5

Max Allgood, der Chef des Sicherheitsdienstes, schritt elastisch die Plasmeldstufen hinauf. Ihn begleiteten zwei Chirurgen. Die Morgensonne hinter ihnen sandte ihre Schattenpfeile auf die weißen Wände des Gebäudes. In der Eingangshalle wurden die Schatten silbern. Eine Barriere ging vor ihnen nieder. Quarantänedetektoren suchten sie nach schädlichen Mikroben ab.

Mit der Geduld langer Erfahrung unterwarf sich Max Allgood dieser Prozedur. Es amüsierte ihn, daß seine Begleiter, Boumour und Igan, hier auf ihre Titel verzichten mußten. In diesen Räumen waren Ärzte verpönt; hier waren sie ›Pharmazeuten‹. Der Titel ›Doktor‹ trug in sich den Unterton einer Gefahr für die Regenten, die Unruhe schuf. Natürlich wußten sie, daß es Ärzte gab, doch das waren nur Beamte für die Nur-Menschen. Ärzte waren hier widersinnig; niemand sprach die Worte ›Tod‹ oder ›töten‹ aus, niemand wagte auch davon zu sprechen, daß ein Material, eine Maschine, ein Bauwerk altern konnte. Nur neue Regenten, sozusagen als ehrfürchtige Lehrlinge, oder junge Nur-Menschen dienten in der Zentrale, wenn auch die Nur-Menschen von ihren Lehrmeistern oft eine bemerkenswert lange Zeit hindurch jung erhalten wurden.

Boumour und Igan bestanden den Jugendlichkeitstest, wenn auch Boumours Gesicht jenem hageren, fast durchsichtigen Typ angehörte, der zum vorzeitigen Altern neigte. Er war ein großer Mann mit breiten, kräftigen Schultern. Neben ihm sah Igan mager und zerbrechlich aus; in seinem Vogelgesicht stand über einem langen Kinn ein verkniffener Mund. Die Augen beider Männer waren von der Regentenfarbe, einem durchdringenden Blau. Vermutlich kamen beide in ihrer Genstruktur den Regenten nahe, und das traf auf die meisten Chirurgen der Zentrale zu.

Die beiden liefen unruhig auf und ab; Allgood beobachtete sie. Boumour redete leise auf Igan ein und knetete mit nervösen Fingern dessen Schulter. Das sah seltsam vertraut aus, und Allgood hatte den Eindruck, als habe er das schon irgendwo gesehen. Er wußte nur nicht wo.

Die Quarantäneuntersuchungen schienen Allgood diesmal länger zu dauern als üblich. Er wurde sich dessen bewußt, daß er ungewöhnlich gut Bescheid wußte in der Zentrale, denn er hatte Zutritt zu Geheimakten, ja sogar zu alten Büchern. Der Einflußbereich der Regenten umfaßte jenes Gebiet, das einst Kanada und Vereinigte Staaten geheißen hatte. Der Regierungssitz selbst nahm eine Fläche von etwa siebenhundert Kilometern im Durchmesser ein und reichte zweihundert Stockwerke tief hinab. Es war eine Region vielfacher Kontrollen: Wetter-, Gene-, Enzymkontrolle, bakteriologische und menschliche Kontrolle. In dieser kleinen Ecke war der Erdboden zu einer holzschnitthaft anmutenden italienischen Landschaft gestaltet worden — Schwarz- und Grautöne, mit pastellzarten Farbtupfern.

Innerhalb der Zentrale hatte man die Natur soweit verändert, daß sie jede Schärfe verlor. Selbst wenn die Regenten ein Naturschauspiel über die Bühne gehen ließen, fehlte ihm jener dramatische Effekt, der auch ihrem Leben mangelte.

Manchmal dachte Allgood darüber nach. Er hatte Filme aus der Vorregentenzeit gesehen und wußte, worin der Unterschied lag. Die ganze polierte Hübschheit der Zentrale schien jene roten Dreiekke zu tragen, die das Kennzeichen der pharmazeutischen Zapfhähne waren, wo die Regenten ihren Enzymbedarf decken konnten.

»Brauchen die immer so lange, oder ist es nur meinetwegen?« fragte Boumour. Seine Stimme klang unwirsch.

»Geduld«, riet Igan in gedämpftem Bariton.

