Masse von Leuten dachte so. Hitler war ein fesselnder Redner. Er sprach und sie lauschten – und akzeptierten den Sadismus, die Gaskammern, die Folter, die Gestapo.»

Sie zuckte mit den Schultern und sagte dann mit normaler Stimme: «Trotzdem, es ist schon seltsam, dass Sie das eben gesagt haben.»

«Was meinen Sie?»

«Das über den Alten vom Berge. Den Führer der Assassinen.»

«Wollen Sie mir damit sagen, es gibt hier einen Alten vom Berge?»

«Nein, keinen Alten vom Berge. Aber vielleicht eine Alte vom Berge.»

«Eine Alte Frau vom Berge. Wer soll denn das sein?»

«Sie werden es heute Abend sehen.»

«Was machen wir denn heute Abend?»

«Wir gehen auf eine Gesellschaft», sagte Renata.

«Es scheint lange her, dass Sie einmal Mary Ann waren.»

«Sie müssen eben warten, bis wir wieder mal eine Flugreise unternehmen.»

«Ich nehme an, es ist sehr abträglich für die eigene Moral, wenn man in so gehobenen Kreisen lebt.»

«Meinen Sie das gesellschaftlich?»

«Nein, geografisch. Wenn man in einem Schloss auf einem Berg lebt und von dort oben auf die Welt hinunterblickt, das lässt einen die gewöhnlichen Menschen verachten, nicht wahr? So fühlte sich Hitler in Berchtesgaden, so fühlen sich vielleicht viele Leute, die auf Berge steigen und auf ihre Mitgeschöpfe unten im Tal hinuntersehen.»

«Sie müssen vorsichtig sein heute Abend», warnte ihn Renata. «Es wird brenzlig.»

«Gibt es irgendwelche Anweisungen?»

«Sie sind ein unzufriedener Mensch, der gegen das Establishment ist, gegen die konventionelle Welt. Sie sind ein Rebell, aber ein heimlicher. Können Sie das?»

«Ich kann es versuchen.»

«Wo fahren wir hin, Mary Ann?»

«In ein Adlernest.»

Die Straße wandte sich zum letzten Mal in eine andere Richtung. Sie schlängelte sich durch einen Wald. Stafford Nye glaubte, hin und wieder flüchtige Blicke auf Wild oder anderes Getier zu erhaschen Ab und zu waren da auch Männer in Lederjacken mit Gewehren. Wildhüter, dachte er. Und dann erblickten sie endlich ein riesiges Schloss auf einem Felsvorsprung. Ein Teil war eine Ruine, aber das meiste war wieder aufgebaut und restauriert worden. Es war kolossal und glorreich, aber es war nichts Neues daran oder in der Botschaft, die es übermittelte. Es war ein Zeuge vergangener Macht, erworben in versunkenen Zeitaltern.

«Es war ursprünglich das Großherzogtum Liechtenstolz. Das Schloss wurde von Großherzog Ludwig 1790 erbaut», sagte Renata.

«Wer lebt jetzt dort? Der heutige Großherzog?»

«Nein. Die sind alle dahingegangen und abgetan. Fortgeweht.»

«Und wer lebt jetzt dort?»

«Jemand mit gegenwärtiger Macht.»

«Geld?»

«Ja, und wie.»

«Werden wir dort Mr. Robinson antreffen, der schon vor uns eingeflogen ist, um uns zu begrüßen?»

«Ich versichere Ihnen, Mr. Robinson ist der Letzte, den wir dort antreffen würden.»

«Schade», sagte Stafford Nye. «Ich mag Mr. Robinson. Er ist schon etwas Besonderes, nicht wahr? Wer ist er wirklich – welcher Nationalität?»

«Ich glaube, niemand hat das je herausgefunden. Jeder erzählt einem etwas anderes. Einige sagen, er sei Türke, einige Armenier, einige Holländer, einige, er sei ein ganz gewöhnlicher Engländer. Einige erzählen, seine Mutter sei eine zirkassische Sklavin, eine russische Großfürstin, eine indische Begum und so weiter gewesen. Niemand weiß es. Jemand hat mir erzählt, seine Mutter sei eine Miss McLellan aus Schottland gewesen. Das erscheint mir ebenso wahrscheinlich wie alles andere.»

Sie waren unter einem großen Vorbau vorgefahren. Zwei Diener in Livree kamen die Stufen herunter. Sie begrüßten die Gäste mit pompösen Verbeugungen. Das Gepäck wurde in Empfang genommen: Sie hatten ein ganze Menge Gepäck dabei. Stafford Nye hatte sich von Anfang an gewundert, warum er so viel Gepäck mitbringen sollte, aber jetzt begann er zu verstehen, dass das von Zeit zu Zeit nötig war. Das war wohl auch heute Abend der Fall, dachte er. Ein paar fragende Bemerkungen, und seine Begleiterin bestätigte ihm das.

Sie trafen sich vor dem Abendessen, herbeibefohlen von einem großen, tönenden Gong. Er stand in der Halle und wartete darauf, dass sie die Treppe herunterkäme, um mit ihm zusammenzutreffen. Sie trug heute große, aufwendige Abendgarderobe, ein dunkelrotes Abendkleid, Rubine um den Hals und eine Rubintiara im Haar. Ein Diener trat vor und führte sie hinein. Er öffnete die Türen und verkündete:

«Gräfin Zerkowski, Sir Stafford Nye.»

«Da sind wir nun, und ich hoffe, wir spielen unsere Rolle gut», sagte Sir Stafford zu sich selbst.

Er sah zufrieden auf seine Frackhemd-Knöpfe aus Diamanten und Saphiren. Einen Augenblick später hielt er vor Überraschung den Atem an. Was immer er erwartet hatte, das war es nicht. Es war ein riesiger Raum im Rokokostil, Sessel, Sofas und Wandbehänge aus feinstem Brokat und Samt. An den Wänden hingen Gemälde, die er nicht alle gleichzeitig wahrnehmen konnte, aber er erkannte fast sofort – denn er liebte Gemälde – mit Sicherheit einen Cézanne, einen Matisse, möglicherweise einen Renoir. Bilder von unermesslichem Wert.

Auf einem breiten Sessel, eher wie ein Thron, saß eine Frau von ungeheurem Umfang. Eine Frau wie ein Wal, dachte Stafford Nye, es gab wirklich kein anderes Wort, um sie zu beschreiben. Eine riesige, voluminöse, blass aussehende Frau, die im Fett förmlich versank. Sie hatte ein Doppel-, nein, Dreifach-, fast Vierfachkinn. Sie trug ein Kleid aus steifem, orangefarbenem Satin. Auf dem Kopf saß eine kunstvolle, fast kronenartige Tiara aus kostbaren Steinen. Ihre Hände auf dem Brokat der Sessellehne waren auch enorm. Große, riesige, fette Hände, mit großen, fetten, formlosen Fingern. An jedem Finger bemerkte er einen großen Solitärring. Und in jedem Ring steckte großartiger Stein, dachte er. Ein Rubin, ein Smaragd, ein Saphir, ein Diamant, ein ihm unbekannter blassgrüner Stein, vielleicht ein Chrysopras, dann ein gelber Stein, ein gelber Diamant – wenn es kein Topas war. Sie war entsetzlich, dachte er. Sie wälzte sich förmlich in ihrem Fett. Ihr Gesicht war eine riesige weiße, faltige, sabbernde Fettmasse. Darin saßen, wie Rosinen in einem Brötchen, zwei kleine schwarze Augen. Sehr intelligente Augen, die die Welt abschätzten, ihn abschätzten; Renata aber nicht, dachte er. Renata kannte sie. Renata war hierher befohlen, verabredet. Wie immer man es nennen mochte, Renata war angewiesen worden, ihn hierherzubringen. Er fragte sich, warum. Er konnte sich nicht ganz vorstellen, warum, aber er war sich dessen sicher. Er war es, den sie ansah. Ihn schätzte sie ab, ihn suchte sie zu beurteilen. War er das, was sie wollte? War er das – ja, er würde es wohl so formulieren –, was die Kundin bestellt hatte?

