ERSTER TEIL Festlicher Abend

Der Mars war leer, ehe wir kamen.

Das soll nicht heißen, es wäre niemals etwas geschehen. Der Planet hatte sich zusammengeballt, war geschmolzen, aufgewühlt und abgekühlt. Er hatte eine Oberfläche hinterlassen, die durch gewaltige geologische — oder besser: areologische — Gebilde geprägt war: Krater, Schluchten, Vulkane. Aber all das war in mineralischer Bewusstlosigkeit geschehen und wurde nicht beobachtet. Es gab keine Zeugen — mit Ausnahme von uns, die wir von dem benachbarten Planeten aus zuschauten, und das erst im letzten Moment seiner langen Geschichte. Wir stellen das ganze Bewusstsein dar, welches der Planet je besaß.

Jetzt kennt ein jeder die Geschichte des Mars im menschlichen Geist. Wie er für alle vorgeschichtlichen Generationen eine der wichtigsten Leuchten am Himmel war wegen seiner roten Farbe und schwankenden Helligkeit sowie der Art, wie er bei seiner Wanderung zwischen den Sternen anhielt und bisweilen sogar die Richtung umkehrte. Es war, als ob er mit alledem etwas sagen wollte. So ist es vielleicht nicht überraschend, dass alle die ältesten Namen für Mars besonders gewichtig wirken — Nirgal, Mangala, Auqakuh, Harmakhis. Sie klingen so, als wären sie noch älter als die uralten Sprachen, in denen sie vorkommen, und als wären es fossile Wörter aus der Eiszeit oder noch früher. Ja, im Laufe von Jahrtausenden war der Mars bei menschlichen Angelegenheiten eine heilige Macht; und seine Farbe machte ihn zu einer gefährlichen Kraft, da sie Blut, Zorn, Krieg und das Herz darstellte.

Dann bescherten uns die ersten Fernrohre einen näheren Anblick. Wir sahen die kleine orangefarbene Scheibe mit ihren weißen Polen und dunklen Flecken, die sich ausdehnten und schrumpften im Verlauf der langen Jahreszeiten des Planeten. Keine technische Verbesserung der Teleskope gab uns jemals mehr als das. Aber die besten von der Erde aus gewonnenen Bilder gaben Percival Lowell genügend undeutliche Hinweise für die Erfindung einer Geschichte, die wir alle kennen, der Geschichte von einer sterbenden Welt und einem heldenhaften Volk, das in seiner Verzweiflung Kanäle baute, um das letzte tödliche Vordringen der Wüste zu verhindern.

Das war eine großartige Geschichte. Aber dann schickten die Sonden Mariner und Viking ihre Fotos, und alles änderte sich. Unser Wissen über den Mars erweiterte sich um Größenordnungen, und wir erfuhren buchstäblich millionenfach mehr über ihn, als wir zuvor besaßen. Und so entfaltete sich vor uns eine neue Welt, eine Welt, die niemand geahnt hatte.

Indessen schien sie eine Welt ohne Leben zu sein. Die Leute suchten nach Anzeichen früheren oder gegenwärtigen Lebens auf dem Mars, nach allem möglichen von Mikroben bis hin zu den unglücklichen Erbauern von Kanälen oder sogar Besuchern von außerhalb. Wie Sie wissen, wurden niemals Hinweise solcher Art gefunden. Und so sind natürlich Geschichten erblüht, um die Lücke zu füllen — gerade so wie zu Zeiten von Lowell oder Homer oder der Höhlenmenschen und Bewohnern von Savannen. Das waren Geschichten von Mikrofossilien, die durch unsere Bio-Organismen vernichtet wurden, oder von Ruinen, die in Staubstürmen gefunden wurden und dann für immer verloren gingen, von dem Großen Menschen und all seinen Abenteuern, sowie den schwer erfassbaren kleinen roten Männchen, die man immer nur im Augenwinkel zu sehen bekam. Diese Geschichten wurden alle erzählt in dem Bemühen, den Mars lebend zu sehen oder ihn wieder mit Leben zu erfüllen. Denn wir sind immer noch die Wesen, welche die Eiszeit überlebt haben, die voll Staunen zum Nachthimmel aufgeschaut und Geschichten erzählt haben. Und der Mars hat nie aufgehört, das zu sein, was er für uns von Anbeginn gewesen ist — ein großes Zeichen, ein großes Symbol, eine große Macht.

Und so sind wir hierher gekommen. Er war eine Macht, jetzt ist er ein Ort.


»… und so sind wir hierher gekommen. Was sie aber nicht erkannten, war, dass wir um die Zeit, da wir auf den Mars kamen, durch die Ausreise so verändert sein würden, dass das, was man uns zu tun aufgetragen hatte, keine Rolle mehr spielte. Es war nicht wie Leben unter Wasser oder wie die Besiedlung des Wilden Westens — es war eine völlig neue Erfahrung. Und als der Flug der Ares andauerte, war die Erde schließlich so weit entfernt, dass sie nicht mehr war als ein blauer Stern unter all den anderen, so weit entfernt, dass sie aus einem früheren Jahrhundert zu stammen schien. Wir waren auf uns allein gestellt und wurden so zu fundamental anderen Wesen.«

Lauter Lügen, dachte Frank Chalmers ärgerlich. Er saß unter einer Reihe von Würdenträgern und verfolgte, wie sein alter Freund John Boone seine übliche Anfeuerungsrede hielt. Die stimmte Chalmers missmutig. Die lange Reise zum Mars hatte sich in Wahrheit so ausgewirkt wie eine endlose Eisenbahnfahrt. Sie waren nicht nur zu gründlich anderen Wesen, sondern tatsächlich ihrer selbst ähnlicher geworden denn je. Sie waren aller Gewohnheiten entblößt worden, bis nur noch das nackte Rohmaterial von ihnen übrig geblieben war. Aber John stand auf, richtete einen mahnenden Zeigefinger auf die Menge und sagte: »Wir sind hierher gekommen, um etwas völlig Neues zu tun; und als wir eintrafen, sind unsere irdischen Differenzen weggefallen, die in dieser neuen Welt irrelevant sind!« Jawohl, er meinte das alles wörtlich. Seine Vision vom Mars war eine Linse, die alles verzerrte, was er sah, eine Art von Religion.

Chalmers hörte nicht mehr hin und ließ seinen Blick über die neue Stadt schweifen. Sie würden sie Nicosia nennen. Es war die erste Stadt von nennenswerter Größe, die auf der Marsoberfläche freistehend erbaut werden sollte. Alle Gebäude befanden sich innerhalb von etwas, das praktisch ein ungeheuer großes durchsichtiges Zelt war, getragen von einem fast unsichtbaren Rahmen und errichtet auf der Anhöhe von Tharsis, westlich von Noctis Labyrinthus. Dieser Standort lieferte eine gewaltige Aussicht, mit einem Horizont, der im Westen durch den breiten Gipfel von Pavonis Mons markiert war. Für die Marsveteranen in der Menge war es berauschend: Sie waren heraus aus den Gräben und Mesas und Kratern und konnten für immer etwas sehen! Hurra!