»Ja«, sagte Allgood. »Geduld ist der beste Verbündete des Menschen.«

Boumour musterte den Sicherheitschef. Allgood sprach nur dann, wenn er Eindruck machen wollte. Er, nicht die Regenten, war der größte Feind der Verschwörung. Er war ein Herz und eine Seele mit seinen Herren, eine Marionette in ihren Händen. Weshalb mußten wir ihn heute begleiten? überlegte Boumour. Weiß er etwas? Will er uns denunzieren?

Allgood war von faszinierender Häßlichkeit, ein stämmiger, kleiner Nur-Mensch mit einem Vollmondgesicht und Glotzaugen und einem dichten, schwarzen Haarschopf über der Stirn — ein Shangtyp nach seinen Genmerkmalen.

Allgood wandte sich der Quarantänebarriere zu, und in diesem Augenblick erkannte Boumour den Grund seiner Häßlichkeit: Sie kam von innen her. Es war die Häßlichkeit der Angst, die Angst schuf. Diese Erkenntnis erleichterte ihn, und er signalisierte sie Igan durch die Finger an dessen Schulter.

Igan ging rasch weg und sah zur offenen Tür hinaus. Natürlich hat Max Allgood Angst, dachte er; er lebt in einem Nebel von Angst, bekannt oder namenlos, ebenso wie die Regenten … Arme Geschöpfe!

»Es ist soweit«, sagte Boumour.

Die Quarantänebarriere hatte sich gehoben. Die drei Männer betraten die große Ratshalle mit ihren Adamantinwänden über leeren Bankreihen aus Plasmeld. Schleier parfümierter Luft wehten ihnen entgegen und wichen zur Seite, sobald sie ihren Duft atmeten.

Die Diener der Regenten traten aus dem Schatten hervor und gesellten sich zu ihnen; sie trugen grüne Umhänge, die an den Schultern mit Diamantspangen befestigt waren. Hirtenflöten aus Platin waren in die grünen Gewänder eingewoben, und aus goldenen Weihrauchfässern stiegen Wolken rosafarbenen antiseptischen Rauches auf.

Allgood richtete seine Aufmerksamkeit auf das Ende der Halle. Eine riesige Kugel, rot wie ein Paradiesapfel, hing dort an Schwingbalken. Sie maß etwa vierzig Meter im Durchmesser; ein Stück war zurückgeschlagen, und durch dieses Segment konnten sie einen Blick ins Innere der Kugel tun. Sie war das Kontrollzentrum der Tuyère, das Werkzeug ihrer seltsamen Kräfte und Sinne, mit denen sie ihre Untertanen regierten. Blitze zuckten durch phosphorgrüne und blaue, knisternde Bogen. Große, runde Skalen gaben Nachrichten durch und rote Lichter beantworteten sie.

Wie der Kern in einer Frucht saß in der Mitte der Kugel eine weiße Säule, darauf genau in ihrem Herzen eine dreieckige Plattform. Jede Ecke trug einen goldenen Plasmeldthron für das Trio, das als die Tuyère bekannt war — Freunde, Gefährten, die gewählten Regenten für dieses Jahrhundert, das noch achtundsiebzig Dienstjahre vor sich hatte. Die Zeit lief ihnen davon; das war manchmal ärgerlich und oft beunruhigend, denn sie mußten sich der Wirklichkeit stellen, die von allen anderen Regenten nur beschönigt wurde.

Die Diener blieben etwa zwanzig Schritte vor der roten Kugel stehen, schwangen aber noch immer ihre Weihrauchfässer. Allgood trat einen Schritt vor und bedeutete Boumour und Igan, hinter ihm zu bleiben. Der Sicherheitschef wußte genau, wie weit er zu gehen hatte — bis an die Grenze des Möglichen. Sie brauchen mich, sagte er zu sich selbst. Aber er gestattete sich keine Illusionen über die Gefährlichkeit dieser Unterredung. Allgood blickte nach oben. Ein tanzendes Spitzenwerk legte einen durchscheinenden Schleier über das Innere der Kugel. Durch ihn sah er Umrisse und Gestalten, bald klar, bald verschwommen.

»Ich bin gekommen«, sagte Allgood.

Boumour und Igan wiederholten den Gruß und erinnerten sich all jener Zeremonien, die unbedingt einzuhalten waren: Es ist immer der Name jenes Regenten zu nennen, der angesprochen wird. Ist der Name nicht bekannt, so ist er demütig zu erfragen.