Ich muss ganz sicher sein, dass ich erfahre, was sie sucht. Ich muss mein Bestes tun, sonst… sonst, das konnte er sich gut vorstellen, würde sie wahrscheinlich ihre fette, beringte Hand erheben und einem der großen muskulösen Diener befehlen: «Nehmen Sie ihn mit und werfen Sie ihn über die Brüstung.» Lächerlich, dachte Stafford Nye. So etwas passiert heute nicht mehr. Wo bin ich denn? An welcher Parade, Maskerade oder Theateraufführung nehme ich hier teil?

«Sie sind sehr pünktlich, mein Kind.»

Es war eine heisere, asthmatische Stimme, die einst einen Unterton von Stärke, vielleicht sogar Schönheit, besessen hatte. Das war jetzt vorbei. Renata trat vor und machte einen leichte Verbeugung. Sie nahm die fette Hand und drückte einen Höflichkeitskuss darauf.

«Erlauben Sie mir, Sir Stafford Nye vorzustellen. Gräfin Charlotte von Waldsausen.» Die fette Hand wurde ihm hingestreckt. Er beugte sich darüber, wie dort üblich. Dann sagte sie etwas, das ihn überraschte. «Ich kenne Ihre Großtante», sagte sie.

Er sah erstaunt auf und bemerkte sofort, dass sie das amüsierte, aber er sah auch, dass sie es erwartet hatte. Sie lachte, ein ziemlich verzerrtes, krächzendes Lachen. Nicht unbedingt anziehend.

«Sagen wir, ich habe sie einmal gekannt. Es ist viele, viele Jahre her, seit ich sie gesehen habe. Wir waren zusammen in der Schweiz, in Lausanne, als junge Mädchen. Matilda, Lady Matilda Baldwen-White.»

«Da kann ich ihr ja eine wundervolle Neuigkeit überbringen», sagte Stafford Nye.

«Sie ist älter als ich. Geht es ihr gut?»

«Für ihr Alter geht es ihr sehr gut. Sie lebt zurückgezogen auf dem Land. Sie hat Arthritis, Rheuma.»

«Ach ja, alle Alterskrankheiten. Sie sollte sich Prokainspritzen geben lassen. Das machen die Ärzte hier in dieser Höhenlage. Es tut sehr gut. Weiß sie, dass Sie mich besuchen?»

«Ich nehme an, sie hat nicht die leiseste Ahnung davon», sagte Sir Stafford Nye, «sie weiß nur, dass ich dieses Festival für Moderne Musik besuchen wollte.»

«Das Ihnen hoffentlich gefallen hat?»

«Oh ja, enorm. Ein schönes Festspielhaus, nicht wahr?»

«Eines der schönsten! Pah, es lässt das alte Festspielhaus in Bayreuth wie eine Volksschule aussehen. Haben Sie eine Ahnung, was es gekostet hat, dieses Festspielhaus zu bauen?»

Sie nannte eine Summe in Höhe von vielen Millionen D-Mark. Es nahm Stafford Nye förmlich den Atem, aber er musste das nicht einmal verbergen. Sie war erfreut über die Wirkung, die es auf ihn hatte.

«Mit Geld kann man», sagte sie, «wenn man intelligent genug ist, dann kann man mit Geld alles bewirken. Wunderbare Dinge bekommt man dafür.»

Sie sprach den letzten Satz mit großer Befriedigung aus, mit einem Schnalzen auf den Lippen, das er als sehr unangenehm und sogar etwas unheimlich empfand.

«Ich sehe das auch hier», sagte er und betrachtete die Wände ringsum.

«Sie sind Kunstliebhaber? Ja, das sehe ich. Da an der Ostwand hängt der beste Cézanne, den es heute auf der Welt gibt. Einige behaupten ja, dass der – ach, ich habe gerade den Namen vergessen, der im Metropolitan Museum in New York hängt – besser ist. Aber das stimmt nicht. Der beste Matisse, der beste Cézanne, das Beste aus allen Kunstrichtungen befindet sich hier. Hier in meinem Adlerhorst in den Bergen.»

«Es ist wundervoll», sagte Sir Stafford, «einfach wundervoll.»

Es wurden Getränke gereicht. Sir Stafford bemerkte, dass die Alte Frau vom Berge nichts trank. Möglicherweise hielt sie es für zu riskant für ihren Blutdruck bei solchem Übergewicht.

«Und wo haben Sie diese junge Dame hier getroffen?», fragte der gebirgsähnliche Drache.

War das eine Falle? Er wusste es nicht, aber er musste eine Entscheidung treffen.

«In der Amerikanischen Botschaft in London.»

«Ach ja, ich hörte davon. Und wie geht es – ich habe schon wieder den Namen vergessen – Millie Jean, unserer Südstaatenerbin? Sie ist attraktiv, nicht wahr?»

«Und äußerst charmant. Sie ist ein echter Star in London.»

«Und der arme, langweilige Sam Cortman, der Botschafter der Vereinigten Staaten?»

«Er ist ein sehr vernünftiger Mann, da bin ich mir sicher», sagte Stafford Nye höflich.

Sie lachte in sich hinein.

«Aha, Sie sind sehr taktvoll, nicht wahr? Ach ja, er macht seine Sache ganz ordentlich. Er tut das, was man ihm sagt, wie jeder gute Politiker es tun sollte. Und es ist bestimmt angenehm, amerikanischer Botschafter in London zu sein. Das hat er Millie Jean zu verdanken. Ach, sie könnte ihm überall auf der Welt eine Botschaft besorgen, mit ihrer wohlgefüllten Geldbörse. Ihrem Vater gehört die Hälfte des Öls in Texas, er besitzt Ländereien, Goldfelder, einfach alles. Er ist ein grober, extrem hässlicher Mann – und wie sieht sie aus? Wie eine sanfte kleine Aristokratin. Nicht aufdringlich, nicht angeberisch. Sehr klug von ihr, nicht wahr?»

«Manchmal hat man es so am einfachsten», sagte Sir Stafford Nye.

«Und Sie? Sind Sie nicht reich?»

«Ich wollte, ich wäre es.»

«Das Außenministerium ist heutzutage – nun sagen wir – nicht sehr einträglich?»

«Nun, so würde ich es nicht ausdrücken… immerhin, man reist umher, trifft amüsante Leute, kommt herum in der Welt, erfährt manches von dem, was passiert.»

«Manches, ja. Aber nicht alles.»

«Das wäre auch sehr schwierig.»

«Wollten sie jemals wissen, was – wie soll ich es ausdrücken – so hinter den Kulissen geschieht?»

«Manchmal bekommt man so eine Ahnung.» Seine Stimme klang unverbindlich.

«Ich habe über Sie gehört, dass Sie manchmal gewisse Eingebungen haben. Nicht unbedingt konventionelle Ideen.»

«Bei manchen Anlässen hat man mir das Gefühl vermittelt, dass ich der Taugenichts der Familie bin», sagte Sir Stafford Nye und lachte.

Die alte Charlotte gluckste.

«Es macht Ihnen nichts aus, ab und an mal etwas zuzugeben, nicht wahr?»