Ein Lachen im Publikum richtete Franks Aufmerksamkeit wieder auf seinen alten Freund. John Boone hatte eine etwas heisere Stimme und einen angenehmen Akzent des Mittelwestens; und er war abwechselnd (und manchmal alles zugleich) entspannt, angestrengt, ergeben, selbstkritisch, bescheiden, vertrauensvoll, ernsthaft und spaßig. Kurzum — der perfekte öffentliche Redner. Und die Hörerschaft war hingerissen. Es war der erste Mensch auf dem Mars, der zu ihnen sprach; und nach ihren Mienen zu urteilen, hätten sie ebenso gut zuschauen können, wie Jesus ihnen ihr Abendessen aus Broten und Fischen erzeugte. Und John verdiente wirklich fast ihre Verehrung, weil er auf einem anderen Planeten ein ähnliches Wunder vollbrachte, indem er ihr auf Konservendosen beruhendes Leben in eine erstaunliche geistige Reise verwandelte. »Auf dem Mars wird es so sein, dass wir mehr denn je zuvor uns umeinander kümmern«, sagte John. Das bedeutete, wie Chalmers dachte, einen alarmierenden Fall jener Art von Verhalten, wie man sie bei Experimenten mit Überbevölkerung an Ratten beobachtet hat. John sagte: »Der Mars ist ein erhabener, exotischer und gefährlicher Ort«, wobei er eine gefrorene Kugel aus oxidiertem Gestein meinte, auf der sie etwa fünfzehn Rem[1] jährlich ausgesetzt waren. »Und mit unserer Arbeit«, fuhr er fort, »gestalten wir eine neue soziale Ordnung und den nächsten Schritt in der Geschichte der Menschheit«, also die jüngste Variante in der Dynamik der Vorherrschaft von Primaten.

John schloss mit dieser Floskel, und es gab natürlich ein riesiges Beifallsgebrüll. Dann betrat Maya Toitovna das Podium, um Chalmers vorzustellen. Frank warf ihr einen privaten Blick zu, der besagte, dass er keineswegs in Stimmung war für einen ihrer Scherze. Sie sah das und sagte: »Unser nächster Redner ist der Treibstoff in unserem kleinen Raketenschiff gewesen«, was irgendwie ein Lachen hervorrief. »Seine Vision und Energie sind es, was uns in erster Linie zum Mars gebracht hat; also sparen Sie sich jegliche Beschwerden, die Sie für unseren nächsten Sprecher haben mögen — meinen alten Freund Frank Chalmers.«

Auf dem Podium war er selbst davon überrascht, wie groß die Stadt wirkte. Sie bedeckte ein langes Dreieck; und sie waren auf dessen höchstem Punkt versammelt, einem Park, der seinen westlichen Scheitel einnahm. Sieben Wege verliefen strahlenförmig nach unten durch den Park, um zu breiten, von Bäumen gesäumten und mit Gras bewachsenen Boulevards zu werden. Zwischen den Boulevards standen niedrige, trapezförmige Gebäude, deren jedes mit polierten Steinen unterschiedlicher Farben verkleidet war. Größe und Architektur verliehen den Bauten ein leicht pariserisches Aussehen — von Paris, wie es ein Betrunkener Fauvist im Frühling sah, mit Straßencafes und so weiter. Vier oder fünf Kilometer weiter unten war das Ende der City durch drei schlanke Wolkenkratzer markiert, jenseits derer die flachen Grünflächen der Farm lagen. Die Wolkenkratzer stellten einen Teil des Zeltgerüstes dar, welches über den Köpfen ein gewölbtes Netz von himmelfarbenen Linien bildete. Das Material des eigentlichen Zeltes war unsichtbar, so dass es aussah, als stünde man unter freiem Himmel. Dieser war goldfarben. Nicosia würde wohl eine beliebte Stadt werden.

Chalmers sprach zu den Zuhörern und erhielt begeisterte Zustimmung. Offenbar hatte er die Leute, launisch wie sie waren, ebenso in der Hand wie John. Chalmers war stämmig und dunkel und wusste, dass er einen Kontrast zu Johns gutem blondem Äußeren darstellte. Er wusste aber ebenso gut, dass er sein eigenes grobes Charisma hatte; und als er in Schwung kam, zog er die Menge damit an und verfiel in eine Auswahl seines Vorrats an Phrasen.

Dann fiel zwischen den Wolken ein Sonnenstrahl wie eine Lanze herunter, traf die nach oben gewandten Gesichter der Menge; und er empfand eine seltsame Verkrampfung im Magen. So viele Leute hier, so viele Fremde! Menschenmassen hatten etwas Erschreckendes an sich — alle diese feuchten, halbflüssigen Augen in rosa Fassungen, die ihn anschauten … das war fast zu viel. Fünftausend Menschen in einer einzigen Stadt auf dem Mars! Nach all den Jahren in Underhill war das schwer zu fassen.

Törichterweise suchte er seinen Hörern etwas davon mitzuteilen. Er sagte: »Seht euch nur um! Die Seltsamkeit unserer Anwesenheit hier ist … auffällig.«

Die Menge entglitt ihm. Wie sollte er es sagen? Wie sollte er sagen, dass allein sie in dieser ganzen steinernen Welt lebendig waren, sie, deren Gesichter wie Lampions bei Nacht leuchteten? Wie sollte er sagen, dass dies hier, selbst wenn Lebewesen weiter nichts waren als Träger unbarmherziger Gene, immer noch irgendwie besser war als die nackte mineralische Nichtshaftigkeit von allem anderen?

Natürlich konnte er das nicht aussprechen. Vielleicht niemals, und bestimmt nicht in einer Rede. Also nahm er sich zusammen und sagte: »In der Verlassenheit des Mars ist die Präsenz des Menschen gewiss eine bemerkenswerte Tatsache.« (Sie würden sich mehr umeinander kümmern denn jemals zuvor, wiederholte zynisch eine innere Stimme.) »Der Planet als solcher ist ein toter, gefrorener Alptraum« (deshalb exotisch und grandios), »und so auf uns allein angewiesen, befinden wir uns notwendigerweise im Prozess einer gewissen … Reorganisation« (oder Bildung einer neuen Ordnung) — so dass er sich tatsächlich dabei ertappte, dass er genau dieselben Lügen verkündete, die er gerade von John gehört hatte!

So bekam er am Ende seiner Rede auch einen donnernden Beifall. Verunsichert erklärte er, es sei Essenszeit, und beraubte damit Maya ihrer Chance für ein Schlusswort. Obwohl sie wahrscheinlich gewusst hatte, dass er das tun würde, und sich gar nicht darum gekümmert hatte, sich eins auszudenken. Frank Chalmers liebte es, das letzte Wort zu haben.


Die Leute strömten auf die improvisierte Plattform, um sich unter die Berühmtheiten zu mischen. Es war selten, dass man so viele der Ersten Hundert noch einmal auf einem Fleck antraf. So drängten sie sich um John und Maya, Samantha Hoyle, Sax Russell und Chalmers.

Frank blickte über die Menge auf John und Maya. Er erkannte nicht die Gruppe von Erdleuten, die sich um sie drängten. Das machte ihn neugierig, und er bahnte sich einen Weg über das Podium. Als er näher kam, sah er, wie Maya und John sich einen Blick zuwarfen. »Es gibt keinen Grund, weshalb es hier nicht unter normalem Gesetz funktionieren sollte«, sagte gerade einer der Erdleute.

Maya antwortete ihm: »Hat Sie der Olympus Mons wirklich an Mauna Loa erinnert?«

»Sicher«, sagte der Mann. »Schildvulkane sehen alle gleich aus.«

Frank starrte über den Kopf dieses Idioten Maya an. Sie erwiderte den Blick nicht. John tat so, als hätte er Franks Hinzukommen nicht bemerkt. Samantha Hoyle sprach leise mit einem anderen Mann, dem sie etwas erklärte. Der nickte und schaute dann unwillkürlich Frank an, dem Samantha weiter den Rücken zukehrte. Aber es war John, auf den es ankam, John und Maya. Und diese beiden taten so, als gäbe es nichts Ungewöhnliches. Aber der Gegenstand des Gesprächs, was immer er gewesen sein mochte, war dahin.


