3. Buch. Im In- und Ausland

Kapitel 13 Konferenz in Paris

Fünf Männer saßen in einem Raum in Paris zusammen. Dieser Raum hatte schon bedeutende historische Konferenzen gesehen. Ziemlich viele sogar. Diese Konferenz war jedoch in vieler Hinsicht eine Versammlung anderer Art, versprach allerdings nicht weniger historisch zu werden.

Monsieur Grosjean hatte den Vorsitz. Er war ein griesgrämiger Mann, der sein Bestes tat, leicht über die Dinge hinwegzugehen. Auf charmante Art und Weise, was ihm in der Vergangenheit schon gute Dienste geleistet hatte. Doch er hatte das Gefühl, dass ihm das heute nicht sehr von Nutzen war. Signor Vitelli war erst eine Stunde zuvor mit dem Flugzeug aus Italien eingetroffen. Seine Bewegungen waren hektisch, sein Verhalten unbeherrscht.

«Das übertrifft alles», sagte er gerade, «das übertrifft alles, was man sich vorstellen kann.»

«Diese Studenten», sagte Monsieur Grosjean, «haben wir nicht alle darunter zu leiden?»

«Hier geht es um mehr als nur um Studenten. Es ist ein Bienenschwarm. Eine große Naturkatastrophe. Größer, als man sich vorstellen kann. Sie marschieren. Sie haben Maschinengewehre. Von irgendwoher haben sie Flugzeuge bekommen. Sie verkünden, sie wollen ganz Norditalien übernehmen. Aber das ist doch Wahnsinn! Das sind doch Kinder – nichts weiter. Aber sie haben Bomben, Sprengstoff. Allein in Mailand sind sie stärker als die Polizeikräfte. Was sollen wir tun? Das Militär? Auch die Armee – sie befindet sich im Aufstand. Sie sagt, sie sei mit les jeunes. Sie sagen, es bestehe keine Hoffnung für die Welt außer in der Anarchie. Sie sprechen von einer Sache, die sie eine ‹Neue Welt› nennen, aber das kann doch einfach nicht sein.»

Monsieur Grosjean seufzte. «Die ist unter den jungen Leuten sehr populär», sagte er, «die Anarchie. Der Glaube an die Anarchie. Das wissen wir noch aus der Algerien-Geschichte. Das wissen wir von all den Problemen, die unser Land und unser Kolonialreich erlitten haben. Und was können wir ausrichten? Das Militär? Am Ende steht es hinter den Studenten.»

«Die Studenten, ach ja, die Studenten», sagte Monsieur Poissonier.

Er war Mitglied der französischen Regierung, ihm war schon allein das Wort ‹Student› ein Gräuel. Wenn es nach ihm ginge, so würde er die Asiatische Grippe oder gar einen Ausbruch der Beulenpest den Aktivitäten der Studenten vorziehen. Eine Welt ohne Studenten! Davon träumte Monsieur Poissonier zuweilen.

Das waren wunderbare Träume. Leider hatte er sie nicht allzu oft.

«Was die Amtsrichter betrifft», sagte Monsieur Grosjean. «Was ist mit unserer Justizbehörde geschehen? Die Polizei – ja, die ist noch loyal, aber die Richterschaft. Sie weigert sich, Strafen zu verhängen über die jungen Männer, die vorgeführt werden. Junge Leute, die Besitz zerstört haben, Regierungsbesitz, Privatbesitz – jede Art von Besitz. Man wüsste gern, warum die Richter das nicht tun wollen. Neulich habe ich Nachforschungen angestellt. Die Präfektur hat mir einige Dinge angedeutet. Der Lebensstandard der Angehörigen der Justizbehörden müsse verbessert werden, besonders in den Provinzen.»

«Aber, aber», sagte Monsieur Poissonier, «seien Sie vorsichtig mit dem, was Sie da sagen.»

«Ma foi, warum denn? Man muss die Dinge beim Namen nennen. Wir haben schon früher Betrügereien erlebt, gigantische Betrügereien. Und auch heute steckt eine Menge Geld hinter der Sache. Kapital, wir wissen nicht, wo es herkommt. Aber die Präfektur hat mich wissen lassen – und ich glaube das –, dass sie langsam verstehen, worauf es hinausläuft. Können wir uns einen korrupten Staat vorstellen, der aus fremden Quellen subventioniert wird?»

«In Italien ist es dasselbe», sagte Signor Vitelli, «in Italien, ach, ich könnte Ihnen da Dinge erzählen. Ja, ich könnte Ihnen berichten, welchen Verdacht wir haben. Aber wer, wer korrumpiert unsere Welt? Eine Gruppe von Industriellen, von Wirtschaftsmagnaten? Wie kann das nur sein.»

«Das muss aufhören», sagte Monsieur Grosjean. «Es müssen endlich Maßnahmen ergriffen werden. Militärische Maßnahmen, mit der Luftwaffe. Diese Anarchisten, diese Aufrührer kommen aus allen Schichten. Man muss das endlich niederschlagen.»

«Kontrollen mit Tränengas haben sich als ziemlich erfolgreich erwiesen», sagte Monsieur Poissonier zweifelnd.

«Tränengas reicht nicht aus. Genauso gut könnte man einen Haufen Studenten hinsetzen und Zwiebeln schälen lassen. Lediglich Tränen würden ihnen aus den Augen rinnen. Man muss härtere Maßnahmen ergreifen.»

Monsieur Poissonier sagte mit schockierter Stimme:

«Sie schlagen doch wohl nicht den Einsatz von Atomwaffen vor?»

«Atomwaffen? Quelle blague! Was sollen wir mit Atomwaffen anfangen? Was würde aus dem Boden, aus der Luft Frankreichs, wenn wir nukleare Waffen einsetzten? Wir können Russland vernichten, das wissen wir. Wir wissen aber auch, dass Russland uns vernichten kann.»

«Sie wollen doch damit nicht andeuten, dass marschierende und demonstrierende Studentengruppen unser System vernichten könnten?»

«Genau das. Man hat mich vor solchen Ereignissen gewarnt. Sie errichten Waffenlager und Depots mit verschiedenen Arten von chemischen Kampfmitteln und anderem. Ich habe Berichte von einigen unserer bedeutendsten Wissenschaftler erhalten. Bestimmte Geheimnisse wurden öffentlich. Vorräte – geheime Vorräte –, Kriegsgerät ist gestohlen worden. Was wird noch geschehen? – Das frage ich Sie. Was wird noch passieren?»

Die Frage beantwortete sich überraschend und schneller, als Monsieur Grosjean geglaubt hatte. Die Tür ging auf, und der erste Sekretär trat mit auffallender Besorgnis auf seinen Vorgesetzten zu. Monsieur Grosjean betrachtete ihn mit Missfallen.

«Habe ich nicht gesagt, ich wünsche keine Unterbrechungen?»

«In der Tat, Monsieur le Président, aber hier geht es um etwas Außergewöhnliches –» Er beugte sich zum Ohr seines Chefs. «Der Marschall ist hier. Er verlangt Einlass.»

«Der Marschall. Sie wollen sagen –»

Der Sekretär nickte zur Bekräftigung mehrmals heftig mit dem Kopf. Monsieur Poissonier sah seine Kollegen verwirrt an.

«Er verlangt, vorgelassen zu werden, und akzeptiert keine Ablehnung.»

Die beiden anderen Männer im Raum blickten zuerst Grosjean, dann den aufgeregten Italiener an. «Wäre es nicht besser», sagte Monsieur Coin, der Innenminister.

Er hielt inne, als die Tür wieder aufgerissen wurde und ein Mann hereinmarschierte. Es war ein wohlbekannter Mann. Ein Mann, dessen Wort Gesetz gewesen war, vormals in Frankreich sogar noch über dem Gesetz gestanden hatte. Ihn gerade jetzt zu sehen, war eine unwillkommene Überraschung für alle Anwesenden.

«Ah, seien Sie willkommen, liebe Kollegen», sagte der Marschall. «Ich komme Ihnen zu Hilfe. Unser Land ist in Gefahr. Es besteht Handlungsbedarf, sofortiger Handlungsbedarf! Ich komme, um mich Ihnen zur Verfügung zu stellen. Ich übernehme die Verantwortung für alle Aktionen in dieser Krise. Es kann gefährlich werden, ich weiß das, aber Ehre geht über Gefahr. Und die Rettung Frankreichs geht über Gefahr. Sie befinden sich auf dem Marsch hierher. Eine riesige Horde von – Studenten, von Kriminellen, die aus dem Gefängnis befreit wurden, einige verbrecherische Mörder. Volksverhetzer. Sie skandieren Namen. Sie singen Lieder. Sie rufen die Namen ihrer Lehrer, ihrer Philosophen, derer, die sie auf diesen Weg des Aufruhrs geschickt haben. Das wird den Untergang Frankreichs bedeuten, wenn nicht etwas getan wird. Sie sitzen hier und reden, bejammern die Zustände. Wir müssen etwas tun. Ich habe zwei Regimenter hierherbeordert. Ich habe Alarmbereitschaft für die Luftwaffe angeordnet, kodierte Sondertelegramme sind an unsere alliierten Nachbarn, an meine Freunde in Deutschland gegangen, denn sie sind jetzt unsere Alliierten in dieser Krise!

Der Aufruhr muss niedergeschlagen werden! Rebellion! Aufstand! Es besteht große Gefahr für die Menschen, für Frauen und Kinder, für den Besitz. Ich muss jetzt wieder fort, um den Aufstand zu verhindern. Ich werde zu den Aufrührern sprechen, als ihr Vater, ihr Anführer. Diese Studenten, sogar diese Kriminellen, sind meine Kinder. Sie sind Frankreichs Jugend. Darüber werde ich zu ihnen sprechen. Sie werden mir zuhören, die Regierung wird umgebildet werden, sie können ihr Studium wieder aufnehmen, nach ihren eigenen Vorstellungen. Ihre Stipendien waren ungenügend, ihr Leben war ohne Schönheit, ohne Führung. Ich werde ihnen all das versprechen. Ich werde in meinem eigenen Namen sprechen und auch in Ihrem Namen, im Namen der Regierung. Sie haben Ihr Bestes getan. Sie haben gehandelt, so gut Sie konnten. Aber es bedarf einer höheren Führerschaft. Meiner Führung. Ich muss jetzt gehen. Ich habe noch eine ganze Liste von geheimen Telegrammen, die verschickt werden müssen. Atomare Abwehrwaffen, die man in unbewohnten Gegenden nutzen kann, können so in modifizierter Form aktiviert werden, damit sie den Mob in Angst und Schrecken versetzen. Wir wissen allerdings, dass sie keine wirkliche Gefahr darstellen. Ich habe alles durchdacht. Mein Plan funktioniert. Kommen Sie, meine loyalen Freunde, kommen Sie mit mir zusammen.»

«Marschall, wir können nicht gestatten – Sie dürfen sich selbst nicht in Gefahr bringen. Wir müssen –»

«Ich werde nicht hören auf das, was Sie sagen. Ich nehme meinen Untergang, mein Schicksal, in Kauf.»

Der Marschall schritt zur Tür.

«Draußen befindet sich mein Stab. Meine ausgewählte Garde. Ich werde jetzt gehen und zu den jungen Rebellen sprechen, dieser Blüte der Schönheit und des Terrors. Ich werde ihnen sagen, was ihre Pflicht ist.»

Er verschwand durch die Tür mit der Geste eines großen Schauspielers, der gerade seine Lieblingsrolle spielt.

«Bon Dieu, er meint es wirklich ernst!», sagte Monsieur Poissonier.

«Er setzt sein Leben aufs Spiel», sagte Signor Vitelli. «Wer weiß? Das ist tapfer, er ist ein tapferer Mann. Es ist wirklich tapfer, aber was wird ihm wohl zustoßen? In der Stimmung, in der sich les jeunes gegenwärtig befinden, könnten sie ihn töten.»

Ein zustimmender Seufzer kam Monsieur Poissonier von den Lippen.

«Es ist möglich», sagte er. «Ja, sie könnten ihn umbringen.»

«Das darf man natürlich nicht wünschen», sagte Monsieur Grosjean vorsichtig.

Doch es war genau das, was Monsieur Grosjean sich wünschte. Er hoffte es, doch sein tiefer Pessimismus sagte ihm, dass selten etwas geschah, was man sich wünschte. In Wirklichkeit hatte er eine viel schrecklichere Vision vor Augen. Es war sehr gut möglich, es lag in der Tradition der Vergangenheit des Marschalls, dass er irgendwie ein Pack aufgeputschter, blutrünstiger Studenten dazu verleiten konnte, auf ihn zu hören, seinen Versprechungen zu glauben und ihn wieder in seine einstige Machtposition zu versetzen. Das war schon ein- oder zweimal in der Laufbahn des Marschalls passiert. Seine persönliche Anziehungskraft war derartig, dass ihr die Politiker gerade dann erlegen waren, als sie es am wenigsten erwartet hatten.

«Wir müssen ihn aufhalten», rief er.

«Ja, ja», sagte Signor Vitelli, «er darf der Welt nicht verloren gehen.»

«Das ist zu befürchten», sagte Monsieur Poissonier. «Er hat zu viele Freunde in Deutschland, zu viele Kontakte, und Sie wissen, dass sie in Deutschland sehr schnell militärische Maßnahmen ergreifen. Die würden sich geradezu auf eine solche Gelegenheit stürzen.»

«Bon Dieu, Bon Dieu», sagte Monsieur Grosjean und wischte sich über die Stirn. «Was sollen wir tun? Was können wir überhaupt tun? Was ist das für ein Krach? Sind das etwa Gewehre?»

«Nein, nein», sagte Monsieur Poissonier beschwichtigend. «Das sind nur die Kaffeetabletts aus der Kantine.»

«Ich wüsste da ein Zitat», sagte Monsieur Grosjean, er liebte Theaterstücke. «Wenn es mir nur einfallen würde. Ein Shakespeare-Zitat. ‹Will keiner mich von diesem –›»

‹«… turbulenten Priester befreien›», ergänzte Monsieur Poissonier. «Aus einem Theaterstück von Beckett. Ein Verrückter wie der Marschall ist viel schlimmer als ein Priester. Zumindest sollte ein Priester harmlos sein, obwohl sogar seine Heiligkeit der Papst erst gestern eine Studentendelegation empfangen hat. Er hat sie sogar gesegnet. Er hat sie seine Kinder genannt.»

«Das ist doch eine christliche Geste», sagte Monsieur Coin entschuldigend.

«Auch christliche Gesten kann man zu weit treiben», erwiderte Monsieur Grosjean.

Kapitel 14 Konferenz in London

Mr. Cedric Lazenby, der Premierminister, saß oben am Tisch im Kabinettsaal in der Downing Street Nr. 10 und betrachtete sein versammeltes Kabinett ohne sichtbares Wohlgefallen. Sein Gesichtsausdruck war äußerst düster, was ihm eine gewisse Befriedigung verschaffte. Mittlerweile gestattete er es sich nur noch in der privaten Atmosphäre seiner Kabinettsitzungen, seinem Gesicht einen unglücklichen Ausdruck zu geben. Nur hier konnte er den Gesichtsausdruck des weisen, zufriedenen Optimisten aufgeben, den er gewöhnlich zur Schau trug und der ihm in den verschiedensten Krisen des politischen Lebens immer so gute Dienste geleistet hatte.

Er sah der Reihe nach erst Gordon Chetwynd an, der die Stirn runzelte, dann Sir Georg Packham, der wie immer offensichtlich besorgt, in Gedanken und unsicher war. Dann blickte er auf die militärische Unerschütterlichkeit von Oberst Munro und auf Luftmarschall Kenwood, einen verschwiegenen Mann, der aus seinem tiefsitzenden Argwohn gegen Politiker keinen Hehl machte. Da war dann auch noch Admiral Blunt, ein großer, beeindruckender Mann, der mit den Fingern auf den Tisch trommelte und darauf wartete, dass seine Zeit gekommen war.

«Es hört sich nicht besonders gut an», sagte der Luftmarschall. «Das muss man zugeben Vier unserer Flugzeuge wurden in der letzten Woche gekidnappt. Sie wurden nach Mailand geflogen. Sie haben die Passagiere rausgejagt und sind dann irgendwohin weitergeflogen. Nach Afrika. Sie hatten dort Piloten, die auf sie warteten. Schwarze.»

«Black Power», sagte Oberst Munro nachdenklich.

«Oder Red Power?», warf Lazenby ein. «Ich habe das Gefühl, dass alle unsere Probleme von russischer Indoktrinierung herrühren. Wenn man nur mit den Russen Kontakt aufnehmen könnte – ich bin überzeugt, ein persönlicher Besuch auf höchster Ebene –»

«Bleiben Sie da, wo Sie sind, Premierminister», sagte Admiral Blunt, «Fangen Sie bloß nicht wieder an, den Russkis in den Hintern zu kriechen. Die wollen sich im Augenblick nur aus diesem Chaos heraushalten. Die hatten nicht so viele Probleme mit den Studenten wie die meisten von uns hier. Sie sind nur damit beschäftigt, ein Auge auf die Chinesen zu haben, um zu sehen, was die als Nächstes im Schilde führen.»

«Ich glaube doch, dass der persönliche Einfluss –»

«Sie bleiben schön hier und kümmern sich um Ihr eigenes Land», sagte Admiral Blunt geradeheraus, wie es seine Art war.

«Sollten wir uns nicht lieber – einen Bericht über die tatsächlichen Ereignisse anhören?» Gordon Chetwynd sah Oberst Munro an.

«Wollen Sie Fakten? Gut. Sie sind alle ziemlich unverdaulich. Ich nehme an, Sie wollen weniger Einzelheiten über die Ereignisse, sondern über die allgemeine Weltlage?», fragte Oberst Munro.

«Ganz recht.»

«Nun, in Frankreich liegt der Marschall noch im Krankenhaus. Er hat zwei Kugeln im Arm. In politischen Kreisen ist die Hölle los. Große Teile des Landes sind von den Truppen der sogenannten Jugend-Macht besetzt.»

«Wollen Sie damit sagen, sie haben Waffen?»

«In großer Zahl», sagte der Oberst. «Ich weiß wirklich nicht, woher sie sich die beschafft haben. Man hat nur so eine Ahnung. Eine große Sendung ist von Schweden nach Westafrika gegangen.»

«Was hat das denn damit zu tun?», fragte Mr. Lazenby. «Wen interessiert das? Lasst die in Westafrika doch so viele Waffen haben, wie sie wollen. Da können sie sich gegenseitig erschießen.»

«Nun, unseren Geheimdienstberichten zufolge ist das alles etwas merkwürdig. Hier ist eine Liste des Kriegsgeräts, das nach Westafrika verschifft wurde. Interessanterweise wurde es zwar dorthin verschifft, dann aber weitergeleitet. Es wurde entgegengenommen, die Lieferung wurde bestätigt, eine Zahlung erfolgte – oder auch nicht, aber es wurde bereits nach weniger als fünf Tagen wieder außer Landes geschafft, auf neuen Wegen, anderswohin.»

«Aber mit welcher Absicht?»

«Wahrscheinlich waren die Waffen von vornherein nicht für Westafrika bestimmt. Sie wurden bezahlt und dann anderswohin versandt. Möglicherweise von Afrika in den Nahen Osten. An den Persischen Golf, nach Griechenland und in die Türkei. Auch nach Ägypten wurde eine Sendung Flugzeuge geschickt. Von Ägypten gingen sie nach Indien und von dort nach Russland.»

«Ich dachte, sie wären aus Russland geschickt worden.»

«Und von Russland gingen sie nach Prag. Die ganze Sache ist ziemlich verrückt.»

«Ich verstehe nicht», sagte Sir George, «ich frage mich –»

«Irgendwo scheint es eine Zentralorganisation zu geben, die diesen Material- und Güterstrom lenkt. Flugzeuge, Waffen, Sprengbomben und Bomben für bakteriologische Kriegführung. All diese Sendungen bewegen sich in völlig unvermutete Richtungen. Sie werden auf unterschiedlichen Überlandwegen zu bestimmten Unruheherden gebracht und von den Anführern und Regimentern – wenn man sie so nennen will: der Jugend-Macht – eingesetzt. Sie gehen meist an die Führer junger Guerillabewegungen, erklärte Anarchisten, die Anarchie propagieren und gleichzeitig die modernsten Waffen, die neuesten Modelle, nutzen – und ich wage zu bezweifeln, dass sie jemals dafür zahlen.»

«Wollen Sie damit sagen, dass wir vor einem Krieg von weltweitem Ausmaß stehen?» Cedric Lazenby war schockiert.

Der Mann mit dem freundlichen asiatischen Gesicht weiter unten am Tisch, der bisher nicht gesprochen hatte, sagte:

«Das muss man jetzt zwangsläufig glauben. Unsere Beobachtungen besagen –» Lazenby unterbrach ihn:

«Sie müssen mit Ihren bloßen Beobachtungen aufhören. Die UNO muss die Waffen selbst in die Hand nehmen und die ganze Sache niederschlagen.»

Das ruhige Gesicht blieb unbeweglich.

«Das würde gegen unsere Prinzipien verstoßen», sagte er.

Oberst Munro erhob die Stimme und fuhr mit seiner Zusammenfassung fort:

«Kämpfe finden in Regionen aller Länder statt. Südostasien hat sich schon seit langem für unabhängig erklärt, es gibt vier oder fünf Machtzentren in Südamerika, Kuba, Peru, Guatemala und so weiter. Die USA, Sie wissen, Washington ist schon fast abgebrannt – der Westen wurde von den Armeen der Jugend-Macht bereits überrannt – in Chicago herrscht Ausnahmezustand. Sie haben von Sam Cortman gehört? Er wurde gestern Abend erschossen, auf den Stufen der hiesigen Amerikanischen Botschaft.»

«Er hätte heute hier sein sollen», sagte Lazenby. «Er hätte uns Bericht erstatten sollen über seine Sicht der gegenwärtigen Lage.»

«Ich bezweifle, ob das hilfreich gewesen wäre», sagte Oberst Munro, «er war ein ganz netter Kerl – aber er strotzte nicht gerade vor Energie.»

«Aber wer steckt nur dahinter?», erhob sich Lazenbys Stimme gereizt.

«Es könnten natürlich die Russen sein», sagte er hoffnungsvoll. Er sah sich wohl immer noch auf dem Flug nach Moskau.

Oberst Munro schüttelte den Kopf. «Das bezweifle ich.»

«Dies ist ein persönlicher Appell», sagte Lazenby. Sein Gesicht erhellte sich hoffnungsvoll. «Eine ganz neue Einflusssphäre. Die Chinesen –»

«Auch nicht die Chinesen», sagte Oberst Munro. «Aber Sie wissen, dass es in Deutschland ein erhebliches Wiederaufleben des Faschismus gibt?»

«Sie glauben doch nicht, dass die Deutschen möglicherweise –»

«Ich glaube nicht, dass sie notwendigerweise dahinterstecken. Aber möglich, ja, ich glaube, möglich wäre das schon. Sie haben es schon einmal getan. Haben die Dinge jahrelang vorbereitet, sie geplant. Alles war bereit, wartete nur auf das Wort LOS. Sie sind gute Strategen, ausgezeichnete Strategen. Ich bewundere sie, da kann ich mir nicht helfen.»

«Aber Deutschland scheint doch so friedlich und wohlregiert.»

«Das ist es auch, bis zu einem gewissen Grad. Aber seien Sie sich dessen bewusst: Südamerika wimmelt geradezu von Deutschen, von jungen Neofaschisten, die haben dort eine große Jugendföderation. Nennen sich die Über-Arier, irgendwas in der Art. Ein bisschen wie das alte Zeugs, wissen Sie, Hakenkreuze und Strammstehen und einer, der das leitet, genannt der Junge Wotan oder Jung-Siegfried oder irgend so was. Eine Menge arischer Unsinn.»

Es klopfte an der Tür und der Sekretär trat ein.

«Professor Eckstein ist hier, Sir.»

«Wir bitten ihn besser herein», sagte Cedric Lazenby. «Immerhin, wenn uns irgendjemand sagen kann, an welchen neuen Waffen wir arbeiten sollen, dann ist er es. Wir haben vielleicht ein As im Ärmel, das den ganzen Unsinn hier bald beenden kann.» Neben seinem Beruf als professioneller Reisender in ferne Länder in seiner Rolle als Friedensstifter besaß Mr. Lazenby einen unendlichen Optimismus, der jedoch leider selten von irgendwelchen Ergebnissen bestätigt wurde.

«Wir könnten eine gute Geheimwaffe brauchen», sagte der Luftmarschall hoffnungsvoll.

Professor Eckstein, den viele für Englands hervorragendsten Wissenschaftler hielten, wirkte auf den ersten Blick äußerst unbedeutend. Er war ein kleiner Mann mit altmodischen Koteletten und einem asthmatischen Husten. Er benahm sich so, als wolle er sich ängstlich schon für seine bloße Existenz entschuldigen. Er machte Geräusche wie «Ah» und «hrrumph» und schüttelte den Anwesenden schüchtern die Hand, als er vorgestellt wurde. Eine ganze Reihe war ihm schon bekannt und diese begrüßte er mit einem nervösen Kopfnicken. Er ließ sich auf dem ihm angebotenen Stuhl nieder und sah sich vage um. Er hob eine Hand zum Mund und begann, an den Nägeln zu kauen.

«Die Leiter aller Dienste sind hier», sagte Sir George Packham. «Wir sind sehr begierig, Ihre Meinung darüber zu hören, was man tun könnte.»

«Ach», sagte Professor Eckstein, «tun? Ja, ja, tun?»

Es herrschte Stille.

«Die Welt bewegt sich mit hoher Geschwindigkeit in die Anarchie», sagte Sir George.

«Es sieht so aus, nicht wahr? Zumindest nach dem, was ich in der Zeitung lese. Nicht, dass ich mich darauf verlasse, wirklich, die Journalisten denken sich alles Mögliche aus! Aber sie machen keine genauen Angaben.»

«Ich höre, Sie haben kürzlich einige sehr wichtige Entdeckungen gemacht, Herr Professor», sagte Cedric Lazenby ermutigend.

«Ach ja, das haben wir, das haben wir.» Professor Eckstein wurde ein wenig heiterer. «Ich habe eine Menge scheußlicher chemischer Kriegswaffen erfunden. Falls wir die jemals benötigen sollten. Bakteriologische Kampfwaffen, biologisches Zeugs, Gas, das über normale Gasleitungen verteilt wird, Luftverschmutzung und Vergiftung der Wasserversorgung. Ja, wenn man wollte, könnten wir, glaube ich, die halbe Bevölkerung Englands innerhalb von drei Tagen töten.» Er rieb sich die Hände. «Wollen Sie das?»