«Warum sollte ich mich verstellen? Die Leute merken immer, wenn man etwas verbirgt.»

Sie sah ihn an.

«Was erwarten Sie vom Leben, junger Mann?»

Er zuckte mit den Schultern. Hier musste er wieder nach dem Gefühl entscheiden.

«Nichts», sagte er.

«Soll ich Ihnen das wirklich glauben?»

«Ja, das können Sie mir glauben. Ich besitze keinerlei Ehrgeiz. Sehe ich etwa ehrgeizig aus?»

«Nein, das muss ich zugeben.»

«Ich möchte nur meinen Spaß haben, ein angenehmes Leben, in Maßen essen und trinken, amüsante Freunde haben.»

Die alte Frau beugte sich vor. Ihre Augen klappten drei- oder viermal auf und zu. Dann sprach sie plötzlich mit völlig veränderter Stimme, mit einer eher pfeifenden Note.

«Können Sie hassen? Sind Sie fähig zum Hass?»

«Hass ist reine Zeitverschwendung.»

«Ich verstehe. Ihr Gesicht zeigt keinerlei Spur von Unzufriedenheit. Das ist sicher wahr. Und doch glaube ich, sind Sie bereit einen bestimmten Weg zu verfolgen, der Sie an ein bestimmtes Ziel führt. Und Sie werden ihn lächelnd gehen, als ob es Ihnen gleichgültig wäre. Und doch könnten Sie am Ende, wenn Sie die richtigen Berater, die richtigen Helfer finden, bekommen, was sie sich ersehnen – wenn Sie denn fähig sind, etwas zu ersehnen.»

«Was das angeht», sagte Stafford Nye, «wer ist dazu nicht fähig?»

Er schüttelte leicht den Kopf. «Sie sehen zu viel», sagte er. «Viel zu viel.»

Diener öffneten eine Tür.

«Es ist serviert.»

Der Ablauf war angemessen förmlich, ja, er hatte einen nahezu majestätischen Anstrich. Die großen Türen am Ende des Raumes wurden aufgerissen und gaben den Blick frei in ein hell erleuchtetes, zeremonielles Esszimmer mit Deckengemälden und drei enormen Kronleuchtern. Zwei ältere Damen kamen auf die Gräfin zu, eine von jeder Seite. Sie trugen Abendkleider, ihr graues Haar war sorgfältig auf dem Kopf arrangiert, jede trug eine Diamantbrosche. Auf Sir Stafford Nye machten sie beinahe den Eindruck von Wärterinnen. Keine Wärterinnen für ihre Sicherheit, eher erstklassige Krankenschwestern, zuständig für die Gesundheit, die Körperpflege und andere intime Einzelheiten im Leben der Gräfin Charlotte. Nach einer respektvollen Verbeugung ließ jede einen Arm unter Schulter und Ellbogen der sitzenden Frau gleiten. Mit durch lange Übung entstandener Leichtigkeit und mit ihrer eigenen Anstrengung – offensichtlich alles, was sie tun konnte – brachten sie sie auf würdevolle Art auf die Beine.

«Wir gehen jetzt hinein zum Abendessen», sagte Charlotte.

Sie ging mit ihren beiden Pflegerinnen voran. Aufrecht wirkte sie noch mehr wie eine wackelnde Geleemasse, aber sie war dennoch beeindruckend. Man konnte sie keinesfalls nur als fette alte Frau abtun. Sie stellte etwas dar und wusste, dass sie etwas darstellte und darstellen wollte. Renata und er folgten den dreien.

Als sie die Flügeltüren des Esszimmers durchschritten, erschien es ihm eher wie eine Banketthalle als ein Esszimmer. Eine Sicherheitsgarde befand sich dort. Große, blonde, gut aussehende junge Männer. Sie trugen eine Art Uniform. Charlotte betrat den Raum, und es gab einen Knall, als jeder Einzelne sein Schwert aus der Scheide zog. Sie kreuzten sie über ihren Köpfen, um einen Durchgang zu bilden. Charlotte richtete sich auf und durchschritt diese Passage, von ihren Pflegerinnen befreit und allein, bis hin zu einem breiten geschnitzten, goldbeschlagenen, mit goldenem Brokat gepolsterten Sessel am Kopfende des langen Tisches. Es war eher wie eine Hochzeitsparade, dachte Stafford Nye. Eine Marine- oder Militärhochzeit. In diesem Fall sicher Militär, rein militärisch – aber ohne Bräutigam. Es waren alles junge Leute von hervorragendem Aussehen, keiner von ihnen über dreißig, schätzte Stafford Nye. Sie sahen gut aus, strotzten vor Gesundheit. Sie lächelten nicht, sondern waren ganz ernsthaft. Sie waren – er suchte nach einem passenden Ausdruck – mit Leib und Seele dabei. Vielleicht doch keine Militärprozession, sondern eher eine religiöse. Die Bedienung erschien, eine altmodische Bedienung, noch aus der Vergangenheit des Schlosses, dachte er, aus der Vorkriegszeit. Es war wie die Kolossalinszenierung eines historischen Kostümstückes. Und darüber herrschte, auf dem Sessel oder dem Thron, wie immer man es nennen wollte, am Kopfende des Tisches, keine Königin oder Kaiserin, sondern eine alte Frau, bemerkenswert wichtig durch ihr Körpergewicht und ihre außerordentliche, intensive Hässlichkeit. Wer war sie? Was tat sie hier? Und warum?

Warum diese ganze Maskerade, warum diese Truppe, eine Sicherheitsgarde vielleicht? Andere Gäste kamen an den Tisch. Sie verbeugten sich vor der Monstrosität auf dem Präsidententhron und nahmen ihre Plätze ein. Sie trugen normale Abendkleidung und wurden nicht vorgestellt.

Stafford Nye, mit seiner langjährigen Erfahrung, Leute einzuordnen, betrachtete sie abschätzend. Viele unterschiedliche Typen. Anwälte, da war er sich sicher. Mehrere Anwälte. Möglicherweise Buchprüfer oder Finanzleute; ein oder zwei Armeeoffiziere in Zivil. Sie gehörten zum Stab des Hauses, waren aber auch im feudalen, gesellschaftlichen Sinn Leute, die gewöhnlich ans untere Tischende gesetzt wurden.

Das Essen wurde aufgetragen. Ein riesiger Schweinskopf in Aspik, kühles, erfrischendes Zitronensorbet, ein überwältigendes Kuchengebäude – ein superber Blätterteig, offenbar von unglaublicher Reichhaltigkeit und Konditorkunst.

Die ausladende Frau aß gierig, hungrig, sie genoss das Essen. Von draußen waren neue Töne zu hören, vom leistungsstarken Motor eines Supersportwagens. Er schoss wie ein weißer Blitz unter den Fenstern vorbei. Im Raum erschallte ein Schrei von der Sicherheitsgarde. «Heil! Heil! Heil Franz!»

Die jungen Leute in der Gardegruppe bewegten sich mit der Selbstverständlichkeit eines Militärmanövers, das sie blind beherrschten. Alle hatten sich erhoben. Nur die alte Frau saß unbeweglich, den Kopf leicht erhoben, auf ihrem Podest. Eine neue Erregung erfüllte jetzt den Raum.

Die anderen Gäste oder Mitglieder des Haushaltstabes, was auch immer sie waren, verschwanden. Wie Eidechsen in einer Mauerritze, dachte Stafford Nye.