Chalmers verließ die Plattform. Immer noch strömten Menschen durch den Park nach unten, auf Tische zu, die an den oberen Enden der sieben Boulevards aufgestellt waren. Chalmers folgte ihnen unter jungen verpflanzten Sykomoren, deren khakifarbene Blätter das Licht des Nachmittags belebten, dass der Park aussah wie der Grund eines Aquariums.

An den Tischen des Banketts kippten Bauarbeiter Wodka hinunter und wurden ruppig — dunkel bewusst, dass mit der Fertigstellung der Konstruktion das heroische Zeitalter von Nicosia ein Ende gefunden hatte. Vielleicht galt das für den ganzen Mars.

Die Luft wurde erfüllt von durcheinander tönenden Gesprächen. Frank tauchte unter die Turbulenz und wanderte zur nördlichen Peripherie weiter. An einer brusthohen Betonkappe blieb er stehen. Das war die Stadtmauer. Aus den Metallstreifen darüber ragten vier Schichten aus klarem Kunststoff. Ein Schweizer gab mit fröhlichen Fingerzeigen einer Besuchergruppe Erklärungen.

»Eine äußere Membran aus piezoelektrischer Plastik erzeugt aus Wind Elektrizität. Dann enthalten zwei Flächen eine Schicht aus isolierendem Luft-Gel. Ferner ist die innere Fläche eine Strahlung auffangende Membran, die sich purpurn färbt und ersetzt werden muss. Klarer als ein Fenster, nicht wahr?«

Die Besucher stimmten zu. Frank langte hin und stieß an die innere Membran. Die dehnte sich, bis seine Finger knöcheltief eindrangen. Etwas kühl. Auf dem Kunststoff war ein matter weißer Aufdruck: ISIDIS PLANTTTA POLYMERE. Durch die Sykomoren konnte er über die Schulter noch die Plattform auf dem Scheitel erkennen. John und Maya und ihr Haufen Bewunderer von der Erde waren dort noch in lebhaftem Gespräch. Sie führten die Geschäfte des Planeten und entschieden über das Schicksal des Mars.

Er hielt den Atem an. Er fühlte, wie sich seine Backenzähne zusammenpressten. Er stieß so heftig an die Zeltwand, dass er die äußerste Membran hinausdrückte, was bedeutete, dass ein Teil seiner Wut eingefangen und als Elektrizität im Netz der Stadt gespeichert wurde. Es war in dieser Hinsicht ein besonderes Polymer — Kohlenstoffatome, mit Wasserstoff- und Fluoratomen so verbunden, dass die resultierende Substanz sogar noch stärker piezoelektrisch war als Quarz. Wenn man aber eines der drei Elemente austauschte, veränderte sich alles. Zum Beispiel ergab der Austausch von Chlor für Fluor das chemisch und mechanisch sehr resistente Verpackungsmaterial Saran.

Frank starrte auf seine eingehüllte Hand und dann wieder auf die anderen beiden Elemente, die noch miteinander verbunden waren. Aber ohne ihn waren sie ein Nichts!

Ärgerlich wandte er sich ab und ging durch die engen Straßen der Stadt.


Wie Miesmuscheln auf einem Stein hockte in einer Plaza eine Gruppe Araber zusammengedrängt und trank Kaffee. Araber waren auf dem Mars erst vor zehn Jahren eingetroffen, bildeten aber schon jetzt eine Macht, mit der man rechnen musste. Sie besaßen sehr viel Geld und hatten sich mit den Schweizern zusammengetan, um eine Anzahl von Städten zu gründen, einschließlich dieser hier. Und es gefiel ihnen auf dem Mars. »Es ist wie ein kühler Tag in einer leeren Wohnung«, wie die Saudis zu sagen pflegten. Die Ähnlichkeit war so groß, dass arabische Wörter schnell ins Englische rutschten, weil der arabische Wortschatz ein größeres Vokabular für diese Landschaft hatte: akaba für die steilen Hänge an Vulkanen, badia für die großen Dünen, nefuds für tiefen Sand, seyl für die Milliarden Jahre alten trockenen Flussbetten … Die Leute sagten, sie könnten ebenso gut gleich auf arabisch umschalten, und das war’s dann.

Frank hatte allerhand Zeit mit Arabern verbracht, und die Leute auf der Plaza freuten sich, ihn zu sehen. »Salaam aleykl« sagten sie zu ihm; und er antwortete: »Marhabba!« Weiße Zähne blitzten unter schwarzen Schnurrbärten. Nur Männer waren da, wie üblich. Einige Jugendliche führten ihn zu einem Tisch in der Mitte, wo die älteren Männer saßen, einschließlich seines Freundes Zeyk. Zeyk sagte: »Wir werden diesen Platz Hajr el-kra Meshab nennen, ›den großen freien roten Granitplatz in der Stadt‹.« Er zeigte auf die rostfarbenen Fliesen. Frank nickte und fragte, was für eine Art Stein das wäre. Er sprach Arabisch, soweit er konnte, ging bis an die Grenzen seiner Fähigkeit und erhielt einige gute Lacher als Antwort. Dann nahm er an dem zentralen Tisch Platz und entspannte sich. Er hatte den Eindruck, als ob er auf einer Straße in Damaskus oder Kairo wäre, behaglich in dem Gemisch von Arabisch und teurem Aftershave.

Er studierte die Gesichter der Männer, während sie sprachen. Ohne Zweifel eine fremdartige Kultur. Sie würden sich nicht verändern, bloß weil sie auf dem Mars waren, womit sie Johns Vision Lügen straften. Ihr Denken prallte direkt auf das westliche. Zum Beispiel hielten sie die Trennung von Kirche und Staat für falsch, was es ihnen unmöglich machte, mit Westlern hinsichtlich der Grundlagen einer Regierung gleicher Meinung zu sein. Und sie waren so patriarchalisch, dass es hieß, manche ihrer Frauen seien Analphabeten — auf dem Mars! Das war ein Zeichen. Und diese Männer hatten in der Tat den gefährlichen Blick, den Frank mit Machotum verband, den Blick von Männern, die ihre Frauen so grausam unterdrückten, dass diese natürlich zurückschlugen, wo sie konnten, und Söhne terrorisierten, die dann Frauen terrorisierten, die wiederum Söhne terrorisierten und so weiter und so weiter, in einer endlosen Todesspirale von verzerrter Liebe und Geschlechterhaß. So dass sie in diesem Sinne alle Wahnsinnige waren.

Dies war einer der Gründe, weshalb Frank sie liebte. Und gewiss würden sie sich ihm als nützlich erweisen als ein neuer Herd der Macht. Man verteidige einen schwachen neuen Nachbarn, um die alten mächtigen zu schwächen, hatte Macchiavelli gesagt. Also trank er mit ihnen Kaffee, und allmählich gingen sie höflicherweise zu Englisch über.

»Wie haben euch die Reden gefallen?« fragte er und blickte in den schwarzen Schlamm auf dem Boden seiner Tasse.

Der alte Zeyk antwortete: »John Boone ist immer derselbe.« Die anderen lachten ärgerlich. »Wenn er sagt, dass er eine bodenständige Mars-Kultur schaffen will, dann meint er, dass hier einige irdische Kulturen gefördert und andere bekämpft werden sollen. Die, welche man für regressiv hält, werden zwecks Vernichtung ausgegliedert werden. Das ist eine Form von Atatürkentum.«

»Er denkt, dass ein jeder auf dem Mars Amerikaner werden sollte«, sagte ein Mann namens Nejm.