«Nein, nein, sicher nicht. Ach du liebe Zeit, natürlich nicht.» Mr. Lazenby schien entsetzt.

Professor Eckstein sagte: «Sehen Sie, das meine ich. Es ist ja nicht so, dass wir nicht genug tödliche Waffen besäßen… wir haben zu viele. Alles, was wir haben, ist zu mörderisch. Die Schwierigkeit bestünde darin, überhaupt jemand am Leben zu lassen, uns eingeschlossen. Alle Leute an der Spitze, wissen Sie. Nun – uns zum Beispiel.» Er gab ein keuchendes, glückliches kleines Lachen von sich.

«Aber das ist nicht, was wir wollen», sagte Mr. Lazenby nachdrücklich.

«Es ist nicht die Frage, was Sie wollen, sondern, was wir haben. Alles, was wir haben, ist tödlich. Wenn Sie jeden Menschen unter dreißig von der Landkarte fegen möchten, glaube ich, dass Sie das tun könnten. Verstehen Sie wohl, Sie müssten einen großen Teil der Älteren mit einschließen. Es ist schwierig, eine Gruppe von der anderen zu trennen. Persönlich wäre ich gegen eine solche Maßnahme. Wir haben ein paar sehr gute junge Forscher. Stur, aber clever.»

«Was ist nur schiefgegangen auf dieser Welt?», fragte Kenwood plötzlich.

«Das ist der Punkt», sagte Professor Eckstein. «Wir wissen es nicht. Wir wissen das nicht hier bei uns, obwohl wir alles Mögliche wissen. Wir wissen heutzutage ein bisschen über den Mond, eine Menge über Biologie, wir können ein Herz transplantieren, eine Leber; bald vielleicht auch Gehirne, obwohl ich nicht weiß, was dann geschehen würde. Aber wir wissen nicht, wer das hier anrichtet.» Er fuhr fort:

«Irgendjemand ist da jedenfalls am Werk. Es ist eine Art geheime Hochleistungs-Organisation. Oh, ja, manchmal gerät sie auf irgendeine Weise an die Oberfläche. Kriminelle Vereinigungen, Drogenringe und so weiter. Ein mächtiger Verein und hinter den Kulissen befinden sich Leute mit gutem, scharfem Verstand. Es geschieht in vielen Ländern, manchmal auch in Europa. Aber jetzt hat es sich noch weiter ausgebreitet, auf die andere Hälfte der Welt – in die südliche Hemisphäre. Am Ende geht es bis zur Antarktis, nehme ich an.» Seine Diagnose schien Professor Eckstein zu gefallen.

«Das sind offenkundig Menschen mit bösen Absichten», sagte Kenwood.

«Das könnte man so sagen. Böse, um des Bösen willen oder wegen der Macht oder des Geldes. Es ist schwierig, den Zweck des Ganzen, den Kern, zu erfassen. Die armen Handlanger und Gefolgsleute wissen es nicht. Sie wollen Gewalt, weil sie Gewalt lieben. Sie mögen die Welt nicht, mögen unsere materialistische Einstellung nicht. Ihnen gefallen viele der scheußlichen Methoden nicht, mit denen wir unser Geld verdienen. Sie mögen viele unserer Schwindeleien nicht. Sie sehen die Armut nicht gern. Sie wollen eine bessere Welt. Nun, man könnte vielleicht eine bessere Welt schaffen, wenn man lange genug darüber nachdenken würde. Das Problem ist aber, wenn man darauf besteht, dafür den Leuten erst einmal etwas wegzunehmen, muss man ihnen dafür auch etwas geben. Die Natur duldet kein Vakuum – eine alte, aber wahre Aussage. Verdammt – es ist wie eine Herztransplantation. Man entfernt ein Herz, aber man muss dafür ein neues einsetzen. Eines, das funktioniert. Und man muss sich erst einmal das Herz, das man einsetzen will, besorgen, bevor man das schadhafte entfernt, das einer noch in der Brust trägt. Am besten sollte man die meisten dieser Dinge auf sich beruhen lassen, aber ich nehme an, niemand wird auf mich hören. Es ist sowieso nicht mein Thema.»

«Ein Gas?», schlug Oberst Munro vor.

Professor Ecksteins Miene erhellte sich.

«Oh, wir haben jede Art von Gas auf Lager. Einige sind vergleichsweise harmlos. Milde Abschreckungsmittel, könnte man sagen. Die haben wir alle.» Er strahlte wie ein zufriedener Waffenhändler.

«Atomwaffen?», schlug Mr. Lazenby vor.

«Damit kann man nicht herumspielen. Sie möchten doch kein radioaktiv verstrahltes England oder einen radioaktiv verseuchten Kontinent, oder?»

«Also können Sie uns nicht helfen?»

«Nicht, bevor jemand etwas Genaueres über die ganze Sache herausgefunden hat», sagte Professor Eckstein. «Es tut mir wirklich leid. Aber ich muss mit Nachdruck auf die extreme Gefährlichkeit der meisten Dinge, mit denen wir heute arbeiten, hinweisen. Da besteht wirkliche Gefahr.»

Er sah sie ängstlich an, wie ein nervöser Onkel eine Gruppe von Kindern, die man mit der Streichholzschachtel spielen lässt und die mit Leichtigkeit das Haus anstecken könnten.

«Vielen Dank, Professor Eckstein», sagte Mr. Lazenby. Er klang nicht besonders zufrieden.

Der Professor nahm an, dass er damit entlassen sei, lächelte in die Runde und trottete aus dem Raum.

Mr. Lazenby wartete kaum, bis sich die Tür geschlossen hatte, als er seinen Gefühlen schon freien Lauf ließ.

«Sie sind alle gleich, diese Wissenschaftler», sagte er bitter. «Sie sind niemals von praktischem Nutzen. Nie haben sie eine vernünftige Idee. Alles, was sie können, ist, das Atom zu spalten – und dann sagen sie uns, wir sollen nicht damit herumspielen!»

«Es wäre vielleicht auch besser gewesen, wir hätten es nie getan», sagte Admiral Blunt, wieder sehr unverblümt. «Was wir brauchen, muss hausgemacht sein, wie ein Unkrautvernichter für ein bestimmtes Unkraut, der –» Er hielt abrupt inne. «Nun, was zum Teufel –»

«Was, Admiral?», fragte der Premierminister höflich.

«Nichts – das erinnert mich an etwas. Ich kann aber nicht sagen, an was –»

Der Premierminister seufzte.

«Stehen noch weitere Wissenschaftler auf der Matte?», fragte Gordon Chetwynd und sah hoffnungsvoll auf seine Armbanduhr.

«Ich glaube, der alte Pikeaway ist da», sagte Lazenby. «Er hat ein Bild, eine Zeichnung oder eine Landkarte oder irgendwas, was er uns zeigen will.»

«Wovon denn?»

«Ich weiß es nicht. Anscheinend alles nur Seifenblasen», sagte Mr. Lazenby vage.

«Seifenblasen? Warum Seifenblasen?»

«Ich habe keine Ahnung», seufzte er. «Aber wir schauen es uns besser an.»

«Horsham ist auch hier.»

«Vielleicht hat er uns etwas Neues zu berichten», sagte Chetwynd.

Oberst Pikeaway trat ein. Er schleppte ein zusammengerolltes Bündel herein, das mit Horshams Hilfe entrollt und mit einiger Mühe aufgestellt wurde, sodass die Runde am Tisch es betrachten konnte.

«Noch nicht ganz der richtige Maßstab, aber man bekommt in etwa einen Eindruck», sagte Oberst Pikeaway.

«Was ist das, wenn es überhaupt etwas darstellt?»

«Seifenblasen?», murmelte Sir George. Er hatte eine Idee. «Ist das Gas? Ein neues Gas?»

«Am besten halten Sie jetzt Ihren Vortrag, Horsham», sagte Pikeaway. «Sie wissen, um was es geht.»

«Ich weiß nur, was man mir gesagt hat. Es ist ein ungefähres Diagramm einer Vereinigung zur Weltkontrolle.»

«Von wem?»

«Von Gruppierungen, die an den Quellen der Macht sitzen oder sie kontrollieren – das Rohmaterial zur Macht.»

«Und was bedeuten die Buchstaben?»

«Sie stehen für jeweils eine Person oder einen Codenamen einer spezifischen Gruppe. Es sind überlappende Kreise, die mittlerweile die ganze Welt bedecken.

Der Kreis mit dem Buchstaben ‹A› steht für armaments, für Waffen, Kriegsgerät. Irgendjemand oder eine Gruppe kontrolliert die Waffen, alle Waffenarten, Sprengstoff, Kanonen, Gewehre. Auf der ganzen Welt werden Waffen nach genauem Plan produziert, auf sichtbarem Weg in arme Länder versandt, rückständige Länder, Länder, die sich im Krieg befinden. Aber sie bleiben nicht dort, wohin sie verschifft wurden. Sie werden umgehend an andere Bestimmungsorte umgeleitet. In Guerillagebiete auf dem südamerikanischen Kontinent – zu Aufruhr und Kämpfen in den Vereinigten Staaten – in die Depots von Black Power – in verschiedene Länder Europas.


‹D› steht für Drogen – ein Netzwerk von Lieferanten verteilt sie aus verschiedenen Depots und Lagern. Alle Arten von Drogen, von den eher harmlosen Varianten bis zu den wirklichen Killern. Das Hauptquartier befindet sich wahrscheinlich in der Levante, mit Ausgängen über die Türkei, Pakistan, Indien und Zentralasien.»

«Machen sie damit Geld?»

«Enorme Summen. Aber es ist mehr als eine Vereinigung von Drogenhändlern. Es gibt einen Aspekt, der noch finsterer ist. Die Drogen werden benutzt, um sich der Schwächlinge unter den Jugendlichen zu entledigen, man kann sagen, sie zu kompletten Sklaven zu machen. Zu Sklaven, die ohne einen Drogenvorrat nicht existieren können und jeden Job für ihre Arbeitgeber erledigen.»

Kenwood pfiff.

«Das ist eine üble Show, nicht wahr? Haben Sie wirklich keine Ahnung, wer diese Drogendealer sind?»

«Einige kennen wir. Aber es sind nur die kleineren Fische, nicht die wirklichen Kontrolleure. Die Drogenhauptquartiere liegen in Zentralasien und in der Levante, im Vorderen Orient. Von dort werden die Drogen versteckt in Autoreifen ausgeliefert, in Zement, Beton, in jeder Art von Maschinen und Industrieerzeugnissen. Sie werden als normale Handelsware in die ganze Welt geliefert, an ihren jeweiligen Bestimmungsort.

‹F› steht für Finanzen. Geld! Ein Geld-Netzwerk im Zentrum. Sie müssen sich an Mr. Robinson wenden, wenn Sie alles über Geld und Kapital erfahren wollen. Nach einem Memorandum, das hier vorliegt, kommt das Geld vorwiegend aus Amerika. Es gibt auch ein Hauptquartier in Bayern. Eine riesige Reserve liegt in Südafrika, bestehend aus Gold und Diamanten. Das meiste Geld geht nach Südamerika. Eine der Hauptfiguren bei der Kontrolle des Geldes ist eine sehr mächtige und intelligente Frau. Sie ist schon alt und wird wahrscheinlich nicht mehr lange leben. Sie ist aber immer noch stark und aktiv. Ihr Name war Charlotte Krapp. Ihr Vater besaß die riesigen Krapp-Werke in Deutschland. Sie war selbst ein Finanzgenie und handelte an der Wall Street. Sie türmte ein Vermögen aufs andere, mit Investitionen überall auf der Welt. Ihr gehören Transportfirmen, Maschinenwerke, Industriekonzerne, einfach alles. Sie lebt auf einem riesigen Schloss in Bayern – von dort kontrolliert sie die Geldströme, die in verschiedene Teile der Welt fließen.

‹S› steht für «Science», für die Wissenschaften – die neuen Erkenntnisse über chemische und biologische Kampfwaffen – mehrere junge Wissenschaftler sind übergelaufen – eine Kerngruppe existiert in den USA, wie wir glauben. Sie haben sich mit Leib und Seele der Anarchie verschrieben.»

«Ein Kampf für die Anarchie? Das ist ein Widerspruch in sich. Kann es so etwas überhaupt geben?»

«Die Jugend glaubt an die Anarchie. Sie will eine neue Welt, aber zuvor muss man die alte erst zerstören – wie man ein Haus abreißt, bevor man an seiner Stelle ein neues errichten kann. Aber wenn man gar nicht weiß, in welche Richtung man sich bewegt, nicht weiß, auf welchen Weg man gelockt oder sogar vielleicht gestoßen wurde, wie wird dann diese Neue Welt aussehen? Und wo werden die Gläubigen stehen, wenn diese Welt entsteht? Einige werden Sklaven sein, einige verblendet von Hass, andere werden Anhänger von Gewalt und Sadismus sein, die gepredigt und praktiziert werden. Manche – und Gott helfe ihnen – werden immer noch idealistisch sein, immer noch gläubig, wie die Menschen in Frankreich zur Zeit der Französischen Revolution, als man glaubte, die Revolution brächte Wohlstand, Frieden, Glück und Zufriedenheit für die Menschheit.»

«Und was tun wir gegen all das? Was setzen wir dem entgegen?», fragte Admiral Blunt. Horsham antwortete: «Was wir dagegen tun? Alles, was wir können. Ich versichere allen hier Anwesenden: Wir tun, was wir können. Wir haben Mitarbeiter in allen Ländern.

Wir haben Agenten, Leute, die Nachforschungen anstellen, Informationen sammeln und uns übermitteln –»

«Das ist auch dringend notwendig», sagte Oberst Pikeaway. «Erst einmal müssen wir wissen, wer ist wer, wer ist für uns und wer gegen uns. Und dann müssen wir sehen, was man tun kann, wenn das überhaupt möglich ist.»

Horsham fuhr fort: «Unsere Bezeichnung für das Diagramm lautet ‹Der Ring›. Hier ist eine Liste mit allem, was wir über die Bandenführer wissen. Zum Teil wissen wir nur den Namen, unter dem sie bekannt sind – oder wir nehmen nur an, dass sie diejenigen sind, die wir suchen.»

Der Ring

F

Die große Charlotte

Bayer

A

Eric Olafson

Industrieller, Schweden, Waffen

D

angeblich unter dem Namen Demetrios bekannt

Smyrna, Drogen

S

Dr. Sarolensky

Colorado, USA. Physiker/Chemiker – nur ein Verdacht

J

eine Frau.

Hat den Codenamen Juanita.

Ist angeblich gefährlich.

Wirklicher Name unbekannt.

Kapitel 15 Tante Matilda fährt zur Kur

I

«Vielleicht eine Art Badekur?», wagte sich Tante Matilda vor.

«Eine Kur?», fragte Dr. Donaldson. Für einen Augenblick sah er etwas verunsichert aus, verlor die Aura medizinischer Allwissenheit. Das ist einer der Nachteile, überlegte Lady Matilda, wenn man einen jüngeren Hausarzt hat und nicht einen von der alten Sorte, an den man schon seit Jahren gewöhnt war.

«So haben wir das früher genannt», erklärte Lady Matilda. «In meinen jungen Jahren ging man zur Kur, verstehen Sie? Nach Marienbad, Karlsbad, Baden-Baden und so weiter. Gerade neulich habe ich von einem dieser neuen Kurorte in der Zeitung gelesen. Ganz neu und modern. Alles soll nach völlig neuen Prinzipien aufgezogen sein. Nicht, dass ich neuen Ideen gegenüber so aufgeschlossen wäre, aber ich hätte zumindest keine Angst davor. Es wäre wahrscheinlich sowieso nur wieder dasselbe. Wasser, das nach faulen Eiern schmeckt, die neueste Diät, und morgens, zu ungemütlicher Zeit, Spaziergänge, um das Wasser zu trinken oder wie immer das heute heißt. Ich glaube, man bekommt auch Massagen verschrieben. Früher waren es Meeresalgen oder Seegras. Aber dieser Ort liegt irgendwo in den Bergen. In Bayern oder Österreich oder irgendwo da. Deshalb glaube ich nicht, dass es Seegras ist. Hängendes Moos oder vielleicht auch Zottelmoos – das klingt wie ein Hund. Und vielleicht gibt es auch ein sehr angenehmes Mineralwasser, außer dem schwefligen Eierwasser. Es soll dort wunderbare Gebäude geben, habe ich gehört. Das Einzige, was einen heute beunruhigen könnte, ist die Tatsache, dass in den modernen Gebäuden nirgendwo Treppengeländer angebracht sind. Ganze Treppenfluchten und nichts, woran man sich festhalten kann.»

«Ich glaube, ich weiß, welchen Ort Sie meinen», sagte Dr. Donaldson. «Er wird gerade sehr angepriesen in der Presse.»

«Nun, Sie wissen, wie man ist in meinem Alter», sagte Lady Matilda. «Man probiert gern etwas Neues aus. Einfach nur, um sich zu amüsieren. Man hat nicht wirklich das Gefühl, dass es der Gesundheit dient. Sie halten es aber trotzdem nicht für eine schlechte Idee, oder, Dr. Donaldson?»

Dr. Donaldson sah sie an. Er war gar nicht so jung, wie Lady Matilda vermutete. Er ging gerade auf die vierzig zu. Er war ein taktvoller und freundlicher Mensch, bereit, seinen älteren Patienten ihren Willen zu lassen, soweit es in Ordnung war. Solange keine Gefahr bestand, dass sie etwas unternahmen, das ihnen schadete.

«Ich bin sicher, dass es Ihnen guttun würde», sagte er. «Die Reise ist natürlich ein bisschen anstrengend, obwohl man heute ja mit dem Flugzeug schnell und leicht überallhin gelangt.»

«Schnell, ja. Leicht, nein», erwiderte Lady Matilda. «Mit all den Rampen und Rolltreppen, dem Ein- und Aussteigen in Busse und aus Bussen, vom Flugplatz zur Maschine, in die Maschine zu einem anderen Flugplatz und von dort wieder in einen Bus. All das, verstehen Sie. Aber ich glaube, man kann mittlerweile sogar Rollstühle auf dem Flughafen bekommen.»

«Aber sicher doch. Eine ausgezeichnete Idee. Wenn Sie versprechen, das auch zu tun, und nicht glauben, Sie könnten überall zu Fuß hingehen –»

«Ich weiß, ich weiß», unterbrach ihn seine Patientin. «Sie verstehen schon. Sie sind wirklich ein verständnisvoller Mann. Aber man hat doch seinen Stolz, und solange man noch mit einem Stock oder ein wenig Hilfe umherhumpeln kann, möchte man doch wirklich nicht völlig gebrechlich wirken oder bettlägerig. Es wäre leichter, wenn ich ein Mann wäre.» Sie dachte nach. «Ich meine, man könnte ein Bein mit einer enormen Bandage und diesen Polstern umwickeln, dann sähe es aus, als hätte man Gicht. Ich will damit sagen, Gicht ist in Ordnung für das männliche Geschlecht. Keiner nimmt einem das übel. Einige denken dann, da habe jemand wohl etwas zu tief in sein Portweinglas geblickt. Das dachte man früher, obwohl ich nicht glaube, dass das wirklich stimmt. Von Portwein bekommt man keine Gicht. Ja, ein Rollstuhl, und ich könnte nach München fliegen oder irgendwohin da in der Nähe. Man könnte dort einen Wagen bestellen.»

«Sie nehmen Miss Letheran natürlich mit.»

«Amy? Selbstverständlich. Ohne sie kann ich gar nichts unternehmen. Sie denken also nicht, dass es mir schaden würde?»

«Ich denke, es wird Ihnen sogar guttun.»

«Sie sind wirklich ein netter Mensch.»

Lady Matilda bedachte ihn mit einem Augenzwinkern, an das er sich nun schon langsam gewöhnt hatte.

«Sie denken, es wird mir gefallen und mich ein wenig aufheitern, wenn ich an einen neuen Ort reise und neue Gesichter sehe. Und Sie haben natürlich völlig recht. Aber ich möchte mir einbilden, ich fahre zur Kur, auch wenn ich nichts zu kurieren habe. Nicht wirklich, oder? Außer meinem Alter. Leider kann man das Alter nicht kurieren, es wird nur schlimmer, nicht wahr?»

«Wichtig ist doch nur, dass es Ihnen Spaß macht. Und das glaube ich schon. Übrigens, wenn Sie etwas zu sehr anstrengt, dann lassen Sie es sein.»

«Auch wenn das Wasser nach faulen Eiern schmeckt, ich werde es trinken. Nicht, weil ich es mag oder weil ich glaube, dass es mir guttut. Aber es gibt einem so ein Gefühl von Kasteiung. So wie bei den alten Frauen in unserem Dorf. Sie wollten immer eine gute, starke Medizin. Schwarz, lila oder dunkelrosa, mit starkem Pfefferminzgeschmack. Sie glaubten, das wirke viel besser als eine nette kleine Pille oder eine Flasche, die nur wie ordinäres Wasser aussieht, ohne jede exotische Färbung.»

«Sie wissen zu viel vom Wesen der Menschen», sagte Dr. Donaldson.

«Sie sind sehr nett zu mir», erwiderte Lady Matilda, «ich weiß das zu schätzen. Amy!»

«Ja, Lady Matilda?»

«Hol mir einen Atlas, sei so gut. Ich habe Bayern und die Länder, die darum herum liegen, aus dem Gedächtnis verloren.»

«Also, ein Atlas. Ich glaube, es ist einer in der Bibliothek. Dort müssen ein paar alte Atlanten herumliegen, etwa aus den Zwanzigerjahren.»

«Haben wir nicht einen etwas jüngeren Datums?»

«Ein Atlas?», überlegte Amy scharf.

«Wenn nicht, dann kauf einen und bring ihn morgen früh mit. Es wird sehr schwierig sein, weil sich alle Namen geändert haben. Es sind heute andere Länder, und ich werde nicht wissen, wo ich gerade bin. Aber du musst mir dabei helfen. Bring eine starke Lupe mit, ja. Ich erinnere mich, dass ich neulich eine zum Lesen im Bett hatte, sie ist vielleicht zwischen Bett und Wand gefallen.»

Es dauerte eine Weile, bis ihre Anforderungen erfüllt wurden, aber am Ende wurden die Lupe und ein älterer Atlas zum Vergleichen herbeigeschafft. Die gute Amy, dachte Lady Matilda, war wieder einmal äußerst hilfreich.

«Ja, hier ist es. Es heißt offenbar immer noch Monbrügge oder so. Es ist entweder in Tirol oder in Bayern. Alles scheint den Ort gewechselt zu haben oder hat nun andere Namen…»

II

Lady Matilda sah sich in ihrem Schlafzimmer im Gasthaus um. Es war gut ausgestattet, schließlich war es sehr teuer. Es verband Komfort mit einem Anstrich von Kargheit, der den Gast vielleicht dazu bewegen sollte, sich mit einer Reihe von asketischen Übungen, Diäten und eventuell schmerzhaften Massagekursen anzufreunden. Die Einrichtung was interessant, dachte sie. Sie genügte allen Ansprüchen. Ein großer gerahmter Aushang in gotischer Schrift prangte an der Wand. Lady Matildas Deutsch war nicht mehr so gut wie in ihren Mädchentagen, aber die Schrift befasste sich mit der goldenen und begeisternden Idee der Wiederkehr zur Jugend. Danach hielt nicht nur die Jugend die Zukunft in ihren Händen, sondern auch die Alten wurden auf ansprechende Weise in dem Gefühl bestärkt, dass auch sie eine zweite goldene Blüte erleben könnten.

Da standen behutsame Hinweise, wie man dieser Lehre auf einem der vielen Lebenswege, die verschiedene Arten von Menschen anzogen, folgen könne (immer unter der Annahme, sie hätten auch genug Geld, um es zu bezahlen). Neben dem Bett lag eine Gideon-Bibel, wie sie Lady Matilda immer neben ihrem Bett vorgefunden hatte, wenn sie in die Vereinigten Staaten gereist war. Sie schlug sie auf einer beliebigen Seite auf und legte den Finger auf einen bestimmten Vers. Sie las ihn, nickte zufrieden mit dem Kopf und machte sich eine kurze Notiz auf einem Block, der auf dem Nachttisch lag. Sie hatte das schon oft im Laufe ihres Leben getan – es war ihre Art, sich schnell einer göttlichen Führung zu versichern.

Ich war jung und bin alt geworden, doch nie sah ich einen Gerechten verlassen.

Sie stellte weitere Erkundungen im Zimmer an. Gleich zur Hand, aber nicht allzu auffällig, lag ein Gotha-Almanach bereit, bescheiden auf einem unteren Regal des Nachttischs. Dies war ein unentbehrliches Handbuch für alle, die sich mit den oberen Kreisen der feinen Gesellschaft vertraut machen wollten. Es reichte Jahrhunderte zurück und wurde immer noch beachtet und geprüft von denen, die aristokratischer Herkunft waren oder sich dafür interessierten. Das passt gut, dachte sie, da kann ich mich ein wenig einlesen.

Neben dem Schreibtisch, an dem antiken Porzellanofen, standen Bücher mit Schriften und Grundsätzen der neuen Weltpropheten, die sich gerade oder vor nicht allzu langer Zeit als Rufer in der Wüste hervorgetan hatten. Sie standen bereit, um von jungen Anhängern mit langen Haaren, fremdartiger Kleidung und aufrechtem Herzen studiert und akzeptiert zu werden. Marcuse, Guevara, Lévi-Strauss, Fanon.

Für ein eventuelles Gespräch mit einem von der Goldenen Jugend war es wohl besser, sich auch hier etwas einzulesen.

In diesem Augenblick ertönte ein zaghaftes Klopfen an der Tür. Sie öffnete sich leicht und das Gesicht der treuen Amy sah hinein. Amy, dachte Lady Matilda plötzlich, würde in zehn Jahren aussehen wie ein Schaf. Ein nettes, getreues, freundliches Schaf. Im Augenblick, dachte Lady Matilda erfreut, sah sie noch wie ein sehr nettes, rundliches Lämmchen aus, mit hübschen Locken, nachdenklichen, freundlichen Augen und der Fähigkeit, freundlich «baa, baa» zu sagen statt zu blöken.

«Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen.»

«Ja. Meine Liebe, das habe ich. Sehr gut sogar. Hast du das Ding?»

Amy wusste immer, was sie meinte. Sie reichte es ihrer Arbeitgeberin.

«Ah, mein Diätplan. So.» Lady Matilda überflog ihn und sagte dann: «Unglaublich scheußlich! Was ist das für ein Wasser, das man da trinken soll?»

«Es schmeckt nicht gerade gut.»

«Nein, das glaube ich. Komm in einer halben Stunde wieder. Ich habe einen Brief für die Post.»

Sie schob ihr Frühstückstablett zur Seite und ging zum Schreibtisch hinüber. Sie dachte einen Augenblick nach und schrieb dann ihren Brief. «Das sollte das Richtige sein», murmelte sie.

«Entschuldigen Sie, Lady Matilda, haben Sie gerade etwas gesagt?»

«Ich habe an die alte Freundin geschrieben, von der ich dir neulich erzählt habe.»

«Die Freundin, die Sie seit fünfzig oder sechzig Jahre nicht mehr gesehen haben?»

Lady Matilda nickte.

«Ich hoffe sehr –», sagte Amy entschuldigend. «Ich meine – ich – es ist schon so lange her. Ich hoffe sehr, dass sie sich an Sie und alles Weitere noch erinnern kann.»

«Aber bestimmt», sagte Lady Matilda. «Die Menschen, die man nie vergisst, sind die, die man im Alter von etwa zehn bis zwanzig Jahren gekannt hat. Die bleiben einem immer im Gedächtnis. Man erinnert sich an ihre Hüte und wie sie lachten, an ihre Fehler und ihre guten Eigenschaften, an alles über sie. Leute, die ich vor vielleicht zwanzig Jahren getroffen habe, an die kann ich mich überhaupt nicht erinnern. Nicht, wenn sie erwähnt werden, nicht einmal, wenn ich sie vor mir sehe. Oh ja, sie wird sich an mich erinnern. Und an Lausanne. Bring bitte den Brief zur Post. Ich muss noch meine Hausaufgaben machen.» Sie nahm den Gotha und legte sich wieder ins Bett, wo sie eingehend die Dinge studierte, die ihr von Nutzen sein würden. Familienbeziehungen und andere Verwandtschaftsbeziehungen, die vorteilhaft waren. Wer wen geheiratet hatte, wer wo gewohnt hatte, welche Unglücksfälle anderen zugestoßen waren. Nicht dass die Frau, die sie im Sinn hatte, selbst im Gotha zu finden gewesen wäre. Aber sie lebte hier in diesem Teil der Welt, hatte sich mit Absicht hier niedergelassen, um auf einem Schloss zu wohnen, das ursprünglich alten Adelsgeschlechtern gehört hatte. Sie hatte den örtlichen Respekt und die Verehrung vor allem von Leuten gehobener, erstklassiger Herkunft aufgesogen. Die Frau selbst konnte keinerlei Anspruch auf eine erstklassige Herkunft erheben, das war Lady Matilda wohlbekannt. Sie musste sich mit Geld begnügen. Ströme von Geld, unglaubliche Mengen. Lady Matilda Cleckheaton bezweifelte nicht, dass sie selbst, als Tochter eines achten Herzogs, zu irgendeiner Gelegenheit geladen werden würde. Vielleicht zu Kaffee und wunderbarer Cremetorte.

III

Lady Matilda betrat einen der großen Empfangsräume im Schloss. Es lag etwa 20 Kilometer entfernt. Sie hatte sich mit Sorgfalt angekleidet, allerdings etwas zum Missfallen von Amy. Die gute Amy gab selten einen Rat, aber sie war so bestrebt, dass ihre Herrin überall gut ankam, dass sie sich diesmal entschlossen hatte, einen leichten Einwand zu erheben. «Glauben Sie nicht, dass Ihr rotes Kleid etwas zu abgetragen ist, wenn Sie verstehen, was ich meine? Ich meine, direkt unter der Achsel, und, nun, da sind ein oder zwei sehr glänzende Stellen –»

«Ich weiß, meine Liebe, ich weiß. Es ist ein sehr schäbiges Kleid, aber immer noch ein Patou-Modell. Es ist alt, aber es war seinerzeit sehr teuer. Ich möchte nicht reich oder extravagant erscheinen. Ich bin das verarmte Mitglied einer aristokratischen Familie. Jeder unter 50, das ist mir bewusst, würde auf mich herabsehen. Aber meine Gastgeberin hat seit längerer Zeit in einem Teil der Welt gelebt, wo die Neureichen gewillt sind, auf ihre Einladung zu warten, während die Gastgeberin selber bereit ist, auf eine schäbige alte Frau untadeliger Herkunft zu warten. Familientraditionen gibt man nicht so leicht auf. Man hält daran fest, auch wenn man in eine andere Gegend zieht. Übrigens, in meinem Koffer findest du eine Federboa.»

«Werden Sie eine Federboa tragen?»

«Ja, eine aus Straußenfedern.»

«Oh je, die muss aber schon sehr alt sein.»

«Das ist sie, aber ich habe sie sorgfältig gepflegt. Du wirst sehen, Charlotte wird es als das erkennen, was es ist. Sie wird denken, dass eine Angehörige einer der besten Familien Englands gezwungen ist, ihre alten Kleider aufzutragen, die sie jahrelang sorgfältig aufgehoben hat. Ich werde auch meinen Sealmantel tragen. Der ist auch ein wenig abgeschabt, war aber seinerzeit ein herrliches Stück.»

So gekleidet, machte sie sich auf den Weg. Amy begleitete sie als wohlgekleidete und zurückhaltend elegante Betreuerin.

Matilda Cleckheaton war vorbereitet auf das, was sie erwartete. Ein Wal, wie Stafford ihr berichtet hatte, ein sich wälzender Wal, eine abscheuliche alte Frau saß in einem Raum, umgeben von Gemälden von unschätzbarem Wert. Sie erhob sich mit Mühe von einem thronartigen Sessel, wie für die Bühne eines großen Fürstenpalastes aus jeder beliebigen Epoche vom Mittelalter an.

«Matilda!»

«Charlotte!»

«Ach! Nach all den Jahren. Wie seltsam das ist!»

Sie tauschten Worte der Begrüßung und Freude aus, sprachen halb deutsch, halb englisch. Lady Matildas Deutsch war etwas fehlerhaft. Charlotte sprach ausgezeichnet deutsch, auch ausgezeichnet englisch, aber mit einem stark gutturalen, manchmal auch amerikanischen Akzent. Sie war wirklich von herausragender Hässlichkeit, dachte Lady Matilda. Einen Augenblick lang verspürte sie fast eine Zuneigung, die aus der Vergangenheit kam. Obwohl – überlegte sie im nächsten Augenblick, Charlotte war ein furchtbar unleidliches Mädchen gewesen. Niemand hatte sie wirklich gemocht, und sie selbst hatte sie auch nicht leiden können. Aber es gab kein stärkeres Band als Erinnerungen an die vergangene Schulzeit. Da konnte man sagen, was man wollte. Ob Charlotte sie gemocht hatte, das wusste sie nicht. Aber sie erinnerte sich, Charlotte hatte sich – wie man damals sagte – bei ihr angebiedert. Sie hatte vielleicht die Vorstellung, auf ein Herzogschloss in England eingeladen zu werden. Lady Matildas Vater, obwohl untadeliger Abstammung, war einer der englischen Herzöge gewesen, die sich in größter Geldnot befanden. Seine Liegenschaften waren nur durch die reiche Frau zusammengehalten worden, die er geheiratet hatte. Er hatte sie stets mit größter Ritterlichkeit behandelt, doch sie hatte es genossen, ihn zu tyrannisieren, wann immer sie konnte. Lady Matilda hatte das Glück, seine Tochter aus zweiter Ehe zu sein. Ihre eigene Mutter war äußerst liebenswürdig und zudem eine sehr erfolgreiche Schauspielerin, die es viel besser verstand, wie eine Herzogin aufzutreten, als die echten Herzoginnen.

Sie tauschten Erinnerungen an die alten Tage aus. Die Quälereien, mit denen sie ihre Lehrer geplagt hatten, die glücklichen und unglücklichen Ehen, die einige ihrer Schulkameradinnen eingegangen waren. Matilda erwähnte einige dieser Verbindungen und Familien, die sie dem Gotha entnommen hatte – «Aber das muss ja eine furchtbare Ehe für Elsa gewesen sein. Eine Bourbon-Parma, oder? Ja, ja, man weiß ja, wo das hinführt. Sehr bedauerlich.»

Kaffee wurde serviert, köstlicher Kaffee, Teller mit Blätterteiggebäck und leckeren Cremetörtchen.

«Ich sollte nichts anrühren», rief Lady Matilda, «wirklich nicht! Mein Arzt ist sehr streng. Er hat mir gesagt, ich müsse mich während meines Aufenthalts strikt an den Kurplan halten. Aber heute ist ein Feiertag, oder nicht? Wir feiern die Wiederauferstehung unserer Jugend. – Übrigens – da gibt es etwas, was mich sehr interessiert. Mein Urgroßneffe, der dich vor einiger Zeit besucht hat – ich weiß nicht mehr, wer ihn mitgebracht hat, Gräfin – es fängt mit Z an, ich kann mich an ihren Namen nicht erinnern.»

«Gräfin Renata Zerkowski – »

«Ach ja, das war ihr Name. Eine sehr charmante junge Dame, glaube ich. Sie hat ihn hergebracht, um dich zu besuchen. Das war sehr freundlich von dir. Er war stark beeindruckt. Auch sehr beeindruckt von deinem wundervollen Besitz. Deiner Lebensart, besonders aber von den großartigen Dingen, die er über dich gehört hat. Dass du eine ganze Bewegung unterstützt von – ach, ich weiß nicht, wie der Begriff lautet. Ganze Jugendwelten. Eine goldene, schöne Jugend. Sie scharen sich um dich. Sie beten dich an. Was für ein wunderbares Leben du führen musst. Nicht, dass ich so ein Leben führen könnte. Ich muss sehr zurückgezogen leben. Ich habe rheumatische Arthritis. Und finanzielle Schwierigkeiten. Schwierigkeiten, den Familienbesitz zu erhalten. Nun, du weißt, was das für uns in England bedeutet – unsere Steuerprobleme.»

«Ich erinnere mich an deinen Neffen. Ein reizender junger Mensch, sehr angenehm. Er ist im diplomatischen Dienst, nicht wahr?»

«Ja, aber es ist – nun, ich glaube, seine Talente werden nicht zur Genüge gewürdigt. Er beschwert sich nicht, aber er fühlt sich – nun, er fühlt sich nicht in dem Maße anerkannt, wie es sein sollte. Die Mächte, die heute am Ruder sind, wie sind die schon?»

«Kanaille, gewöhnliche Leute!», sagte die Große Charlotte.

«Intellektuelle ohne Stil. Vor fünfzig Jahren wäre das anders gewesen», sagte Lady Matilda. «Aber heutzutage kommt seine Beförderung nicht richtig voran. Ich sage dir, im Vertrauen natürlich, dass man ihm sogar misstraut. Sie verdächtigen ihn, er neige zu – wie soll ich sagen? – aufrührerischen, revolutionären Tendenzen. Man muss sich nur einmal vorstellen, wie vielversprechend die Zukunft für einen Mann sein könnte, der fortschrittlichere Ideen hat.»

«Glaubst du, er ist nicht einverstanden – wie sagt man in England – mit dem sogenannten Establishment?»

«Still, so darf man nicht reden. Jedenfalls ich nicht», sagte Lady Matilda.

«Das interessiert mich», fuhr Charlotte fort.

Matilda Cleckheaton seufzte.

«Schreib es der Zuneigung einer alten Verwandten zu, wenn du willst. Staffy war immer mein Liebling. Er hat Witz und Charme. Ich glaube, er hat auch eigene Vorstellungen. Er blickt in die Zukunft, eine Zukunft, die sich erheblich von dem unterscheidet, was wir im Augenblick haben. Unser Land ist leider politisch in einem sehr schlechten Zustand. Stafford ist offenbar sehr beeindruckt von den Dingen, die du ihm gesagt oder gezeigt hast. Du hast so viel für die Musik getan, höre ich. Was wir brauchen, ist meiner Ansicht nach das Ideal der Superrasse.»

«Es könnte und müsste eine Superrasse geben. Adolf Hitler hatte die richtige Idee», sagte Charlotte. «Er selbst war ein nichtssagender Mann, hatte aber künstlerische Züge. Und zweifellos besaß er die Kraft, die Fähigkeit, ein Führer zu sein.»

«Oh ja. Führerschaft. Das ist es, was wir brauchen.»

Charlotte sagte: «Ihr habt im letzten Krieg die falschen Alliierten gehabt, meine Liebe. Wenn England und Deutschland Seite an Seite gegangen wären, zwei arische Nationen mit den gleichen Idealen, wenn sie dieselben Vorstellungen von Jugend und Stärke vertreten hätten, kannst du ermessen, wo unsere beiden Länder heute stehen würden? Vielleicht ist das sogar noch zu eng gesehen. Auf eine Weise haben der Kommunismus und die anderen uns eine Lektion erteilt. Arbeiter aller Länder, vereinigt euch? Das heißt, die Messlatte zu tief zu hängen. Arbeiter sind nur das Material. Es muss heißen: ‹Anführer aller Länder, vereinigt euch!› Junge Menschen mit der Gabe der Führungskraft, mit gutem Blut. Wir müssen mit ihnen beginnen, nicht mit Männern mittleren Alters mit eingefahrenen Ansichten, die sich wiederholen wie eine Grammofonplatte mit einem Sprung. Wie müssen uns unter den Studenten umsehen, den jungen, beherzten Männern mit großen Ideen, die bereit sind, auf die Straße zu gehen, bereit, getötet zu werden, aber auch selbst zu töten. Ohne Bedenken zu töten – weil ohne Aggression, ohne Gewalt, ohne Angriffslust der Sieg nicht errungen werden kann. Ich muss Dir etwas zeigen –»

Mit einiger Anstrengung gelang es ihr, auf die Beine zu kommen. Lady Matilda stand ebenfalls auf, betont mühevoller, als nötig gewesen wäre.

«Es war im Mai 1940», sagte Charlotte, «als die Hitlerjugend in ihr zweites Stadium eintrat. Als Himmler von Hitler eine Order erhielt. Die Order der berühmten SS. Sie wurde für die Vernichtung der Ostvölker, der Slawen, der vorbestimmten Sklaven der Welt erstellt. Sie sollte Raum schaffen für die deutsche Herrenrasse. Das Ausführungsorgan der SS entstand.»

Ihr Stimme senkte sich etwas. Sie war jetzt von fast religiöser Ehrfurcht.

Lady Matilda hätte sich aus Versehen fast bekreuzigt.

«Der Totenkopforden», sagte die Große Charlotte. Sie ging mühsam und unter Schmerzen den Raum entlang und zeigte auf die Wand, wo im Goldrahmen und einem Schädel darüber die Totenkopforder hing.

«Schau nur. Das ist mein liebster Besitz. Sie hängt hier an meiner Wand. Wenn meine goldene Jungvolkgruppe hierherkommt, salutieren sie hier. Im Schlossarchiv gibt es Bände mit der Chronik des Ordens. Manche sind nur für einen starken Magen verdaulich, aber man muss lernen, diese Dinge zu akzeptieren. Der Tod in den Gaskammern, die Folterkeller – die Nürnberger Prozesse berichten mit Gehässigkeit von diesen Dingen. Aber es war eine grandiose Tradition. Stärke durch Leiden. Sie wurden früh trainiert, die jungen Leute. Sie sollten weder schwanken noch umkehren oder verweichlicht sein. Selbst Lenin erklärt in seiner marxistischen Doktrin ‹Keine Schwäche zeigen!›. Es war eine der ersten Regeln bei der Errichtung des perfekten Staates. Aber wir haben das zu eng gesehen. Wir wollten unseren großen Traum nur für die deutsche Herrenrasse erfüllen. Aber es gibt noch andere Rassen. Auch sie können zur Herrschaft gelangen, durch Leiden und Gewalt und gelenkten Einsatz der Anarchie. Wir müssen alles niederreißen, alle verweichlichten Institutionen, alle erniedrigenden Formen von Religion beseitigen. Es gibt eine Religion der Stärke, die alte Religion der Wikinger. Und wir haben einen Führer, er ist noch jung, gewinnt aber jeden Tag an Stärke und Macht. Was hat ein großer Mann einmal gesagt? ‹Gib mir das Werkzeug und die Tat ist mein.› So ähnlich. Unser Anführer hat das Werkzeug, die Mittel, schon zur Hand. Er wird noch mehr Mittel bekommen. Er wird Flugzeuge, Bomben, chemische Kampfmittel zur Verfügung haben. Er wird die Männer für den Kampf haben, die Transportmittel. Er wird Schiffe haben und Öl. Er wird sozusagen den Geist aus Aladins Wunderlampe haben. Man reibt die Lampe und der Geist erscheint. Es ist alles bereit. Die Produktionsmittel, der Reichtum und unser junger Führer, ein Führer von Geburt und Charakter. Er besitzt all das.»

Sie hustete und keuchte.

«Lass dir helfen.»

Lady Matilda half ihr auf ihren Sitz zurück. Charlotte schnappte etwas nach Luft beim Hinsetzen.

«Es ist traurig, alt zu sein, aber ich halte mich noch lange genug. Lange genug, um noch den Triumph einer Neuen Welt zu erleben, einer neuen Schöpfung. Das ist, was du für deinen Neffen brauchst. Ich werde mich darum kümmern. Macht im eigenen Land, das wünscht er sich doch, oder? Wärest du bereit, den Brückenkopf dort zu unterstützen?»

«Früher hatte ich einigen Einfluss. Aber heute –»

Lady Matilda schüttelte den Kopf. «Das ist alles vorbei.»

«Das kommt wieder, meine Liebe», sagte ihre Freundin. «Es war richtig, zu mir zu kommen. Ich habe einen gewissen Einfluss.»

«Es ist eine große Sache», sagte Lady Matilda. Sie seufzte und murmelte: «Jung-Siegfried.»

IV

«Ich hoffe, Sie haben das Treffen mit Ihrer alten Freundin genossen», sagte Amy, als sie zurück ins Gasthaus fuhren.

«Wenn du nur all den Unsinn gehört hättest, den ich geredet habe, du würdest es nicht glauben», erwiderte Lady Matilda Cleckheaton.

Kapitel 16 Pikeaway spricht

«Die Nachrichten aus Frankreich sind sehr schlecht», sagte Oberst Pikeaway und wischte eine Wolke aus Zigarrenasche von seinem Jackett.

«Ich hörte, wie Winston Churchill das im letzten Krieg sagte. Das war ein Mann, der sich mit klaren und knappen Worten äußern konnte. Das war sehr eindrucksvoll. Nun, das ist lange her, aber ich sage es auch heute. Die Nachrichten aus Frankreich sind sehr schlecht.»

Er hustete, keuchte und bürstete sich noch etwas mehr Asche ab.

«Die Nachrichten aus Italien sind auch sehr schlecht», sagte er. «Aus Russland wären sie wahrscheinlich auch sehr schlecht, nehme ich an, wenn die sie nur herausließen. Dort haben sie auch Probleme. Marschierende Studentenbanden auf der Straße, eingeschlagene Schaufenster, belagerte Botschaften. Die Nachrichten aus Ägypten sind sehr schlecht. Aus Jerusalem, aus Syrien. Das ist alles mehr oder weniger normal, da müssen wir uns nicht besonders aufregen. Die Nachrichten aus Argentinien sind etwas ungewöhnlich, würde ich sagen. Sehr ungewöhnlich. Argentinien, Brasilien und Kuba haben sich zusammengeschlossen. Sie nennen sich die Staatenföderation der Goldenen Jugend oder irgend so etwas. Sie haben auch eine Armee. Gut ausgebildet und gedrillt, bewaffnet, kommandiert. Sie haben Flugzeuge, Bomben, sie haben weiß Gott was. Die meisten scheinen genau zu wissen, was sie damit anfangen sollen, das macht es noch schlimmer. Dann ist da noch die singende Menge. Pop-Songs, alte regionale Volkslieder und alte Schlachtgesänge. Sie marschieren dahin wie die Heilsarmee – das meine ich nicht blasphemisch –, ich beschwere mich nicht über die Heilsarmee. Die hat immer tolle Arbeit geleistet. Und die Mädels sind so niedlich mit ihren Schutenhüten!»

Er fuhr fort:

«Ich höre, dass etwas in der Art auch in den zivilisierten Ländern im Gange ist, angefangen bei uns. Manche kann man ja wohl noch zivilisiert nennen, oder? Einer unserer Politiker hat neulich gesagt, wir seien eine großartige Nation, hauptsächlich, weil wir freizügig sind. Wir hätten Demonstrationen, Dinge würden zerschlagen, wir würden alle verprügeln, wenn wir nichts Besseres zu tun hätten, wir würden unseren Übermut durch Gewaltanwendung loswerden und unsere Sittenreinheit, indem wir uns nahezu aller Kleidungsstücke entledigten. Ich weiß nicht, was er sich dabei gedacht hat – Politiker wissen das meist selbst nicht –, aber sie können es immer als richtig darstellen. Dafür sind sie Politiker.»

Er machte eine Pause und sah den Mann an, mit dem er sprach.

«Besorgniserregend – sehr besorgniserregend», sagte Sir George Packham. «Man kann es kaum glauben –man muss sich Sorgen machen – sind das alle Ihre Neuigkeiten?», fragte er enttäuscht.

«Reicht das etwa nicht? Sie sind schwer zufriedenzustellen. Weltweite Anarchie ist im Anzug – das ist es doch. Noch ein bisschen wacklig – noch nicht voll etabliert, aber sehr nahe dran – wirklich sehr nah.»

«Aber man kann doch sicherlich Maßnahmen gegen all das ergreifen?»

«Nicht so leicht, wie Sie denken. Tränengas hält den Aufruhr für eine Weile in Schach und gibt der Polizei eine Atempause. Und sicherlich haben wir eine Menge biologische Kampfmittel und Atombomben und so weiter aus unserer Trickkiste – was denken Sie denn, was passiert, wenn wir anfangen, die anzuwenden? Ein Massensterben unter all den demonstrierenden Jungs und Mädels, den Hausfrauenzirkeln, den alten Pensionären zu Hause und einem Gutteil unserer hochtrabenden Politiker. Während die uns erzählen, dass wir es noch nie so gut gehabt hätten wie heute. Und Sie und ich noch obendrein – ha, ha!»

«Überhaupt», fügte Oberst Pikeaway noch hinzu, «wenn Sie nur auf Neuigkeiten aus sind, ich glaube, es werden heute noch ein paar aufregende Neuigkeiten eingehen, speziell für Sie. Streng geheim aus Deutschland, Herr Heinrich Spiess in Person.»

«Wo um Himmels willen haben Sie das denn her? Es soll streng –»

«Wir wissen alles hier», sagte Oberst Pikeaway, und dann seinen Lieblingssatz: «Dazu sind wir da.»

«Er bringt noch irgendeinen zahmen Doktor mit, glaube ich –»

«Ja, einen Dr. Reichhardt, einen Topwissenschaftler, nehme ich an – »

«Nein. Ein Mediziner – Irrenhäuser –»

«Ach je. Ein Psychologe?»

«Wahrscheinlich. Die Leiter von Irrenhäusern sind meist Psychologen. Wenn wir Glück haben, hat man ihn hierhergebracht, um einige unserer jungen Hitzköpfe zu untersuchen. Sie sind alle vollgestopft mit deutscher Philosophie, Black-Power-Philosophie, der Philosophie verstorbener französischer Schriftsteller und so weiter und so fort. Vielleicht soll er auch die Köpfe einiger unserer großen Leuchten von der Justiz untersuchen, die den Gerichten Vorsitzen und uns warnen, sehr vorsichtig zu sein und das Ego junger Männer nicht zu verletzen, sie müssten ja vielleicht noch ihren Lebensunterhalt verdienen. Wir hätten sehr viel mehr Sicherheit, wenn wir ihnen allen Sozialhilfe zahlten. Davon könnten sie dann leben, zurückgehen in ihre Behausungen, nicht arbeiten und sich an weiterer philosophischer Lektüre erfreuen. Aber ich bin nicht auf der Höhe der Zeit. Ich weiß das. Sie brauchen es mir nicht zu sagen.»

«Man muss die neue Denkweise berücksichtigen», sagte Sir George Packham. «Man fühlt – man hofft – nun, es ist schwer zu sagen –»

«Es muss sehr beunruhigend für Sie sein», sagte Oberst Pikeaway. «Wenn es so schwierig ist, es in Worte zu fassen.»

Sein Telefon klingelte. Er lauschte und reichte es dann an Sir George weiter.

«Ja?», sagte Sir George. «Ja? Oh ja. Einverstanden. Ja. Einverstanden. Ich nehme an – nein – nein – nicht das Innenministerium. Nein. Privat, meinen Sie. Nun, ich nehme an, wir benutzen besser – er –»

Sir George sah sich vorsichtig um.

«Dieser Raum ist nicht verkabelt», sagte Oberst Pikeaway freundlich.

«Codewort Blaue Donau», sagte Sir George Packham mit vernehmlichem, heiseren Geflüster.

«Ja, ja, ich bringe Pikeaway mit. Oh ja, natürlich. Ja, ja. Sagen Sie ihm Bescheid. Ja, Sie sagen, Sie wünschen besonders, dass er kommt. Aber behalten Sie im Auge, dass unser Treffen rein privater Natur ist.»

«Dann können wir meinen Wagen nicht nehmen», sagte Pikeaway. «Er ist zu bekannt.»

«Henry Horsham kommt und holt uns mit seinem Wagen ab.»

«Gut», sagte Oberst Pikeaway. «Das ist ja alles sehr interessant.»

«Denken Sie nicht –»

«Was meinen Sie?»

«Ich meine nur – nun, ich – entschuldigen Sie, wenn ich – dürfte ich eine Kleiderbürste vorschlagen?»

«Ach, das.» Oberst Pikeaway klopfte sich leicht auf die Schulter, eine Wolke von Zigarrenasche flog auf und ließ Sir George nach Luft schnappen.

«Nanny», rief Oberst Pikeaway. Er hieb auf einen Summer, der sich auf dem Schreibtisch befand.