Die blonden jungen Männer bildeten eine neue Formation, ihre Schwerter flogen heraus, sie salutierten vor ihrer Herrin. Sie neigte den Kopf zur Bestätigung, die Schwerter wurden in die Scheide gesteckt, und die Männer drehten sich nach ihrer Entlassung um und marschierten durch die Tür aus dem Raum hinaus. Ihr Blick folgte ihnen, richtete sich dann erst auf Renata und später auf Stafford Nye.

«Was halten Sie von ihnen?», fragte sie. «Meine Jungs, mein Jugend-Korps, meine Kinder. Ja, meine Kinder. Haben sie Worte, um dies zu beschreiben?»

«Ich denke schon», sagte Stafford Nye. «Herrlich, einfach herrlich, gnädige Frau.»

«Ah.» Sie neigte den Kopf. Sie lächelte, wodurch unzählige weitere Falten auf ihrem Gesicht entstanden. Es verlieh ihr das Aussehen eines Krokodils.

«Eine furchtbare Frau», dachte er, «eine furchtbare Frau, unmöglich, dramatisch.» War das hier die Wirklichkeit? Er mochte es nicht glauben. Es konnte nur eine weitere Festspielbühne sein, auf der ein Stück inszeniert wurde.

Die Türen wurden wieder aufgeschlagen. Die Gruppe junger strohblonder Supermänner marschierte wieder ein. Diesmal schwenkten sie keine Schwerter, sondern sangen stattdessen. Sie sangen mit ungewöhnlich schöner Stimme und Wohlklang.

Nach vielen Jahren der Popmusik verspürte Stafford Nye ein unglaubliches Wohlgefallen. Das waren geschulte Stimmen. Geschult von Meistern des Sangeskunst. Sie durften ihre Stimme nicht überanstrengen oder falsch singen. Sie mochten die neuen Helden einer künftigen Welt sein, aber was sie sangen, war keine neue Musik. Es war Musik, die er kannte. Ein Arrangement des Preisliedes; irgendwo musste ein verborgenes Orchester sein, auf einer Empore oben im Raum. Es war ein Arrangement oder eine Zusammenstellung verschiedener Wagner-Themen. Es bewegte sich vom Preislied zu den fernen Echos der Rheingoldmusik.

Das Elite-Korps bildete nochmals eine Doppelgasse, durch die jemand eintreten sollte. Diesmal war es nicht die alte Kaiserin. Die saß auf ihrem Podest und wartete auf den Ankömmling, wer immer es sein mochte.

Und da kam er endlich. Die Musik änderte sich, als er eintrat. Sie spielte das Motiv, das Stafford Nye inzwischen auswendig konnte. Jung-Siegfrieds Melodie, Siegfrieds Hornruf, der sich in all seiner Jugend und seinem Triumph erhob, in seiner Herrschaft über die neue Welt, in die Jung-Siegfried kam, um sie zu erobern.

Durch die Tür, durch die Reihen seiner offensichtlichen Gefolgsleute, marschierte einer der schönsten jungen Männer, die Stafford Nye je gesehen hatte. Goldenes Haar, blaue Augen, perfekt proportioniert, wie von einem Zauberstab heraufbeschworen, auf direktem Weg der Welt der Mythen entstiegen. Mythen, Helden, Wiederauferstehung, Wiedergeburt, alles war da. Seine Schönheit, seine Stärke, seine unglaubliche Selbstsicherheit und Arroganz. Er schritt durch die Doppelreihe seiner Bodyguards, bis er vor der abscheulichen Masse von Weiblichkeit stand, die da auf ihrem Thron hockte. Er ließ sich auf ein Knie nieder, führte ihre Hand zu den Lippen, erhob sich dann und streckte einen Arm in die Höhe zur Begrüßung. Er gab den Ruf von sich, den Stafford Nye von den anderen schon gehört hatte: «Heil!» Stafford Nyes Deutsch war nicht sehr gut, aber er glaubte, die Worte zu erkennen: «Heil der Großen Mutter!»

Dann sah sich der schöne junge Held um. Ein leichtes, eher gleichgültiges Zeichen des Erkennens, als er Renata anschaute, aber als sein Blick Stafford Nye erreichte, war da echtes Interesse spürbar. Vorsicht, dachte Stafford Nye, Vorsicht! Jetzt musste er seine Rolle richtig spielen. Die von ihm erwartete Rolle. Nur – wie zur Hölle sah diese Rolle aus? Was machte er hier? Was wollten er und die junge Frau angeblich hier? Warum waren sie gekommen?

Der Held sprach:

«So», sagte er, «wir haben also Gäste!» Und er lächelte mit der Arroganz eines jungen Mannes, der sich seiner großen Überlegenheit über jedes andere Wesen auf dieser Welt bewusst war. «Willkommen, liebe Gäste, alle beide.»

Irgendwo in den Tiefen des Schlosses begann eine große Glocke zu läuten. Kein Begräbniston, sie hatte eher eine disziplinarische Note. Stafford Nye fühlte sich wie im Kloster, wo gerade zu einer heiligen Handlung gerufen wurde.

«Wir müssen jetzt schlafen», sagte die alte Charlotte. «Wir treffen uns morgen früh um elf Uhr wieder.»

Sie schaute auf Renata und Sir Stafford Nye.

«Man wird Ihnen Ihre Zimmer zeigen. Ich hoffe, Sie werden gut schlafen.»

Stafford Nye sah Renatas Arm zum faschistischen Gruß emporfliegen, der Gruß war jedoch nicht an Charlotte, sondern an den goldhaarigen Knaben gerichtet. Er glaubte zu hören: «Heil Franz Joseph.» Er ahmte die Geste nach und auch er sagte «Heil!»

Charlotte sagte zu ihnen: «Würde es Ihnen gefallen, den morgigen Tag mit einem Waldritt zu beginnen?»

«Das würde mir sehr gefallen», sagte Stafford Nye.

«Und Ihnen, mein Kind?»

«Ja, mir auch.»

«Also gut. Dann wird es veranlasst. Gute Nacht Ihnen beiden. Ich freue mich, Sie hier willkommen zu heißen. Franz Joseph – leih mir deinen Arm. Wir gehen ins Chinesische Boudoir. Wir haben uns viel zu erzählen, und du wirst morgen beizeiten wieder aufbrechen müssen.»

Die Diener eskortierten Renata und Stafford Nye in ihre Gemächer. Nye zögerte einen Augenblick auf der Schwelle. Würden sie wohl ein oder zwei Worte miteinander wechseln können? Er entschied sich dagegen. Solange sie sich innerhalb dieser Schlossmauern befanden, war höchste Vorsicht angebracht. Man konnte nie wissen – die Zimmer konnten mit Mikrofonen ausgestattet sein.

Früher oder später würde er ein paar Fragen stellen müssen. Gewisse Dinge weckten finstere Vorahnungen in ihm. Er wurde gerade zu irgendetwas überredet, ja, verführt. Aber wozu? Und wer hatte das veranlasst?

Die Zimmer waren schön, aber stickig. Die üppigen Behänge aus Satin und Samt, einige antik, verströmten ein leicht modriges Aroma, gemildert von Gewürzdüften. Er fragte sich, wie oft Renata wohl schon hier gewesen war.

Kapitel 11 Die Jungen und die Schönen

Nach dem Frühstück am nächsten Morgen, in einem kleinen Frühstückszimmer zu ebener Erde, wartete Renata schon auf ihn. Die Pferde standen vor der Tür.

Beide hatten ihre Reitausrüstung mitgebracht. Alles, was sie benötigen könnten, hatten sie in weiser Voraussicht eingepackt.

Sie saßen auf und ritten über die Schlosseinfahrt davon. Renata unterhielt sich ausführlich mit dem Reitknecht. «Er fragte, ob wir seine Begleitung wünschen, aber ich habe Nein gesagt. Die Reitwege hier sind mir gut bekannt.»