Allgood wartete auf die Antwort der Tuyère. Manchmal hatten sie überhaupt kein Zeitgefühl; das konnte stimmen. Ein unendliche Lebensspanne läßt Jahre wie den Schlag einer Uhr empfinden.

Die Thronplattform drehte sich und zeigte einen der Tuyère nach dem anderen. Sie saßen dort in eng anliegenden, durchscheinenden Gewändern, die sie fast nackt erscheinen ließen. Das sollte die Ähnlichkeit mit den Nur-Menschen demonstrieren. Nun schwebte Nourse, eine griechische Göttergestalt mit einem Gesicht wie aus Holz geschnitzt und schweren Brauen, an dem offenen Segment vorüber. Seine kräftigen Brustmuskeln hoben sich mit jedem Atemzug. Wie gleichmäßig er atmete!

Als nächster erschien Schruille, der Überschlanke, Undurchschaubare mit großen, runden Augen, hohen Wangenknochen und platter Nase über dem schmallippigen, fast mißmutigen Mund. Der war gefährlich. Man behauptete, er spreche Dinge aus, die andere Regenten nicht zu sagen wagten. In Allgoods Gegenwart hatte er sogar einmal das Wort ›Tod‹ erwähnt, wenn es sich auch nur auf einen Schmetterling bezog.

Als dritte erschien Calapine; sie trug kristallene Schärpen als Gürtel. Sie war eine schlanke Frau mit hohen Brüsten, goldbraunem Haar und kalten, überheblichen Augen; ihr Mund war voll, die Nase lang, das Kinn ausgeprägt spitz. Manchmal hatte Allgood bemerkt, daß sie ihn ganz seltsam ansah. Dann versuchte er nicht an die Regenten zu denken, die sich Nur-Menschen zum Gefährten nahmen.

Nourse sprach mit Calapine und sah sie durch den Prismenreflektor an, mit dem jeder Thron ausgestattet war. Sie antwortete, aber die Stimmen waren unten nicht vernehmbar.

Allgood beobachtete dieses Zwischenspiel, um herauszufinden, wie sie gelaunt waren. Das Volk wußte, daß Nourse und Calapine durch mehr als hundert Lebensalter der Nur-Menschen Bettgefährten waren. Nourse hatte den Ruf der Stärke und Ausgewogenheit, aber Calapine war wild und unberechenbar. Fiel ihr Name, so fragte sicher jemand: Was hat sie denn jetzt wieder getan? Das klang dann immer nach angstvoller Bewunderung. Allgood kannte diese Angst. Er hatte schon für andere Trios gearbeitet, aber noch keines hatte dieses Format besessen.

Der Thron mit Nourse hielt an dem offenen Segment an. »Du bist gekommen«, polterte er, »natürlich bist du gekommen. Der Ochse kennt seinen Besitzer und der Esel seines Herrn Krippe.«

Calapine drehte ihren Thron herum, so daß sie auf die Nur-Menschen niederblicken konnte. Die Ratshalle war nach dem Vorbild des altrömischen Senats gebaut worden mit Säulen aus Plasmeld und Bankreihen unter glitzernden Teleskopaugen. Alle konzentrierten sich auf die Gestalten, die allein dort unten standen.

Igan sah nach oben und erinnerte sich daran, daß er diese Kreaturen sein Leben lang gehaßt und gefürchtet hatte, selbst wenn er sie bemitleidete. Welches Glück, nicht zum Regenten geformt worden zu sein! Ich war nahe daran, dachte er, aber ich wurde davor bewahrt. Seine Kindheit war von Haß erfüllt; erst später lernte er sie zu bemitleiden. Das war dann eine klare Angelegenheit, hart und real, ein Strahl, gerichtet gegen die Spender der Zeit.

»Wir kamen, wie gewünscht, um über die Durants zu berichten«, sprach Allgood. Er holte tief Atem. Solche Sitzungen waren immer äußerst gefährlich, doppelt gefährlich, seit er ein doppeltes Spiel spielte. Es gab keinen Weg zurück, auch nicht den Wunsch nach einer Umkehr, seit er seine Doppelgänger entdeckt hatte, die heranwuchsen. Es gab nur einen einzigen Grund dafür: nun, sie würden ihn erfahren.