Eine Frau mittleren Alters kam mit einer Kleiderbürste, herbeigerufen mit der Blitzgeschwindigkeit des Geistes aus Aladins Wunderlampe.

«Bitte, halten Sie die Luft an, Sir George», sagte sie. «Das beißt ein wenig.»

Sie hielt ihm die Tür auf und er verzog sich nach draußen, während sie Oberst Pikeaway abbürstete. Er hustete und beschwerte sich:

«Verdammte Landplage, diese Leute. Immer wollen sie, dass man sich herausputzt wie ein Stutzer.»

«So würde ich Ihr Aussehen nicht gerade beschreiben, Oberst Pikeaway. Sie sollten sich langsam daran gewöhnt haben, dass ich Sie abbürste. Und Sie wissen auch, dass der Innenminister Asthma hat.»

«Nun, das ist sein Problem. Er tut eben nicht genug gegen die Luftverschmutzung in London. Kommen Sie, Sir George. Lassen Sie uns hören, was unser deutscher Freund uns zu sagen hat. Es hört sich ziemlich dringend an.»

Kapitel 17 Herr Heinrich Spiess

Herr Heinrich Spiess war besorgt. Er gab sich keine Mühe, dies zu verbergen. Er bestätigte im Gegenteil, dass die Situation, die die fünf anwesenden Männer besprechen wollten, in der Tat sehr ernst war. Gleichzeitig wirkte er sehr beruhigend, sehr beschwichtigend, was sein Hauptvorteil bei der Bewältigung der jüngsten schwierigen politischen Situation in Deutschland war. Er war ein solider Mensch, der seinen gesunden Menschenverstand in jede Versammlung einbrachte, an der er teilnahm. Er machte nicht den Eindruck eines brillanten Mannes, allein das war schon beruhigend. Brillante Politiker waren für zwei Drittel der nationalen Krisensituationen verantwortlich, und das in mehr als einem Land. Das andere Drittel wurde von den Politikern verursacht, die, obwohl legal von demokratischen Regierungen gewählt, doch ihren eklatanten Mangel an Urteilsvermögen, gesundem Menschenverstand und allgemeinen Verstandesqualitäten nicht verbergen konnten.

«Dies ist auf keinen Fall ein offizielles Treffen, verstehen Sie», sagte Spiess.

«Ja, sicher, sicher.»

«Es wurde mir eine Nachricht übermittelt, die ich Ihnen meiner Ansicht nach auf jeden Fall mitteilen sollte. Sie wirft ein interessantes Licht auf gewisse Ereignisse, die uns verwirrt und beängstigt haben. Dies ist Dr. Reichhardt.»

Er wurde ringsum vorgestellt. Dr. Reichhardt war ein großer, gemütlich wirkender Mann mit der Angewohnheit, von Zeit zu Zeit ‹ach ja› zu sagen.

«Dr. Reichhardt leitet eine große Institution in der Nähe von Karlsruhe. Er behandelt dort Geisteskranke. Ich gehe doch richtig in der Annahme, dass Sie dort fünf- bis sechshundert Patienten behandeln, oder?»

«Ach ja», sagte Dr. Reichhardt.

«Ich nehme an, Sie behandeln verschiedene Arten von Geisteskrankheit?»

«Ach ja. Wir haben dort unterschiedliche Geisteserkrankungen, aber ich habe ein besonderes Interesse und behandle fast ausschließlich eine spezielle Art von Geistesgestörtheit.» Er fiel ins Deutsche und Herr Spiess gab eine kurze Übersetzung für den Fall, dass einige seiner englischen Kollegen nicht alles verstanden. Das war sowohl nötig als auch taktvoll. Zwei verstanden es teilweise, einer gar nicht, und die beiden anderen waren offensichtlich verwirrt.

«Dr. Reichhardt hatte», erklärte Herr Spiess, «die größten Erfolge bei seiner Behandlung von Megalomanie, was der Laie wohl Größenwahn nennen würde. Die Überzeugung, dass man jemand anders ist als man selbst. Die Einbildung, man sei viel wichtiger als in Wirklichkeit. Vorstellungen von Verfolgungswahn –»

«Ach nein!», sagte Dr. Reichhardt. «Verfolgungswahn, nein, das behandle ich nicht. In meiner Klinik gibt es keinen Verfolgungswahn. Nicht in der Gruppe, für die ich mich besonders interessiere. Im Gegenteil, sie haben ihre Wahnvorstellungen, weil sie glücklich sein wollen. Und sie sind glücklich, und ich kann sie glücklich halten. Wenn ich sie aber heile, sehen Sie, dann werden sie nicht mehr glücklich sein. Also muss ich eine Behandlung finden, die sie in die Normalität zurückführt und doch glücklich bleiben lässt. Wir nennen diesen speziellen Geisteszustand –»

Er murmelte einen langen und sehr deutsch klingenden Ausdruck mit mindestens acht Silben.

«Für unsere englischen Freunde werde ich weiterhin den Ausdruck Größenwahn benutzen», fuhr Herr Spiess schnell fort, «obwohl ich weiß, dass das nicht der Terminus ist, den Sie heute verwenden, Dr. Reichhardt. Also, Sie haben, wie gesagt, sechshundert Patienten in Ihrer Klinik.»

«Zu jener Zeit, auf die ich mich gleich beziehen werde, hatte ich achthundert.»

«Achthundert!»

«Es war interessant – sehr interessant!»

«Sie haben solche Personen – um am Anfang zu beginnen –»

«Wir haben Gott, den Allmächtigen», erklärte Dr. Reichhardt. «Sie verstehen?»

Mr. Lazenby sah leicht entsetzt aus.

«Oh – hm, ja – hm – ja. Sehr interessant. Sicherlich.»

«Es gibt da ein oder zwei junge Männer, natürlich, die glauben, sie seien Jesus Christus. Aber der ist nicht so beliebt wie der Allmächtige. Dann gibt es wieder andere. Zu der Zeit, die ich erwähnen möchte, hatte ich vierundzwanzig Adolf Hitlers. Sie müssen verstehen, das war zu Lebzeiten Hitlers. Ja, vier- oder fünfundzwanzig Adolf Hitlers –» er konsultierte ein kleines Notizbuch, das er aus der Tasche gezogen hatte. «Ich habe mir hier einige Notizen gemacht. Fünfzehn Napoleons, er war immer sehr beliebt. Zehn Mussolinis, fünf Reinkarnationen von Julius Cäsar und viele andere Fälle, sehr kurios, sehr interessant. Aber ich will Sie damit im Augenblick nicht ermüden. Da Sie im medizinischen Sinne nicht besonders qualifiziert sind, wäre es für Sie ohnehin nicht von Interesse. Wir kommen jetzt zu dem fraglichen Ereignis.»

Dr. Reichhardt sprach noch einmal, etwas kürzer, und Herr Spiess fuhr fort, zu übersetzen:

«Eines Tages besuchte ihn ein Regierungsvertreter. Hoch angesehen bei der damaligen Regierung – das war zu Kriegszeiten, müssen Sie bedenken. Ich will ihn fürs Erste Martin B. nennen. Sie werden wohl wissen, wen ich meine. Er brachte seinen Vorgesetzten mit. Er brachte tatsächlich – nun, wir wollen kein Geheimnis daraus machen – den Führer selbst mit.»

«Ach ja», sagte Dr. Reichhardt.

«Es war eine große Ehre, dass er zur Besichtigung kam, verstehen Sie», fuhr der Doktor fort. «Er war sehr zuvorkommend, der Führer. Er sagte mir, er habe sehr positive Berichte über meine Erfolge erhalten. Er sagte, es habe kürzlich Probleme gegeben. Bestimmte Fälle in der Armee. Dort habe es mehr als einen Mann gegeben, der dachte, er sei Napoleon. Manche glaubten, sie seien einer von Napoleons Marschällen und verhielten sich auch so, verstehen Sie? Sie gaben militärische Befehle aus und lösten so militärische Probleme aus. Ich hätte ihm gern professionelles Wissen vermittelt, das ihm von Nutzen sein könnte, aber Martin B. der ihn begleitete, sagte, das sei nicht nötig. Unser großer Führer jedoch», sagte Dr. Reichhardt und sah dabei Herrn Spiess mit leichtem Unbehagen an, «wollte mit solchen Details nicht belästigt werden. Er sagte, es sei zweifellos besser, wenn medizinisch qualifizierte Leute mit einiger Erfahrung als Neurologen zu einer Konsultation kommen würden. Was er wünschte, war – ach, nun, er wollte sich etwas umsehen, und ich fand bald heraus, was er wirklich sehen wollte. Es hätte mich kaum überraschen sollen. Oh nein, denn sehen Sie, es war eines der Symptome, die einem auffallen. Die Belastungen im Leben des Führers fingen schon an, ihre Spuren zu hinterlassen.»

«Ich nehme an, zu dieser Zeit begann er schon zu glauben, er sei Gott der Allmächtige selbst», sagte Oberst Pikeaway unerwartet und lachte in sich hinein.

Dr. Reichhardt sah schockiert aus.

«Er bat mich, ihm bestimmte Dinge mitzuteilen. Er sagte, Martin B. habe ihm erzählt, ich hätte tatsächlich eine große Anzahl von Patienten, die glaubten, sie seien Adolf Hitler. Ich erklärte ihm, das sei nicht ungewöhnlich; bei dem Respekt und der Verehrung, die sie für Adolf Hitler empfänden, sei es nur natürlich, dass der große Wunsch, wie er zu sein, sie am Ende dazu brachte, sich gar für ihn zu halten. Ich war etwas besorgt, als ich das erwähnte, aber ich war hocherfreut zu sehen, dass er alle Anzeichen von Zufriedenheit zeigte. Er nahm es, so stellte ich mit Dankbarkeit fest, als Kompliment, diesen leidenschaftlichen Wunsch, genau wie er zu sein. Als Nächstes fragte er, ob er einige der Patienten mit diesen speziellen Symptomen sehen könne. Wir hatten eine kleine Besprechung. Martin B. schien im Zweifel, aber er nahm mich zur Seite und versicherte mir, dass es Hitler ernst damit war. Er selbst war nur bestrebt sicherzustellen, dass Hitler nichts – kurz, dass man Hitler nicht gestatten konnte, ein Risiko einzugehen. Sollten einige dieser sogenannten Hitler-Figuren, die leidenschaftlich an sich selbst glaubten, sich ein bisschen heftig oder gewalttätig zeigen… Ich versicherte ihm, er müsse sich keine Sorgen machen. Ich schlug vor, das ich eine Gruppe der ruhigsten unserer ‹Führer› für ihn zusammenstellen würde. Herr B. versicherte, der Führer sei begierig, sie zu befragen und sich unter sie zu mischen, ohne meine Begleitung. Die Patienten, sagte er, würden sich nicht ungezwungen verhalten, wenn sie dem Chef der Einrichtung begegneten, und wenn keine Gefahr bestehe… ich versicherte ihm wieder, es bestehe keine Gefahr. Ich sagte jedoch, ich würde es vorziehen, wenn Herr B. ihn begleitete. Das war kein Problem. Es wurde arrangiert. Die ‹Führer› wurden aufgefordert, sich in einem Raum zu versammeln, um einen berühmten Besucher zu treffen, der gern mit ihnen Erfahrungen austauschen wollte.

Ach ja. Martin B. und der Führer wurden der Versammlung vorgestellt. Ich zog mich zurück, schloss die Tür und unterhielt mich mit den beiden Adjutanten, die sie begleitet hatten. Der Führer, sagte ich, schien sehr nervös zu sein. Er hatte sicher gerade eine Menge Schwierigkeiten gehabt. Das war, wenn ich das einfügen darf, ganz kurz vor Kriegsende, als sich die Dinge, offen gesagt, sehr zum Schlechten entwickelten. Der Führer selbst, so berichteten sie mir, sei sehr besorgt in letzter Zeit, aber überzeugt, dass er den Krieg zu einem erfolgreichen Ende bringen könne, wenn die Pläne, die er seinem Generalstab laufend vorlegte, prompt akzeptiert und auch durchgeführt würden.»

«Der Führer, nehme ich an», sagte Sir George Packham, «war zu der Zeit – ich will sagen – zweifelsohne war er in einem Zustand, der –»

«Wir müssen diesen Punkt nicht betonen», sagte Herr Spiess. «Er war schon völlig außer sich. Bei mehreren Gelegenheiten musste man ihm die Befehlsgewalt entziehen. Aber das wissen Sie alle gut genug aus den Untersuchungen, die Sie selbst in meinem Land angestellt haben.»

«Man erinnert sich, bei den Nürnberger Prozessen –»

«Ich finde, es besteht keine Notwendigkeit, die Nürnberger Prozesse zu erwähnen», sagte Mr. Lazenby entschieden. «All das liegt weit hinter uns. Wir schauen auf eine große Zukunft im Gemeinsamen Markt mithilfe Ihrer Regierung, mit der Regierung von Monsieur Grosjean und Ihren anderen europäischen Kollegen. Die Vergangenheit ist Vergangenheit.»

«Ganz recht», sagte Herr Spiess, «und es ist die Vergangenheit, von der wir hier sprechen. Martin B. und Hitler verweilten nur kurz in dem Versammlungsraum. Nach sieben Minuten kamen Sie wieder heraus. Herr B. drückte Dr. Reichhardt seine Zufriedenheit über dieses Erlebnis aus. Ihr Wagen warte und er und Hitler müssten sofort weiterfahren zu einer anderen Verabredung. Sie brachen sehr hastig auf.»

Stille herrschte im Raum.

«Und dann?», fragte Oberst Pikeaway. «Ist was passiert? Oder war schon etwas passiert?»

«Das Verhalten eines unserer Hitlerpatienten war ungewöhnlich», sagte Dr. Reichhardt. «Er sah Hitler besonders ähnlich, was ihm immer ein besonderes Selbstvertrauen verliehen hatte. Er bestand jetzt noch nachdrücklicher als früher darauf, dass er der Führer sei, dass er sofort nach Berlin müsse, dass er bei einer Sitzung des Generalstabs präsidieren müsse. Tatsächlich zeigte er keinerlei Anzeichen der leichten Verbesserung mehr, die vorher in seinem Zustand festzustellen waren. Er schien so sehr verändert, dass ich nicht begreifen konnte, wie eine solche Veränderung so schnell hatte eintreten können. Ich war wirklich erleichtert, als seine Verwandten zwei Tage später anriefen, um ihn nach Hause zu holen und ihn dort künftig privat behandeln lassen wollten.»

«Und Sie ließen ihn gehen.»

«Natürlich ließ ich ihn gehen. Sie hatten einen verantwortlichen Arzt dabei, er war ein freiwilliger Patient, war nicht eingewiesen worden, also war es sein Recht. Und so reiste er ab.»

«Ich begreife nicht –», sagte Sir George Packham.

«Herr Spiess hat eine Theorie –»

«Es ist keine Theorie», sagte Spiess. «Was ich Ihnen berichte, ist Tatsache. Die Russen haben es verheimlicht, wir haben es verheimlicht. Zahlreiche Beweisstücke und Beweise sind aufgetaucht. Hitler, unser Führer verblieb mit seinem eigenen Einverständnis in dem Asyl an jenem Tag, und der Mann mit der größten Ähnlichkeit mit Hitler reiste mit Martin B. ab. Es war der Leichnam dieses Patienten, den man später im Bunker fand. Ich will es kurz machen. Wir müssen nicht unnötig ins Detail gehen.»

«Wir müssen alle die Wahrheit erfahren», sagte Lazenby.

«Der echte Führer wurde über eine vorher arrangierte Geheimroute nach Argentinien geschmuggelt und hat dort einige Jahre gelebt. Er hatte dort einen Sohn von einem schönen arischen Mädchen aus guter Familie. Einige sagen, sie war ein englisches Mädchen. Hitlers Geisteszustand verschlechterte sich, und er starb geistig umnachtet, glaubte, noch seine Armeen ins Feld zu führen. Das war der einzig mögliche Plan, wie er aus Deutschland hätte entkommen können. Er akzeptierte das.»

«Und Sie glauben, in all den Jahren ist nichts ans Licht gekommen, nichts wurde bekannt?»

«Es gab Gerüchte, es gibt immer Gerüchte. Erinnern Sie sich, eine der russischen Zarentöchter soll dem Massaker an ihrer Familie entkommen sein.»

«Aber das war –» George Packham hielt inne. «Das war falsch – völlig falsch.»

«Eine Gruppe von Leuten wies es als Fälschung nach. Eine andere Gruppe hat es als wahr bezeichnet, beide hatten sie gekannt. Dass Anastasia wirklich Anastasia war, oder dass Anastasia, Großherzogin von Russland, in Wirklichkeit nur ein Bauernmädchen war. Welche Geschichte ist wahr? Alles Gerüchte. Je länger sie kursieren, desto weniger Leute glauben daran, ausgenommen Romantiker, die glauben das weiter. Es wurde oft gemunkelt, Hitler sei am Leben, nicht umgekommen. Es gibt niemand, der mit Sicherheit sagen kann, dass sie seinen Leichnam untersucht haben. Die Russen haben das behauptet. Sie haben aber keine Beweise vorgelegt.»

«Wollen Sie damit wirklich sagen – Dr. Reichhardt, unterstützen Sie diese außerordentliche These?»

«Ach», sagte Dr. Reichhardt. «Ich habe Ihnen meinen Teil berichtet. Es war sicherlich Martin B. der mich im meinem Sanatorium aufgesucht hat. Es war Martin B. der den Führer mitgebracht hat. Es war Martin B. der ihn als Führer behandelt hat, mit der Ehrerbietung, mit der man zum Führer spricht. Was mich betrifft, ich lebte schon mit einigen Hunderten von Führern in meinem Sanatorium zusammen, mit Napoleons, Julius Cäsars. Sie müssen verstehen, dass die Hitlers bei mir im Sanatorium alle ähnlich aussahen. Sie hätten alle, fast alle, Adolf Hitler sein können. Sie hätten sich nie mit solcher Leidenschaft, solcher Heftigkeit für Adolf Hitler halten können, hätten sie nicht zumindest eine gewisse Ähnlichkeit besessen, ergänzt durch Schminke, Verkleidung, fortwährende Schauspielerei und Verkörperung der Rolle. Ich war Adolf Hitler vorher noch nie begegnet. Man sah Bilder von ihm in der Zeitung, man wusste oberflächlich, wie unser großer Genius aussah, aber man kannte nur die Bilder, die er an die Öffentlichkeit ließ. Also kam er, er war der Führer, Martin B. dem man in diesem Punkt am meisten vertrauen konnte, sagte, er sei der Führer. Nein, ich hatte keinen Zweifel. Ich folgte den Befehlen. Hitler wollte den Raum allein betreten, um eine Auswahl – wie soll ich sagen? – seiner Gipsabgüsse zu treffen. Er ging hinein, er kam wieder heraus. Die Kleidung hätte getauscht werden können, ohnehin nicht sehr unterschiedliche Kleidung. Kam er selbst heraus oder einer der selbst ernannten Hitlers? Von Martin B. schnell hinausbugsiert, während der echte Mann zurückblieb und sich daran erfreuen konnte, seine erwählte Rolle zu spielen; der erkannte, dass er auf diese Weise, und nur auf diese Weise, aus dem Lande entkommen konnte, das kurz vor der Kapitulation stand. Er war schon geistesgestört, mental geschädigt von Wut und Ärger, dass die Befehle an seinen Stab, seine Anweisungen für die unmöglichen Dinge, die sie sagen und tun sollten, nicht wie in alten Zeiten sofort ausgeführt wurden. Er nahm schon wahr, dass ihm das Oberkommando entglitt. Aber er hatte ein oder zwei Getreue, die einen Plan für ihn entwickelt hatten, ihn aus dem Land, aus Europa herauszubringen, an einen Ort, wo er auf einem anderen Kontinent seine Nazianhänger um sich sammeln konnte, die Jungen, die so leidenschaftlich an ihn glaubten. Das Hakenkreuz würde dort wieder aufgerichtet. Er spielte seine Rolle. Er genoss es, ohne Frage. Ja, das passte zu einem Mann, dessen Verstand unzweifelhaft schon angeschlagen war. Er würde den anderen schon zeigen, dass er die Rolle Hitlers spielen konnte, besser als sie. Er lachte manchmal in sich hinein, und meine Ärzte, meine Pflegerinnen sahen gelegentlich nach ihm und bemerkten eine leichte Veränderung. Ein Patient, der vielleicht besonders geistesgestört war. Pah, das war nichts Besonderes. Das gab es immer wieder. Bei den Napoleons, den Julius Cäsars, bei allen von ihnen. Als Laie würde man wohl sagen, manchmal hatten sie eben ihre besonders verrückten Tage. Ich kann es nur so beschreiben. Jetzt ist die Reihe an Herrn Spiess.»

«Unglaublich!», sagte der Innenminister.

«Ja, unglaublich», sagte Herr Spiess geduldig. «Aber unglaubliche Dinge geschehen, wissen Sie? In der Geschichte, im alltäglichen Leben, ganz gleich wie unwahrscheinlich sie sind.»

«Und keiner hatte einen Verdacht, keiner hat es gewusst?»

«Es war sehr gut vorbereitet. Es war gut geplant, gut ausgearbeitet. Die Fluchtroute war bereit, die genauen Einzelheiten waren nicht bekannt, aber man kann sie ganz gut rekonstruieren. Als wir die Sache zurückverfolgten und Ermittlungen anstellten, fanden wir heraus, dass einige der Beteiligten, die eine bestimmte Person mit verschiedenen Verkleidungen und Namen von Ort zu Ort weitergaben, nicht so alt geworden sind, wie man hätte erwarten können.»

«Meine Sie für den Fall, dass sie das Geheimnis verraten oder zu viel geredet hätten?»

«Die SS hat dafür gesorgt. Reiche Entlohnung, Lob, Versprechen hoher zukünftiger Positionen und dann – der Tod ist eine sehr viel einfachere Lösung. Die SS war an den Tod gewöhnt. Sie kannten die verschiedenen Methoden, sie wussten, wie man Leichen entsorgt – oh ja, das kann ich Ihnen bestätigen, diese Geschichte wird schon eine ganze Weile untersucht. Die Erkenntnisse haben wir Schritt für Schritt gewonnen, wir haben Nachforschungen angestellt, Dokumente erworben, und die Wahrheit ist ans Licht gekommen. Adolf Hitler hat Südamerika mit Gewissheit erreicht. Es heißt, dass eine Hochzeit stattfand, dass ein Kind geboren wurde. Das Kind erhielt eine Hakenkreuz-Tätowierung an der Ferse. Schon als Baby tätowiert. Ich habe verlässliche Agenten getroffen, denen ich vertrauen kann. Sie haben diesen tätowierten Fuß in Südamerika gesehen. Dieses Kind wurde dort aufgezogen, sorgfältig bewacht, abgeschirmt, vorbereitet – vorbereitet wie etwa der Dalai-Lama für seine große Bestimmung. Denn das war die Idee hinter der fanatischen Jugend, diese Doktrin war größer als die, von denen sie ausgegangen waren. Das war nicht nur eine Wiedererweckung der Nazis, der neuen deutschen Herrenrasse. Das auch, aber es ging darüber hinaus. Die Jugend vieler anderer Nationen, die Herrenrasse der jungen Männer aller Nationen Europas sollte sich vereinigen, in die Ränge der Anarchie eintreten, die alte Welt zerstören, diese materialistische Welt; eine neue große Horde mörderischer, gewalttätiger Bruderschaften sollte etabliert werden. Die zuerst zerstören und dann zur Macht aufsteigen. Und sie hatten jetzt ihren Anführer gefunden. Ein Führer mit dem echten Blut in den Adern, ein Führer, obwohl er keine große Ähnlichkeit zu seinem toten Vater entwickelte. Ein blonder, hellhäutiger, nordischer Knabe, der sein Aussehen wahrscheinlich seiner Mutter verdankt. Ein goldener Knabe. Ein junger Mann, den die ganze Welt akzeptieren konnte. Deutsche und Österreicher zuerst, denn er ist Jung-Siegfried, die Verkörperung ihres Glaubens, ihrer Musik. So wuchs er als Jung-Siegfried auf, der sie dereinst ins Gelobte Land führen würde. Nicht das Gelobte Land der Juden, die sie verabscheuten, nicht dorthin, wo Mose seine Gefolgsleute geführt hatte. Die Juden waren tot und begraben, getötet oder in den Gaskammern ermordet. Es sollte ihr ureigenes Land sein, erworben durch ihren Heldenmut. Die Länder Europas würden mit den südamerikanischen Ländern verbunden. Dort hatten sie bereits ihren Brückenkopf, ihre Anarchisten, ihre Propheten, ihre Guevaras, Castros, die Guerillas, ihre Anhänger. Eine lange, mühsame Ausbildung in Grausamkeit und Folter, Gewalt und Tod und danach, ein glorreiches Leben. Freiheit! Als Regenten dieses Staates der Neuen Welt. Die erwählten Eroberer.»

«Völliger Unsinn», sagte Mr. Lazenby. «Wenn das alles erst einmal aufgehalten wird – dann bricht die ganze Sache zusammen. Das ist doch alles völlig lächerlich. Was können die denn ausrichten?» Cedric Lazenby klang äußerst gereizt.

Herr Spiess schüttelte sein schweres, weises Haupt.

«Das mögen Sie wohl fragen. Ich gebe Ihnen die Antwort – sie wissen es nicht. Sie wissen gar nicht, wo sie sich hinbewegen. Sie wissen nicht, was ihnen angetan werden wird.»

«Sie meinen, sie sind nicht die wirklichen Anführer?»

«Sie sind die jungen Helden auf dem Marsch, trampeln sich ihren Weg zum Ruhm, über die Stufen der Gewalt, des Leidens und des Hasses. Sie haben jetzt ihre Gefolgschaft nicht nur in Südamerika und Europa. Der Kult ist nach Norden gewandert. In die Vereinigten Staaten, auch dort stehen die jungen Leute auf, sie marschieren, sie folgen Jung-Siegfrieds Fahne. Sie werden in seiner Doktrin unterwiesen, im Töten, in der Lust am Schmerz. Sie lernen die Regeln des Totenkopfordens, Himmlers Regeln. Sie werden trainiert, sehen Sie. Sie werden heimlich indoktriniert. Sie wissen nicht, wofür sie trainiert werden. Aber wir wissen es, wenigstens einige von uns. Und Sie, hier in diesem Land?»

«Vier oder fünf wissen es vielleicht», sagte Oberst Pikeaway.