«Ich verstehe. Waren Sie schon einmal hier?»

«In den letzten Jahren nicht mehr so oft. Früher kannte ich diese Gegend einmal sehr gut.» Er warf ihr einen scharfen Blick zu. Während sie neben ihm ritt, beobachtete er ihr Profil – die dünne gebogene Nase, den Kopf, der sich so stolz vom Nacken erhob. Sie war eine gute Reiterin, das konnte er sehen. Aber heute Morgen regte sich ein Unbehagen in ihm. Er wusste nicht genau, warum…

Seine Gedanken gingen zurück in die Flughafenhalle. Zu der Frau, die da auf ihn zugekommen war, plötzlich neben ihm gestanden hatte. Das Pilsglas auf dem Tisch… Da war nichts, was nicht hätte sein sollen – weder damals noch später. Er war das Risiko eingegangen. Warum löste sie jetzt, lange nachdem dies geschehen war, solch ein Unbehagen in ihm aus?

Sie ritten eine kurze Trabstrecke, nach einem Ritt durch den Wald. Es war ein wunderschöner Besitz mit herrlichen Wäldern. In der Ferne sah er Tiere mit Geweihen. Ein Paradies für einen Jäger, ein Paradies für die alte Lebensweise, ein Paradies, das – was? eine Schlange? – enthielt. Wie war es zu Anfang? Es gab immer auch eine Schlange im Paradies. Er zügelte sein Pferd, die Pferde verfielen in Schritt. Er und Renata waren allein – keine Mikrofone, keine lauschenden Wände – die Zeit für seine Fragen war gekommen.

«Wer ist sie?», fragte er eindringlich. «Und was ist sie?»

«Das ist leicht zu beantworten. So leicht, dass man es kaum glauben kann.»

«Nun?», fragte er.

«Sie besitzt Ölquellen. Kupfer, Goldminen in Südafrika. Waffenindustrie in Schweden, Uranminen im Norden. Nuklearforschung, riesige Kobaltvorkommen. All das besitzt sie.»

«Aber ich habe noch nie von ihr gehört, ich kannte nicht einmal ihren Namen, ich wusste nicht –»

«Sie will nicht, dass die Leute darüber Bescheid wissen.»

«Kann man solche Dinge denn geheim halten?»

«Es ist ganz leicht, wenn man genügend Kupfer, Öl, Nuklearlager, Waffen und all dieses Zeug besitzt. Mit Geld kann man Reklame machen oder aber Geheimnisse hüten, man kann Dinge vertuschen.»

«Aber wer ist sie wirklich?»

«Ihr Großvater war Amerikaner. Er besaß hauptsächlich Eisenbahnen, glaube ich. Vielleicht auch Schlachtschweine in Chicago, seinerzeit. Es ist, als würde man das Rad der Geschichte zurückdrehen, wenn man das untersucht. Er heiratete eine deutsche Frau. Ich nehme an, Sie haben von ihr gehört, die Dicke Belinda wurde sie genannt. Waffen, Reedereien, der ganze Industrie-Reichtum Europas. Sie war die Haupterbin ihres Vaters.»

«Also unermesslicher Reichtum von beiden Seiten», sagte Sir Stafford Nye, «und damit – Macht. Wollen Sie das damit sagen?»

«Ja. Sie hat nicht nur geerbt, wissen sie. Sie hat auch selbst Geld verdient. Sie hat einen ausgezeichneten Verstand geerbt, war selbst ein großes Finanzgenie. Alles, was sie anfasste, war von Erfolg gekrönt. Verwandelte sich in Unsummen von Geld, und die investierte sie wieder. Sie holte sich Rat, holte das Urteil anderer Leute ein, verließ sich aber schlussendlich immer auf ihr eigenes. Und sie hat immer gewonnen. Sie vermehrte ihren Reichtum immer weiter, bis er wirklich sagenhaft war. Geld schafft Geld.»

«Ja, das verstehe ich. Reichtum muss zwangsläufig weiterwachsen, wenn er schon im Überfluss vorhanden ist. Was besitzt sie?»

«Ich sagte es schon. Macht.»

«Und sie lebt hier? Oder –?»

«Sie reist oft nach Amerika und nach Schweden. Oh ja, sie sucht gewisse Orte auf, aber nicht sehr häufig. Hier hält sie sich bevorzugt auf, im Zentrum eines Netzwerks, wie eine riesige Spinne, die alle Fäden in der Hand hält. Die Finanzen. Und auch andere Fäden.»

«Was meinen Sie damit?»

«Die schönen Künste. Musik, Gemälde, Schriftsteller. Menschen – junge Menschen.»

«Ja, das sieht man. Diese Gemälde, eine wundervolle Sammlung», sagte er.

Sie antwortete: «Oben im Schloss gibt es noch ganze Galerien. Da hängen Rembrandts, Giottos und Raphaels, da gibt es Kisten mit Juwelen – einige der wunderbarsten Juwelen der Welt.»

«Und alles gehört einer hässlichen, übergewichtigen alten Dame. Ist sie jetzt zufrieden?»

«Noch nicht ganz, aber sie ist auf dem Wege dorthin.»

«Was will sie denn noch mehr?»

«Sie liebt die Jugend. Das ist ihr Machtinstrument. Die Kontrolle der Jugend. Die Welt ist heute voll von rebellischen Jugendlichen. Und das wird noch geschürt. Mit moderner Philosophie, modernem Gedankengut, von Schriftstellern und anderen, die sie finanziert und kontrolliert.»

«Aber wie kann sie –»

«Ich kann es nicht sagen, weil ich es selbst nicht weiß. Es ist enorm weit verzweigt. In irgendeiner Weise steckt sie dahinter, unterstützt ziemlich kuriose Wohltätigkeitsorganisationen, ernsthafte Philanthropen und Idealisten, gründet unzählige Stiftungen für Studenten, Künstler und Schriftsteller.»

«Und Sie sagen, das ist noch nicht –»

«Nein, sie ist noch nicht am Ziel. Eine große Umwälzung ist im Gange. Alle glauben daran. Ein neuer Himmel, eine neue Erde sollen geschaffen werden. Alle Anführer großer Bewegungen haben das seit Tausenden von Jahren versprochen. Es wurde von Religionen versprochen, die an einen Messias glauben, von denen die kommen, um zu predigen wie Buddha. Es wird versprochen von Politikern. Das diffuse Himmelreich, das leicht zu erlangen ist, wie das, an das die Assassinen glaubten und das der Alte vom Berge seinen Anhängern versprochen und ihnen auch, von ihrem Standpunkt aus betrachtet, gegeben hat.»

«Ist sie auch in Drogengeschäfte verwickelt?»

«Ja. Doch natürlich ohne wirkliche Überzeugung. Es ist nur ein Mittel, den Menschen ihren Willen aufzuzwingen. Es ist auch eine Art von Menschenvernichtung, von Schwachen, die ihrer Meinung nach nichts taugen, auch wenn sie einmal vielversprechend waren. Selbst würde sie niemals Drogen nehmen. Sie ist sehr stark. Aber mit Drogen kann man schwache Menschen leichter vernichten als mit irgendwas sonst.»

«Und Gewalt? Wie ist es mit Gewalt? Man kann nicht alles nur mit Propaganda erreichen.»