»Warum nicht?« sagte Zeyd lächelnd. »Auf der Erde ist das schon passiert.«

»Nein«, sagte Frank. »Ihr solltet Boone nicht missverstehen. Die Leute sagen, er sei in sich selbst vertieft, aber …«

»Er ist in sich vertieft!« rief Nejm. »Er lebt in einem Spiegelsaal. Er denkt, wir seien auf den Mars gekommen, um eine gute alte amerikanische Superkultur aufzubauen, und dass ein jeder zustimmen wird, weil es der Plan von John Boone ist.«

»Er begreift nicht, dass andere Leute andere Meinungen haben«, sagte Zeyk.

»Das ist es nicht«, erklärte Frank. »Es ist nur, dass er davon überzeugt ist, sie wären weniger sinnvoll.«

Sie lachten darüber, aber das Gejohle der jüngeren Männer hatte einen bitteren Unterton. Sie alle glaubten, dass Boone vor ihrer Ankunft heimlich gegen die Billigung der UN für arabische Siedlungen agitiert hatte. Frank ermutigte diese Meinung, die fast stimmte; denn John missbilligte jede Ideologie, die ihm in die Quere kommen könnte. Er wollte, dass jeder Neuankömmling ein möglichst unbeschriebenes Blatt sein sollte.

Die Araber glaubten indessen, dass John sie insbesondere nicht leiden könnte. Der junge Selim el-Hayil öffnete den Mund, um zu reden. Frank warf ihm einen schnellen warnenden Blick zu. Selim erstarrte und verzog dann ärgerlich den Mund. Frank sagte: »Nun, gar so schlecht ist er nicht. Obwohl es wahr ist, dass ich ihn sagen hörte, es wäre besser gewesen, wenn die Amerikaner und Russen in der Lage gewesen wären, den Planeten für sich zu beanspruchen, als sie eintrafen, wie Kundschafter in den alten Zeiten.«

Das Gelächter war kurz und schwach. Selim bewegte eine Schulter, als hätte er einen Schlag erhalten. Frank zuckte die Achseln und lächelte mit weit ausgebreiteten Armen. »Es hat aber keinen Sinn! Ich meine, was können wir tun?«

Der alte Zeyk hob die Augenbrauen. »Es gibt unterschiedliche Meinungen, die sich ändern können.«

Chalmers erhob sich, um weiterzugehen. Für einen Moment begegnete ihm der scharfe Blick Selims. Dann schlenderte er durch eine Seitenstraße, eine jener schmalen Gassen, welche die sieben Hauptboulevards der Stadt verbanden. Die meisten waren mit Kieselsteinen oder Gras bedeckt; aber diese zeigte groben gelben Beton. Er ging langsamer an einem zurückgesetzten Torweg vorbei und schaute in das Fenster einer geschlossenen Schuhwerkstatt. Sein schwaches Spiegelbild erschien in einem Paar großer Stiefel für Außenarbeiten.

Meinungen ändern sich. Ja, viele Leute hatten John Boone unterschätzt — das war selbst Chalmers öfters passiert. Vor ihm erschien ein Bild von John im Weißen Hause, mit einem durch Überzeugung geröteten Gesicht, sein widerspenstiges blondes Haar wild flatternd, wobei die Sonne in die Fenster des Oval Office schien und ihn beleuchtete, wie er mit den Händen gestikulierte und im Raum hin und her schritt, ständig redend, während der Präsident nickte und dessen Adjutanten aufpassten, sich überlegend, wie sie dies elektrisierende Charisma aufnehmen sollten. Oh, in jenen Tagen waren sie beide, Chalmers und Boone, in Hochform gewesen: Frank mit den Ideen und John als der Frontmann, mit einem Schwung, der praktisch unaufhaltsam war. Es wäre wirklich eher eine Sache von Entgleisung gewesen.

Selim el-Hajils Spiegelung erschien zwischen den Stiefeln.

»Ist es wahr?« fragte er.

»Ist was wahr?« sagte Frank knapp.

»Ist Boone anti-arabisch?«

»Was meinst du?«

»War er es, der die Genehmigung zum Bau der Moschee auf Phobos blockiert hat?«

»Er ist ein mächtiger Mann.«

Der junge Saudi verzog das Gesicht. »Der mächtigste Mann auf dem Mars, und er will noch mehr! Er will König sein!« Selim ballte die Faust und schlug damit in die andere Hand. Er war schlanker als die anderen Araber, mit einem schwachen Kinn, und sein schütterer Schnurrbart bedeckte einen kleinen Mund.

Frank sagte: »Bald kommt der Vertrag zur Erneuerung. Und Boones Koalition umgeht mich.« Er knirschte mit den Zähnen. »Ich kenne ihre Pläne nicht, werde das aber heute Abend herausfinden. Du kannst dir immerhin vorstellen, wie sie sein werden. Sicher westliche Tendenzen. Er könnte seine Zustimmung für einen neuen Vertrag hinausschieben, bis er garantiert, dass alle neuen Siedlungen nur mit den Unterschriften der ursprünglichen Signatare zustande kommen.« Selim erschauerte, und Frank drängte: »Das ist es, was er will. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass er es bekommen könnte; denn seine neue Koalition macht ihn noch mächtiger denn je. Das könnte ein Ende für Besiedlungen ohne Nichtsignatare bedeuten. Ihr würdet zu Gastwissenschaftlern. Oder zurückgeschickt.«

Im Fenster wirkte die Spiegelung von Selims Gesicht wie eine Art wütender Maske. »Battal, battal«, murmelte er. Sehr schlimm, sehr schlimm. Er rang die Hände wie außer Kontrolle und brummte etwas über den Koran oder Camus, Persepolis oder den Pfauenthron — nervöse Hinweise ohne logischen Zusammenhang. Er stammelte.

Chalmers sagte rau: »Reden bedeutet nichts. Wenn es so weit kommt, spielt nur Handeln eine Rolle.«

Das ließ den jungen Araber verstummen. Schließlich sagte er: »Ich kann mir nicht sicher sein.«

Frank knuffte ihn in den Arm und sah, wie ein Schock durch den Mann lief. »Es ist dein Volk, über das wir reden. Es ist dieser Planet, über den wir reden.«

Selims Mund verschwand unter seinem Schnurrbart. Nach einiger Zeit sagte er: »Das ist wahr.«

Frank erwiderte nichts. Sie blickten gemeinsam in das Fenster, als ob sie Stiefel beurteilten.

Endlich hob Frank die Hand und sagte ruhig: »Ich werde wieder mit Boone reden. Heute Abend. Er reist morgen ab. Ich werde versuchen, zu ihm zu sprechen und ihn zur Vernunft zu bringen. Ich bezweifle, ob das etwas bringt. Das war noch nie der Fall. Aber ich werde es versuchen. Danach … sollten wir uns treffen.«

»Ja.«

»Also im Park auf dem südlichsten Weg. Um elf Uhr.«

Selim nickte.

Chalmers durchbohrte ihn mit einem Blick. »Reden bringt nichts«, sagte er und ging fort.


Der nächste Boulevard, den Chalmers erreichte, war voller Leute, die sich vor zur Straße offenen Bars drängten oder vor Kiosken, wo es Kuskus und Bratwurst gab — sowohl arabisch wie schweizerisch. Das schien eine seltsame Kombination zu sein, vertrug sich aber gut zusammen.