Calapine musterte Allgood und überlegte, ob sie bei diesem häßlichen Mann aus dem Volk Zerstreuung suchen sollte. Vielleicht war das ein Mittel gegen Langeweile.

»Sag, kleiner Max, was wir dir geben«, forderte sie ihn auf.

Ihre sanfte Stimme hatte einen Unterton von Lachen, doch sie erschreckte ihn. Allgood schluckte. »Ihr gebt Leben, Calapine«.

»Sag, wieviel gute Jahre du erlebt hast?«

Die Kehle war ihm wie zugeschnürt. »Fast vierhundert, Calapine«, krächzte er.

Nourse kicherte. »Und vor dir liegen noch viele schöne Jahre, wenn du uns gut dienst«, sagte er.

Das kam einer Drohung recht nahe. Sie erzwangen ihren Willen auf indirektem Weg, mit subtiler Erpressung. Sie versicherten sich der Dienste jener Nur-Menschen, die Worte wie ›Tod‹ und ›töten‹ ertrugen.

Wen haben sie geformt, mich zu vernichten? überlegte Allgood.

»Viele schöne Jahre«, sagte Calapine.

»Genug!« murrte Schruille. Er verachtete solche Unterhaltungen Calapines mit der Unterklasse. Er drehte seinen Thron, und nun sahen alle drei der Tuyère durch das offene Segment. Schruille besah seine Hände mit der ewig jungen Haut. Warum war er wohl eben so heftig geworden? War es eine Unausgewogenheit der Enzyme? Dieser Gedanke beunruhigte ihn. Meistens schwieg er bei solchen Sitzungen, denn er neigte dazu, diese armen NurMenschen zu bedauern, und hernach verachtete er sich dafür.

»Wünschen die Tuyère nun den Bericht über die Durants?« fragte Boumour.

Allgood wurde wütend. Wußte dieser Narr denn nicht, daß die Unterhaltung wenigstens scheinbar immer von den Regenten geführt wurde?

»Die Worte und Bilder deines Reports haben wir gesehen«, knurrte Nourse, »und jetzt wünschen wir den Nicht-Report.«

Nicht-Report? überlegte Allgood. Glaubt er, wir haben etwas verborgen?

»Kleiner Max«, fragte Calapine, »hast du, wie die Notwendigkeit gebot, diese Computerassistentin in Narkose verhört?«

Das ist es also, überlegte Allgood und atmete tief. »Sie wurde verhört, Calapine.«

»Ich möchte etwas sagen«, fiel Igan ein, »wenn ich…«

»Halt deinen Mund, Pharmazeut«, gebot Nourse, »wir sprechen mit Max.«

Igan senkte den Kopf. Wie gefährlich das ist, schoß es ihm durch den Kopf, und alles nur wegen dieser Närrin. Sie gehörte nicht einmal zu uns. Kein registrierter Cyborg kennt sie. Gehört keiner Zelle an, keiner Gruppe. Reiner Zufall — eine Sterrie, und sie bringt uns in so schreckliche Gefahr!

»Hat diese Assistentin das absichtlich getan?« fragte Calapine. »Eure Agenten haben es nicht gesehen, aber wir wissen, es mußte so gewesen sein.« Sie warf einen prüfenden Blick auf die Instrumente. »Sag jetzt, weshalb das geschah.«

Allgood seufzte. »Ich habe keine Entschuldigung, Calapine. Die Männer wurden alle verhört.«

»Und warum hat die Assistentin so gehandelt? Antworte.«

Allgood sah Boumour und Igan an, die zu Boden schauten. Er hob den Blick zu Calapines schimmerndem Gesicht. »Es ist uns nicht gelungen, ihre Motive zu entdecken, Calapine.«

»Nicht gelungen?« grollte Nourse.

»Sie … ahh … hörte während des Verhörs zu existieren auf, Nourse«, antwortete Allgood. Die Tuyère versteiften sich. »Die Pharmazeuten sagten mir, ihre Genkonstruktion habe einen Makel gehabt.«

»Das ist unendlich bedauerlich«, meinte Nourse und lehnte sich zurück.

»Es konnte auch eine absichtliche Selbstauslöschung gewesen sein, Nourse«, platzte Igan heraus.