«Nein, natürlich nicht. Propaganda ist die erste Stufe, dahinter türmt sich ein riesiges Waffenlager auf. Waffen, die über Entwicklungsländer an andere Bestimmungsorte gelangen. Panzer und Gewehre und Atomwaffen, die nach Afrika gehen, in die Südsee und nach Südamerika. In Südamerika entsteht eine große Truppe. Streitkräfte aus jungen Männern und Frauen, die gedrillt und ausgebildet werden. Es gibt enorme Waffenlager – chemische Kampfmittel.»

«Ein Albtraum! Woher wissen Sie das alles, Renata?»

«Zum einen, weil es mir zugetragen wurde; aus Informationen, die ich erhalten habe, zum anderen, weil ich aktiv nach den Beweisen gesucht habe.»

«Aber Sie? Sie und diese Leute da?»

«Meist steckt irgendetwas völlig Idiotisches hinter allen großartigen und umfassenden Projekten.» Sie lachte plötzlich. «Sehen Sie, sie war einmal in meinen Großvater verliebt. Eine lächerliche Geschichte. Er lebte hier in dieser Gegend. Er besaß ein Schloss ein oder zwei Meilen von hier.»

«War er ein besonders genialer Mann?»

«Überhaupt nicht. Er war nur ein ausgezeichneter Sportler. Gut aussehend, maßlos und attraktiv für Frauen. Und aus diesem Grunde ist sie in gewissem Sinne meine Beschützerin. Und ich bin eine von ihren Konvertitinnen, ihren Sklavinnen! Ich arbeite für sie. Ich finde Leute für sie. Ich führe in verschiedenen Teilen der Welt ihre Befehle aus.»

«Tun Sie das?»

«Was soll das heißen?»

«Ich verstehe Sie nicht ganz.»

Er sah Renata an und dachte wieder an den Flughafen. Er arbeitete für Renata, er arbeitete mit Renata. Sie hatte ihn auf dieses Schloss gebracht. Wer hatte ihr gesagt, sie solle ihn hierherbringen? Die große, feiste Charlotte, die da mitten in ihrem Spinnennetz saß? Er hatte in bestimmten diplomatischen Kreisen den Ruf gehabt, unzuverlässig zu sein. Er konnte diesen Leuten jetzt vielleicht von Nutzen sein, auf eine niedere und ziemlich demütigende Weise. Und plötzlich dachte er quasi in einem Nebel von Fragezeichen: Auf welcher Seite steht Renata??? Ich bin mit ihr ein Risiko eingegangen am Frankfurter Flughafen. Aber das war richtig so. Es hat funktioniert. Mir ist nichts passiert. Und doch, dachte er, wer ist sie? Was ist sie? Ich weiß es nicht. Ich kann nicht sicher sein. Heute kann man sich auf niemanden verlassen, auf der ganzen Welt nicht. Auf überhaupt niemand. Sie wurde vielleicht angewiesen, mich einzufangen. Mich in der hohlen Hand zu halten, also könnte die ganze Geschichte in Frankfurt geschickt inszeniert worden sein. Das passte zu meinem Hang zum Risiko und würde mich ihrer sicher machen. Mich veranlassen, ihr Vertrauen zu schenken.

«Lassen sie uns noch mal traben», sagte sie. «Wir haben die Pferde zu lange im Schritt gehen lassen.»

«Ich habe Sie noch nicht gefragt, wo Sie in dieser ganzen Geschichte stehen.»

«Ich nehme Befehle entgegen.»

«Von wem?»

«Es gibt eine Opposition. Es gibt immer eine Opposition. Es gibt Menschen, denen das, was da vor sich geht, verdächtig erscheint. Auf welche Weise die Welt verändert werden soll, wie das stattfinden soll mit Kapital, Reichtum, Waffen, Idealismus, großen, machtvoll tönenden Worten. Es gibt Menschen, die sagen, das darf nicht geschehen.»

«Und Sie gehören dazu?»

«Das sage ich jetzt so.»

«Wie meinen Sie das, Renata?»

«Ich behaupte es.»

Er sagte: «Dieser junge Mann gestern Abend –»

«Franz Joseph?»

«Heißt er so?»

«Er ist jedenfalls unter diesem Namen bekannt.»

«Aber er hat sicher noch einen anderen Namen?»

«Glauben Sie?»

«Er ist doch nicht etwa Jung-Siegfried?»

«Haben Sie ihn als das betrachtet? Sie haben ihn als das erkannt, wofür er steht?»

«Ich glaube schon. Die Jugend. Die heldenhafte Jugend, die arische Jugend, es muss arische Jugend sein hierzulande. Diese Haltung gibt es immer noch. Eine Herrenrasse, die Supermänner. Sie müssen arischer Abstammung sein.»

«Oh ja. Das hat die Hitlerzeit überstanden. Es tritt nicht immer so offen zutage, und in anderen Teilen der Welt wird es nicht so sehr betont. Südamerika, wie ich schon sagte, ist eine der Bastionen. Und Peru, auch Südafrika.»

«Was macht Jung-Siegfried eigentlich? Was macht er, außer gut auszusehen und die Hand seiner Beschützerin zu küssen?»

«Oh, er ist ein sehr guter Redner. Er spricht, und seine Anhänger folgen ihm bis in den Tod.»

«Ist das wahr?»

«Er glaubt es jedenfalls.»

«Und Sie?»

«Ich denke, ich könnte es auch glauben.» Sie fügte hinzu. «Rhetorik ist sehr beängstigend, wissen Sie. Was eine Stimme bewirken kann, was Worte ausrichten können, und es müssen noch nicht einmal besonders überzeugende Worte sein. Nur die Art, wie sie vorgetragen werden. Seine Stimme tönt wie eine Glocke und die Frauen weinen und schreien und fallen in Ohnmacht, wenn er sie anspricht – sie werden das selbst erleben.» Sie fuhr fort:

«Sie haben Charlottes Sicherheitskader gestern Abend gesehen, alle waren herausgeputzt – die Leute verkleiden sich gerne heutzutage. Man begegnet ihnen überall auf der Welt in ihrer selbst gewählten Ausstaffierung, überall anders, einige mit langem Haar und Bärten und die Mädchen mit ihren weißen Nachthemd-Hängekleidchen; sie reden von Frieden und Schönheit und der wunderbaren Welt, der Welt der Jungen, die ihr Eigen sein wird, wenn sie genug von der alten Welt zerstört haben. Das ursprüngliche Land der Jugend lag einmal westlich der Irischen See, nicht wahr? Ein sehr einfacher Ort, ein ganz anderes Land der Jugend als das, was jetzt geplant ist – mit silbrigen Stränden und Meeresgesang.

Jetzt aber wollen wir Anarchie, Niederreißen und Zerstörung. Nur noch die Anarchie kann die zufriedenstellen, die hinter ihr hermarschieren. Es ist beängstigend, aber auch wundervoll – wegen der Gewalt, weil es mit Schmerzen erkauft wird und mit Leiden –»

«So betrachtet man also heute die Welt?»

«Manchmal.»

«Und was soll ich als Nächstes tun?»

«Begleiten Sie Ihre Führerin. Ich bin Ihre Führerin. Wie Vergil bei Dante, ich führe Sie in die Hölle hinunter, ich zeige Ihnen die sadistischen Filme, zum Teil noch von der alten SS kopiert, zeige Ihnen Grausamkeiten und Schmerz und die Anbetung der Gewalt. Und ich zeige Ihnen die großen Träume vom Paradies in Frieden und Schönheit. Sie werden das eine nicht vom anderen unterscheiden können. Aber Sie werden sich entscheiden müssen.»

«Kann ich Ihnen vertrauen, Renata?»

«Das müssen Sie selbst entscheiden. Sie können vor mir weglaufen, wenn Sie wollen, oder Sie können bei mir bleiben und die Neue Welt sehen. Die Neue Welt, die sich im Aufbau befindet.»