An diesem Abend verteilten einige Schweizer Gesichtsmasken aus der Tür eines Apartments. Anscheinend feierten sie dieses Stadtfest als eine Fastnacht oder Mardi gras, mit Masken, Musik und jeder Art sozialer Umkehrung, genau so, wie es daheim in jenen wilden Februarnächten in Basel, Zürich und Luzern üblich war … John reihte sich impulsiv der Schlange ein. »Um jeden tiefen Geist wächst immer eine Maske«, sagte er zu zwei jungen Frauen, die vor ihm standen. Die nickten höflich und nahmen dann wieder ihre Konversation in Schwyzerdütsch auf, einem gutturalen Dialekt, der nie aufgeschrieben wurde, einem privaten Code, der sogar für Deutsche unverständlich war. Die Schweiz stellte auch eine undurchdringliche Kultur dar, in mancher Hinsicht sogar noch mehr als die arabische. So war es, dachte Frank. Sie arbeiteten gut zusammen, weil beide so insular waren, dass sie nie einen wirklichen Kontakt herstellten. Er lachte laut, als er eine Maske nahm — ein schwarzes Gesicht mit roten Stoffgemmen beklebt. Er legte sie an.

Eine Reihe maskierter Festteilnehmer schlängelte sich den Boulevard hinunter — betrunken, gelöst, fast außer Kontrolle. An einer Kreuzung öffnete sich der Boulevard auf einen kleinen Platz, wo ein Springbrunnen von der Sonne gefärbtes Wasser in die Luft sprühte. Rings um die Fontäne hämmerte eine Blechtrommelband eine Kalypsomelodie. Leute sammelten sich um sie, tanzten oder hüpften im Rhythmus des tiefen Bumm der Baßtrommel. Hundert Meter in der Höhe ergoss eine Öffnung im Zeltgerüst kalte Luft auf den Platz — Luft, die so kalt war, dass kleine Schneeflocken darin schwebten, die im Licht wie Splitter von Glimmer blitzten. Dann knatterte ein Feuerwerk direkt unter dem Zeltdach los, und bunte Funken fielen zwischen den Schneeflocken zu Boden.


Der Sonnenuntergang machte es mehr als zu jeder anderen Tageszeit deutlich, dass sie auf einem fremden Planeten standen. Etwas in der Neigung und Röte des Lichts war völlig falsch und widersprach Erwartungen, die im Laufe von Jahrmillionen in das Savannengehirn eingeprägt waren. Dieser Abend lieferte ein besonders krasses und erregendes Beispiel für dieses Phänomen. Frank schritt in diesem Licht dahin und begab sich wieder zur Stadtmauer. Der ebene Süden der Stadt war mit Steinen übersät, deren jeder einen langen schwarzen Schatten warf. Niemand da. Die Tore wurden bei Festen wie diesem verschlossen, um zu verhindern, dass Betrunkene hinausgingen und zu Schaden kämen. Aber Frank hatte den Notfallcode des Feuerwehrcomputers. Und als er sicher war, dass niemand zuschaute, gab er den Code ein und eilte in die Schleuse. Er legte einen Schutzanzug, Stiefel und Helm an und schritt durch die mittlere und äußere Tür. Draußen war es wie immer sehr kalt, und das rhombusförmige Heizelement des Schutzanzugs brannte durch seine Kleidung hindurch. Er ging knirschend über Beton und Hartkruste. Loser Sand flog nach Osten, vom Wind getrieben.

Er schaute sich mürrisch um. Allenthalben Steine. Ein Planet, der milliardenfach von Trümmern getroffen worden war. Und Meteorite fielen immer noch. Eines Tages würde eine Stadt einen Treffer erhalten. Er wandte sich um und blickte zurück. Sie sah aus wie ein in der Dämmerung leuchtendes Aquarium. Es würde keine Vorwarnung geben; aber alles würde sofort in Stücke fliegen: Wände, Fahrzeuge, Bäume, Leiber. Die Azteken hatten geglaubt, dass die Welt auf eine von vier Arten enden würde: Erdbeben, Feuer, Überschwemmung oder vom Himmel fallende Jaguare. Hier würde es kein Feuer geben. Auch kein Erdbeben und keine Flut, dachte er. Die Jaguare würden kommen.

Der Dämmerungshimmel über Pavonis Mons war ein trübes Rosa. Nach Osten hin dehnte sich die Farm von Nicosia, ein langes flaches Gewächshaus, das sich von der Stadt nach unten hinzog. Aus diesem Winkel konnte man erkennen, dass die Farm größer war als die eigentliche Stadt und gedrängt voller grüner Felder. Frank trat gegen eine ihrer äußeren Schleusen und trat ein.

Im Innern der Farm war es heiß, volle dreißig Grad wärmer als in der Stadt. Er musste seinen Helm aufbehalten, da die Luft hier auf die Pflanzen abgestimmt war, reich an Kohlendioxid und arm an Sauerstoff. Er blieb bei einer Arbeitsstelle stehen und kramte in Schubladen voller kleiner Werkzeuge und Pestizidpflaster, Handschuhe und Beutel. Er suchte sich drei kleine Pflaster aus und tat sie in einen Plastikbeutel; dann schob er diesen in die Tasche des Anzugs. Die Pflaster waren raffinierte Pestizide, Biosaboteure, die dazu dienen sollten, Pflanzen mit systemeigenem Schutz zu versorgen. Er hatte darüber gelesen und wusste von einer Kombination, die bei Tieren tödlich sein würde …

In die andere Tasche tat er ein Paar Scheren. Schmale Kieswege führten ihn empor zwischen langen Beeten mit Gerste und Weizen, zurück zur eigentlichen Stadt. Er betrat die in die Stadt führende Schleuse, löste den Helm, streifte Anzug und Stiefel ab und tat den Inhalt der äußeren Taschen in seine Jacke. Dann kehrte er in das untere Ende der Stadt zurück.

Hier hatten die Araber eine Medina errichtet. Sie hatten darauf bestanden, dass eine solche Nachbarschaft für die Gesundheit einer Stadt von entscheidender Bedeutung wäre. Die Boulevards wurden enger, und zwischen ihnen lagen Labyrinthe gewundener Gassen, die den Karten von Tunis oder Algier entnommen oder willkürlich geschaffen waren. Man konnte nirgends von einem Boulevard zum nächsten sehen, und der Himmel über den Köpfen war nur in schmalen Streifen zwischen Häusern zu erblicken, die sich einander zuneigten.

Die meisten Gassen waren jetzt leer, da die Party oben in der Stadt lief. Ein paar Katzen schlichen zwischen den Häusern herum und erkundeten ihr neues Heim. Frank holte die Scheren aus der Tasche und kratzte in arabischer Schrift in einige Plastikfenster die Worte: Jude, Jude, Jude, Jude. Dann ging er weiter und pfiff durch die Zähne. Eck-Cafes waren kleine Höhlen voller Licht. Flaschen klapperten wie die Hämmer von Goldsuchern. Ein Araber saß auf einem breiten schwarzen Lautsprecher und spielte eine elektrische Gitarre.

Chalmers erreichte den zentralen Boulevard und ging ihn hinauf. Burschen im Geäst der Linden und Sykomoren brüllten sich Lieder in Schwyzerdütsch und Englisch zu. Eines lautete: »John Boone / Went to the Moon / No fast cars / He went to Mars!« Kleine Musikergruppen quetschten sich durch die immer dichtere Menge. Einige Männer mit Schnurrbärten, kostümiert wie amerikanische Cheerleader, zappelten geschickt in einem komplizierten Cancan. Kinder schlugen auf kleine Plastiktrommeln. Es war laut. Da das Zeltdach den Ton absorbierte, konnte man unter den Kuppeln keine Echos hören; aber laut war es trotzdem.