«In Russland haben sie es erkannt, in Amerika beginnen sie es zu erkennen. Sie wissen, es gibt die Anhänger des jungen Helden, Siegfried, aus der nordischen Legende, und dass einer, der sich Jung-Siegfried nennt, ihr Anführer ist. Dass das die neue Religion ist. Die Religion des herrlichen Junghelden, der goldene Triumph der Jugend. In ihm sind die alten nordischen Götter wiederauferstanden.»

«Aber», sagte Herr Spiess und senkte die Stimme auf eine normale Tonlage, «das ist natürlich nicht die simple prosaische Wahrheit. Mächtige Persönlichkeiten stecken dahinter. Böse Männer mit erstklassigem Verstand. Ein erstklassiger Finanzier, ein großer Industrieller, jemand mit Kontrolle über Minen, Öl, Uranvorkommen, der Wissenschaftler ersten Ranges zur Verfügung hat. Und das sind diejenigen, dies Komitee von Männern, die selbst nicht sehr interessant oder außergewöhnlich wirken, aber dennoch die Kontrolle haben. Sie kontrollieren die Machtressourcen und sie kontrollieren durch gewisse Eigenmittel die jungen Menschen, die töten, und die jungen Leute, die ihre Sklaven sind. Mit der Kontrolle durch Drogen erwerben sie Sklaven. Sklaven in jedem Land, die Schritt für Schritt von weichen Drogen auf harte Drogen übergehen und dann komplett willenlos sind, völlig abhängig von Menschen, die sie nicht einmal kennen, denen sie aber auf geheime Weise mit Leib und Seele gehören. Ihr Bedürfnis nach bestimmten Drogen macht sie zu Sklaven, und im Lauf der Zeit werden diese Sklaven nutzlos, weil sie durch ihre Drogenabhängigkeit nur noch apathisch herumsitzen und süße Träume träumen können. Und so überlässt man sie dem Tod oder hilft ein wenig nach beim Sterben. Sie werden das Königreich nicht erben, an das sie glauben. Abwegige Glaubenslehren werden ihnen vorsätzlich aufgetischt. Die Götter der alten Tage in neuer Verkleidung.»

«Freier Sex spielt wohl auch eine Rolle, nehme ich an?»

«Sex kann sich selbst zerstören. Bei den alten Römern flohen Männer, die sich dem Laster hingaben, vom Sex besessen, bis sie gelangweilt und müde waren, manchmal hinaus in die Wüste und wurden Einsiedler wie Sankt Simeon Stylites, der Säulenheilige. Sex wird sich erschöpfen. Er hat im Augenblick seine Wirkung, aber er kann den Menschen nicht regieren, wie es Drogen tun. Drogen und Sadismus und die Liebe zur Macht und der Hass. Ein Verlangen nach Schmerz, um seiner selbst willen. Das Vergnügen, ihn jemandem zuzufügen. Sie bringen sich selbst die Freude am Bösen bei. Wenn einen die Freuden des Bösen einmal im Griff haben, so kann man nicht mehr zurück.»

Sir George Packham sagte: «Mein lieber Kanzler – ich kann Ihnen wirklich nicht glauben – Ich meine, nun – Ich meine, wenn diese Tendenzen bestehen, so muss man sie mit strengen Maßnahmen unterdrücken. Ich meine, wirklich – man kann doch nicht immer weiter solche Dinge dulden. Man muss einen festen Standpunkt einnehmen – einen festen Standpunkt.»

«Halt den Mund, George.» Mr. Lazenby zog seine Pfeife heraus, sah sie sich an und steckte sie dann wieder in die Tasche. «Ich denke, der beste Plan», seine fixe Idee manifestierte sich wieder, «wäre doch, wenn ich wieder nach Russland flöge. Ich nehme an, dass – nun, dass diese Fakten den Russen bekannt sind.»

«Sie wissen genug», sagte Herr Spiess. «Wie viel sie davon zugeben werden – », er zuckte mit den Schultern, «das ist schwer zu sagen. Es ist nie leicht, die Russen aus der Reserve zu locken. Sie haben ihre eigenen Probleme an der chinesischen Grenze. Sie glauben wohl noch nicht ganz so wie wir an das fortgeschrittene Stadium, das die Bewegung mittlerweile erreicht hat.»

«Ich würde eine Sonderreise arrangieren, unbedingt.»

«Ich an deiner Stelle würde hierbleiben, Cedric.» Lord Altamounts leise Stimme kam aus einer Ecke. Er lehnte sich ermüdet in seinen Stuhl zurück. «Wir brauchen dich hier, Cedric», sagte er. Eine sanfte Bestimmtheit lag in seiner Stimme. «Du stehst an der Spitze unserer Regierung – du musst hierbleiben. Wir haben unsere professionellen Agenten – unsere eigenen Gesandten, die für Auslandsmissionen qualifiziert sind.»

«Agenten?», fragte Sir George Packham zweifelnd. «Was können Agenten in diesem Stadium denn ausrichten? Wir brauchen einen Bericht von – ah, Horsham, da sind Sie ja – ich habe Sie vorher gar nicht bemerkt. Sagen Sie – was haben wir für Agenten? Und was können sie wirklich ausrichten?»

«Wir haben einige sehr gute Agenten», sagte Henry Horsham ruhig. «Agenten liefern Informationen. Herr Spiess hat Ihnen auch Informationen mitgebracht. Informationen, die seine Agenten für ihn besorgt haben. Das Problem ist – war es schon immer – (man muss nur über den letzten Krieg nachlesen), keiner möchte die Informationen, die der Agent bringt, haben, geschweige denn daran glauben.»

«Sicher doch – der Geheimdienst –»

«Keiner will wahrhaben, dass die Agenten intelligent sind, aber das sind sie. Wissen Sie, sie sind exzellent ausgebildet, und ihre Berichte sind in neun von zehn Fällen korrekt. Doch was passiert? Die Herren in den oberen Etagen weigern sich, ihnen zu glauben. Sie gehen sogar noch weiter und weigern sich, etwas aufgrund dessen zu unternehmen.»

«Wirklich – mein lieber Horsham, ich kann nicht –»

Horsham wandte sich dem Deutschen zu.

«Ist das nicht sogar in Ihrem Land geschehen, Sir? Wahrheitsgetreue Berichte sind eingegangen, aber nicht immer wurde danach gehandelt. Die Leute wollen es nicht wissen – wenn die Nachricht unangenehm ist»

«Ich muss Ihnen zustimmen, das kann passieren und passiert – nicht häufig, das kann ich Ihnen versichern – aber ja, manchmal –»

Mr. Lazenby spielte wieder mit seiner Pfeife herum.

«Lassen Sie uns nicht über Informationen streiten. Es ist eine Frage des Handelns – gemäß der Informationen, die wir haben, in Aktion zu treten. Das ist nicht nur eine nationale Krise, sondern eine internationale. Entscheidungen müssen auf höchster Ebene gefällt werden – wir müssen handeln. Munro: Die Polizei muss durch die Armee verstärkt werden – militärische Maßnahmen müssen ergriffen werden. Herr Spiess, Ihr Land war immer eine große Militärnation – Aufstände müssen von den Streitmächten niedergeschlagen werden, bevor sie außer Rand und Band geraten. Sie würden sich dieser Politik doch anschließen, da bin ich sicher –»

«Der Politik schon. Aber diese Aufstände befinden sich bereits ‹außer Rand und Band›, wie Sie es nennen. Sie haben Mittel, Gewehre, Maschinengewehre, Sprengstoff, Granaten, Bomben, chemisches und anderes Gas –»

«Aber mit unseren Atomwaffen – der bloßen Drohung eines Nuklearkrieges – und –»

«Das sind nicht bloß enttäuschte Schuljungs. In dieser Armee der Jugend befinden sich Wissenschaftler – junge Biologen, Chemiker, Physiker. Einen Nuklearkrieg in Europa anzudrohen oder gar zu führen –» Herr Spiess schüttelte den Kopf. «Wir hatten schon einen Versuch, das Trinkwasser in Köln zu vergiften – mit Typhus.»

«Die ganze Lage ist unglaublich –» Cedric Lazenby blickte hoffnungsvoll um sich – «Chetwynd – Munro – Blunt?»

Zu Lazenbys leichter Überraschung war Admiral Blunt der Einzige, der antwortete.

«Ich weiß nicht, wo das hier die Admiralität betrifft – es ist nicht unser Bier. Ich würde dir raten, Cedric, wenn du das Beste für dich selber willst, dann nimm deine Pfeife und einen großen Tabakvorrat und verzieh dich so schnell wie möglich aus der Reichweite irgendeines Atomkrieges, den du vielleicht zu entfesseln gedenkst. Geh und kampiere in der Arktis oder sonst irgendwo, wo die Radioaktivität lange braucht, um dich einzuholen. Professor Eckstein hat uns gewarnt, und der weiß, wovon er redet.»

Kapitel 18 Oberst Pikeaways Nachwort

Das Treffen wurde an diesem Punkt abgebrochen. Es teilte sich in neu definierte Gruppen.

Der deutsche Kanzler verschwand mit dem Premierminister, Sir George Packham, Gordon Chetwynd und Dr. Reichhardt zum Mittagessen in der Downing Street.

Admiral Blunt, Oberst Munro, Oberst Pikeaway und Henry Horsham blieben zurück. So konnten sie ihre Kommentare offener und direkter abgeben, als sie es in Anwesenheit der VIPs gewagt hätten.

Die ersten Bemerkungen waren etwas unzusammenhängend.

«Gott sei Dank haben sie George Packham mitgenommen», sagte Oberst Pikeaway. «All die Sorgen, das Hin und Her, die Fragen und Vermutungen – das macht mich wirklich manchmal ganz fertig.»

«Admiral, Sie hätten mit den anderen gehen sollen», sagte Oberst Munro. «Ich sehe nicht, wie Gordon Chetwynd oder unser George Packham in der Lage wären, unseren Cedric davon abzuhalten, für eine Konsultation auf höchster Ebene mit den Russen, den Chinesen, den Äthiopiern, den Argentiniern oder sonst wem abzuheben, wenn ihn die Laune überkommt.»

«Ich habe andere Eisen im Feuer», sagte der Admiral barsch. «Ich fahre aufs Land, um eine alte Freundin zu besuchen.» Er sah Oberst Pikeaway leicht fragend an.

«War diese Hitlergeschichte wirklich eine Überraschung für Sie, Pikeaway?»

Oberst Pikeaway schüttelte den Kopf.

«Nicht wirklich. Wir kannten alle die Gerüchte, wie unser Adolf in Südamerika auftauchte und dort die Hakenkreuzfahne jahrelang hochgehalten hat. Die Wahrscheinlichkeit war fünfzig zu fünfzig, dass es stimmte. Wer immer der Kerl war, ein Irrer, ein schauspielernder Hochstapler oder das Original, er hat seine Karten bald wieder abgegeben. Da gibt es auch eine unerfreuliche Geschichte, er war nicht gerade ein Gewinn für seine Anhänger.»

«Wer war der Leichnam im Bunker? Das ist immer noch ein Diskussionspunkt. Es hat nie eine definitive Identifizierung gegeben. Die Russen haben schon dafür gesorgt.»

Er stand auf, nickte den anderen zu und ging zur Tür.

Munro sagte nachdenklich: «Ich glaube, Dr. Reichhardt kennt die Wahrheit – obwohl er sich sehr bedeckt gehalten hat.»

«Was ist mit dem Kanzler?», fragte Horsham.

«Er ist ein vernünftiger Mann», brummte der Admiral und wandte den Kopf von der Tür zurück. «Er war gerade dabei, sein Land dahin zu bringen, wo er es hinhaben wollte, als diese Jugend-Geschichte anfing, die ganze zivilisierte Welt durcheinanderzubringen – ein Jammer!» Er sah Oberst Munro listig an.

«Was ist denn mit dem blonden Wunderknaben? Hitlers Sohn? Was wissen Sie über ihn?»

«Kein Grund zur Aufregung», sagte Colonel Pikeaway plötzlich unerwartet.

Der Admiral ließ die Türklinke los, kam zurück und setzte sich wieder hin.

«Das ist alles absoluter Quatsch», sagte Oberst Pikeaway. «Hitler hatte nie einen Sohn.»

«Da kann man nie sicher sein.»

«Wir sind uns sicher – Franz Joseph, Jung-Siegfried, der angebetete Anführer, ist ein ganz gewöhnlicher Betrüger, ein übler Hochstapler. Er ist der Sohn eines argentinischen Zimmermanns und einer gut aussehenden Blondine, einer unbedeutenden deutschen Opernsängerin. Er hat das Aussehen und die Stimme von seiner Mutter geerbt. Er wurde sorgfältig ausgewählt für die Rolle, die er spielen sollte, zur Berühmtheit erzogen. In früher Jugend war er Schauspieler – er wurde am Fuß mit dem Hakenkreuz tätowiert – eine ganze Geschichte voller romantischer Einzelheiten wurde für ihn erfunden. Er wurde wie der auserwählte Dalai-Lama behandelt.»

«Und das können Sie beweisen?»

«Es ist alles vollständig dokumentiert», Oberst Pikeaway grinste. «Eine meiner besten Agentinnen hat die Unterlagen. Beglaubigungen, Fotokopien, unterschriebene Erklärungen, einschließlich einer von der Mutter, medizinische Nachweise für das Datum der Narbe, die Kopie der Original-Geburtsurkunde für Karl Aguileros – und unterzeichnete Beweise seiner Identität mit dem Namen Franz Joseph. Die ganze Trickkiste. Meine Agentin ist gerade noch rechtzeitig damit entkommen. Sie waren hinter ihr her – sie hätten sie sicher erwischt, wenn sie in Frankfurt nicht ein bisschen Glück gehabt hätte.»

«Und wo befinden sich diese Dokumente jetzt?»

«An einem sicheren Ort. Dort warten sie auf den richtigen Augenblick für die spektakuläre Demaskierung eines erstklassigen Hochstaplers –»

«Weiß die Regierung das? – Der Premierminister?»

«Ich sage Politikern niemals alles, was ich weiß nur wenn es sich gar nicht mehr vermeiden lässt oder ich ganz sicher bin, dass sie das Richtige tun werden.»

«Sie sind wirklich ein alter Teufel, Pikeaway», sagte Oberst Munro. «Irgendjemand muss es ja sein», erwiderte Oberst Pikeaway betrübt.

Kapitel 19 Sir Stafford Nye bekommt Besuch

Sir Stafford Nye hatte Gäste. Er kannte sie nicht, bis auf einen, den er zumindest vom Sehen ziemlich gut kannte. Es waren gut aussehende junge Leute, ernsthaft und intelligent, so schienen sie jedenfalls. Ihr Haar war elegant geschnitten und gut frisiert. Ihre Kleidung edel und nicht allzu altmodisch. Als er sie so ansah, konnte Stafford nicht verneinen, dass er ihren Anblick angenehm fand. Gleichzeitig fragte er sich, was sie von ihm wollten. Einer von ihnen, das wusste er, war der Sohn eines Ölmagnaten, ein anderer interessierte sich nach seinem Universitätsabschluss für die Politik. Er hatte einen Onkel, der eine Restaurantkette besaß. Der Dritte war ein junger Mann mit buschigen Augenbrauen und gerunzelter Stirn und von Natur aus offenbar ständig misstrauisch.

«Sehr freundlich von Ihnen, dass Sie uns empfangen, Sir Stafford», sagte der eine, anscheinend der blonde Anführer der drei. Er hatte eine sehr angenehme Stimme. Sein Name war Clifford Bent. «Das hier ist Roderick Ketelly und das ist Jim Brewster. Wir machen uns alle Sorgen um die Zukunft. Darf ich das so sagen?»

«Ich glaube, die Antwort darauf lautet: Tun wir das nicht alle?», erwiderte Stafford Nye.

«Es gefallt uns nicht, wie sich die Dinge entwickeln», sagte Clifford Bent. «Rebellion, Anarchie, all das. Als Philosophie mag das ja akzeptabel sein. Offen gesagt kann man glaube ich sagen, dass wir alle eine solche Phase durchlaufen haben, aber dann kommt man auf der anderen Seite wieder heraus. Wir möchten, dass die Leute eine akademische Ausbildung ohne Unterbrechung durchlaufen können. Wir sind schon für Demonstrationen, aber nicht mit Rowdytum und Gewalt. Wir brauchen vernünftige Demonstrationen. Und was wir, offen gesagt, meiner Ansicht nach brauchen, ist eine neue politische Partei. Jim Brewster hier hat sich eingehend und sehr ernsthaft mit Plänen und Ideen für die Gewerkschaften beschäftigt. Sie haben versucht, ihn niederzuschreien und totzureden, aber er hat weitergemacht, oder, Jim?»

«Die meisten sind wirrköpfige blöde Narren», sagte Jim Brewster.

«Wir fordern eine vernünftige und seriöse Jugendpolitik, eine weniger komplizierte Regierung. Wir möchten eine neue Bildungspolitik erstellen, aber nichts Undurchführbares oder Hochgestochenes. Wenn wir Parlamentssitze gewinnen und schließlich in der Lage wären, eine Regierung zu bilden – und ich sehe nicht ein, warum das nicht der Fall sein könnte –, wollen wir diese Ideen in die Tat umsetzen. Wir repräsentieren genauso die Jugend wie diese Gewalttäter. Wir stehen für Mäßigung, und wir möchten eine vernünftige Regierung haben, mit einer Herabsetzung der Abgeordnetenzahlen. Wir merken uns jetzt schon die Leute vor, die bereits heute politisch tätig sind, ganz gleich welcher politischen Richtung, wenn wir glauben, dass es vernünftige Leute sind. Wir sind hier, um Sie zu fragen, ob Sie sich für unsere Ziele interessieren könnten. Im Augenblick ist alles noch ein wenig unklar, aber wir wissen zumindest schon, wen wir dabeihaben wollen. Ich will sagen: Die von heute wollen wir nicht und auch nicht die, die eventuell dafür eingesetzt würden. Was die dritte Partei betrifft, so scheint sie das Rennen aufgegeben zu haben, obwohl sie zwei oder drei gute Leute haben, die jetzt noch unter ihrem Minderheitenstatus leiden. Ich glaube, die werden sich unserer Denkweise anschließen. Wir möchten Sie gerne für uns gewinnen. Wir brauchen jemand in nicht allzu ferner Zukunft, der den Überblick hat und eine richtige, erfolgreiche Außenpolitik entwickelt. Der Rest der Welt befindet sich im Augenblick in einem noch größeren Chaos als wir. Washington liegt platt am Boden, in Europa gibt es andauernd militärische Konflikte, Demonstrationen, Zerstörung von Flughäfen. Na ja, ich brauche Ihnen nicht die Nachrichten der letzten sechs Monate herunterzubeten. Unser Ziel ist nicht so sehr, die Welt wieder auf die Beine zu stellen, sondern England. Die richtigen Leute zur Verfügung zu haben, die das bewerkstelligen. Wir brauchen junge Menschen, eine Menge junger Menschen, keine Revolutionäre, keine Anarchisten, sondern solche, die ihr Bestes geben, um eine Land erfolgreich und mit Gewinn zu regieren. Und wir brauchen einige der Älteren – ich meine nicht die von sechzig und darüber, ich meine die von vierzig oder fünfzig – und wir sind zu Ihnen gekommen, weil wir – na ja, wie haben von Ihnen gehört. Wir wissen einiges über Sie, und Sie sind der Mann, den wir brauchen.»

«Meinen Sie das ernst?», fragte Sir Stafford.

«Ja, das meinen wir.»

Einer der jungen Leute lachte ein bisschen.

«Ich hoffe, Sie stimmen dem zu.»

«Ich weiß nicht. Sie reden hier sehr offen.»

«Das ist doch Ihr Wohnzimmer.»

«Ja, ja, es ist meine Wohnung und mein Wohnzimmer. Aber was Sie sagen oder möglicherweise noch sagen wollen, ist vielleicht unklug. Sowohl für Sie als auch für mich.»

«Oh, ich sehe, worauf Sie hinauswollen.»

«Sie bieten mir etwas an. Eine Lebensweise, eine neue Karriere, und sie schlagen das Zerreißen bestimmter Bindungen vor. Sie suggerieren eine gewisse Illoyalität.»

«Wir schlagen nicht vor, dass Sie in irgendein fremdes Land desertieren sollen, wenn es das ist, was Sie meinen.»

Stafford sagte: «Nein, nein, das ist keine Einladung nach Russland oder China oder an andere Orte, die gerade erwähnt wurden, aber es ist eine Einladung, die in Verbindung mit gewissen Auslandsinteressen steht.» Er fuhr fort:

«Ich bin erst kürzlich aus dem Ausland zurückgekommen. Es war eine sehr interessante Reise. Ich habe die letzten drei Monate in Südamerika verbracht. Es gibt da etwas, was ich Ihnen gerne mitteilen möchte. Seit ich nach England zurückgekommen bin, habe ich das Gefühl, ich werde verfolgt.»

«Verfolgt? Bilden Sie sich das nicht ein?»

«Nein, ich glaube nicht, dass ich mir das einbilde. Das sind Dinge, auf die zu achten ich im Laufe meines Lebens gelernt habe. Ich bin an einigen ziemlich weit entfernten und – sagen wir – interessanten Orten auf der Welt gewesen. Sie haben mich aus freien Stücken aufgesucht, um mich über einen bestimmten Vorschlag auszuhorchen. Es wäre vielleicht sicherer gewesen, wenn wir uns an einem anderen Ort getroffen hätten.»

Er stand auf, öffnete die Tür zum Badezimmer und drehte den Wasserhahn auf.

«In den alten Filmen, die ich mir früher angesehen habe, ließ man das Wasser laufen, wenn man seine Gespräche unverständlich machen wollte, falls der Raum abgehört wurde. Zweifellos bin ich etwas altmodisch und es gibt heute bessere Methoden, mit diesen Dingen umzugehen. Aber jetzt können wir vielleicht etwas offener sprechen, müssen jedoch immer noch vorsichtig sein. Südamerika», fuhr er fort, «ist ein höchst interessanter Teil der Welt. Die Föderation Südamerikanischer Staaten, die heute aus Kuba, Argentinien, Brasilien und Peru besteht und ein oder zwei anderen Ländern, die noch nicht ganz dabei sind, aber das kommt noch. Ja, sehr interessant.»

«Und was ist Ihre Ansicht über dieses Thema?», fragte der misstrauische Jim Brewster. «Was haben Sie dazu zu sagen?»

«Ich werde weiterhin vorsichtig sein», sagte Sir Stafford. «Sie werden sich mehr auf mich verlassen können, wenn ich nicht so freiheraus rede. Aber ich glaube, das können wir ganz gut machen, wenn ich erst mal das Badewasser abgestellt habe.»

«Dreh es ab, Jim», sagte Cliff Bent.

Jim grinste plötzlich und gehorchte.

Stafford Nye nahm eine Blockflöte aus der Tischschublade.

«Ich kann noch nicht sehr gut spielen», sagte er.

Er nahm sie an die Lippen und begann eine Melodie zu spielen. Jim Brewster kam zurück, mit gerunzelter Stirn.

«Was soll das, wollen Sie hier ein Konzert veranstalten?»

«Halt den Mund», sagte Cliff Bent. «Du Ignorant, du weißt gar nichts über Musik.»

Stafford Nye lächelte.

«Wie ich sehe, teilen Sie meine Freude an Wagners Musik», sagte er. «Ich war auf den Jugendfestspielen dieses Jahr und habe die Konzerte dort sehr genossen.»

Er wiederholte die Melodie.

«Es ist kein Lied, das ich kenne», sagte Jim Brewster. «Es könnte die Internationale sein oder die Rote Flagge oder God Save the King oder der Yankee Doodle oder Star Spangled Banner. Was zum Teufel ist es?»

«Es ist ein Opernmotiv», sagte Ketelly. «Halt die Klappe. Wir wissen alles, was wir wissen wollten.»

«Der Hornruf eines jungen Helden», sagte Stafford Nye.

Er hob den Arm mit einer schnellen Geste, einer Geste aus der Vergangenheit, die ‹Heil Hitler› bedeutete. Er murmelte sehr leise:

«Der neue Siegfried.»

Alle drei erhoben sich.

«Sie haben völlig recht», sagte Clifford Bent. «Ich glaube, wir müssen alle sehr, sehr vorsichtig sein.»

Er schüttelte Stafford die Hand.

«Wir freuen uns, dass Sie mitmachen werden. Was dieses Land für seine Zukunft sicherlich braucht, ist ein erstklassiger Außenminister.»

Sie verließen den Raum. Stafford Nye beobachtete durch die leicht geöffnete Tür, wie sie in den Fahrstuhl stiegen und nach unten fuhren.

Er lächelte kurz, schloss die Tür, sah auf die Uhr an der Wand, setzte sich in einen Sessel und wartete…

Seine Gedanken wanderten zurück zu dem Tag vor einer Woche, als er und Mary Ann sich am Kennedy Airport getrennt hatten. Sie hatten dagestanden, beide hatten nicht gewusst, was sie sagen sollten. Stafford Nye hatte das Schweigen zuerst gebrochen.

«Glauben Sie, wir werden uns jemals Wiedersehen?»

«Gibt es einen Grund, warum wir uns nicht Wiedersehen sollten?»

«Jeden erdenklichen, meine ich.»

Sie sah ihn an und dann schnell wieder weg.

«Diese Abschiede sind nun einmal notwendig. – Es – es gehört zum Job.»

«Die Arbeit. Für Sie geht es immer um die Arbeit, nicht wahr?»

«So muss es sein.»

«Sie sind ein echter Profi. Ich bin nur ein Amateur. Sie sind eine –» Er brach ab. «Was sind Sie eigentlich? Wer sind Sie? Ich weiß es wirklich nicht, oder?»

«Nein.»

Er sah sie an. Er glaubte, eine gewisse Traurigkeit auf ihrem Gesicht zu erkennen, fast wie Schmerz.

«Also muss ich mich fragen… Sie glauben, ich sollte Ihnen vertrauen, nehme ich an?»

«Nein, das nicht. Das ist eines der Dinge, die ich gelernt habe, die das Leben mich gelehrt hat. Man darf niemandem trauen. Vergessen Sie das nie.»

«Das ist also Ihre Welt. Eine Welt des Misstrauens, der Furcht, der Gefahr.»

«Ich möchte am Leben bleiben. Und ich bin noch am Leben.»

«Ich weiß.»

«Und ich möchte, dass Sie auch am Leben bleiben.»