Dieser verdammte Narr, dachte Allgood. Aber Nourse sah Igan an. »Du warst anwesend, Igan?«

»Boumour und ich verabreichten die Narkosemittel.«

Und sie starb dabei, dachte Igan. Aber wir haben sie nicht getötet. Sie starb, und uns gibt man die Schuld daran. Wo konnte sie den Trick gelernt haben, ihr Herz stillstehen zu lassen? Nur die Cyborgs kennen und lehren ihn.

»Max!« fragte Calapine. »Sag jetzt, ob du außerordentliche … Grausamkeit angewandt hast?« Sie beugte sich nach vorn.

»Sie hat nicht gelitten, Calapine«, erwiderte Allgood.

Enttäuscht lehnte sich Calapine zurück. Log er? Sie las ihre Instrumente ab. Nein, er log nicht.

»Pharmazeut«, befahl Nourse, »erkläre deine Meinung.«

»Wir haben sie sorgfältig untersucht«, antwortete Igan. »Es konnten nicht die Narkosemittel gewesen sein. Es ist nicht möglich …«

»Einige von uns glaubten, es sei ein genetischer Makel gewesen«, warf Boumour ein.

»Ich pflichte ihm nicht bei«, sagte Igan. Er sah Allgood an und spürte, daß dieser damit nicht einverstanden war. Doch es mußte getan werden. Die Regenten mußten einmal erfahren, was Unruhe heißt. Konnte man sie mit Tricks zu gefühlsmäßigem Handeln bringen, dann machten sie Fehler. Sie mußten aus dem Gleichgewicht gebracht werden, und zwar auf unmerkliche, raffinierte Art.

»Deine Meinung, Max?« fragte Nourse. Er ließ ihn nicht aus den Augen. In letzter Zeit zeigten die Doppelgänger deutliche Degenerationserscheinungen.

»Wir haben schon Zellmasse beiseite getan, Nourse«, erklärte Allgood, »und stellen damit ein Duplikat her. Bekommen wir eine genaue Kopie, können wir auch die Frage des genetischen Makels untersuchen.«

»Zu schade, daß die Doppelgänger nicht das Gedächtnis des Originals haben«, meinte Nourse.

»Wirklich, zu schade«, bedauerte Calapine. Sie sah Schruille an. »Stimmt das nicht, Schruille?«

Dieser sah sie an, ohne zu antworten. Glaubte sie, sie könne ihn ködern, so wie die Nur-Menschen?

»Hatte diese Frau einen Gefährten?« fragte Nourse.

»Ja, Nourse«, erwiderte Allgood.

»Fruchtbar?«

»Nein, Nourse. Sie war eine Sterrie.«

»Entschädige den Gefährten«, befahl Nourse. »Eine andere Frau, ein bißchen Muße. Laß ihn denken, sie sei uns gegenüber loyal gewesen.«

Allgood nickte. »Wir geben ihm eine Frau, die ihn ständig unter Beobachtung hat.«

Calapine lachte schallend. »Und warum hat noch niemand diesen Potter erwähnt, den Genetikingenieur?« fragte sie.

»Ich wollte gerade auf ihn zu sprechen kommen, Calapine«, sagte Allgood.

»Hat irgend jemand den Embryo überprüft?« erkundigte sich Schruille und sah plötzlich auf.

»Nein, Schruille«, gab Allgood zu.

»Und warum nicht?«

»Wenn dies eine geplante Tat ist, um der genetischen Kontrolle zu entgehen, Schruille, dann wünschen wir nicht, daß die Mitglieder dieser Organisation erfahren, daß wir sie verdächtigen. Noch nicht. Zuerst müssen wir alles über diese Leute erfahren, die Durants, ihre Freunde, Potter — über alle.«

»Aber der Embryo ist doch der Schlüssel zu allem«, wandte Schruille ein. »Was ist mit ihm?«

»Er ist der Köder, Schruille.«

»Wieso Köder?«

»Ja, Schruille, um die zu fangen, die in der Sache stecken.«

»Was ist mit ihm geschehen?«

»Ist das denn wichtig, Schruille, so lange wir … ihn unter Kontrolle haben?«

»Ich hoffe, der Embryo wird genauestens bewacht«, warf Nourse ein.

»Sehr genau«, versicherte Allgood.

»Dann schicke den Pharmazeuten Svengaard hierher«, befahl Calapine.

»Svengaard … Calapine?« fragte Allgood.

