VIERTER TEIL Heimweh

An einem Wintermorgen scheint die Sonne auf Valles Marineris herunter und beleuchtet die Nordwände aller Canyons in dieser großen Anhäufung von Canyons. Und in diesem hellen Licht kann man erkennen, dass hie und da eine bloßliegende Gesteinskante von einem warzenartigen Fleck schwarzer Flechte bedeckt ist.

Man sieht, sie ist dem Leben angepasst. Sie hat nur wenige Bedürfnisse — etwas Betriebstoff und etwas Energie; und sie ist phantastisch genial darin, diese Bedürfnisse aus einem weiten Bereich terranischer Milieus herauszuziehen. Manche Organismen leben immer unter dem Gefrierpunkt des Wassers, andere über den Siedepunkten. Manche leben in starker Strahlung, andere in stark salzigen Regionen oder in festem Gestein oder in pechschwarzer Finsternis oder bei extremem Wasserentzug oder ohne Sauerstoff. An alle Arten von Umwelt sind Anpassungen erfolgt durch Adaptationsmaßnahmen so seltsam und wunderbar, dass sie jenseits unserer Vorstellungsmöglichkeiten liegen. Und so hat das Leben die Erde vom Urgestein bis in die Hochatmosphäre mit der vollen Welle einer großartigen Biosphäre durchdrungen.

All diese Anpassungsfähigkeiten sind in Genen codiert und werden darin weitergegeben. Wenn die Gene mutieren, verändern sich die Organismen. Wenn die Gene verändert werden, ändern sich die Organismen auch. Bioingenieure benutzen diese beiden Formen von Veränderungen, indem sie nicht nur rekombinierende Gene verspleißen, sondern auch auf viel ältere Weise Zuchtauswahl betreiben. Mikroorganismen werden auf Schalen aufgetragen; und diejenigen von ihnen, welche am schnellsten wachsen (oder am stärksten das gesuchte Merkmal aufweisen), können aussortiert und wieder aufgetragen werden. Man kann Mutagene hinzufügen, um die Mutationsrate zu erhöhen. Und in schneller Aufeinanderfolge mikrobischer Generationen (sagen wir zehn pro Tag) kann man diesen Prozess wiederholen, bis man etwas wie das bekommt, was man will. Selektive Zucht ist eine der mächtigsten Biotechniken, die wir besitzen.

Aber die neueren Techniken gewinnen immer mehr Beachtung. Gentechnisch erzeugte Mikroorganismen gab es seit ungefähr einem halben Jahrhundert, als die ›Ersten Hundert‹ auf dem Mars eintrafen. Aber ein halbes Jahrhundert ist in der Wissenschaft eine lange Zeit. In diesen Jahren sind plasmidische Konjugate zu sehr verfeinerten Werkzeugen geworden. Das Angebot an Restriktionsenzymen zum Trennen und Ligase-Enzymen zum Verbinden war groß und vielseitig. Man fand eine Möglichkeit, lange DNA-Ketten exakt auseinander zuziehen. Das über Genome angesammelte Wissen war immens und wuchs exponentiell. Unter Benutzung von alledem erlaubte die neue Biotechnik alle Arten von Merkmalmobilisierung, Förderung, Replikation, ausgelöstem Selbstmord (um exzessiven Erfolg anzuhalten) und so fort. Es war möglich, genau die DNA-Sequenzen aus einem Organismus zu finden, der die gewünschte Eigenschaft aufwies, um diese DNA-Mitteilungen zu synthetisieren, zu schneiden und in plasmidische Ringe zu verbinden. Danach wurden Zellen gewaschen und mit den neuen Plasmiden in Glyzerin aufgeschwemmt, das zwischen zwei Elektroden schwebend einem kurzen heftigen Schock von ungefähr 2000 Volt ausgesetzt wurde. Dann schossen die Plasmide in dem Glyzerin in die Zellen und — voila! Da war, zum Leben erweckt wie Frankenstein, ein neuer Organismus. Mit neuen Fähigkeiten.

So also kam es auch zu schnellwachsenden Flechten, strahlungsresistenten Algen, gegen extreme Kälte unempfindlichen Schwämmen, salzliebenden Archaebakterien, die Salz verspeisen und Sauerstoff ausscheiden, superarktischen Moosen. Eine ganze Taxonomie neuer Lebensformen, alle partiell der Marsoberfläche angepasst, denen allen ein Versuch damit geboten wurde. Manche Spezies starben aus: natürliche Selektion. Manche gediehen: Überleben der Tüchtigsten. Manche wucherten wild auf Kosten anderer Organismen; und dann aktivierten Chemikalien in ihren Ausscheidungen ihre Selbstmord-Gene, und sie starben so weit aus, bis der Anteil dieser Chemikalien wieder sank.

So passt sich das Leben den Umständen an. Und gleichzeitig werden die Umstände durch das Leben verändert. Das ist eine der Definitionen von Leben: Organismus und Umwelt verändern sich gemeinsam in reziprokem Verhältnis, da sie zwei Manifestationen einer Ökologie sind, zwei Teile eines Ganzen.