Weiter oben, wo sich der Boulevard in den Sykomorenpark öffnete, war John persönlich, inmitten einer kleinen Volksmenge. Er sah Chalmers herankommen, erkannte ihn trotz der Maske und winkte ihm zu. So gut kannten die Ersten Hundert einander …

»He, Frank«, sagte er. »Du scheinst dich gut zu amüsieren.«

»Allerdings«, sagte Frank durch seine Maske. »Ich liebe Städte wie diese, du nicht auch? Eine Herde gemischter Arten. Sie zeigt einem, was für eine vielfältige Sammlung von Kulturen der Mars ist.«

John lächelte leicht. Sein Blick glitt über den Boulevard unten.

Frank sagte in scharfem Ton: »So ein Ort ist in deinem Plan ein Hindernis, nicht wahr?«

Boone wandte ihm wieder den Blick zu. Die Menge ringsum zerstreute sich. Sie spürte, dass der Wortwechsel einen scharfen Charakter annahm. Boone sagte zu Frank: »Ich habe keinen Plan.«

»Oha! Was ist mit deiner Rede?«

Boone zuckte die Achseln. »Die hat Maya geschrieben.«

Eine doppelte Lüge, und John glaubte nicht, dass Maya sie verfasst hatte. Selbst nach all diesen Jahren war es fast so, als spräche er zu einem Fremden. Zu einem Politiker im Einsatz. »Mach schon, John«, zischte Frank. »Du glaubst all dies und weißt das.

Aber was wirst du mit all diesen unterschiedlichen Nationalitäten machen? All dem ethnischen Hass, dem religiösen Fanatismus? Deine Koalition kann all das schwerlich unterdrücken. Du kannst den Mars nicht für dich behalten, John. Er ist keine Forschungsstation mehr, und du wirst keinen Vertrag kriegen, der ihn wieder zu einer macht.«

»Das versuchen wir auch gar nicht.«

»Warum hast du dich dann bemüht, mich aus den Gesprächen herauszuhalten?«

»Das tat ich nicht!« John machte ein gekränktes Gesicht. »Entspann dich, Frank! Wir werden es zusammen ausfechten, wie wir es immer getan haben. Nur Ruhe!«

Frank starrte seinen alten Freund verwirrt an. Was sollte er glauben? Er hatte nie gewusst, was er von John halten sollte — die Art, wie er Frank als Sprungbrett benutzt hatte, die Art, wie er so freundlich war … Hatten sie nicht als Verbündete, als Freunde begonnen?

Es fiel ihm auf, dass John sich nach Maya umsah. »Wo ist sie denn?«

Es war Jahre her, dass sie imstande gewesen waren, über Maya zu sprechen. Boone warf ihm einen scharfen Blick zu, als ob er sagen wollte, dass ihn das nichts angehe. Als ob alles von Bedeutung, das Boone im Laufe der Jahre geworden war, Frank gar nichts anginge.

Frank ging wortlos weiter.


Der Himmel war inzwischen tief violett und gestreift von gelben Cirruswolken. Frank kam an zwei Gestalten vorbei, die keramische Dominos trugen, die alten Figuren von Komödie und Tragödie, mit Handschellen aneinander gefesselt. Die Straßen der Stadt waren dunkel geworden. Fenster, in denen Parties stattfanden, leuchteten grell. In jeder verschwommenen Maske blitzten große Augen auf der Suche nach der Quelle der in der Luft liegenden Spannung. Unter dem wie Ebbe und Flut brausenden Geräusch der Menge war ein dumpfer stürmischer Ton zu hören.

Er hätte nicht überrascht sein sollen. Er kannte John so gut, wie man überhaupt einen anderen Menschen kennen konnte, aber es hatte ihn nie betroffen. Hinein zwischen die Bäume des Parks, unter die handgroßen Blätter der Sykomoren. Wann war das je anders gewesen? Diese ganze gemeinsame Zeit, jene Jahre der Freundschaft. Und nichts hatte eine Rolle gespielt. Diplomatie mit anderen Mitteln.


Er schaute auf die Uhr. Fast elf. Er hatte sich mit Selim verabredet. Wieder eine Verabredung. Viele, in Viertelstunden unterteilte Tage seines Lebens hatten ihn daran gewöhnt, von einem Termin zum nächsten zu rennen, die Masken zu wechseln, mit einer Krise nach der anderen fertig zu werden, zu managen und zu manipulieren und in nie endender hektischer Eile Geschäfte abzuwickeln. Und heute war ein Feiertag: Mardi gras, Fastnacht! Und er machte es immer noch so. Er konnte sich an gar kein anderes Verhalten erinnern.

Er kam zu einem Bauplatz, einem Magnesiumgerüst, umgeben von Haufen aus Backsteinen, Sand und Pflastersteinen. Es war eine Nachlässigkeit von den Leuten, so etwas herumliegen zu lassen. Er stopfte sich die Jackentaschen voll mit Steinen, soviel sie fassen konnten. Als er sich aufrichtete, bemerkte er, dass ihn jemand von der anderen Straßenseite aus beobachtete — ein kleiner Mann mit schmalem Gesicht unter struppigen schwarzen Zotteln, der ihn scharf musterte. In seinem Blick lag etwas Beunruhigendes. Es war, als ob der Fremde alle seine Masken durchschaute und ihn so fixierte, als kenne er seine Gedanken und Absichten.

Chalmers war entsetzt und zog sich rasch in den Randstreifen des Parks zurück. Als er sicher war, dass er den Mann abgedrängt hatte und ihn sonst niemand beobachtete, fing er an, so heftig er konnte, Steine in die untere Stadt zu schleudern. Und auch einen für jenen Fremden, genau ins Gesicht! Über ihm war das Zeltgerüst nur als ein schwaches Muster verdeckter Sterne zu erkennen. Es sah so aus, als stünden sie frei im kühlen nächtlichen Wind. Die Luftzirkulation war in dieser Nacht natürlich stark. Zerbrochenes Glas, Rufe. Ein Schrei. Es war wirklich laut. Leute wurden rasend. Ein letzter Stein, gezielt auf ein großes, erleuchtetes Fenster jenseits des Grases. Er traf nicht und schlüpfte unter die Bäume.

Nahe der Südmauer sah er jemanden unter einer Sykomore — Selim, der nervös herumging. Frank schwitzte, rief aber ruhig: »Selim!« Er langte in seine Brusttasche und fischte vorsichtig drei Pflaster aus dem Beutel. Synergie konnte so mächtig sein, im Guten oder im Bösen. Er trat vor und nahm den jungen Araber kräftig in den Arm. Die Pflaster trafen und durchtränkten Selims leichtes Baumwollhemd. Frank trat zurück.

Jetzt hatte Selim etwa sechs Stunden. Er fragte: »Hast du mit Boone gesprochen?«

»Ich habe es versucht«, erwiderte Chalmers. »Er hat nicht zugehört. Er hat mich belogen.« Es war so leicht, Betrübnis zu heucheln. »Fünfundzwanzig Jahre der Freundschaft, und er hat mich belogen!« Er schlug mit der Hand auf einen Baumstamm; die Pflaster lösten sich ab und flogen weg ins Dunkle. Er nahm sich zusammen. »Seine Koalition wird empfehlen, dass alle Siedlungen auf dem Mars in den Ländern entstehen, die den ersten Vertrag unterzeichnet haben.« Das war möglich und sogar recht plausibel.