«Ich habe Ihnen vertraut – in Frankfurt…»

«Sie sind ein Risiko eingegangen.»

«Ein Risiko, das sich gelohnt hat. Das wissen Sie so gut wie ich.»

«Sie meinen, weil –?»

«Weil wir zusammen waren. Und jetzt – da wird mein Flug aufgerufen. Soll diese Gemeinsamkeit, die auf einem Flughafen begonnen hat, nun wieder auf einem Flughafen enden? Wo gehen Sie hin? Was tun Sie dort?»

«Ich tue, was ich tun muss. Ich gehe nach Baltimore, nach Washington, nach Texas. Um zu tun, was man mir aufgetragen hat.»

«Und ich? Mir hat man nichts aufgetragen. Ich soll nach London zurückkehren – um dort was zu tun?»

«Zu warten.»

«Warten? Worauf?»

«Darauf, dass man Kontakt mit Ihnen aufnehmen wird.»

«Und was soll ich dann tun?»

Plötzlich lächelte sie ihn an, mit diesem fröhlichen Lächeln, das er so gut kannte.

«Dann verlassen Sie sich auf Ihre Intuition. Sie wissen schon, wie Sie es anstellen müssen, keiner weiß das besser. Sie werden die Leute sogar mögen, die auf Sie zukommen werden. Es werden gut ausgewählte Leute sein. Es ist wichtig, sehr wichtig, dass wir wissen, wer sie sind.»

«Ich muss jetzt gehen. Leben Sie wohl, Mary Ann.»

«Auf Wiedersehen.»

In der Wohnung in London läutete das Telefon und brachte ihn aus seinen Abschiedsträumen aus der Vergangenheit zurück, in einem außerordentlich passenden Moment, dachte Stafford Nye. «Auf Wiedersehen», murmelte er, während er aufstand und hinüberging, um den Hörer abzunehmen, «hoffentlich.»

Eine Stimme ertönte, die asthmatischen Laute waren unverkennbar.

«Stafford Nye?»

Er gab die vereinbarte Antwort: «Kein Rauch ohne Feuer.»

«Mein Arzt sagt, ich solle das Rauchen aufgeben. Armer Kerl», sagte Oberst Pikeaway, «die Hoffnung sollte er gleich aufgeben. Gibt es irgendetwas Neues?»

«Oh ja. Die dreißig Silberlinge, das heißt – sie wurden mir versprochen.»

«Verdammte Schweine!»

«Ja, ja, bleiben Sie ruhig.»

«Und was haben Sie gesagt?»

«Ich habe ihnen ein Lied vorgespielt. Siegfrieds Hornruf-Motiv. Da habe ich den Rat meiner alten Tante befolgt. Das kam sehr gut an.»

«Das klingt ziemlich verrückt.»

«Kennen Sie ein Lied, das ‹Juanita› heißt? Das muss ich auch lernen, falls ich es brauchen sollte.»

«Wissen Sie, wer Juanita ist?»

«Ich glaube, ja.»

«Hm, ich habe zuletzt in Baltimore davon gehört.»

«Was ist mit Ihrem griechischen Mädchen, Daphne Theodofanous? Wo steckt sie wohl gerade?»

«Sie sitzt bestimmt irgendwo in Europa auf einem Flughafen und wartet auf Sie», sagte Oberst Pikeaway.

«Die meisten Flughäfen in Europa scheinen geschlossen zu sein, weil sie in die Luft gejagt wurden oder sonst wie beschädigt sind. Großer Knall, große Entführung, großer Schabernack.

Zum Spiel heraus, Buben und Mädchen, wer mag

Der Mond, der scheint wie am helllichten Tag,

Vergesst euer Brot und vergesst euern Schlaf,

Erschießt eure Freunde hier draußen ganz brav.»

«Der Kinderkreuzzug à la mode. Nicht dass ich viel darüber wüsste. Ich kenne nur den Kreuzzug, an dem Richard Löwenherz teilgenommen hat. Aber in dieser Hinsicht ist die ganze Geschichte wirklich wie der Kinderkreuzzug. Es beginnt mit Idealismus, mit der Vision, die Christenheit werde die Heilige Stadt von den Heiden befreien, und endet mit Tod, Tod und noch mal Tod. Fast alle Kinder sind umgekommen. Oder wurden in die Sklaverei verkauft. Diese Geschichte hier wird genauso enden, wenn wir nicht Mittel und Wege finden, sie daraus zu befreien…»

Kapitel 20 Der Admiral besucht eine alte Freundin

«Ich dachte schon, hier wären bereits alle tot», schnaubte Admiral Blunt.

Seine Bemerkung war nicht an einen Butler gerichtet, den er wohl gern beim Öffnen dieser Tür gesehen hätte, sondern an eine junge Frau, deren Nachnamen er nicht behalten konnte, deren Vorname aber Amy war.

«Ich habe letzte Woche mindestens viermal angerufen. Sie seien im Ausland, hat man mir jedes Mal gesagt.»

«Wir waren auch im Ausland. Wir sind gerade erst zurückgekommen.»

«Matilda sollte nicht in der Welt herumgondeln. Nicht in ihrem Alter. Sie wird noch an Bluthochdruck sterben oder an Herzversagen oder an irgendwas in diesen modernen Flugzeugen. Die sind doch alle voll mit Sprengstoff von den Arabern oder Israelis oder sonst jemand. Nichts ist mehr sicher heutzutage.»

«Der Arzt hat es ihr verschrieben.»

«Na ja, wir alle wissen, wie die Ärzte sind.»

«Und sie ist wirklich bester Laune zurückgekommen.»

«Wo war sie denn?»

«Oh, sie war zur Kur. In Deutschland oder – ich kann mir nicht merken, ob es in Deutschland oder Österreich war. Dieser neue Kurort… Kennen Sie das Goldene Gasthaus?»

«Ich habe davon gehört. Ist wahnsinnig teuer, oder?»

«Nun, es sollen dort auch bemerkenswerte Erfolge erzielt werden.»

«Vielleicht nur eine neue Methode, sich schneller umzubringen», sagte Admiral Blunt. «Wie hat es Ihnen denn gefallen?»

«Nun, nicht besonders. Die Landschaft war sehr schön, aber –»

Von oben ertönte eine gebieterische Stimme.

«Amy. Amy! Was machst du da? Unterhältst dich die ganze Zeit in der Halle? Bring Admiral Blunt nach oben. Ich warte schon auf ihn.»

«Sie Herumtreiberin», sagte Admiral Blunt lachend, nachdem er seine alte Freundin begrüßt hatte. «Sie werden sich so eines Tages noch umbringen. Denken Sie an meine Worte –»

«Nein, das werde ich nicht tun. Es ist heutzutage überhaupt kein Problem zu verreisen.»

«Auf all diesen Flughäfen herumzurennen. Rampen, Treppen, Busse.»

«Kein Problem. Ich hatte einen Rollstuhl.»

«Vor ein oder zwei Jahren, als ich Sie das letzte Mal gesehen habe, wollten Sie von so etwas nichts hören. Sie sagten, sie wären zu stolz zuzugeben, dass sie einen bräuchten.»

«Nun, heute muss ich etwas von meinem Stolz aufgeben, Philip. Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir und erzählen Sie mir, warum Sie mich plötzlich so dringend besuchen wollten. Sie haben mich im letzten Jahr ziemlich vernachlässigt.»

«Nun, es ging mir selber nicht besonders gut. Außerdem war ich mit ein paar Dingen beschäftigt. Sie wissen schon, was für Dinge. Man wird um Rat gefragt, aber keiner hat auch nur die geringste Absicht, darauf zu hören. Sie können die Marine nicht in Ruhe lassen. Sie müssen immer irgendwas damit anstellen, diese verflixte Bande.»

«Sie sehen sehr gut aus», sagte Lady Matilda.

«Sie selbst sehen auch nicht schlecht aus, meine Liebe. Sie haben ein tolles Funkeln in den Augen.»

«Ich höre schlechter, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Sie müssen lauter reden.»

«In Ordnung. Ich werde lauter sprechen.»

«Was möchten Sie, Gin Tonic, Whisky oder Rum?»

«Sie sind offensichtlich bereit, starke Getränke aller Art auszuschenken. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, hätte ich gern einen Gin Tonic.»

Amy stand auf und verließ den Raum.

«Und wenn sie ihn gebracht hat», sagte der Admiral, «dann schicken Sie sie bitte wieder weg. Ich möchte allein mit Ihnen reden. Es ist dringend.»

Als die Getränke serviert waren, winkte Lady Matilda rasch mit der Hand und Amy entschwand mit der Haltung einer Person, die aus freien Stücken geht und nicht nur auf Geheiß ihrer Arbeitgeberin. Sie war eine taktvolle junge Frau.

«Ein nettes Mädchen», sagte der Admiral, «sehr nett.»

«Haben Sie mich deshalb gebeten, sie wegzuschicken und darauf zu achten, dass sie die Tür schließt? Damit sie nicht hören kann, wenn Sie etwas Nettes über sie sagen?»

«Nein, ich wollte Sie um Rat fragen.»

«Worüber denn? Über Ihre Gesundheit oder wo man neues Personal herbekommt oder über Gartenbau?»

«Ich möchte Sie ganz ernsthaft um Rat fragen. Ich hoffe, Sie können sich für mich an etwas erinnern.»

«Mein lieber Philip, wie rührend, dass Sie glauben, ich könnte mich überhaupt noch an etwas erinnern. Mein Gedächtnis wird jedes Jahr schlechter. Ich bin zu der Einsicht gekommen, dass man sich nur an die erinnert, die man seine Jugendfreunde nennt. Sogar an unausstehliche Mädchen, mit denen man zur Schule gegangen ist, erinnert man sich, obwohl man das gar nicht möchte. Ich bin tatsächlich noch einmal dort gewesen.»

«Wo waren Sie? In Ihrer alten Schule?»

«Nein, nein. Ich habe eine alte Schulkameradin besucht, die ich seit dreißig – vierzig – fünfzig, so langer Zeit –»

«Wie war sie denn?»

«Enorm fett und noch unausstehlicher und schrecklicher, als ich sie in Erinnerung hatte.»

«Sie machen eigenartige Dinge, das muss ich schon sagen, Lady Matilda.»

«Nun, dann verraten Sie mir einmal, an was ich mich erinnern soll.»

«Ich wüsste gern, ob Sie sich an einen anderen Freund erinnern, an Robert Shoreham.»

«Robbie Shoreham? Natürlich.»

«Der Wissenschaftler. Ein herausragender Wissenschaftler.»

«Natürlich. Kein Mann, den man je vergisst. Ich frage mich, wie der Ihnen plötzlich in den Sinn kommt.»

«Es gibt ein öffentliches Interesse.»

«Komisch, dass Sie das sagen», befand Lady Matilda. «Neulich habe ich dasselbe gedacht.»

«Was haben Sie gedacht?»

«Dass er gebraucht wird. Oder jemand wie er – wenn es noch so jemanden gibt.»

«Das gibt es nicht. Hören Sie, Matilda. Die Leute reden mit Ihnen. Sie berichten Ihnen alle möglichen Dinge. Ich selbst habe Ihnen schon so manches erzählt.»

«Ich habe mich immer gefragt, wieso, denn Sie können wohl kaum annehmen, dass ich das verstehe oder wiedergeben könnte. Und bei Robbie war das noch mehr der Fall als bei Ihnen.»

«Ich berichte Ihnen doch keine Marinegeheimnisse.»

«Nun. Er hat mir auch keine wissenschaftlichen Geheimnisse mitgeteilt. Ich meine, nur sehr allgemein gesprochen.»

«Aber er hat mit Ihnen darüber gesprochen, nicht wahr?»

«Nun, er erzählte mir manchmal gerne Dinge, die mich in – Erstaunen versetzten.»

«Nun, also. Ich möchte gern wissen, ob er jemals, als er noch richtig sprechen konnte, der arme Teufel, mit Ihnen über das sogenannte Projekt B. gesprochen hat.»

«Projekt B.?», Matilda Cleckheaton dachte nach. «Das hört sich irgendwie bekannt an», sagte sie. «Er hat manchmal über dies oder jenes Projekt, über dies oder das Unternehmen gesprochen. Aber wissen Sie, ich habe nichts davon wirklich verstanden, und das wusste er. Aber er liebte es – wie soll ich es sagen? –, mich in Erstaunen zu versetzen. Mir Dinge zu beschreiben wie ein Zauberer, der drei Kaninchen aus dem Hut zaubert, ohne dass man merkt, wie er das angestellt hat. Projekt B.? Ja, das war vor recht langer Zeit… für eine Weile war er sehr aufgeregt. Ich habe ihn manchmal gefragt: ‹Wie steht es um das Projekt B.?›»

«Ich weiß, ich weiß, Sie sind eine einfühlsame Frau. Sie erinnern sich immer daran, was die Leute gerade tun oder woran sie interessiert sind. Auch wenn sie keine Ahnung davon haben, zeigen Sie immer Interesse. Ich habe Ihnen einmal eine neues Marinegeschütz beschrieben und Sie müssen sich riesig gelangweilt haben. Aber Sie haben so interessiert zugehört, als hätten Sie Ihr Leben lang darauf gewartet, es zu hören.»

«Wollen Sie mir sagen, ich war immer eine einfühlsame Frau und eine gute Zuhörerin, auch wenn ich nicht viel Verstand habe?»

«Nun, ich möchte ein bisschen mehr darüber hören, was Robbie über Projekt B. gesagt hat.»

«Er sagte – es fällt mir sehr schwer, mich daran zu erinnern. Er hat es erwähnt, nachdem er von einem Unternehmen gesprochen hat, das mit der Manipulation am menschlichen Gehirn zu tun hatte. Wissen Sie, bei Leuten, die tief melancholisch waren und an Selbstmord dachten und so gestört und nervenkrank waren, dass sie starke Angstzustände bekamen. Solche Dinge, wie sie in Zusammenhang mit Freud diskutiert werden. Er sagte, die Nebenwirkungen seien grauenhaft. Die Menschen seien zwar glücklich und zufrieden und machten sich keine Gedanken mehr. Sie dachten nicht mehr an Selbstmord, aber sie machten sich insgesamt zu wenig Gedanken und wurden überfahren oder so, weil sie an keinerlei Gefahr dachten und sie nicht einmal wahrnahmen. Ich kann das schlecht ausdrücken, aber Sie verstehen sicher, was ich meine. Jedenfalls, so sagte er, sei das seiner Meinung nach das Problem bei Projekt B.»

«Hat er es noch irgendwie genauer beschrieben?»

«Er sagte, ich hätte ihn auf die Idee gebracht», sagte Lady Matilda überraschend.

«Was? Wollen Sie damit sagen, ein Wissenschaftler – ein hochrangiger Wissenschaftler wie Robbie Shoreham hat Ihnen wirklich gesagt, dass Sie ihn auf eine Idee gebracht haben? Sie haben doch gar keine Ahnung von Naturwissenschaften.»

«Natürlich nicht. Aber ich habe immer versucht, ein bisschen gesunden Menschenverstand in die Köpfe zu bringen. Je klüger sie sind, desto unvernünftiger sind sie. Ich will sagen, die Menschen, auf die es wirklich ankommt, sind doch diejenigen, die etwas Einfaches wie die Perforierung der Briefmarke erfunden haben. Oder wie einer, der Adam hieß oder sonst wie – nein, McAdam in Amerika, der schwarzes Zeugs auf die Straßen geklebt hat, damit die Farmer all ihre Produkte vom Land an die Küste bringen und ein bisschen mehr verdienen konnten. Solche Menschen sind nützlicher als alle hyperintelligenten Wissenschaftler. Wissenschaftler können sich nur Dinge ausdenken, die die Menschen zerstören. So, etwa in diesem Sinne, habe ich mit Robbie gesprochen. Sehr nett natürlich, ein bisschen scherzhaft. Er hatte mir gerade über ein paar wunderbare Errungenschaften der Wissenschaft berichtet, über biologische Kriegsführung und biologische Experimente und was man mit ungeborenen Kindern anstellen kann, wenn man nur früh genug an sie herankommt. Und über einige besonders abscheuliche und unerfreuliche Gase. Und er sagte, wie dumm die Leute seien, gegen Atombomben zu protestieren. Die seien ja noch menschenfreundlich, verglichen mit einigen anderen Sachen, die seitdem erfunden wurden. Und so sagte ich, es wäre doch viel besser, wenn Robbie oder jemand, der genauso klug wie Robbie sei, sich mal irgendetwas Vernünftiges ausdenken könnte. Da sah er mich an mit diesem kleinen Zwinkern in den Augen und fragte: ‹Was würdest du denn für vernünftig halten?› Und ich sagte: ‹Nun, anstatt all diese Biowaffen und diese scheußlichen Gase zu erfinden, warum erfindest du nicht etwas, was die Leute glücklich macht?› Ich sagte, das könne doch nicht schwieriger sein. Ich sagte: ‹Du hast über diese Versuche gesprochen, wo sie, glaube ich, vorne etwas aus dem Hirn herausgenommen haben oder auch hinten. Jedenfalls hat es die Gemütslage der Menschen völlig verändert. Sie wurden plötzlich ganz anders. Sie hatten keine Ängste mehr und wollten auch keinen Selbstmord mehr begehen. Aber›, so sagte ich, ‹wenn man Menschen so verändern kann, indem man ihnen nur ein Stückchen Knochen, Muskeln oder Nerv entfernt oder an einer Drüse herumoperiert oder sie entfernt oder etwas hinzufügt›, sagte ich, ‹wenn man so große Wirkungen auf die Bewusstseinslage der Menschen erzielen kann, warum kannst du dann nicht etwas erfinden, das die Leute umgänglicher und freundlicher macht oder vielleicht nur etwas müde? So etwas, wo sie sich nur in einen Sessel setzen und einen schönen Traum träumen. Vierundzwanzig Stunden lang und nur aufwachen, um ab und zu gefüttert zu werden.› Ich sagte, das sei doch eine viel bessere Idee.»

«Und das war das Projekt B.?»

«Nun, er hat mir nie genau erzählt, was es war. Aber er war besessen von seiner Idee und er sagte, ich hätte ihn darauf gebracht. Und so musste ich ihn auf etwas Erfreuliches gebracht haben, nicht wahr? Ich habe ihm keine Ideen für noch schrecklichere Tötungsarten gegeben. Und ich wollte nicht, dass Menschen zum Weinen gebracht werden – etwa durch Tränengas oder Ähnliches. Dann sollten sie besser lachen – ja, ich glaube, ich erwähnte Lachgas. Ich sagte, wenn man sich die Zähne ziehen lässt, dann bekommt man drei Atemzüge und man lacht. Sicherlich könne man doch etwas ähnlich Nützliches erfinden, das nur ein wenig länger anhält. Lachgas hält, glaube ich, nur etwas fünfzig Sekunden an, nicht wahr? Ich erinnere mich, wie sich mein Bruder einmal Zähne ziehen ließ. Der Zahnarztstuhl stand dicht am Fenster und mein Bruder lachte so sehr, als er bewusstlos war, dass er sein rechtes Bein ausstreckte und es durch das Fenster der Zahnarztpraxis stieß. Das ganze Glas fiel auf die Straße und der Zahnarzt war sehr verärgert.»

«Ihre Geschichten geraten immer auf so eigenartige Nebenwege», sagte der Admiral. «Jedenfalls hatte sich das Robbie Shoreham auf Ihren Rat hin als Gegenstand seiner Untersuchungen ausgesucht.»

«Nun, ich weiß nicht genau, was es war. Ich weiß nicht, ob es ums Schlafen oder ums Lachen ging. Aber es war etwas in der Art. Es war nicht wirklich Projekt B. Es hatte einen anderen Namen.»

«Was für einen Namen?»

«Ich glaube, er hat den Namen, den er dem Projekt gegeben hat, ein- oder zweimal erwähnt. Es klang wie ‹Benger’s Food›», sagte Lady Matilda nachdenklich.

«Etwas zur Magenberuhigung?»

«Ich glaube nicht, dass es etwas mit der Verdauung zu tun hatte. Ich glaube eher, es war etwas zum Schnüffeln oder so, vielleicht auch eine Drüse. Wissen Sie, wie haben über so viele Dinge geredet, dass ich nie genau wusste, wovon er im Augenblick gerade sprach. Benger’s Food. Ben – Ben – es fing mit Ben an und etwas Angenehmes hing damit zusammen.»

«Ist das alles, woran Sie sich erinnern können?»

«Ich glaube, ja. Ich will damit sagen, es war nur so ein Gespräch, das wir einmal geführt haben. Und dann hat er mir viel später erzählt, dass ich ihm die Idee für das Projekt Ben Soundso geliefert hätte. Und später habe ich ihn manchmal, wenn es mir gerade in den Sinn kam, gefragt, ob er noch an dem Projekt Ben arbeitete. Doch dann war er manchmal ganz entnervt und sagte, nein, er sei da auf ein Hindernis gestoßen und er würde es abbrechen. Es sei in-, in-, die nächsten acht Wörter waren reiner Wissenschaftsjargon und ich kann mich nicht daran erinnern. Sie würden sie auch nicht verstehen, wenn ich sie Ihnen sagen würde. Doch am Ende, glaube ich – du liebe Zeit, das ist jetzt acht oder neun Jahre her –, am Ende kam er schließlich an und fragte: ‹Erinnerst du dich an Projekt Ben?› Ich sagte: ‹Natürlich erinnere ich mich daran. Arbeitest du immer noch daran?› Und er sagte, nein, er habe sich entschieden, die ganze Sache abzubrechen. Ich sagte, das täte mir leid, dass er es aufgegeben hätte. Und er sagte. ‹Es liegt nicht daran, dass ich nicht die Ergebnisse erziele, die ich mir wünsche. Ich bin sicher, dass man die erzielen könnte. Ich weiß, wo ich Fehler gemacht habe. Ich weiß genau, was das Hindernis war. Und ich weiß, wie ich es beheben kann. Ich habe Lisa, die mit mir zusammen weiter daran arbeitet. Ja, es könnte funktionieren. Man müsste noch bestimmte Experimente durchführen, aber es könnte funktionieren.› ‹Nun›, sagte ich zu ihm: ‹Worüber machst du dir dann Sorgen?› Er sagte: ‹Darüber, dass ich nicht genau übersehe, was es den Menschen wirklich zufügen kann.› Ich fragte, ob er befürchtete, dass es die Menschen töten könne oder für ihr ganzes Leben verstümmeln oder Ähnliches. ‹Nein›, sagte er, ‹das ist es nicht.› Er sagte, es sei – ach ja, jetzt erinnere ich mich. Er nannte es Projekt Benvo. Ja. Und deshalb hatte es mit Benevolenz, mit Güte, zu tun.»

«Benevolenz!», rief der Admiral höchst erstaunt. «Benevolenz? Meinen Sie Wohltätigkeit?»

«Nein, nein. Ich glaube, er meinte nur, dass man die Menschen gütig, gutartig macht. Dass sie sich gütig fühlen.»

«Friede und Wohlergehen allen Menschen?»

«Nun, so hat er es nicht gerade ausgedrückt.»

«Nein, das ist religiösen Führern vorbehalten. Das predigen sie uns, und wenn man täte, was sie predigen, dann gäbe es wohl eine glückliche Welt. Aber Robbie, nehme ich an, hat nicht gepredigt. Er wollte etwas in seinem Laboratorium tun, um dieses Ergebnis mit rein wissenschaftlichen Mitteln zu erzielen.»

«Ja, so etwas. Und er sagte, man könne nie wissen, wann ein Mittel den Menschen bekommt und wann nicht. Einerseits tun sie gut, andererseits nicht. Und er sprach über – Penicillin und Sulfonamide und Herztransplantationen und Pillen für Frauen, obwohl es damals ‹die Pille› noch nicht gab. Aber über Dinge, die in Ordnung zu sein scheinen und Wunderdrogen sind oder Wunder-Gase oder Wunder-Irgendwas. Und dann haben diese Mittel plötzlich Nebenwirkungen, und man wünscht, es gäbe sie nicht und man hätte sie nie erfunden. Etwas in dieser Art versuchte er mir wohl verständlich zu machen. Es war alles sehr schwer zu verstehen. Ich fragte: ‹Meinst du, du willst das Risiko nicht eingehen?› Und er sagte: ‹Du hast völlig recht. Ich möchte das Risiko nicht eingehen. Das ist das Problem, denn ich weiß überhaupt nicht, wie hoch das Risiko sein wird. So etwas passiert uns armen Teufeln von Wissenschaftlern. Wir gehen das Risiko ein, doch das liegt nicht in den Dingen, die wir entdeckt haben, sondern darin, was die Leute, für die wir unsere Erfindungen machen, damit anstellen.› Ich sagte: ‹Du sprichst jetzt wieder von Nuklearwaffen und Atombomben.› Aber er antwortete: ‹Ach, zum Teufel mit Nuklearwaffen und Atombomben. Darüber sind wir schon weit hinaus.›

‹Aber wenn du doch die Leute friedlich und wohlwollend machen willst›, sagte ich, ‹worüber musst du dich dann aufregen?› Und er antwortete: ‹Das verstehst du nicht, Matilda, das wirst du niemals verstehen. Meine Wissenschaftlerkollegen würden es vielleicht auch nicht verstehen. Und die Politiker. Und deshalb, siehst du, ist das Risiko zu groß. Zumindest müsste man es sich gut überlegen.›

‹Aber›, sagte ich, ‹man könnte die Menschen doch aus diesem Zustand wieder herausholen, wie bei Lachgas, oder? Man könnte die Menschen nur für kurze Zeit friedlich und wohlwollend machen, und dann könnten sie wieder normal sein – oder nicht normal, je nachdem, wie man es betrachtet.› Er antwortete: ‹Nein. Siehst du, das ist auf Dauer. Denn es wirkt dauerhaft auf –› Und dann benutzte er wieder diese Fachausdrücke, lange Wörter und Zahlen, wissen Sie. Formeln oder molekulare Veränderungen – etwas in der Art. Ich glaube, es muss etwas sein, was sie auch mit Kretins anstellen. Sie heilen sie, indem sie ihnen etwas eingeben oder wegnehmen, wie die Schilddrüse. Ich habe vergessen, was es ist. Ich bin sicher, es gibt bestimmt eine nette kleine Drüse irgendwo und wenn man sie entfernt oder ausräuchert oder irgendetwas Drastisches damit tut – aber dann sind die Leute –»

«Auf Dauer gütig und wohlwollend, also benevolent. Sind Sie sicher, das ist das richtige Wort? Benevolenz?»