Daher also kamen mehr Sauerstoff und Stickstoff in die Luft. Schwarzer Flaum auf dem Polareis. Schwarzer Flaum auf den ausgezackten Flächen von blasigem Gestein. Blaßgrüne Flecken auf dem Boden. Größere Reifkörner in der Luft. Winzige Lebensformen, die durch die Tiefen des Regoliths kriechen wie Milliarden von Maulwürfen und Nitrite zu Stickstoff und Oxide zu Sauerstoff umwandeln.

Zuerst war es fast unsichtbar und sehr langsam. Bei einer Kältewelle oder einem Sonnensturm gab es massenhaft Todesfälle, ganze Spezies wurden in einer Nacht ausgelöscht. Aber die Überbleibsel der toten ernährten andere Kreaturen. Für diese waren die Bedingungen so leichter, und der Prozess gewann an Schwung. Bakterien vermehren sich rasch. Sie verdoppeln ihre Masse oftmals am Tag, wenn die Verhältnisse stimmen. Die mathematischen Möglichkeiten für ihre Wachstumsgeschwindigkeit sind atemberaubend. Und obwohl Beschränkungen in der Umwelt — besonders auf dem Mars — jedes wirkliche Wachstum weit unter den mathematischen Grenzen halten, haben sich die neuen Organismen, die Archaeophyten, schnell vermehrt, manchmal mutiert, sind immer gestorben. Und die neuen haben sich vom Kompost ihrer Ahnen ernährt und wieder vermehrt. Sie lebten und starben. Und was an Boden und Luft zurückblieb, war anders als vor diesen Millionen kurzer Generationen.

So geht also eines Morgens die Sonne auf und schießt lange Strahlen durch das zerrissene Gewölk auf Valles Marineris. Auf den Nordwänden erkennt man kleine Spuren von Schwarz, Gelb, Oliv, Grau und Grün. Flecke von Flechten punktieren die vertikalen Felsen, die so dastehen, wie sie es immer getan habensteinig und zerborsten und rot; aber jetzt gefleckt wie von Schimmel.


Michel Duval träumte von zu Hause. Er schwamm in der Brandung von Villefranche-sur-Mer. Das warme Augustwasser hob ihn hoch und hinunter. Es war windig, nahe Sonnenuntergang, und das Wasser war eine träge weiße Bronze, über die das Sonnenlicht hüpfte. Die Wellen waren für das Mittelmeer groß, schnelle Brecher, die in Böen aufstiegen und rasch ungleichmäßig zusammenbrachen, was ihm ermöglichte, einen Moment lang auf den Wellen zu reiten. Dann ging es nach unten in einem Durcheinander von Blasen und Sand und wieder nach oben in einen Schwall von goldenem Licht und Salzgeschmack allenthalben. Seine Augen juckten heftig. Große schwarze Pelikane ritten wie auf Luftkissen über die Wellen, flogen in steilen, unbeholfenen Wendungen auf, hielten inne und fielen gleich neben ihm ins Wasser. Beim Sturzflug legten sie ihre Flügel halb zusammen und operierten mit ihnen bis zum Moment des plumpen Aufschlagens im Wasser. Oft kamen sie hoch und verschluckten dabei kleine Fische. Ein Pelikan platschte gerade ein Meter von ihm entfernt auf. Gegen die Sonne bot er die Silhouette eines Stuka oder Pterodaktylus. Kühl und warm, in Salz eingetaucht, tanzte Michel auf der Flut und zwinkerte, vom Salz erblindet. Eine sich brechende Woge sah aus wie Diamanten, die zu Creme zerpulvert sind.

Sein Telefon klingelte.

Sein Telefon klingelte. Es waren Ursula und Phyllis, die ihm sagten, dass Maya wieder einen Anfall hätte und untröstlich wäre. Er stand auf, legte Unterzeug an und ging ins Bad. Wellen leckten über eine Gegenströmung. Maya, wieder deprimiert. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, war sie guter Dinge gewesen, fast euphorisch. Wann war das gewesen? Vor einer Woche? Aber so war Maya. Maya war verrückt. Allerdings verrückt auf eine russische Art, was hieß, sie war eine Macht, mit der man rechnen musste. Mütterchen Russland! Sowohl die Kirche wie die Kommunisten hatten das ihnen vorausgegangene Matriarchat auszurotten gesucht; und alles, was sie erreichten, war eine bittere, entnervende Wut, eine ganze Nation voller geringschätziger russalkas und baba yagas und vierundzwanzig Stunden am Tag aktiver Überweiber, die in einer fast parthenogenen Kultur von Müttern, Töchtern, Babushkas und Enkelinnen lebten. Die aber dennoch zwangsweise in ihren Beziehungen mit Männern absorbiert waren und verzweifelt versuchten, den verlorenen Vater, den perfekten Gatten zu finden. Oder bloß eben einen Mann, der seinen Teil an der Last tragen würde. Die große Liebe finden und sie in der Mehrzahl der Fälle nicht zerstören. Verrückt!