»Er hasst uns!« schrie Selim.

»Er hasst alles, was ihm in die Quere kommt. Und er hat erkannt, dass der Islam im Leben der Völker noch eine echte Macht darstellt. Er formt die Denkweise der Menschen. Das kann Boone nicht ausstehen.«

Selim erschauerte. Im Dunkeln leuchtete das Weiß seiner Augen hell. »Man muss ihm Einhalt gebieten!«

Frank wandte sich zur Seite und lehnte sich an einen Baumstamm. »Ich … weiß nicht.«

»Du hast es selbst gesagt. Reden nützt nichts.«

Frank umkreiste den Baum. Er fühlte sich benommen. Du Narr, dachte er. Reden bedeutet alles. Wir sind nichts als Informationsaustausch. Reden ist alles, was wir haben!

Er kam wieder zu Selim und sagte: »Wie?«

»Der Planet. Das ist unser Weg.«

»Die Stadttore sind heute Nacht verschlossen.«

Er hielt inne. Seine Hände verkrampften sich.

Frank fuhr fort: »Aber das Tor zur Farm ist noch offen.«

»Aber die äußeren Tore der Farm werden versperrt sein.«

Frank zuckte die Achseln und ließ ihn sich das ausmalen.

Selim zwinkerte und sagte: »Ah!« Dann war er verschwunden.


Frank saß zwischen Bäumen auf dem Boden. Der war ein sandiger feuchter Schmutz, das Ergebnis intensiver Ingenieurtätigkeit. In der Stadt war nichts natürlich — nichts.

Nach einiger Zeit stand er auf und ging durch den Park. Er schaute sich die Leute an. Vor der Oper stießen maskierte Personen aufeinander, rauften und kämpften, umgeben von Zuschauern, die Blut witterten. Frank ging wieder zu dem Bauplatz, um noch mehr Steine zu holen. Er warf sie; und einige Leute sahen es. Er musste laufen. Wieder zwischen die Bäume, in die kleine Wildnis unter dem Zeltdach, um Raubtieren zu entkommen — durch Adrenalin aufgeputscht, die stärkste aller Drogen. Er lachte wild.

Plötzlich erblickte er Maya, die allein bei der improvisierten Plattform am Scheitelpunkt stand. Sie trug einen weißen Domino. Die Proportionen der Figur, das Haar und die Haltung waren unmissverständlich Maya Toitovna. Die Ersten Hundert, die kleine Bande — sie waren für ihn die einzigen, die immer noch am Leben waren. Der Rest waren Gespenster. Frank eilte über unebenem Boden zu ihr. Er umklammerte einen tief in einer Jackentasche vergrabenen Stein und dachte: Komm nur, du Biest! Sag etwas, um ihn zu retten! Sag etwas, das mich veranlasst, durch die ganze Stadt zu laufen, um ihn zu retten!

Sie hörte ihn kommen und wandte sich um. Auf dem Domino phosphoreszierten metallisch blaue Ziermünzen. Ihre Augen waren nicht zu erkennen unter der Maske.

»Hallo, Frank!« sagte sie, als ob er keine Maske trüge. Er machte beinahe kehrt, um wegzulaufen. Schon das Wieder erkennen genügte fast, ihn dazu zu veranlassen …

Aber er blieb doch stehen und sagte: »Hallo, Maya! Es war doch ein hübscher Sonnenuntergang, nicht wahr?«

»Eindrucksvoll. Die Natur hat keinen Geschmack. Es war bloß eine städtische Einweihungsfeier, sah aber aus wie der Tag des Jüngsten Gerichts.«

Sie standen unter einer Straßenlaterne über ihren Schatten. Sie sagte: »Hast du dich amüsiert?«

»Sehr. Und du?«

»Es wird mir ein bisschen zu wild.«

»Das kann man doch verstehen, meinst du nicht auch? Maya, wir sind aus unsern Löchern heraus und schließlich auf der Oberfläche! Und was für einer Oberfläche! Man bekommt solche Fernblicke nur auf Tharsis.«

»Es ist eine gute Platzwahl«, räumte sie ein.

»Es wird eine große Stadt werden«, prophezeite Frank. »Aber wo wohnst du derzeit, Maya?«

»In Underhill, Frank, wie immer. Das weißt du doch.«

»Aber du bist doch nie dort. Ich habe dich seit einem Jahr oder länger nicht mehr gesehen.«

»Ist das so lange her? Nun, ich bin in Hellas gewesen. Das hast du sicher gehört.«

»Wer würde mir das sagen?«

Sie schüttelte den Kopf, die blauen Ziermünzen glitzerten. »Frank.« Sie wandte sich zur Seite, als ob sie den Konsequenzen der Frage ausweichen wollte.

Ärgerlich ging Frank um sie herum und trat ihr in den Weg. »Damals auf der Ares.« Seine Stimme klang gepresst, und er drehte den Hals, um die Kehle frei zu machen und leichter sprechen zu können. »Was ist passiert, Maya? Was geschah damals?«

Sie zuckte die Achseln und vermied es, ihn anzusehen. Längere Zeit sagte sie nichts. Dann blickte sie ihm ins Gesicht und sagte: »Der Sporn des Moments.«


Und dann läutete es Mitternacht, und sie befanden sich im Zeitschlupf des Mars, jener Lücke von neununddreißigeinhalb Minuten zwischen 24.00.00 und 00.00.01 Uhr, wenn alle Uhren aussetzten oder stillstanden. So hatten es die Ersten Hundert beschlossen, um den ein wenig längeren Tag des Mars an die Vierundzwanzigstundenzählung anzupassen. Diese Lösung hatte sich erstaunlicherweise als befriedigend erwiesen. Jede Nacht eine Weile aus den zuckenden Zahlen ausscheren, aus dem erbarmungslosen Lauf des Sekundenzeigers …

Und als in dieser Nacht die Uhren Mitternacht schlugen, wurde die ganze Stadt verrückt. Fast vierzig Minuten außerhalb der Zeit. Das musste der Höhepunkt der Feier werden, das war jedem instinktiv klar.

Feuerwerke knatterten los, Leute brüllten Freudenrufe, Sirenen schnitten durch den Lärm, und das Jubelgeschrei verdoppelte sich. Frank und Maya sahen sich das Feuerwerk an und lauschten dem Krach.

Dann gab es ein etwas anderes Geräusch: Verzweifelte Schreie, wütendes Geheul. »Was ist das?« fragte Maya.

»Ein Kampf«, antwortete Frank und lauschte. »Vielleicht hat sich etwas getan im Sporn des Moments.« Sie starrte ihn an, und er fügte rasch hinzu: »Vielleicht sollten wir gehen, um einen Blick darauf zu werfen.«

Das Geschrei wurde stärker. Irgendwo herrschte Aufruhr. Sie gingen durch den Park hinunter. Ihre Schritte wurden länger, bis sie den leichten Hüpfschritt des Mars angenommen hatten. Der Park schien für Frank größer zu sein, und er war einen Augenblick lang besorgt.

Der zentrale Boulevard war voller Gerümpel. Leute rannten in Gruppen plündernd durch die Finsternis. Eine nervenzerreißende Sirene ging los — der Alarm, der ein Leck im Zelt anzeigte. In beiden Richtungen des Boulevards splitterten Fenster. Auf dem Rasen lag ein Mann reglos auf dem Rücken. Das Gras um ihn herum war mit dunklen Streifen verschmiert.