«Ja, deswegen hat er dem Projekt den Namen Benvo gegeben.»

«Aber was haben wohl seine Kollegen gedacht, als er einen Rückzieher machte?»

«Ich glaube, nur wenige wussten darüber Bescheid. Lisa Irgendwer, die Österreicherin. Und da war ein junger Mann namens Leadenthal oder so, aber der ist an Tuberkulose gestorben. Robbie klang auch immer so, als seien seine Mitarbeiter lediglich Assistenten, die nicht genau Bescheid wussten, was er da machte. Ich sehe schon, worauf Sie hinauswollen», sagte Lady Matilda plötzlich. «Ich glaube, richtig hat er es nie jemandem erzählt. Ich glaube, er hat seine Formeln oder Notizen, was immer es auch war, vernichtet und dann die ganze Sache aufgegeben. Und dann hatte er diesen Schlaganfall und wurde krank, der Arme, er kann nicht mehr gut sprechen. Und das war jetzt sein Leben.»

«Glauben Sie, sein Lebenswerk ist abgeschlossen?»

«Er empfängt nicht einmal Freunde. Ich glaube, es bereitet ihm Schmerzen. Er macht immer irgendwelche Ausflüchte.»

«Aber er lebt noch», sagte der Admiral. «Haben Sie seine Adresse?»

«Sie ist irgendwo in meinem Adressbuch. Er wohnt immer noch dort. Irgendwo in Nordschottland. Aber – verstehen Sie doch –, er war einmal ein wunderbarer Mensch. Doch das ist er längst nicht mehr. Er ist schon fast tot. In jeder Hinsicht.»

«Die Hoffnung stirbt zuletzt», sagte der Admiral. «Und die Überzeugung», fügte er hinzu, «der Glaube.»

«Und die Güte, glaube ich», sagte Lady Matilda.

Kapitel 21 Projekt Benvo

Professor John Gottlieb saß in seinem Sessel und sah die hübsche junge Frau, die ihm gegenübersaß, standhaft an. Er kratzte sich mit einer für ihn charakteristischen, fast affenartigen Geste am Ohr. Er sah ohnehin wie ein Affe aus. Der vorstehende Unterkiefer, der charakteristische Kopf und – ein leichter Widerspruch in sich – der kleine, zusammengeschrumpfte Körper.

«Es geschieht nicht jeden Tag, dass mir eine junge Dame einen Brief des Präsidenten der Vereinigten Staaten überbringt. Immerhin», sagte er fröhlich, «sind sich Präsidenten dessen, was sie tun, ja nicht immer bewusst. Was soll das alles? Ich nehme an, dass sich höchste Stellen für Sie verbürgen.»

«Ich bin gekommen, um Sie zu fragen, was Sie mir über ein Unternehmen namens Projekt Benvo berichten können.»

«Sind sie wirklich Gräfin Renata Zerkowski?»

«Möglicherweise bin ich das. Ich bin besser unter dem Namen Mary Ann bekannt.»

«Ja, das haben sie mir mit separater Post geschrieben. Und Sie möchten alles über das Projekt Benvo wissen. Nun, es hat einmal so etwas gegeben. Es ist jetzt gestorben und begraben und der Mann, der es erfunden hat, wird es wohl auch sein.»

«Sie meinen Professor Shoreham.»

«Richtig. Robert Shoreham. Eines der größten Genies unserer Zeit. Neben Einstein, Niels Bohr und noch ein paar anderen. Aber Robert Shoreham hat sich nicht so lange gehalten, wie er es hätte tun sollen. Es ist ein großer Verlust für die Wissenschaft – was sagt Shakespeare von Lady Macbeth? ‹Sie hätte hiernach sterben sollen.›»

«Er ist noch nicht tot.»

«Oh, sind sie sich da sicher? Man hat seit langer Zeit nichts mehr von ihm gehört.»

«Er ist Invalide, lebt im Norden Schottlands. Er ist gelähmt, kann nicht sehr gut sprechen, nicht gut laufen. Die meiste Zeit sitzt er da und hört Musik.»

«Ja, das kann ich mir vorstellen. Nun, das freut mich. Wenn er das kann, dann ist er nicht so unglücklich. Ansonsten ist es die Hölle für einen brillanten Mann, wenn er nichts mehr machen kann. Wenn man fast wie tot in einem Invalidenstuhl sitzt.»

«Es hat also ein Projekt Benvo gegeben?»

«Ja, er war völlig verbohrt darin.»

«Hat er mit Ihnen darüber gesprochen?»

«Er hat mit einigen von uns darüber gesprochen. Sie sind keine Wissenschaftlerin, junge Frau, nicht wahr?»

«Nein, ich –»

«Sie sind eine Agentin, nehme ich an. Ich hoffe, auf der richtigen Seite. Wir warten immer noch auf Wunder, aber ich glaube kaum, dass Sie von dem Projekt Benvo profitieren können.»

«Warum nicht? Sie haben gesagt, dass er daran gearbeitet hat. Es wäre eine große Erfindung geworden, nicht wahr? Oder eine Entdeckung oder wie immer man diese Dinge nennt.»

«Ja, es wäre eine der größten Entdeckungen unserer Zeit geworden. Ich weiß nicht, was schiefgegangen ist. Aber so etwas passiert immer wieder. Eine Sache entwickelt sich großartig, aber in der letzten Phasen klappt es dann irgendwie nicht. Alles bricht in sich zusammen. Es leistet nicht das, was man erwartet hatte, und aus Verzweiflung gibt man dann auf. Oder man tut das, was Shoreham getan hat.»

«Und was hat er getan?»

«Er hat alles vernichtet. Jeden einzelnen Schnipsel. Das hat er mir selbst gesagt. Er hat alle Formeln verbrannt, alle diesbezüglichen Papiere, alle Daten. Drei Wochen später hatte er seinen Schlaganfall. Er tut mir leid. Sie sehen, ich kann Ihnen nicht helfen. Ich kannte nie irgendwelche Einzelheiten, nur die Grundidee. Nicht einmal daran kann ich mich jetzt noch erinnern, nur an eines. Benvo stand für Benevolenz, also für Güte.»

Kapitel 22 Juanita

Lord Altamount diktierte. Die einst kräftige und dominante Stimme war jetzt von einer Sanftheit, die immer noch eine eigenartige unerwartete Anziehungskraft hatte. Sie schien ganz leise aus den Schatten der Vergangenheit zu kommen, bewegender als so mancher dominante Ton.

James Kleek notierte die Worte, wie sie kamen, hielt manchmal inne, wenn Lord Altamount kurz zögerte, und wartete dann geduldig.

«Idealismus», sagte Lord Altamount, «kann und wird entstehen beim Empfinden eines natürlichen Widerstandes gegen die Ungerechtigkeit. Das ist der natürliche Abscheu vor krassem Materialismus. Der natürliche Idealismus der Jugend wird heute mehr und mehr von dem Wunsch gespeist, diese beiden Bestandteile des modernen Lebens zu vernichten, Ungerechtigkeit und nackten Materialismus.

Die Sehnsucht, das Böse zu vernichten, führt allerdings manchmal zur Lust an der Zerstörung nur um der Zerstörung willen. Sie kann zur Liebe zu Gewalt führen, zur Lust, Schmerzen zuzufügen. All das kann von außen unterstützt und gestärkt werden von denen, die eine natürliche Führungsgabe besitzen. Der ursprüngliche Idealismus entwickelt sich im jugendlichen Alter, vor dem Erwachsensein. Er sollte und könnte zum Verlangen nach einer besseren Welt führen. Er sollte auch zur Liebe zur Menschheit und zu ihrem Wohlergehen führen. Aber wer einmal gelernt hat, die Gewalt um ihrer selbst willen zu lieben, wird niemals erwachsen. Er wird in seiner eigenen, abgebrochenen Entwicklung stecken bleiben und sein Leben lang dort verharren.»

Der Summer ertönte. Lord Altamount hob die Hand, James Kleek nahm ab und hörte zu.

«Mr. Robinson ist hier.»

«Ach ja. Er soll hereinkommen. Wir können hier später weitermachen.»

James Kleek stand auf und legte Notizbuch und Bleistift beiseite.

Mr. Robinson kam herein. James Kleek stellte ihm einen Stuhl hin, breit genug, um seine Formen, ohne ihm Unbehagen zu bereiten, aufzunehmen. Mr. Robinson lächelte dankbar und setzte sich an Lord Altamounts Seite.

«Nun», sagte Lord Altamount, «haben Sie etwas Neues für uns? Diagramme, Kreise? Seifenblasen?»

Er schien leicht amüsiert.

«Nicht ganz», sagte Mr. Robinson unbewegt, «es ist mehr, wie wenn man den Lauf eines Stromes verfolgt –»

«Strom?», fragte Lord Altamount. «Was für einen Strom?»

«Einen Geldstrom», antwortete Mr. Robinson, mit leicht entschuldigender Stimme, wie immer, wenn er von seinem Spezialgebiet sprach. «Es ist wirklich wie ein Strom, Geld – es kommt von irgendwoher und geht definitiv irgendwohin. Wirklich sehr interessant – wenn man sich für so etwas interessiert –, es erzählt seine eigene Geschichte, sehen Sie –»

James Kleek machte den Eindruck, als sehe er nichts dergleichen, aber Altamount sagte: «Ich verstehe, fahren Sie fort.»

«Er fließt von Skandinavien – aus Bayern – aus den USA – aus Südostasien – wird von kleineren Nebenflüssen auf dem Weg gespeist –»

«Und geht – wohin?»

«Hauptsächlich nach Südamerika – für den Bedarf des nunmehr sicherlich errichteten Hauptquartiers der Militanten Jugend».

«Und er repräsentiert vier der überlappenden Kreise, die Sie uns gezeigt haben – Waffen, Drogen, Raketen für wissenschaftliche und chemische Kriegsführung und auch Finanzen?»

«Ja, ich glaube, wir wissen jetzt ziemlich genau, wer diese verschiedenen Gruppen kontrolliert.»

«Was ist mit dem ‹J›-Kreis – Juantita?», fragte James Kleek.

«Da sind wir uns noch nicht ganz sicher.»

«James hat dazu ein paar Ideen», sagte Lord Altamount. «Ich hoffe, er hat unrecht. – Ja, das hoffe ich. Der Buchstabe J ist interessant. Für was steht er, für Justiz, Gerechtigkeit?»

«Für eine entschlossene Mörderin», sagte James Kleek. «Die weibliche Spezies ist noch tödlicher als die männliche.»

«Es gibt historische Vorbilder», gab Lord Altamount zu. «Jael, die Sisera Butter in einer königlichen Schale reichte und anschließend einen Nagel durch seinen Kopf trieb. Judith, die Holofernes gerichtet hat und von ihren Landsleuten dafür bejubelt wurde. Ja, da mag etwas dran sein.»

«Also, Sie glauben zu wissen, wer Juanita ist, ja?», fragte Mr. Robinson. «Das ist ja interessant.»

«Nun, vielleicht liege ich falsch, Sir, aber es gibt da Dinge, die mich annehmen lassen –»

«Ja», sagte Mr. Robinson, «wir haben alle darüber nachgedacht, nicht wahr? Am besten sagen Sie uns, wer es ist, James.»

«Gräfin Renata Zerkowski.»

«Was veranlasst Sie dazu, das zu glauben?»

«Die Orte, die sie besucht hat, die Leute, mit denen sie Kontakt hat. Es sind zu viele der Zufälle, so wie sie an verschiedenen Schauplätzen aufgetaucht ist. Sie war in Bayern. Sie hat dort die Große Charlotte besucht. Sie hat sogar Stafford Nye dort mit hingenommen. Das halte ich für bedeutsam –»

«Glaubst du, sie stecken unter einer Decke?», fragte Altamount.

«Das möchte ich nicht unbedingt sagen. Ich weiß nicht genug über ihn, aber…», er machte eine Pause.

«Ja», sagte Lord Altamount, «man hatte so seine Zweifel bei ihm. Er wurde von Anfang an verdächtigt.»

«Von Henry Horsham?»

«Henry Horsham, unter anderem, vielleicht. Oberst Pikeaway ist sich nicht sicher, nehme ich an. Er steht unter Beobachtung. Das weiß er wahrscheinlich auch. Er ist schließlich kein Dummkopf.»

«Noch so einer», sagte James Kleek heftig. «Außerordentlich, wie wir die hervorbringen können. Ihnen vertrauen, ihnen unsere Geheimnisse überlassen, sie wissen lassen, was wir tun, immer wieder sagen: ‹Wenn es einen gibt, dessen ich mir absolut sicher bin, dann ist das – oh, Mr. McLean oder Burgess oder Philby oder jeder von dieser Bande.› Und nun – Stafford Nye.»

«Stafford Nye, indoktriniert von Renata, alias Juanita», sagte Mr. Robinson.

«Da gab es doch diese seltsame Geschichte am Frankfurter Flughafen», sagte Kleek, «und diesen Besuch bei Charlotte. Stafford Nye war anschließend, wie ich höre, in Südamerika mit ihr. Und sie – wissen wir überhaupt, wo sie jetzt ist?»

«Ich glaube, Mr. Robinson weiß das», sagte Lord Altamount. «Habe ich recht?»

«Sie ist in den Vereinigten Staaten. Zunächst in Washington, dann in Chicago und in Kalifornien. Das Letzte, was ich gehört habe, war, dass sie von Austin aus zu einem hochrangigen Wissenschaftler geflogen ist.»

«Was macht sie denn da?»

«Man sollte annehmen, dass sie dort nach Informationen sucht.»

«Was für Informationen?»

Mr. Robinson seufzte.

«Das würden wir auch gerne wissen. Es ist anzunehmen, dass es sich um dieselben Informationen handelt, die auch wir so dringend suchen, und dass sie es für uns tut. Aber man weiß ja nie – es könnte auch für die andere Seite sein.»

Er drehte sich um und sah Lord Altamount an.

«Soviel ich weiß, reisen Sie heute Abend nach Schottland. Stimmt das?»

«Ganz richtig.»

«Das sollten Sie nicht tun, Sir», sagte James Kleek. Er sah mit besorgtem Gesicht auf seinen Arbeitgeber. «Es ist Ihnen letztlich nicht gut bekommen. Es wird eine sehr anstrengende Reise, wie auch immer sie reisen, per Flugzeug oder Bahn. Können Sie das nicht Munro und Horsham überlassen?»

«In meinem Alter ist es Zeitverschwendung, vorsichtig zu sein», sagte Lord Altamount.

«Wenn ich von Nutzen sein kann, möchte ich gern ‹in den Sielen sterben›, wie man so sagt.»

Er lächelte Mr. Robinson an.

«Sie sollten besser mit uns kommen, Robinson.»

Kapitel 23 Die Reise nach Schottland

I

Der Staffelführer fragte sich, worum es eigentlich ging. Er war es gewöhnt, immer nur halb eingeweiht zu werden. Da steckte die Sicherheit dahinter, nahm er an. Die gingen kein Risiko ein. Er hatte so eine Sache schon mehr als einmal durchgeführt. Eine Maschine voller Leute an einen ungewöhnlichen Ort geflogen, mit ungewöhnlichen Passagieren, unter sorgfältiger Vermeidung aller Fragen außer den reinen Fakten. Einige der Passagiere auf seinem Flug waren ihm bekannt, aber nicht alle. Er erkannte Lord Altamount. Ein kranker Mann, sehr krank, dachte er. Wahrscheinlich hielt er sich nur mit bloßer Willenskraft noch am Leben. Der eifrige Mann mit dem Habichtsgesicht war anscheinend sein besonderer Wachhund. Der weniger auf seine Sicherheit als auf seine Gesundheit achtete. Ein getreuer Hund, der ihm niemals von der Seite wich. Er würde Aufbaumittel bei sich haben, Stimulanzien, die ganze Medizin-Trickkiste. Der Staffelkapitän fragte sich, warum kein Arzt bereitstand. Das wäre noch von besonderer Vorsicht gewesen. Das Gesicht des Mannes sah wie ein Totenkopf aus. Ein nobler Totenkopf. Wie eine Marmorbüste in einem Museum. Henry Horsham kannte der Staffelkapitän ganz gut. Er kannte auch mehrere der Sicherheitsleute. Und Oberst Munro, etwas weniger kriegerisch als sonst, er wirkte eher besorgt. Alles in allem jedenfalls nicht sehr glücklich. Da war noch ein massiger Mann mit gelbem Gesicht. Er könnte ein Ausländer sein. Ein Asiate? Was machte der denn hier, in einem Flugzeug nach Nord-Schottland? Der Staffelkapitän sagte sehr höflich zu Oberst Munro:

«Ist alles bereit, Sir? Der Wagen wartet.»

«Wie weit ist es genau von hier?»

«Siebzehn Meilen, Sir, eine schlechte Straße, das ist aber kein Problem. Es sind noch Extradecken im Wagen.»

«Sie haben Ihre Order? Wiederholen, bitte, Staffelkapitän Andrews.»

Der Staffelkapitän wiederholte die Order und der Oberst nickte zufrieden. Als der Wagen endlich davonfuhr, sah der Staffelkapitän ihm nach und fragte sich, warum in aller Welt ausgerechnet diese Leute über das einsame Moor zu einem verehrungswürdigen alten Schloss fuhren, wo ein kranker Mann wie ein Einsiedler lebte und im Allgemeinen keine Freunde oder Besucher empfing. Horsham wusste Bescheid, nahm er an. Horsham musste eine Menge seltsamer Dinge wissen. Nun, Horsham würde ihm wohl kaum irgendetwas erzählen. Der Wagen wurde gut und sorgfältig gefahren. Er fuhr schließlich über eine kiesbestreute Einfahrt und hielt vor der Veranda. Es war ein Gebäude mit Türmen aus schweren Quadersteinen. Laternen hingen beiderseits der großen Eingangstür. Die Tür öffnete sich, bevor man noch den Klingelknopf berühren oder Einlass verlangen musste.

Eine alte Schottin von über sechzig Jahren mit strengem, finsterem Gesicht stand im Eingang. Der Chauffeur half den Insassen heraus.

James Kleek und Horsham halfen Lord Altamount beim Aussteigen und stützten ihn auf dem Weg die Treppe hinauf. Die alte Schottin trat zur Seite und machte einen ehrfürchtigen Knicks. Sie sagte:

«Guten Abend, Eure Lordschaft. Der Herr wartet schon auf Sie. Er weiß, dass Sie kommen, wir haben Zimmer vorbereitet und überall Feuer für Sie gemacht.»

Eine weitere Gestalt erschien nun in der Halle. Es war eine große, magere Frau zwischen fünfzig und sechzig, eine noch hübsche Frau. Ihr schwarzes Haar war in der Mitte gescheitelt, sie hatte eine hohe Stirn, eine Adlernase und gebräunte Haut.

«Hier ist Miss Neumann, sie wird sich um Sie kümmern», sagte die Schottin.

«Danke, Janet», sagte Miss Neumann. «Sieh zu, dass das Feuer in den Schlafzimmern nicht ausgeht.»

Lord Altamount schüttelte Miss Neumann die Hand.

«Guten Abend, Miss Neumann.»

«Guten Abend, Lord Altamount. Ich hoffe, die Reise war nicht zu anstrengend für Sie.»

«Wir hatten einen sehr guten Flug. Das ist Oberst Munro, Miss Neumann. Dies sind Mr. Robinson, Sir James Kleek und Mr. Horsham von der Sicherheitsabteilung.»

«Ich erinnere mich an Mr. Horsham. Wir sind uns, glaube ich, vor vielen Jahren schon einmal begegnet.»

«Ich habe es nicht vergessen», sagte Henry Horsham. «Es war bei der Leveson-Stiftung. Sie waren damals schon Professor Shorehams Sekretärin, glaube ich.»

«Ich war zuerst seine Assistentin im Laboratorium und dann seine Sekretärin. Und ich bin immer noch, soweit er es benötigt, seine Sekretärin. Er braucht auch eine Krankenschwester, die mehr oder weniger dauerhaft hier im Hause lebt. Von Zeit zu Zeit muss man Änderungen vornehmen – Miss Ellis, die jetzt hier ist, hat erst vor zwei Tagen von Miss Bude übernommen. Ich habe vorgeschlagen, dass sie in der Nähe des Raumes, in dem wir uns aufhalten werden, verfügbar ist. Ich dachte, Sie ziehen Zurückgezogenheit vor, aber sie sollte nicht außer Reichweite sein, falls sie gebraucht wird.»

«Ist er bei sehr schlechter Gesundheit?»

«Er leidet nicht», sagte Miss Neumann. «Aber Sie müssen sich darauf vorbereiten, wenn sie ihn längere Zeit nicht gesehen haben. Er ist nur noch der Schatten eines Mannes.»

«Nur noch einen Augenblick, ehe Sie uns zu ihm führen. Seine Geisteskraft ist doch nicht allzu sehr beeinträchtigt? Kann er verstehen, was man zu ihm sagt?»

«Oh ja, er kann alles genau verstehen, aber er ist halbseitig gelähmt, er kann nicht sehr deutlich sprechen, aber das wechselt oft, und er kann nicht ohne Hilfe gehen. Sein Verstand ist meiner Ansicht nach noch so klar wie früher. Der einzige Unterschied ist, dass er sehr schnell müde wird.

Nun, hätten sie gern erst noch eine kleine Erfrischung?»

«Nein», sagte Lord Altamount. «Nein, ich möchte nicht länger warten. Wir sind in einer dringenden Angelegenheit hier, also, wenn Sie uns nun bitte zu ihm führen wollen – Ich denke, er erwartet uns?»

«Er erwartet Sie, ja», sagte Miss Neumann.

Sie führte sie einige Treppen hinauf, einen Korridor entlang und öffnete die Tür zu einem Raum mittlerer Größe. Es gab dort Wandbehänge, Hirschgeweihe sahen auf sie herab, der Raum war ein ehemaliges Jagdzimmer. Die Möblierung war kaum verändert worden. Auf der einen Seite des Raumes stand ein großer Plattenspieler.

Der Mann saß in einem Sessel am Feuer. Sein Kopf zitterte ein wenig, auch seine linke Hand zitterte. Seine Gesichtshaut war auf einer Seite nach unten gezogen. Man konnte ihn ohne Umschweife nur als das Wrack eines Mannes bezeichnen. Ein einstmals groß gewachsener Mann, kräftig und stark. Er hatte eine schöne Stirn, tief liegende Augen und ein knorriges, entschlossenes Kinn. Die Augen unter den schweren Brauen zeugten von Intelligenz. Er sagte etwas. Seine Stimme war nicht schwach, sie war klar, aber die Laute waren nicht immer deutlich. Die Sprache war ihm nur teilweise verloren gegangen, man konnte ihn noch verstehen.

Lisa Neumann stellte sich neben ihn und sah ihm auf die Lippen, um notfalls zu übersetzen, was er sagte.

«Professor Shoreham heißt Sie willkommen. Er ist sehr erfreut, Sie hier zu sehen, Lord Altamount, Oberst Munro, Sir James Kleek, Mr. Robinson und Mr. Horsham. Er bittet mich, Ihnen zu sagen, dass er noch gut hören kann. Alles, was Sie ihm sagen, kann er verstehen. Bei eventuellen Schwierigkeiten kann ich Ihnen behilflich sein. Was er Ihnen sagen möchte, wird er Ihnen durch mich übermitteln können. Wenn er zu müde zum Sprechen wird, kann ich seine Lippen lesen, wir verständigen uns auch in Zeichensprache, falls es Schwierigkeiten gibt.»

«Ich werde versuchen», sagte Oberst Munro, «Ihre Zeit nicht zu verschwenden und Sie so wenig wie möglich zu ermüden, Professor Shoreham.»

Der Mann im Sessel nickte mit dem Kopf.

«Einige Fragen kann ich an Miss Neumann stellen.»

Shorehams Hand streckte sich in einer schwachen Geste nach der Frau an seiner Seite. Laute kamen ihm von den Lippen, wieder nicht ganz erkennbar für alle, aber sie übersetzte schnell.

«Er sagt, dass er sich darauf verlassen kann, dass ich alles übermittle, was sie ihm sagen möchten oder er Ihnen.»

«Sie haben, glaube ich, schon einen Brief von mir erhalten», sagte Oberst Munro.

«Das ist richtig», antwortete Miss Neumann. «Professor Shoreham hat Ihren Brief erhalten und kennt den Inhalt.»

Eine Krankenschwester öffnete die Tür einen Spaltbreit – trat jedoch nicht ein. Sie flüsterte: «Kann ich irgendetwas besorgen oder tun, Miss Neumann? Für einen der Gäste oder Professor Shoreham?»

«Ich glaube nicht, vielen Dank, Miss Ellis. Ich wäre aber froh, wenn Sie in Ihrem Zimmer am Ende des Ganges bleiben würden, falls wir irgendetwas benötigen.»

«Sicherlich – ich verstehe.» Sie ging und schloss die Tür leise hinter sich.

«Wir wollen keine Zeit verlieren», sagte Oberst Munro. «Zweifellos ist Professor Shoreham über die laufenden Ereignisse unterrichtet.»

«Voll und ganz», sagte Miss Neumann, «soweit er sich dafür interessiert.»

«Ist er auch informiert über die wissenschaftlichen Entwicklungen und Ähnliches?»

Robert Shorehams Kopf bewegte sich leicht hin und her. Er antwortete selbst.

«Damit habe ich völlig abgeschlossen.»

«Aber Sie kennen in etwa die Lage, in der sich die Welt befindet? Wissen über den Erfolg der sogenannten Jugendrevolution? Die Machtergreifung von jugendlichen, voll aufgerüsteten Streitkräften?»

Miss Neumann sagte: «Er ist vollständig informiert über alles, was sich abspielt – zumindest im politischen Sinn.»

«Die Welt wird heute beherrscht von Gewalt, Leiden, revolutionären Lehren, einer abartigen, unglaublichen Herrschaftstheorie einer anarchistischen Minderheit.»

Ein leichter Zug von Ungeduld ging über das abgezehrte Gesicht.

«Das weiß er alles», sagte Mr. Robinson plötzlich. «Es ist nicht nötig, alles noch mal durchzukauen. Er weiß über alles Bescheid.»

Er fragte:

«Erinnern Sie sich an Admiral Blunt?»

Der Kopf senkte sich wieder. Etwas wie ein Lächeln erschien auf den schiefen Lippen.