Nun, es war gefährlich, zu verallgemeinern. Aber Maya war ein klassischer Fall. Launisch, ärgerlich, dem Flirt zugetan, brillant, charmant, manipulierend, intensiv … Und jetzt nahm sie sein Büro ein wie ein riesiger Abfallklumpen, ihre Augen mit roten Rändern und von Blut unterlaufen, ihr Mund schmal, verstört. Ursula und Phyllis nickten und dankten Michel flüsternd dafür, dass er so früh aufgestanden war. Dann gingen sie. Er trat an die türhohen Fensterjalousien und öffnete sie. Das Licht strömte von der Zentralkuppel herein. Ihm wurde wieder bewusst, dass Maya eine schöne Frau war, mit wildem, schimmerndem Haar und einem verschleierten charismatischen Blick, unmittelbar und direkt. Es war ein Jammer, sie hier so aufgeregt zu sehen. Daran würde er sich nie gewöhnen. Es kontrastierte zu sehr mit ihrer gewohnten Lebhaftigkeit, mit der Art, wie sie einem den Finger auf den Ann legen konnte, wenn sie in vertraulichem Ton über das eine oder andere faszinierende Thema plapperte …

Alles seltsam nachgeahmt von dieser verzweifelten Kreatur, die sich über seinen Tisch lehnte und ihm mit abgerissener heiserer Stimme über die letzte Szene in dem laufenden Drama von ihr und John und dann wieder Frank berichtete. Offenbar hatte sie sich über John erzürnt wegen seiner Weigerung, ihr bei einem Plan zu helfen, einige der russisch fundierten Multinationalen dazu zu bringen, die Entwicklung von Siedlungen im Hellas-Becken zu unterschreiben, welches der tiefste Punkt auf dem Mars war und als erster von den atmosphärischen Veränderungen profitieren würde, die sich gerade abzeichneten. Der Druck in Low Point, vier Kilometer unter dem Bezugsniveau, pflegte immer zehnmal stärker zu sein als auf den Gipfeln der großen Vulkane und dreimal stärker als auf Normalhöhe. Es würde der erste für Menschen annehmbare Ort sein, perfekt für Entwicklung.

Aber offenbar zog Frank es vor, über UNOMA und Regierungen zu arbeiten. Und genau das war eine der fundamentalen politischen Meinungsverschiedenheiten, die ihr persönliches Leben zu vergiften begannen — bis dahin, dass sie oft über andere Dinge stritten, die keine Rolle spielten und wegen derer sie sich früher nie gezankt hatten.

Michel beobachtete sie und hätte beinahe gesagt, dass John den Streit mit ihr wünschte. Er war sich nicht sicher, was John dazu sagen würde. Maya rieb sich die Augen, stützte die Stirn auf seinen Schreibtisch und zeigte den Nacken und ihre breiten geschmeidigen Schultern. Sie würde vor den meisten Bewohnern von Underhill niemals so aufgewühlt erscheinen. Das war eine Intimität zwischen ihnen, etwas, das sie nur mit ihm teilte. Es war, als hätte sie ihre Kleider abgelegt. Die Leute verstanden nicht, dass wahre Intimität nicht aus Geschlechtsverkehr bestand, den man mit Fremden und sogar in einem Zustand völliger Abgeneigtheit ausüben konnte. Intimität bestand darin, dass man stundenlang über das sprach, was einem in seinem Leben das Wichtigste war. Obwohl sie nackt wirklich schön war. Sie hatte perfekte Proportionen. Michel erinnerte sich daran, wie sie beim Schwimmen im Becken aussah, wenn sie den Rückenschlag in einem blauen, hoch über den Hüften ausgeschnittenen Badeanzug ausführte. Ein mediterranes Bild: Er schwebte im Wasser bei Villefranche, alles überflutet vom bernsteinfarbenen Licht der Abendsonne; und er blickte auf den Strand, wo Männer und Frauen spazierten — nackt bis auf die Nylondreiecke von cache-sexe-Badeanzügen. Braunhäutige barbusige Frauen, die paarweise wie Tänzer im Sonnenlicht einherschritten. Dann Delphine, die zwischen ihm und dem Strand aus dem Wasser schossen, und deren geschmeidige schwarze Körper gerundet waren wie die der Frauen …

Aber jetzt redete Maya über Frank. Frank, der einen sechsten Sinn für Probleme zwischen John und Maya hatte (sechs wären gar nicht nötig), und der jedes Mal zu Maya rannte, wenn er die Anzeichen spürte, um mit ihr zu plaudern und über seine Vision vom Mars zu sprechen, die progressiv, erregend, ehrgeizig war — alles das, was John nicht war. »Frank ist in diesen Tagen so viel dynamischer als John. Ich weiß nicht, warum.«

»Weil er mit dir übereinstimmt«, sagte Michel.

Maya zuckte die Achseln. »Vielleicht ist das alles, was ich meine. Aber wir haben eine Chance, hier eine ganze Zivilisation aufzubauen, ganz gewiss. Aber John ist so …« Tiefer Seufzer. »Und dennoch liebe ich ihn, wirklich! Aber …«