Chalmers packte den Arm einer Frau, die sich über ihn gebeugt hatte, und brüllte: »Was ist geschehen?«

Sie weinte. »Sie haben gekämpft. Sie kämpfen noch.«

»Wer? Schweizer, Araber?«

»Fremde«, sagte sie. »Ausländer.« Sie sah Frank blind an. »Holen Sie Hilfe!«

Frank ging wieder zu Maya, die mit einer Gruppe bei einer weiteren reglosen Gestalt sprach. »Was, zum Teufel, passiert hier?« fragte er sie, während sie zum Krankenhaus der Stadt eilten.

»Es ist ein Aufstand. Ich weiß nicht, weshalb.« Ihr Mund war ein gerader Strich in einer Haut, so weiß wie der Domino, der immer noch ihre Augen verhüllte.

Frank riss seine Maske herunter und warf sie weg. Die Straße war voller Glasscherben. Ein Mann rannte auf sie zu. »Frank! Maya!«

Es war Sax Russell. Frank hatte den kleinen Mann noch nie so erregt gesehen. »Es ist John — man hat ihn angegriffen!«

»Was?« riefen sie gleichzeitig.

»Er versuchte, einen Streit zu schlichten, und drei oder vier Männer haben ihn angesprungen. Sie haben ihn niedergeschlagen und weggeschleppt.«

Maya schrie: »Ihr habt sie nicht aufgehalten?«

»Wir haben es versucht. Einige von uns sind ihnen nachgejagt. Aber in der Medina haben wir sie verloren.«

Maya blickte Frank an.

Der rief: »Was geht hier vor sich? Wohin würde ihn jemand bringen?«

»Zu den Toren«, sagte sie.

»Die sind nachts aber doch verschlossen.«

»Vielleicht nicht für jeden.«

Sie folgten ihr in die Medina. Straßenlampen waren zerbrochen; unter den Füßen knirschte Glas. Sie fanden einen Feuerwehrhauptmann und gingen zum Türkischen Tor. Er schloss es auf. Einige von ihnen eilten hindurch und legten in Windeseile Außenkleidung an. Dann hinaus in die Nacht, die von dem Bathysphärenschimmer der Stadt erhellt war, um sich umzuschauen. Frank schmerzten die Gelenke von der nächtlichen Kälte, und er konnte genau fühlen, wo seine Lungenflügel saßen, als ob man zwei Eiskugeln in seine Brust gestopft hätte, um den rapiden Herzschlag abzukühlen.

Draußen war nichts. Wieder zurück nach innen. Hinüber zur nördlichen Mauer und dem Syrischen Tor. Dann wieder hinaus unter die Sterne. Nichts.

Es dauerte lange, bis ihnen die Farm einfiel. Inzwischen waren sie etwa dreißig Personen in Außenanzügen. Sie rannten durch die Schleuse und verteilten sich auf die Schneisen zwischen den Feldern.

Sie fanden ihn zwischen den Rettichen. Seine Jacke war über das Gesicht gezogen, um die übliche Luftblase für den Notfall zu bilden. Das musste er unbewußt getan haben; denn als sie ihn vorsichtig auf die Seite drehten, sahen sie hinter seinem Ohr einen Klumpen.

Maya sagte mit bitter krächzender Stimme: »Schafft ihn ins Innere! Beeilt euch!«

Vier Leute hoben ihn hoch. Chalmers umfing Johns Kopf, und seine Finger waren mit denen Mayas verschlungen. Sie stolperten durch das Farmtor in die Stadt zurück. Einer der Schweizer führte sie zum nächsten medizinischen Zentrum, das schon von verzweifelten Menschen umdrängt war. Sie legten John auf eine freie Bank. Sein Gesicht war verkrampft. Er war bewusstlos. Frank nahm den Helm ab und machte seinen Rang geltend, indem er in die Notfallräume platzte und die Ärzte und Schwestern anschrie. Die ignorierten ihn, bis eine Ärztin sagte: »Halt den Mund! Ich komme.«

Sie gingen in den Saal und schlossen John mit Hilfe einer Schwester an einen Monitor an. Dann untersuchten sie ihn mit dem abwesenden Blick, den Ärzte bei der Arbeit haben. Hände an Hals und Gesicht und Kopf und Brust, Stethoskop …

Maya teilte mit, was sie wussten. Die Ärztin nahm ein Sauerstoffgerät von der Wand und blickte auf den Monitor. Ihr Mund war zu einem unzufriedenen kleinen Knoten verzogen. Maya saß am Ende der Bank mit jäh bestürzter Miene. Ihr Domino war längst verschwunden.

Frank hockte neben ihr.

Die Ärztin sagte: »Wir können mit ihm noch weitermachen. Aber ich fürchte, er ist hinüber. Zu lange ohne Sauerstoff, wissen Sie.«

»Fahren Sie fort!« schrie Maya.

Das taten sie natürlich. Schließlich kamen weitere Mediziner, und sie rollten ihn in die Intensivstation. Frank, Maya, Max, Samantha und eine Anzahl Einheimischer saßen draußen in der Halle. Ärzte kamen und gingen. Ihre Gesichter zeigten die leere Miene, die sie in der Präsenz des Todes anzunehmen pflegen. Schutzmasken. Einer kam heraus und sagte: »Er ist tot. Zu lange draußen gewesen.«

Frank lehnte den Kopf gegen die Wand.

Als Reinhold Messer von der ersten Alleinbesteigung des Everest zurückkehrte, war er stark dehydriert und äußerst erschöpft. Während des letzten Teils des Abstieges fiel er oft hin und brach auf dem Rongbuk-Gletscher zusammen, wo ihn die Frau, welche seine einzige Hilfsmannschaft darstellte, erreichte. Und er schaute im Delirium zu ihr auf und sagte: »Wo sind alle meine Freunde?«

Es war ruhig. Kein Laut außer dem leichten Summen und Zischen, dem man auf dem Mars nie entkam.

Maya legte Frank die Hand auf die Schulter, und er zuckte fast zurück. Seine Kehle verkrampfte sich. Es tat richtig weh. Es gelang ihm zu sagen: »Es tut mir leid.«

Sie wischte die Bemerkung beiseite und runzelte die Stirn. Sie hatte irgendwie die Manier von Medizinern und sagte: »Nun, du hast ihn sowieso nie besonders gemocht.«

»Stimmt«, sagte er. Er meinte, es wäre diplomatisch, in diesem Moment zu ihr ehrlich zu sein. Aber dann fuhr er zusammen und sagte mürrisch: »Was weißt du davon, was ich liebe und was nicht?«

Er schüttelte ihre Hand ab und rappelte sich auf. Sie wusste es nicht. Niemand wusste es. Er wollte in die Intensivstation gehen, änderte aber seine Absicht. Dafür war genug Zeit beim Begräbnis. Er fühlte sich leer; und plötzlich kam es ihm so vor, als sei alles Gute dahingegangen.

Er verließ das medizinische Zentrum. Es war unmöglich, in solchen Augenblicken nicht sentimental zu sein. Er ging durch die seltsam stille Dunkelheit der Stadt in das Land des Schweigens. Die Straßen glitzerten, als seien Sterne auf das Pflaster gefallen. Leute standen in Gruppen herum, schweigend, durch die Nachricht betroffen. Frank Chalmers bahnte sich seinen Weg zwischen ihnen und fühlte ihre Blicke auf sich ruhen. Ohne nachzudenken begab er sich zu der Plattform auf dem höchsten Punkt der Stadt. Dabei sagte er sich: Jetzt werden wir sehen, was ich mit diesem Planeten anfangen kann.

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