»Den Grund dafür brauchst du nicht zu wissen«, erklärte sie, »du brauchst ihn nur hierher zu schikken.«

»Ja, Calapine.«

Sie erhob sich, um das Ende der Unterredung anzuzeigen. Die Diener wandten sich um, schwangen ihre Weihrauchfässer und bereiteten sich darauf vor, die Nur-Menschen aus der Halle zu geleiten. Doch Calapine war noch nicht fertig. »Sieh mich an, Max«, befahl sie.

Er hob den Blick und begegnete ihren prüfenden Augen.

»Bin ich nicht schön?« fragte sie.

Allgood starrte sie an, diese schlanke Gestalt, deren Umrisse von ihrem Gewand und dem Energievorhang in der Kugel sanft verwischt waren. Sie war schön wie die meisten der Regentinnen, doch ihre Schönheit war abweisend in ihrer bedrohlichen Vollkommenheit. Sie würde unendlich lange leben, und sie hatte schon vierzig- oder fünfzigtausend Jahre lang gelebt. Aber eines Tages würde sein weniger vollkommener Körper sich weigern, die Enzymgaben anzunehmen. Dann würde er sterben, und sie lebte weiter, immer weiter. Und sein schwächerer Körper lehnte sie ab.

»Ihr seid sehr schön, Calapine«, antwortete er.

»Deine Augen geben das aber niemals zu.«

»Was willst du, Cal?« fragte Nourse. »Willst du diesen … willst du Max haben?«

»Ich will seine Augen«, sagte sie, »nichts als seine Augen.«

Nourse sah Allgood an. »Ach, Weiber …« Seine Stimme hatte einen Anflug falscher Kameraderie.

Allgood staunte. Einen solchen Ton hatte er von einem Regenten noch nie gehört.

»Unterbrich mich nicht mit Männerwitzen«, sagte Calapine. »Max, welche Gefühle hat dein innerstes Herz mir gegenüber?«

»Ah«, machte Nourse und nickte.

»Ich werde es dir sagen«, fuhr sie fort, als Allgood stumm blieb. »Du verehrst mich. Vergiß das nicht, Max. Du verehrst mich.« Sie sah Boumour und Igan an und entließ sie mit einem Wink.

Allgood senkte die Augen; er fühlte, daß sie die Wahrheit sprach. Er wandte sich um und ging, geleitet von den Dienern, mit Igan und Boumour zum Ausgang der Halle. An den Stufen angekommen, blieben die Diener stehen und senkten die Quarantänebarriere. Igan und Boumour wandten sich nach links und bemerkten ein neues Gebäude am Ende einer langen Esplanade, die am Verwaltungsgebäude entlanglief. Sie sahen die mit Pechnasen versehenen Mauern, die Öffnungen mit den farbigen Filtern, aus denen rotes, blaues und grünes Licht zuckte, und sie wußten, daß ihr Weg aus der Zentrale blockiert war. Ein plötzlich errichtetes Gebäude, Spielzeug eines Regenten. Die NurMenschen und Bewohner der Zentrale schienen den Weg durch verschlungene Wege und Straße instinktmäßig zu kennen. Kartographen hatten hier kein leichtes Spiel, denn die Regenten liebten Abwechslung und wunderliche Einfälle viel zu sehr.

»Igan!« Es war Allgood, der rief.

Sie drehten sich um und warteten auf ihn. Allgood stellte sich, die Hände in die Hüften gestemmt, vor ihnen auf. »Verehrt ihr sie auch?«

»Rede keinen Unsinn«, antwortete Boumour.

»Nein«, sagte Allgood. Seine Augen über den hohen Backenknochen schienen tief in die Höhlen gesunken zu sein. »Ich gehöre keinem Kult an, keiner Züchterkongregation. Wie kann ich sie also verehren?«

»Aber du tust es«, stellte Igan fest.

»Ja!«

»Sie sind die wirkliche Religion unserer Welt«, erklärte Igan. »Du brauchst keinem Kult anzugehören und auch keinen Talisman zu tragen, um das zu wissen. Calapine hat dir nur gesagt, daß all jene, die einer Verschwörung angehören — falls es eine gibt —, Häretiker sind.«

»Hat sie das wirklich gemeint?«

»Ja, selbstverständlich.«

»Und sie weiß, was mit Häretikern geschieht«, sagte Allgood.

»Zweifellos«, bekräftigte Boumour.

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