Sie sprach eine Weile über ihre Vergangenheit, wie ihre Affäre die Reise vor Anarchie (oder zumindest Langeweile) gerettet hatte, wie Johns lässige Festigkeit ihr gut getan hatte. Wie sie auf ihn zählen konnte. Wie beeindruckt sie gewesen war durch seinen Ruhm, wie sie gefühlt hatte, dass die Liaison sie für immer zu einem Teil der Weltgeschichte machte. Aber jetzt verstand sie, dass sie ohnehin ein Teil der Weltgeschichte sein würde. Das galt für all die Ersten Hundert. Sie hob die Stimme, wurde schneller und heftiger. »Ich werde John jetzt nicht mehr dafür benötigen. Ich brauche ihn nur wegen dessen, was ich für ihn empfinde. Aber jetzt sind wir über nichts mehr einer Meinung und sind uns nicht sehr ähnlich; und Frank, der so aufmerksam gewesen ist, sich zurückzuhalten, ganz gleich, um was es ging, wir stimmen in fast allem überein, und ich bin davon so begeistert gewesen, dass ich ihm wieder das falsche Zeichen gegeben habe; und so hat er es auch wieder getan. Gestern im Schwimmbecken hat er — weißt du — hat er mich gehalten, meine Arme in seine Hände genommen …« — sie kreuzte die Arme und nahm den Bizeps in die Hände — »und mich gebeten, John um seinetwillen zu verlassen, was ich nie tun würde. Er hat mich geschüttelt und ich habe gesagt, ich könnte nicht; aber ich zitterte auch.« So war sie später aufs äußerste gereizt und hatte einen Streit mit John angefangen, so heftig, dass er wirklich wütend geworden war. »Er hat einen Rover genommen, ist zu Nadias Arkade gefahren und hat dort die Nacht mit dem Bauteam verbracht.« Frank war gekommen, um wieder mit ihr zu sprechen. Als sie ihn offen abgewiesen hatte, hatte er erklärt, er würde in die europäische Siedlung auf der anderen Seite des Planeten ziehen — er, der die treibende Kraft der Kolonie war!

»Und das wird er wirklich tun. Er ist nicht jemand, der bloß droht. Er hat auf seine Weise Deutsch gelernt. Sprachen fallen ihm leicht.«

Michel versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was sie sagte. Das war schwierig, weil er recht gut wusste, dass in einer Woche alles anders sein würde. Die ganze Dynamik in diesem kleinen Trio änderte sich in unverständlicher Weise. Es war also schwierig, etwas daran zu ändern. Was war mit seinen Schwierigkeiten? Die gingen sehr viel tiefer. Aber niemand hatte ihm je zugehört. Er ging vor dem Fenster auf und ab und redete ihr mit den üblichen Fragen und Bemerkungen zu. Das Grünzeug im Atrium war erfrischend. Es hätte ein Hinterhof in Arles oder Villefranche sein können. Oder plötzlich erinnerte es ihn an Avignons schmale, von Zypressen überwölbte Plaza und ihre Cafetische, die im Sommer nach Sonnenuntergang genau die Farbe des Mars hatten. Das Aroma von Oliven und Rotwein …

»Lass uns spazieren gehen!« sagte er. Sie überquerten das Atrium und gingen zu den Küchen. So konnte Michel ein Frühstück essen, das er beim Schlucken fast vergaß. Wir sollten Essen Vergessen nennen, dachte er, als sie um die Halle herum zu den Schleusen gingen. Sie legten Schutzanzüge an — Maya betrat ein Umkleidezimmer, um ihr Unterzeug anzulegen. Sie überprüften die Anzüge, gingen in die Schleuse, ließen den Druck ab und traten ins Freie.

Die diamantene Kälte. Sie blieben einige Zeit auf den Gehwegen, die um Underhill verliefen und machten eine Tour zur Grube und ihren großen Salzpyramiden. Er sagte: »Glaubst du, dass man je eine Anwendung für dies Salz finden wird?«

»Sax arbeitet noch daran.«

Von Zeit zu Zeit kam Maya wieder auf John und Frank zu sprechen. Michel stellte die Fragen, die ein routinemäßiges psychiatrisches Programm gestellt hätte, und Maya antwortete so, wie ein Maya-Programm geantwortet hätte. Ihre Stimmen klangen einander direkt in den Ohren — die Intimität des Interkom.

Sie kamen zur Flechtenfarm, und Michel blieb stehen, um über die Schalen zu blicken und ihren intensiven lebendigen Duft einzuatmen. Schwarze Schneealgen und dann dicke Matten von Flechten, bei denen der Algen-Symbiont ein blaugrüner Strang war, den Vlad gerade allein gezüchtet hatte. Rote Flechten schienen nicht so gut zu gedeihen. Überflüssig auf jeden Fall. Gelbe Flechten, olive Flechten, eine Flechte, die genau wie der Tarnanstrich eines Schlachtschiffs aussah. Flockiges Weiß und limonengrüne Flechten — lebendiges Grün! Es pulsierte im Auge, eine üppige und unwahrscheinliche Wüstenpflanze. Er hatte gehört, wie Hiroko beim Anblick einer solchen gesagt hatte: »Dies ist viriditas.« Das war Latein für ›grünende Kraft‹. Das Wort hatte eine christliche Mystikerin im Mittelalter geprägt, eine Frau namens Hildegard. Viriditas war jetzt den hiesigen Verhältnissen angepasst und verbreitete sich langsam über die Tieflande der nördlichen Hemisphäre. In den südlichen Sommern gedieh es sogar noch besser. An einem Tage hatte man über 285 Kelvin erreicht, eine Rekordhöhe von zwölf Grad Celsius. »Die Welt verändert sich«, bemerkte Maya, als sie an den Wohnungen vorbeigingen. »Ja«, sagte Michel und konnte nicht vermeiden hinzufügen: »Nur noch dreihundert Jahre, bis wir lebensgerechte Temperaturen erreichen.«

Maya lachte. Sie fühlte sich besser. Bald würde sie wieder auf der Höhe sein oder sich mindestens auf dem Weg zum Wohlgefühl befinden. Maya war labil. Stabilität/Labilität war das jüngste Merkmal, das Michel bei den Ersten Hundert beobachtet hatte. Maya stellte den Extremfall an Labilität dar.