«Admiral Blunt erinnert sich an eine wissenschaftliche Arbeit, die Sie für ein bestimmtes Projekt durchgeführt haben – ich glaube, Sie nennen so etwas ein Projekt? Projekt Benvo.»

Sie sahen seinen aufmerksamen Blick.

«Projekt Benvo», sagte Miss Neumann. «Da gehen Sie aber weit zurück, Mr. Robinson, wenn Sie sich daran erinnern.»

«Es war Ihr Projekt, nicht wahr?», fragte Mr. Robinson.

«Ja, es war sein Projekt», Miss Neumann sprach jetzt mit mehr Selbstverständlichkeit für ihn.

«Wir können keine Atomwaffen einsetzen, keinen Sprengstoff, kein Gas, keine Chemie. Aber Ihr Projekt, Projekt Benvo, könnten wir nutzen.»

Stille herrschte. Und dann kamen da wieder diese seltsamen verzerrten Laute aus dem Mund von Professor Shoreham.

«Er sagt», übersetzte Miss Neumann, «Benvo wäre erfolgreich einsetzbar unter den Umständen, in denen wir uns gegenwärtig befinden –»

Der Mann im Sessel hatte sich ihr zugewandt und sagte etwas zu ihr.

«Er möchte, dass ich es Ihnen erkläre», sagte Miss Neumann, «an Projekt B. später Projekt Benvo genannt, hat er lange Jahre gearbeitet, hat es aber letzten Endes aus persönlichen Gründen aufgegeben.»

«Weil er sein Projekt nicht wirklich realisieren konnte?»

«Nein, er war nicht gescheitert», sagte Lisa Neumann. «Wir sind nicht gescheitert. Ich habe mit ihm an diesem Projekt gearbeitet. Er hat es aus ganz bestimmten Gründen aufgegeben, aber gescheitert ist er nicht. Er hatte Erfolg. Er war auf dem richtigen Weg, hat es entwickelt, in verschiedenen Laborexperimenten getestet, und es hat funktioniert.» Sie wandte sich wieder Professor Shoreham zu, machte ein paar Handbewegungen, berührte ihre Lippen, das Ohr, den Mund nach einem merkwürdigen Code.

«Ich habe ihn gefragt, ob ich erklären soll, wie Benvo funktioniert. Und er möchte wissen, wie Sie davon erfahren haben.»

«Wir haben darüber von einer alten Freundin von Ihnen gehört. Nicht von Admiral Blunt, er konnte sich nicht mehr an viel erinnern, sondern von der anderen Person, mit der Sie einmal darüber gesprochen haben, Lady Matilda Cleckheaton.»

Wieder drehte sich Miss Neumann ihm zu und sah ihm auf die Lippen. Sie lächelte schwach.

«Er sagt, er dachte, Matilda sei schon vor Jahren gestorben.»

«Sie ist durchaus noch am Leben, und sie hatte die Idee, dass wir uns Professor Shorehams Entdeckung anhören sollten.»

«Professor Shoreham wird Ihnen die Hauptpunkte dessen, was sie wissen wollen, erklären. Doch er muss Sie warnen, dass dieses Wissen völlig wertlos für Sie ist. Papiere, Formeln, Berichte und Nachweise dieser Versuche, alles wurde vernichtet. Aber da Ihre Fragen nur mit einer allgemeinen Beschreibung von Projekt Benvo zu befriedigen sind, kann ich Ihnen genau erklären, worin es besteht. Die Anwendung und der Zweck von Tränengas zur Kontrolle einer aufrührerischen Menge sind Ihnen bekannt, bei gewalttätigen Demonstrationen und so weiter. Es löst einen Weinkrampf aus, schmerzhafte Tränen und Schleimhautentzündungen.»

«Und das hier ist etwas Ähnliches?»

«Nein, es ist nicht im Mindesten ähnlich, aber es kann demselben Zweck dienen. Die Wissenschaftler haben sich etwas einfallen lassen. Man kann nicht nur die Grundgefühle und -reaktionen der Menschen ändern, sondern auch geistige Charakteristika. Man kann den Charakter eines Menschen verändern. Die Eigenschaften eines Aphrodisiakums sind wohlbekannt. Sie führen zu einem Zustand sexuellen Begehrens, es gibt verschiedene Drogen, Gase oder Drüsenoperationen – jedes dieser Dinge kann zu einer Veränderung der Geisteskraft, gesteigerter Energie wie etwa bei Veränderungen an der Schilddrüse führen. Professor Shoreham möchte Ihnen mitteilen, dass es einen bestimmten Prozess gibt – er wird Ihnen jetzt nicht sagen, ob es Drüsen betrifft oder ein Gas, das man herstellen kann, aber es gibt etwas, das den Menschen in seiner ganzen Lebenseinstellung verändern kann – in seinen Reaktionen auf andere Menschen und das Leben im Allgemeinen. Er kann sich in einem Zustand mörderischer Wut befinden, er kann krankhaft gewalttätig sein, doch durch den Einfluss von Projekt Benvo verwandelt er sich völlig in jemand anders. Er wird – es gibt nur eine Bezeichnung dafür, die schon im Namen liegt, er wird benevolent, gütig. Er möchte anderen Gutes tun. Er strahlt Freundlichkeit aus. Er verabscheut es, anderen Schmerzen zu bereiten oder Gewalt anzuwenden. Benvo kann über eine große Fläche verteilt werden, es kann auf Hunderte, Tausende von Menschen einwirken, wenn es in ausreichenden Mengen hergestellt und erfolgreich verteilt wird.»

«Wie lange hält die Wirkung an?», fragte Oberst Munro. «Vierundzwanzig Stunden? Länger?»

«Sie verstehen nicht», sagte Miss Neumann. «Es ist von Dauer.»

«Dauerhaft? Sie verändern die Natur eines Menschen, Sie haben einen Bestandteil seines Daseins verändert, natürlich einen physischen Bestandteil, was eine permanente Wesensveränderung hervorgerufen hat. Und das können Sie nicht wieder rückgängig machen? Sie können ihn nicht wieder in den Zustand zurückversetzen, in dem er sich befunden hat? Man muss es als permanente Veränderung akzeptieren?»

«Ja. Zunächst war es vielleicht nur eine Entdeckung von eher medizinischem Interesse, aber Professor Shoreham hatte es vorgesehen als Abschreckungsmittel zur Anwendung im Krieg, bei Massenaufständen, Aufruhr, Revolutionen, Anarchie. Er betrachtete es nicht rein medizinisch. Es erzeugt keine Glücksgefühle bei den Betroffenen, nur den großen Wunsch, andere glücklich zu machen. Das ist ein Gefühl, das jeder das ein oder andere Mal im Leben empfindet. Man hat den großen Wunsch, jemanden, eine Person oder viele Menschen – gesund, glücklich und zufrieden zu sehen, all diese Dinge. Und da die Menschen diese Dinge empfinden können und sie auch wirklich empfinden, muss es eine Komponente im Körper geben, die diesen Wunsch kontrolliert. Und wenn man diese Komponente einsetzt, kann es in Ewigkeit so weitergehen.»

«Wunderbar», sagte Mr. Robinson.

Er klang eher nachdenklich als begeistert.

«Wunderbar. Welche Entdeckung. Was für eine Sache, die man da zum Einsatz bringen kann – aber warum sollte man es tun?»

Der Kopf auf der Sessellehne drehte sich langsam zu Mr. Robinson:

«Er sagt, sie verstehen es besser als die anderen.»

«Aber das ist doch die Lösung», sagte James Kleek. «Es ist die exakte Lösung. Es ist wunderbar.»

Miss Neumann schüttelte den Kopf.

«Projekt Benvo», sagte sie, «steht nicht zum Verkauf und ist nicht zu verschenken. Es ist aufgegeben worden.»

«Wollen Sie damit sagen, die Antwort lautet Nein?», fragte Oberst Munro ungläubig.

«Ja. Professor Shoreham sagt, die Antwort lautet Nein. Er hat entschieden, es sei gegen –»

Sie hielt einen Augenblick inne und sah wieder auf den Mann im Sessel. Er machte eigenartige Gesten mit dem Kopf, mit einer Hand, und ein paar gutturale Laute kamen aus seinem Mund. Sie wartete und sagte dann: «Er wird es Ihnen selbst sagen, er hatte Angst. Angst vor dem, was die Wissenschaft angerichtet hat in der Zeit ihrer Triumphe, ihrer Vorherrschaft. Die Dinge, die man herausgefunden hat und weiß, die Dinge, die man entdeckt und der Welt überantwortet hat. Die Wunderdrogen, die sich nicht immer als Wunderdrogen herausstellten. Das Penicillin, das Leben gerettet hat, und das Penicillin, das Leben genommen hat. Die Herztransplantationen, die Enttäuschung gebracht haben, und die Enttäuschung, wenn der Tod plötzlich unerwartet eintritt. Er hat im Zeitalter der Atomspaltung gelebt; es gab neue Vernichtungswaffen. Die Tragödie der Radioaktivität; die Umweltverseuchung, die neue industrielle Entdeckungen mit sich gebracht haben. Er hatte Angst vor dem, was die Wissenschaft anrichten könnte, wenn sie unkontrolliert angewendet würde.»

«Aber das hier ist doch ein Gewinn, ein Gewinn für jedermann», rief Munro.

«Das war so vieles. Immer ein großer Gewinn, eine große Wohltat für die Menschheit. Und dann kommen die Nebenwirkungen und, schlimmer als das, die Tatsache, dass sie manchmal eben keine Wohltaten, sondern Katastrophen gebracht haben. Und deshalb hat er sich entschieden aufzugeben. Er sagt:» – sie las es von einem Stück Papier in ihrer Hand ab, während er neben ihr in seinem Sessel zustimmend mit dem Kopf nickte. «Ich bin damit zufrieden, dass ich erreicht habe, was ich wollte. Ich habe meine Entdeckung gemacht. Aber ich habe mich entschieden, sie nicht zu veröffentlichen. Sie musste vernichtet werden. Und so wurde sie zerstört. Also lautet meine Antwort an Sie Nein. Es gibt keine Güte, keine Gutartigkeit zum Abzapfen aus dem Hahn. Vielleicht wäre das einmal möglich gewesen, aber heute sind alle Formeln, alles Wissen, meine Notizen und mein Bericht über das notwendige Verfahren dahin – zu Asche verbrannt –, ich habe mein Geistesprodukt vernichtet.»

II

Robert Shoreham kämpfte sich zu einem röchelnden Sprechen durch.

«Ich habe mein Geisteskind vernichtet und kein Mensch auf der Welt weiß, wie ich dazu gekommen bin. Ein Mensch hat mir geholfen, aber er ist tot. Er starb ein Jahr nachdem wir zum Erfolg gekommen waren, an Tuberkulose. Sie müssen wieder abreisen. Ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.»

«Aber die Kenntnisse, die Sie besitzen, könnten die Welt retten.»

Der Mann im Sessel gab ein seltsames Geräusch von sich. Es war Gelächter. Das Gelächter eines gebrochenen Mannes.

«Die Welt retten. Die Welt retten! Was für eine Phrase! Das ist es, was Ihre jungen Leute da draußen machen, das glauben sie zumindest! Sie brausen los voller Gewalt und Hass, um die Welt zu retten. Aber sie wissen nicht wie! Sie müssen es selbst bewerkstelligen, aus ihren eigenen Herzen heraus, aus ihrem eigenen Verstand. Wir können ihnen keine künstliche Methode verabreichen, um das zu bewerkstelligen. Nein. Eine künstliche Güte? Eine künstliche Freundlichkeit?

Nichts von alledem. Es wäre nicht real. Es wäre bedeutungslos und gegen die Natur.» Dann sagte er langsam: «Gegen Gott.»

Die letzte Worte kamen plötzlich, klar artikuliert.

Er sah seine Zuhörer der Reihe nach an. Es war, als bäte er sie um Verständnis, auch wenn er sich wenig Hoffnung machte.

«Ich hatte das Recht, das zu vernichten, was ich geschaffen hatte –»

«Das bezweifle ich sehr», sagte Mr. Robinson. «Wissen ist Wissen. Was Sie entwickelt haben – zum Leben erweckt haben, das sollten Sie nicht zerstören.»

«Sie haben ein Recht auf Ihre Meinung – aber diese Tatsache müssen Sie akzeptieren.»

«Nein», Mr. Robinson stieß das Wort heftig hervor.

Lisa Neumann wandte sich ärgerlich zu ihm um.

«Was wollen Sie damit sagen?»

Ihre Augen blitzten. Eine gut aussehende Frau, dachte Mr. Robinson. Eine Frau, die wahrscheinlich ihr Leben lang in Robert Shoreham verliebt gewesen war. Ihn geliebt hatte, mit ihm gearbeitet hatte und nun an seiner Seite lebte, ihm behilflich war mit ihrem Verstand, ihm Hingabe schenkte in ihrer reinsten Form, ohne Mitleid.

«Man erfährt so manches im Laufe seines Leben», sagte Mr. Robinson. «Ich glaube nicht, dass ich ein langes Leben haben werde. Ich bin einfach zu übergewichtig.» Er seufzte, als er an seinem Körper heruntersah. «Aber ich weiß so manches. Wissen Sie, Shoreham, ich habe recht. Sie werden auch zugeben müssen, dass ich recht habe. Sie sind ein ehrlicher Mensch. Sie würden Ihre Arbeit nicht zerstören. Sie hätten sich niemals dazu überwinden können. Sie haben sie noch irgendwo, weggeschlossen, versteckt, wahrscheinlich nicht in diesem Haus. Ich vermute, und ich äußere wirklich nur eine Vermutung, dass sie es irgendwo in einem Schließfach oder in einer Bank haben. Sie weiß auch, dass Sie es dort haben. Ihr vertrauen sie. Sie ist der einzige Mensch auf der Welt, dem Sie vertrauen.»

Shoreham sagte, und diesmal war seine Stimme fast deutlich:

«Wer sind Sie? Wer zum Teufel sind Sie?»

«Ich bin nur ein Mann, der etwas von Geld versteht», sagte Mr. Robinson, «und von den Dingen, die mit Geld einhergehen, wissen Sie. Menschen und ihre Eigenheiten, ihre Lebensgewohnheiten. Wenn Sie wollten, könnten Sie die Arbeit fortführen, die Sie lediglich weggeschlossen haben. Ich behaupte nicht, dass Sie jetzt dieselbe Arbeit machen könnten, aber ich glaube, es ist alles noch irgendwo vorhanden. Sie haben uns Ihre Ansicht mitgeteilt und ich will nicht behaupten, dass sie ganz falsch ist», sagte Mr. Robinson.

«Vielleicht haben Sie recht. Wohltaten für die Menschheit sind eine brenzlige Sache. Der arme alte Beveridge etwa, mit seiner Sozialversicherung. Keine Not mehr, frei von Furcht, frei von was weiß ich allem. Er dachte, er schüfe einen Himmel auf Erden, als er das sagte, plante und ausführte. Aber er hat keinen Himmel auf Erden geschaffen und ich glaube auch nicht, dass Ihr Benvo oder wie immer Sie es nennen (hört sich wie Reformhausnahrung an) den Himmel auf Erden bringt. Güte birgt ihre Gefahren, wie alles andere auch. Was es bewirken kann, ist, eine Menge Leiden, Schmerzen, Anarchie, Gewalt und Drogenabhängigkeit zu verhindern. Ja, es wird eine Menge böser Dinge verhindern, und es könnte etwas Wichtiges retten. Es könnte, gerade noch rechtzeitig, den jungen Menschen etwas bringen. Ihr Benvoleo – nun hört es sich an wie ein Patentreiniger – wird die Menschen gütig stimmen, und ich gebe zu, es kann sie herablassend, selbstgerecht und selbstzufrieden machen, aber es besteht auch eine geringe Chance, selbst wenn Sie die Natur der Menschen unfreiwillig verändern und sie dieses Wesen für immer, bis zu ihrem Tode beibehalten müssten, so würden doch vielleicht ein oder zwei – nicht viele – eine natürliche Berufung zu dem in sich entdecken – in Demut, nicht Stolz –, was sie unfreiwillig tun mussten. Sich wirklich verändern, meine ich, ehe sie sterben. Die neuen Verhaltensweisen, die sie sich angeeignet haben, nicht ablegen können.»

Oberst Munro sagte: «Ich verstehe nichts von dem, was ihr da redet.»

Miss Neumann antwortete: «Er redet Unsinn. Sie müssen Professor Shorehams Antwort akzeptieren. Er darf mit seinen eigenen Erfindungen machen, was er will. Sie können ihn zu nichts zwingen.»

«Nein», sagte Lord Altamount. «Wir werden dich nicht foltern, Robert, oder zwingen, dein Versteck zu verraten. Du tust, was du für richtig hältst. Das ist abgemacht.»

«Edward?», sagte Robert Shorham. Seine Stimme versagte ihm wieder etwas, seine Hände gestikulierten, und Miss Neumann übersetzte schnell.

«Edward? Er fragt, ob Sie Edward Altamount sind?»

Shoreham sprach wieder und sie übernahm seine Worte.

«Er sagt, Lord Altamount, wenn Sie definitiv, von ganzem Herzen und mit ganzem Verstand ihn bitten, Ihnen Projekt Benvo unter Ihre Verfügungsgewalt zu geben… Er sagt –», sie machte eine Pause, schaute und hörte zu – «er sagt, sie seien der einzige Mann des öffentlichen Lebens, dem er jemals vertraut habe. Wenn Sie es wünschen –»

James Kleek stand plötzlich aufrecht da. Eifrig, schnell wie der Blitz, stand er neben Lord Altamounts Stuhl.

«Lassen Sie mich helfen, Sir. Sie sind krank. Es geht Ihnen nicht gut. Treten Sie etwas zurück, Miss Neumann. Ich – ich muss zu ihm. Ich – ich habe seine Medikamente hier, ich weiß, was zu tun ist –»

Seine Hand verschwand in der Tasche und kam mit einer Spritze wieder heraus.

«Wenn er die nicht sofort bekommt, ist es zu Ende mit ihm –»

Er hatte Lord Altamounts Arm gefasst, rollte den Ärmel auf, kniff die Haut zwischen die Finger und hielt die Spritze bereit.

Aber jemand anders bewegte sich auch. Horsham war schon quer durchs Zimmer, stieß Oberst Munro zur Seite: seine Hand schloss sich über der Hand von James Kleek, der er die Spritze entwand. Kleek kämpfte, aber Horsham war zu stark für ihn. Und jetzt war auch Munro da.

«Also Sie waren das, James Kleek», sagte er. «Sie sind der Verräter, ein treuer Diener, der kein treuer Diener war.»

Miss Neumann war zur Tür gegangen – hatte sie weit geöffnet und rief.

«Schwester. Kommen sie schnell. Kommen Sie.»

Die Schwester erschien. Sie warf einen raschen Blick auf Professor Shoreham, aber der winkte ab und zeigte quer durch den Raum zu Horsham und Munro, die den sich wehrenden Kleek festhielten. Ihre Hand reichte in die Kitteltasche. Shoreham stammelte: «Es ist Altamount, eine Herzattacke.»

«Von wegen Herzattacke», brüllte Munro, «es ist versuchter Mord.» Er blieb stehen.

«Halt den Kerl fest», sagte er zu Horsham und sprang quer durch den Raum.

«Mrs. Cortman? Seit wann sind Sie denn Krankenschwester? Wir hatten sie ja fast aus den Augen verloren, als Sie uns in Baltimore entwischt sind.»

Millie Jean kämpfte noch mit ihrer Kitteltasche. Jetzt erschien ihre Hand mit einer kleinen automatischen Pistole. Sie sah auf Shoreham, aber Munro blockte sie ab und Lisa Neumann stand vor Shorehams Sessel.

James Kleek schrie: «Auf Altamount, Juanita – schnell, auf Altamount.»

Ihr Arm schnellte hoch und sie schoss.

James Kleek sagte:

«Verdammt guter Schuss!»

Lord Altamount hatte eine klassische Erziehung genossen. Er sah James Kleek an und murmelte schwach:

«Jamie? Et tu, Brute!» und fiel zurück gegen die Stuhllehne.

III

Dr. McCulloch sah sich um, etwas unsicher, was er noch tun oder sagen sollte. Der Abend war für ihn eine etwas ungewöhnliche Erfahrung gewesen.

Lisa Neumann trat zu ihm und stellte ein Glas neben ihn.

«Ein heißer Grog», sagte sie.

«Ich wusste schon immer, Sie sind die Beste von allen, Lisa», sagte er anerkennend.

«Ich wüsste schon gern, was das hier alles zu bedeuten hat – aber ich nehme an, das ist eine so geheime Sache, dass mir niemand etwas darüber erzählen wird.»

«Es geht dem Professor doch gut, oder?»

«Der Professor», er blickte freundlich in ihr besorgtes Gesicht. «Ihm geht es gut. Wenn Sie mich fragen, hat ihm das sehr gut getan.»

«Ich dachte, vielleicht der Schock –»

«Es geht mir gut», sagte Shoreham. «Ich brauchte Schockbehandlung – ich fühle mich – wie soll ich sagen, wieder lebendig.» Er sah überrascht aus.

McCulloch sagte zu Lisa: «Merken Sie, wie viel kräftiger seine Stimme ist? Apathie ist der größte Feind in solchen Fällen – was er braucht, ist seine Arbeit, die Anregung einer geistigen Tätigkeit. Musik ist schön und gut – sie hat ihn besänftigt und das Leben in Ruhe genießen lassen. Aber er ist ein Mann von so großer intellektueller Kraft – und er vermisst die geistige Betätigung, die einmal sein Lebenselixier war. Setzen Sie ihn wieder daran, wenn Sie können.»

Er nickte ihr ermutigend zu, während sie ihn skeptisch ansah.

«Ich glaube, Dr. McCulloch», sagte Oberst Munro, «wir schulden Ihnen ein paar Erklärungen über die Ereignisse des heutigen Abends, selbst wenn unsere höheren Mächte eine Politik der Geheimhaltung verlangen. Lord Altamounts Tod –»

«Die Kugel hat ihn nicht getötet», sagte der Arzt. «Der Tod ist durch Schock eingetreten. Die Spritze hätte ihren Zweck erfüllt – Strychnin. Der junge Mann –»

«Ich habe sie ihm gerade noch entreißen können», sagte Horsham.

«Er war also der Übeltäter?», fragte der Doktor.

«Ja – und er wurde mehr als sieben Jahre mit Vertrauen und Zuneigung bedacht. Er war der Sohn eines der ältesten Freunde von Lord Altamount –»

«Das kann passieren. Und die Dame – sie steckten beide unter einer Decke?»

«Ja. Sie hat sich die Stelle hier mit falschen Zeugnissen erschwindelt. Sie wird auch polizeilich wegen Mordes gesucht.»

«Mord?»

«Ja. Mord an ihrem Mann, Sam Cortman, dem amerikanischen Botschafter. Sie hat ihn auf den Stufen der Botschaft erschossen – und später etwas von maskierten jungen Männern, die ihn attackierten, erzählt.»

«Warum hatte sie es auf ihn abgesehen? War das politisch oder persönlich?»

«Wir nehmen an, er hat einige ihrer Aktivitäten entdeckt.»

«Ich würde sagen, er vermutete Untreue», sagte Horsham, «stattdessen fand er ein Wespennest von Spionage und Verschwörung. Und sein Frau leitete die ganze Geschichte. Er wusste nicht recht, wie er damit umgehen sollte. Ein netter Kerl, aber etwas langsam im Kopf – und sie war intelligent genug, schnell zu handeln. Wunderbar, wie sie Kummer heucheln konnte bei dem Gedenkgottesdienst.»

«Gedenk –», sagte Professor Shoreham.

Alle drehten sich verwundert zu ihm um.

«Schwierig auszusprechen, Gedenk – aber das meine ich so. Lisa, wir müssen wieder mit der Arbeit beginnen.»

«Aber, Robert –»

«Ich bin wieder zum Leben erwacht. Frag den Doktor, ob ich mich noch schonen muss.»

Lisa wandte den Blick fragend zu Dr. McCulloch.

«Wenn Sie das tun, verkürzen Sie Ihr Leben und werden in die Apathie zurücksinken –»

«Also», sagte Shoreham. «Mo-Mode, das ist medizinische Mode heutzutage. Jeder, selbst wenn er auf der Schwelle des Todes steht – soll weiterarbeiten –»

Dr. McCulloch lachte und stand auf.

«Gar nicht mal so falsch. Ich schicke Ihnen ein paar Pillen zur Unterstützung.»

«Die werde ich nicht nehmen.»

«Sie schaffen das schon.»

An der Tür blieb der Arzt stehen. «Ich würde nur gern wissen, wie Sie die Polizei so schnell hierherbekommen haben?»

«Staffelkapitän Andrews», sagte Munro, «hatte alles im Griff. Er kam auf die Minute. Wir wussten, dass die Frau hier irgendwo in der Nähe war, hatten aber nicht die geringste Ahnung, dass sie sich schon im Hause befand.»

«Nun – ich gehe jetzt. Stimmt das alles, was Sie mir erzählt haben? Ich habe das Gefühl, ich werde gleich aufwachen, weil ich mitten im neuesten Krimi eingeschlafen bin. Spione, Morde, Verräter, Spionage, Wissenschaftler –»

Er ging nach draußen.

Es war still im Raum.

Professor Shoreham sagte langsam und deutlich:

«An die Arbeit –»

Lisa sagte das, was alle Frauen immer sagen:

«Du musst vorsichtig sein, Robert –»

«Nein – nicht vorsichtig. Die Zeit könnte knapp werden.»

Dann sagte er wieder:

«Gedenk –»

«Was meinen Sie damit? Sie haben es schon einmal gesagt.»

«Gedenken. Ja. Für Edward. Ein Denkmal. Ich habe schon immer gedacht, er hat das Gesicht eines Märtyrers.»

Shoreham schien in Gedanken versunken.

«Ich würde Gottlieb gern dabeihaben. Aber vielleicht ist er schon tot. Ein guter Mitarbeiter. Mit ihm und mit dir, Lisa – hol die Sachen aus der Bank –»

«Professor Gottlieb lebt noch – man findet ihn in der Baker Foundation in Austin, Texas», sagte Mr. Robinson.

«Wovon redest du überhaupt?», fragte Lisa.

«Von Benvo, natürlich. Zum Gedenken an Edward Altamount. Er ist dafür gestorben, nicht wahr? Niemand sollte umsonst gestorben sein.»

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