«Die ist doch nur aus Pappe», sagte Sir Stafford heftig.

Sie sah ihn fragend an.

«Wie bei Alice im Wunderland. Die Karten, die Spielkarten aus Pappe, die alle in die Luft fliegen. Umherfliegen, Könige, Königinnen und Buben. Alle.»

«Wie meinen Sie das – was genau wollen Sie damit überhaupt sagen?»

«Ich meine, es ist nicht die Wirklichkeit. Es ist alles nur Fantasie. Das ganze verdammte Zeugs ist nur Schein.»

«In gewissem Sinne, ja.»

«Alle sind kostümiert und spielen eine Rolle, ziehen eine Show ab. Ich komme der Sache schon näher, nicht wahr, der wahren Bedeutung?»

«Auf eine Weise, ja, auf andere Weise, nein –»

«Eines möchte ich Sie noch fragen, denn es verwirrt mich. Die Große Charlotte hat Ihnen doch aufgetragen, mich zu ihr zu bringen – warum? Was wusste Sie überhaupt von mir? Was dachte sie denn, wie ich ihr nützlich sein könnte?»

«Ich weiß es nicht genau – möglicherweise als eine Art graue Eminenz – hinter einer Fassade. Das wäre doch sehr passend für Sie.»

«Aber sie weiß doch rein gar nichts über mich!»

«Ach das!» Renata brach plötzlich in heftiges Gelächter aus. «Es ist wirklich zu lächerlich, immer wieder derselbe alte Unsinn!»

«Ich verstehe Sie nicht, Renata.»

«Nein – weil es dermaßen simpel ist. Mr. Robinson würde es verstehen.»

«Würden Sie mir bitte erklären, wovon Sie überhaupt reden?»

«Es ist immer dieselbe alte Sache – ‹Nicht was man ist, sondern was man weiß, ist wichtig.› Ihre Großtante Matilda und die Große Charlotte waren auf derselben Schule.»

«Sie wollen wirklich damit sagen –»

«Sie haben ihre Kindheit zusammen verbracht.»

Er starrte sie an. Dann warf er den Kopf zurück und brüllte vor Lachen.

Kapitel 12 Der Hofnarr

Sie verließen das Schloss am Mittag, nachdem sie sich von ihrer Gastgeberin verabschiedet hatten. Sie fuhren die gewundene Straße hinunter, ließen das Schloss hoch oben hinter sich und kamen schließlich nach stundenlanger Fahrt zu einem Stützpunkt in den Dolomiten – ein Amphitheater in den Bergen, wo Versammlungen, Konzerte und Treffen der verschiedenen Jugendgruppen veranstaltet wurden.

Renata hatte ihn dort hingebracht, seine Führerin, und von seinem Platz auf dem nackten Fels hatte er verfolgt, was sich dort zutrug. Er verstand jetzt ein bisschen besser, wovon sie früher am Tag gesprochen hatte. Diese großartige Massenversammlung war mit Leben erfüllt gewesen, wie alle Massenveranstaltungen es sein können, ob sie nun von einem missionarischen Religionsführer im Madison Square Garden in New York einberufen waren oder ob sie im Schatten einer walisischen Kirche stattfanden, in einer Fußballmenge oder bei den Superdemonstrationen, die losmarschieren, um Botschaften, die Polizei, Universitäten und alles Übrige anzugreifen. Sie hatte ihn dort hingebracht, um ihm die Bedeutung des Begriffs ‹Jung-Siegfried› zu demonstrieren.

Franz Joseph, wenn das denn sein wirklicher Name war, hatte zur Menge gesprochen. Seine Stimme hob und senkte sich, auf merkwürdig erregende Weise. Ihre emotionale Anziehungskraft hatte diese stöhnende, fast jammernde Menge junger Frauen und Männer in Bann gehalten. Jedes Wort, das er äußerte, schien bedeutungsschwer und hatte eine unglaubliche Überzeugungskraft. Die Menge hatte reagiert wie ein Orchester. Seine Stimme war der Dirigentenstab. Und doch, was hatte der Junge eigentlich gesagt? Was war Jung-Siegfrieds Botschaft? Als es zu Ende war, konnte Stafford Nye sich an kein Wort erinnern. Aber er wusste, dass der Redner sehr bewegt gewesen war, Dinge versprochen hatte, in enthusiastische Erregung geraten war. Nun war es vorüber. Die Menge war auf dem Felsplateau umhergewankt, rufend, schreiend. Einige Mädchen schrieen vor Begeisterung. Andere waren in Ohnmacht gefallen. Was war das für eine Welt heutzutage?, dachte er. Alles war nur darauf angelegt, Emotionen zu erwecken. Disziplin? Zurückhaltung? Keines dieser Dinge zählte mehr auch nur das geringste. Nichts war wichtig, außer zu fühlen.

Welche Welt konnte man damit erschaffen?

Seine Führerin berührte ihn am Arm, und sie lösten sich aus der Menge. Sie fanden ihren Wagen, und der Fahrer brachte sie auf ihm offensichtlich wohlbekannten Wegen in eine Stadt, zu einem Gasthaus am Berghang, wo Zimmer für sie reserviert waren.

Später verließen sie das Gasthaus und spazierten auf einem ausgetrampelten Pfad den Berghang hinauf bis zu einer Bank. Dort sagte Stafford wieder: «Alles aus Pappe.»

Für etwa fünf Minuten saßen sie da und schauten ins Tal hinunter, dann fragte Renata: «Nun?»

«Was fragen sie mich denn?»

«Was Sie von dem, was ich Ihnen bisher gezeigt habe, halten.»

«Ich bin nicht überzeugt», sagte Stafford Nye. Sie gab einen Seufzer von sich, einen unerwartet tiefen Seufzer.

«Ich hatte gehofft, dass Sie das sagen würden.»

«Nichts davon ist wahr, oder? Es ist alles eine gigantische Show, von einem Regisseur veranstaltet – einer ganzen Gruppe von Regisseuren womöglich.»

«Diese monströse Frau engagiert den Regisseur, sie bezahlt ihn. Wir haben den Regisseur nicht zu Gesicht bekommen. Heute haben wir nur den Star-Schauspieler gesehen. Was halten Sie von ihm?»

«Auch er ist nicht real», sagte Stafford Nye. «Er ist nur ein Schauspieler, ein erstklassiger Schauspieler, hervorragend inszeniert.»

Renata lachte überraschend. Sie stand von ihrem Sitzplatz auf. Plötzlich sah sie aufgeregt aus und sagte leicht ironisch: «Ich habe gewusst, dass Sie es merken würden. Ich wusste, dass Sie mit beiden Beinen auf der Erde bleiben. Sie waren sich immer sicher, bei allem, was Ihnen im Leben begegnet ist. Sie haben den Schwindel durchschaut, haben immer alles und jeden als das erkannt, was sie wirklich waren.

Nicht nötig, nach Stratford zu fahren und sich Shakespeare anzusehen, um zu wissen, für welche Rolle Sie zu besetzen sind – Könige und große Herren müssen einen Narren haben – einen Hofnarren, der dem König die Wahrheit sagt und Klartext mit ihm redet, sich über all die Dinge lustig macht, von denen andere sich blenden lassen.»

«Das bin ich also, ein Hofnarr?»