Sie sagte: »Lass uns hinausfahren und die Arkade besuchen.« Michel stimmte zu und fragte sich, was passieren könnte, wenn sie auf John träfen. Sie gingen zum Parkplatz und ließen sich ein Straßenfahrzeug zuteilen. Michel fuhr den kleinen Jeep und hörte Mayas Reden zu. Änderte sich eine Konversation, wenn die Stimmen von den Körpern getrennt waren und durch Helmmikrofone direkt in die Ohren der Hörer eindrangen? Es war, als wäre man ständig am Telefon, selbst wenn die Person, mit der man sprach, dicht bei einem saß. Oder — war das besser oder schlechter? — als wenn man es mit Telepathie zu tun hätte.

Die Zementstraße war eben, und er fuhr mit der Höchstgeschwindigkeit des Jeeps von sechzig Kilometern in der Stunde. Er konnte das Rauschen der dünnen Luft vor seiner Visierscheibe fühlen. All jenes CO2 das Sax aus der Atmosphäre herauskratzen wollte. Sax würde starke Schrubber brauchen, noch wirksamer als die Flechten. Er brauchte Wälder, enorme vielschichtige salzliebende Regenwälder, die gewaltige Mengen an Kohlenstoff in Holz, Blätter, Kompost und Torf binden würden. Er brauchte Torfmoore von hundert Metern Tiefe und Regenwälder von hundert Metern Höhe. So hatte er gesagt. Schon beim Klang seiner Stimme verzog Ann das Gesicht.

Nach fünfzehn Minuten Fahrt kamen sie zu Nadias Arkade. Der Platz war noch im Bau und machte einen unfertigen und unordentlichen Eindruck, wie Underhill zu Anfang, aber in größerem Maßstab. Aus dem Graben war ein großer Haufen aus dunkelrotem Schutt ausgehoben, der sich wie ein Hünengrab nach Ost und West erstreckte.

Sie standen an dem einen Ende des großen Grabens. Dreißig Meter tief, dreißig breit und ein Kilometer lang. Die Südseite des Grabens war jetzt eine Mauer aus Glas, und die nördliche war mit Flächen aus filternden Spiegeln bedeckt, die mit Wand-Mesokosmen und Marskrügen oder Terrarien abwechselten wie ein Gobelin aus Vergangenheit und Zukunft. Die meisten Terrarien waren voller Fichten und anderer Gewächse, dass sie aussahen wie der große, die Welt einhüllende Forst auf der Erde im 16. Jahrhundert. Mit anderen Worten: wie Nadia Cherneshevskys alte Heimat in Sibirien. War das vielleicht ein Zeichen dafür, dass sie etwas von dieser Krankheit mitbekommen hatte? Und konnte er sie dazu bringen, ein Mittelmeer zu bauen?

Nadia arbeitete mit einem Bulldozer. Eine Frau mit ihrer eigenen Form von Viriditas. Sie hielt an und kam herüber, um kurz mit ihnen zu sprechen. Das Projekt kam voran, wie sie ihnen ruhig sagte. Erstaunlich, was man mit den Robotvehikeln anfangen konnte, die immer noch von der Erde geschickt wurden. Der Promenadeplatz war fertig und mit verschiedenen Bäumen bepflanzt, einschließlich einer Reihe von Zwergsequoien, die schon dreißig Meter groß waren, fast so hoch wie die ganze Arkade. Die drei übereinander liegenden Reihen von überwölbten Räumen im Stil von Underhill hinter dem Platz waren erstellt, und ihre Isolierung angebracht. Die Siedlung war gerade am Vortag versiegelt, geheizt und unter Druck gesetzt worden, so dass man ohne Anzüge darin arbeiten konnte. Die drei Stockwerke lagen in immer kleineren Bogen übereinander und erinnerten Michel an den Pont du Gard. Natürlich war die ganze Architektur römischen Ursprungs, so dass das keine Überraschung sein durfte. Aber die Bogen waren breiter und leichter. Luftiger, wie es die geringere Schwere zuließ.

Nadia machte sich wieder an die Arbeit. Eine so ruhige Person! Stabil, genau das Gegenteil von labil. Gemäßigt, in sich zurückgezogen. Sie konnte sich nicht mehr von ihrer alten Freundin Maya unterscheiden. Es war gut für Maya, in ihrer Nähe zu sein. Das entgegengesetzte Ende der Skala; sie konnte sie hindern davonzufliegen. Gab ein Beispiel für sie ab. Wie bei dieser Begegnung passte Maya sich Nadias ruhigem Ton an. Und als Nadia wieder an die Arbeit ging, gewann Maya etwas von jener Heiterkeit zurück. Sie sagte: »Ich werde Underhill vermissen, wenn wir von hier wegziehen. Du nicht auch?«

»Ich glaube nicht«, erwiderte Michael. »Dies hier wird erheblich mehr besonnt sein.« Alle drei Stockwerke des neuen Habitats würden sich auf den hohen Platz öffnen und terrassierte breite Balkons auf der Sonnenseite der Zimmer haben, so dass, obwohl das Bauwerk nach Norden gerichtet und tiefer als Underhill eingegraben war, die heliotropischen, sich automatisch zur Sonne ausrichtenden Filter auf der anderen Seite des Grabens von Morgen- bis Abenddämmerung Licht auf sie werfen würden. »Ich freue mich auf den Umzug. Wir haben den Platz von Anfang an benötigt.«

»Aber wir werden nicht diesen ganzen Platz für uns allein haben. Es wird hier neue Leute geben.«

»Ja. Aber das gibt uns Raum anderer Art.«

Maya machte ein nachdenkliches Gesicht. »Wie John und Frank, die weggehen.«

»Ja. Aber auch das ist nicht unbedingt schlimm.« In einer größeren Gesellschaft, so sagte er ihr, würde die klaustrophobe Dorfatmosphäre von Underhill sich allmählich verflüchtigen, und das würde eine bessere Perspektive für gewisse Aspekte der Dinge ergeben. Michel zögerte, ehe er fortfuhr, unsicher, wie er es sagen sollte. Subtilität war gefährlich, wenn beide Gesprächspartner eine für sie zweite Sprache benutzten und unterschiedliche Muttersprachen hatten. Möglichkeiten für Missverständnisse lagen allzu nahe. »Du musst dich mit der Idee vertraut machen, dass du vielleicht gar nicht zwischen John und Frank wählen willst. Dass du in Wirklichkeit beide haben möchtest. Im Kontext der Ersten Hundert kann das nur skandalös sein. Aber in einer größeren Welt und im Laufe der Zeit …«

»Hiroko hält sich zehn Männer!« rief sie ärgerlich.

»Ja, und du auch. Und in einer größeren Welt wird niemand es erfahren oder sich darum kümmern.«

Er redete ihr weiter zu und sagte ihr, dass sie stark sei und (wie Frank es ausdrücken würde) das Alpha-Weibchen des Trupps. Sie widersprach und nötigte ihn solange zu mehr Lobreden, bis sie schließlich befriedigt war und er vorschlagen konnte zurückzukehren.

»Meinst du nicht, dass es ein Schock sein wird, neue Leute um sich zu haben? Andere Menschen?« Sie fuhr, und als sie sich zur Seite wandte, um ihn dies zu fragen, kam sie fast von der Straße ab.

»Das nehme ich an.« In Borealis und Acidalia waren schon Teilgruppen gelandet, und die Videobänder von ihnen waren ein Schock gewesen. Das konnte man an den Gesichtern der Leute erkennen. Als ob Aliens aus dem Weltraum eingefallen wären. Aber bisher waren nur Ann und Simon einigen von ihnen in Person begegnet, die auf eine Rover-Expedition nördlich von Noctis Labyrinthus getroffen waren. »Ann sagt, sie hatte ein Gefühl, als ob jemand aus dem Fernseher herausgekommen wäre.«

»Mein Leben gibt mir immer ein solches Gefühl«, sagte Maya traurig.

Michel zog die Augenbrauen hoch. Das Maya-Programm hätte nicht so gesprochen. »Was meinst du damit?«

»Oh, das weißt du. Die halbe Zeit wirkt es wie eine große Simulation, meinst du nicht auch?«

»Nein.« Er dachte darüber nach. »Das meine ich nicht.« Es war alles wirklich nur zu real — die durch den Roversitz tief ins Fleisch schneidende Kälte — unausweichlich real, unausweichlich kalt. Vielleicht nahm sie als Russin das nicht so wahr. Aber es war immer und immer kalt. Selbst mittags an einem Mittsommertag, wenn die Sonne über den Köpfen wie ein offene Ofentür im sandfarbenen Himmel loderte, betrug die Temperatur bestenfalls 260 Kelvin, also 15 Grad unter Null — kalt genug, um durch das Geflecht eines Schutzanzugs zu dringen und jede Bewegung schmerzhaft zu machen. Als sie sich Underhill näherten, fühlte Michel die Kälte durch die Haut stechen, und er spürte, wie allzu kühle, mit Sauerstoff versetzte Luft aus dem Mundstück tief in seine Lungen strömte. Er blickte auf den Sandhorizont und den Sandhimmel und sagte sich: Ich bin wie eine Diamantklapperschlange, die durch eine Wüste aus kaltem Gestein und trockenem Staub gleitet. Eines Tages werde ich meine Haut abwerfen wie ein Phönix im Feuer, um eine neue Kreatur der Sonne zu werden und nackt am Strand zu spazieren und in warmem Salzwasser zu planschen …

Zurück in Underhill stellte er das psychiatrische Programm in seinem Kopf an und fragte Maya, ob sie sich besser fühle. Sie berührte seine Stirnscheibe mit der ihren und schenkte ihm einen kurzen strahlenden Blick, der einen Kuss bedeutete. »Das weißt du«, sagte ihre Stimme ihm ins Ohr. Er nickte und sagte: »Ich werde dann noch etwas spazieren gehen.« Er sagte nicht: Aber was ist mit mir? Was wird mir ein besseres Gefühl geben?