«Empfinden Sie das nicht selbst so? Genau das wollen wir. Das ist es, was wir brauchen. ‹Pappe› haben Sie gesagt. Eine riesige, wohlinszenierte, wunderbare Show. Und wie recht Sie haben! Aber die Menschen lassen sich übertölpeln. Sie glauben, es ist etwas Wundervolles, oder sie halten es für teuflisch, oder sie glauben, es ist unheimlich wichtig. Natürlich ist es das nicht – man muss nur herausfinden, wie man es den Leuten beibringt, dass die ganze Sache einfach nur albern ist, nur verdammt albern. Das werden Sie und ich tun.»

«Ist das Ihre Idee, dass wir das Ganze am Ende entlarven?»

«Ich gebe zu, es scheint nicht im Entferntesten möglich, aber wenn die Menschen erst einmal erkennen, dass etwas nicht wahr ist, dass es nur ein einziger riesengroßer Schabernack ist – nun…»

«Wollen Sie eine Predigt über die Vernunft halten?», fragte er.

«Natürlich nicht», sagte Renata, «niemand würde zuhören, oder?»

«Im Augenblick wohl nicht.»

«Nein, wir müssen ihnen Beweise vorlegen – Tatsachen – Wahrheiten –»

«Haben wir denn so etwas?»

«Ja. Was ich via Frankfurt mitgebracht habe – als Sie mir geholfen haben, es nach England zurückzubringen –»

«Ich verstehe nicht –»

«Noch nicht – Sie werden es später erfahren. Jetzt aber müssen wir eine Rolle spielen. Wir sind bereit und willig, förmlich atemlos vor Eifer, uns indoktrinieren zu lassen. Wir beten die Jugend an. Wir sind Anhänger und Gläubige von Jung-Siegfried.»

«Sie können das rüberbringen, zweifellos. Ich für mein Teil bin mir nicht so sicher. Ich war niemals sehr erfolgreich als Anhänger von irgendetwas. Der Hofnarr ist nicht so. Er ist der große Entzauberer. Niemand schätzt das sehr im Augenblick, oder?»

«Natürlich nicht. Nein, diese Seite dürfen Sie nicht zeigen. Außer wenn Sie über Ihre Herren und Meister reden, Politiker und Diplomaten, das Außenministerium, das Establishment, all diese Dinge. Dann dürfen Sie verbittert sein, maliziös, witzig, etwas grausam.»

«Ich sehe immer noch nicht, welche Rolle ich bei diesem Weltenkreuzzug spielen soll.»

«Es ist eine sehr alte Rolle, eine, die jeder versteht und schätzt. Da ist etwas drin für Sie. Das ist Ihre Schiene. Sie wurden in der Vergangenheit immer verkannt, aber Jung-Siegfried und alles, wofür er steht, wird Ihnen die Aussicht auf Belohnung geben. Weil Sie ihm alle Geheimtipps geben, die er über Ihr Land haben möchte. Er wird Ihnen eine Machtposition versprechen in diesem Land, für die kommenden, wunderbaren Zeiten.»

«Wollen Sie damit andeuten, das es sich um eine Weltbewegung handelt? Stimmt das?»

«Natürlich. Fast wie ein Hurrikan, einer mit Namen. Flora oder Little Annie. Sie kommen von Süden, Norden, Osten oder Westen, aber sie kommen wie aus dem Nichts und zerstören alles. Das ist es, was alle wollen. In Europa, in Asien und Amerika. Vielleicht auch Afrika, doch dort besteht noch keine große Begeisterung. Dinge wie Macht, Unterschlagung und dergleichen sind noch etwas neu für die Leute dort. Aber es gibt eine Weltbewegung. Von der Jugend geleitet und mit der Vitalität der Jugend betrieben. Sie besitzen keine Kenntnisse, keine Erfahrung, aber sie haben Visionen und Vitalität, und sie haben Geld im Hintergrund. Ströme von Geld fließen ihnen zu. Es gab zu viel Materialismus, also haben sie etwas anderes verlangt, und das haben sie bekommen. Aber da es auf Hass begründet ist, kann es nichts bewirken. Es kann nicht in Gang kommen. Erinnern Sie sich nicht an 1919? Alle gingen mit begeisterter Miene umher und sagten, der Kommunismus sei die Antwort auf alle Fragen, die Marxistische Doktrin würde einen neuen Himmel auf Erden schaffen. Aber mit wem kann man denn solche Ideen in die Tat umsetzen? Immer nur mit denselben Menschen, die schon immer da waren. Man kann jetzt eine Neue Welt schaffen, oder die Leute glauben das zumindest, aber diese neue Welt besteht aus denselben Menschen wie die Welt davor und die davor, unter welchem Namen man sie auch immer einordnen will.

Wenn man es mit denselben Menschen zu tun hat, werden sie alles wie immer weiterführen. Man muss nur in die Geschichte schauen.»

«Interessiert sich heutzutage überhaupt jemand für Geschichte?»

«Nein. Sie schauen lieber nach vorn in eine undurchsichtige Zukunft. Früher sollte die Wissenschaft die Lösung für alle Dinge bringen. Freudsche Theorien und freier Sex sollten die nächste Antwort auf das menschliche Leid sein. Man dachte, die Menschen hätten dann keine mentalen Probleme mehr. Wenn damals jemand gesagt hätte, dass die psychiatrischen Kliniken heute voller sein würden denn je, hätte das niemand geglaubt. Das ist das Ergebnis der Abschaffung von Repressionen.»

Stafford Nye unterbrach sie:

«Ich möchte Sie etwas fragen», sagte Sir Stafford Nye.

«Und was?»

«Wo fahren wir als Nächstes hin?»

«Nach Südamerika. Vielleicht auf dem Weg nach Pakistan oder Indien. Sicherlich müssen wir auch in die USA gehen. Dort passieren sehr viele interessante Dinge, besonders in Kalifornien.»

«An den Universitäten?» Sir Stafford Nye seufzte. «Die Ereignisse an den Universitäten sind wirklich langweilig. Sie wiederholen sich zu oft.»

Einen Augenblick saßen sie stumm da. Das Licht wurde schwächer, aber eine Bergspitze zeigte sich in sanftem Rot.

Stafford Nye sagte in nostalgischem Ton: «Wenn wir jetzt noch etwas Musik hätten – in diesem Augenblick –, wissen Sie, was ich mir dann wünschen würde?»

«Noch mehr Wagner? Oder haben Sie sich von Wagner losgesagt?»

«Nein – Sie haben ganz recht – noch mehr Wagner. Ich ließe Hans Sachs unter seinem alten Baum sitzen und über die Welt sagen: ‹Wahn, Wahn, überall Wahn.›»

«Ja, das trifft es. Es ist auch wunderbare Musik. Nur sind wir nicht dem Wahn verfallen. Wir sind völlig normal.»

«Außergewöhnlich normal», sagte Stafford Nye. «Das ist das Problem. Da ist noch eine Sache, die ich wissen möchte.»

«Nun?»

«Vielleicht werden Sie es mir nicht sagen. Aber ich muss es wissen. Kann man denn wenigstens ein bisschen Spaß bei dieser ganzen Geschichte haben, die wir da in Angriff nehmen?»

«Aber sicher. Warum denn nicht?»

«Wahn, Wahn, überall Wahn – aber wir werden es sehr genießen. Werden wir ein langes Leben haben, Mary Ann?»

«Wahrscheinlich nicht», erwiderte Renata.

«Das ist die richtige Einstellung. Ich gehe mit Ihnen, meine Gefährtin und meine Führerin. Werden wir als Ergebnis unserer Bemühungen eine bessere Welt bekommen?»

«Ich glaube nicht, aber vielleicht eine liebenswürdigere. Heute ist sie voller Doktrinen, aber ohne Liebenswürdigkeit.»

«Das genügt mir», sagte Stafford Nye. «Auf zu neuen Taten!»

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