Er zwang seine Beine, sich zu bewegen, und marschierte los. Die kahle Ebene rings um die Basis war wie die Vision einer Einöde nach einem Holocaust, eine Welt der Alpträume. Trotzdem wollte er nicht in ihren kleinen Bau aus künstlichem Licht, erwärmter Luft und geschickt dargebotenen Farben zurück, die er größtenteils selbst ausgesucht hatte unter Hinzuziehung neuester Errungenschaften der Theorie über die Zusammenhänge zwischen Stimmungen und Farben, einer Theorie, die, wie er jetzt erkannte, auf gewissen Grundannahmen beruhte, die hier eigentlich nicht zutrafen. Die Farben waren alle falsch, oder noch schlimmer: irrelevant. Tapeten in der Hölle.

Diese Phrase formte sich in seinem Kopf und legte sich ihm auf die Zunge. Tapeten in der Hölle. Da sie ohnehin alle verrückt werden würden … Es war gewiss ein Fehler gewesen, nur einen einzigen Psychiater mitzunehmen. Jeder Therapeut auf der Erde stand auch selbst in Behandlung, das gehörte zum Job, und der Kollege musste dieselbe Sprache sprechen. Aber sein Therapeut befand sich drunten in Nizza, mindestens fünfzehn Sprechminuten entfernt; und Michel sprach mit ihm, aber der konnte nicht helfen. Er verstand ihn gar nicht richtig. Er lebte dort, wo es warm und blau war, er konnte ins Freie gehen und war (wie Michel annahm) bei recht guter mentaler Gesundheit. Dagegen war Michel ein Arzt in einem Hospital in einem Gefängnis in der Hölle. Und dieser Arzt war krank.

Es war ihm nicht gelungen, sich anzupassen. In dieser Hinsicht waren die Menschen verschieden. Es war eine Sache des Temperamentes. Maya, die auf die Tür der Schleuse zuging, hatte ein von dem seinen ganz unterschiedliches Temperament, was ihr irgendwie ermöglichte, sich völlig daheim zu fühlen. Um die Wahrheit zu sagen, er glaubte nicht, dass sie von ihrer Umgebung überhaupt viel Notiz nahm. Und dennoch waren er und sie sich in anderer Hinsicht ähnlich. Das hatte mit dem Index von Labilität/Stabilität zu tun und dessen besonderer Emotionalität. Sie waren beide labil. Und doch waren sie fundamental sehr verschiedene Charaktere. Man musste den Index von Labilität/Stabilität im Zusammenhang mit den sehr unterschiedlichen Kombinationen von Eigenschaften sehen, die unter den Etiketten Extroversion und Introversion zusammengefasst werden. Das war seine größte Entdeckung im letzten Jahr gewesen; und jetzt bestimmte sie sein ganzes Denken über sich und seine Pfleglinge.

Während er zum Alchemistenviertel ging, ordnete er die Ereignisse des Morgens in das Gitter dieses neuen charakterologischen Systems ein. Extroversion/Introversion war eines der am besten studierten Systeme von Eigenschaften in der ganzen psychologischen Theorie, mit sehr reichem Beweismaterial aus vielen verschiedenen Kulturen, das die objektive Realität des Konzeptes unterstützte. Natürlich keine einfache Dualität. Man stempelte eine Person nicht einfach als so oder so ab, sondern ordnete sie auf einer Skala ein nach solchen Eigenschaften wie Geselligkeit, Impulsivität, Unbeständigkeit, Gesprächigkeit, Mitteilsamkeit, Aktivität, Lebhaftigkeit, Reizbarkeit, Optimismus und so weiter. Diese Messungen waren oft genug ausgeführt worden, und es war statistisch erwiesen, dass die mannigfachen Eigenschaften tatsächlich im Zusammenhang standen, bis zu einem Maße, das Zufall weitgehend ausschloss. Also war dieses Konzept real, durchaus real! Tatsächlich hatten physiologische Untersuchungen ergeben, dass Extroversion mit Ruhezuständen geringer cortikaler Erregung verknüpft war und Introversion mit hoher cortikaler Erregung. Dies war Michel zunächst widersinnig vorgekommen; aber dann erinnerte er sich, dass der Cortex — die Großhirnrinde — die unteren Zentren des Gehirns hemmt, so dass geringe cortikale Erregung das weniger behinderte Verhalten des Extrovertierten ermöglicht, während hohe cortikale Erregung dies verhindert und zu Introversion führt. Dies erklärte auch, warum der Genuss von Alkohol, der cortikale Erregung dämpft, zu einem aufgeregteren und weniger gehemmten Verhalten führte.

Also würde das ganze Bündel extrovertierter/introvertierter Züge, mit allem, was sie über jemandes Charakter aussagten, auf eine Gruppe von Zellen im Hirnstamm zurückgeführt, die man das retikulare aktivierende System nennt, das Gebiet, welches letztlich die Niveaus cortikaler Erregung bestimmt. Damit wurde man zur Biologie geführt. Ralph Waldo Emerson, der berühmte amerikanische Transzendentalphilosoph des 19. Jahrhunderts, sagte nach dem Tod seines sechsjährigen Sohnes: So etwas wie Schicksal dürfte es nicht geben. Aber Biologie war Schicksal.

Und Michels System ging noch weiter. Schicksal war schließlich kein einfaches Entweder/Oder. Er hatte sich kürzlich mit Wengers Index automatischer Balance beschäftigt, der sieben verschiedene Variable benutzte, um zu bestimmen, ob ein Individuum durch die sympathetischen oder die parasympathetischen Zweige des autonomen Nervensystems beherrscht wird. Der sympathetische Zweig reagiert auf äußere Reize und veranlasst den Organismus zu reagieren, so dass von ihm beherrschte Personen reizbar waren. Der parasympathetische Zweig hingegen gewöhnt den alarmierten Organismus an den Reiz und bringt ihn wieder in homöostatisches Gleichgewicht, so dass von ihm beherrschte Individuen friedlich wären. Duffy hatte vorgeschlagen, diese beiden Klassen von Individuen als labil und stabil zu bezeichnen; und diese Klassifikation, wenn auch nicht so berühmt wie Extroversion und Introversion, war ebenso solide auf empirisches Beweismaterial gegründet und ebenso nützlich, um Verschiedenheiten des Temperaments zu verstehen.

Nun sagte aber keines dieser Systeme dem Forscher besonders viel über die gesamte Natur der untersuchten Person. Die Ausdrücke waren so allgemein, sie waren Zusammenfassungen so vieler Züge, dass sie nur sehr wenig in irgendeinem diagnostischen Sinn aussagten, besonders da beide in der aktuellen Besetzung Gaußsche Fehlerkurven darstellten.

Aber wenn man die beiden Systeme kombinierte, begann es wirklich interessant zu werden.

Das war kein leichtes Unterfangen, und Michel hatte allerhand Zeit an seinem Computerschirm verbracht und eine Kombination nach der anderen skizziert. Dabei benutzte er die beiden unterschiedlichen Systeme als x- und y-Achsen in verschiedenen Koordinatensystemen. Nichts davon hatte ihm viel zu sagen. Aber dann fing er an, die vier Terme um die Ausgangspunkte eines semantischen Rechtecks nach Greimas herumzuschieben, ein strukturalistisches Schema alchemistischer Herkunft, wonach keine einfache Dialektik genügen würde, die wahre Komplexität irgendeiner Gruppe verwandter Konzeptionen zu beschreiben, so dass es nötig wäre, die reale Differenz zwischen zwei gegensätzlichen Dingen anzuerkennen. Der Begriff ›nicht-X‹ wäre nicht genau dasselbe wie ›Anti-X‹, was unmittelbar einleuchtete. Also war die erste Stufe gewöhnlich gekennzeichnet durch Anwendung der vier Terme S, -S, S und -S in einem einfachen Rechteck:


Also war -S ein einfaches Nicht-S, und S war stärker als Anti-S, während -S für Michel eine schädelspalterische Negation einer Negation war — entweder eine Neutralsierung der anfänglichen Opposition oder die Vereinigung der zwei Negationen. In der Praxis blieb das oft ein Mysterium oder koan. Aber manchmal wurde es klar als eine Idee, die die konzeptuelle Einheit recht hübsch vervollständigte, wie in einem Beispiel von Greima:


Der nächste Schritt in der Komplikation des Schemas, der Schritt, wo neue Kombinationen oft strukturelle Beziehungen enthüllten, die oberflächlich keineswegs zu erkennen waren, bestand darin, ein anderes Rechteck zu konstruieren, das das erste rechtwinklig umspannte, etwa so:



Und Michel hatte verwundert dieses Schema angestarrt — mit Extroversion, Introversion, Labilität und Stabilität an den ersten vier Ecken, und deren Kombinationen erwogen. Plötzlich war alles deutlich geworden. Ein Kaleidoskop hatte zufällig die Darstellung einer Rose getroffen. Denn das ergab vollkommen Sinn. Da waren Extrovertierte, die reizbar waren, und Extrovertierte, die ausgeglichen waren; und es gab Introvertierte, die recht emotional waren, und solche, die es nicht waren. Er konnte unter den Kolonisten sofort Beispiele für alle vier Typen finden.



Als er über Namen nachdachte, die er diesen kombinierten Kategorien geben sollte, hatte er lachen müssen. Unglaublich! Es war geradezu eine Ironie zu denken, dass er die Ergebnisse eines Jahrhunderts psychologischen Denkens benutzt hatte und eine der jüngsten Laboratoriumsforschungen in Psychophysiologie, ganz zu schweigen von einem komplizierten Apparat aus der strukturalistischen Alchemie — das alles, um das antike System der Humore neu zu erfinden. Aber das war es! Darauf lief es hinaus! Denn die nördliche Kombination, extrovertiert und stabil, war offenkundig das, was Hippokrates, Galen, Aristoteles, Trismegistos, Wundt und Jung sanguinisch genannt hätten.

Der westliche Punkt, extrovertiert und labil, war cholerisch. Im Osten war introvertiert und stabil phlegmatisch. Und im Süden war introvertiert und labil natürlich genau die Definition von melancholisch. Jawohl, die passten alle genau! Galens physiologische Erklärung für die vier Temperamente war natürlich falsch gewesen, und Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle waren als kausale Agentien jetzt durch das aufsteigende retikulare Aktivierungssystem und das autonome Nervensystem ersetzt worden. Aber die Wahrheiten der menschlichen Natur hatten Bestand gehabt. Und die Kräfte psychologischer Einsicht und analytischer Logik der ersten griechischen Ärzte hatten sich als ebenso stark, oder eher noch viel starker erwiesen denn die jeder nachfolgenden Generation, die durch eine oft nutzlose Ansammlung von Wissen getäuscht wurde. Und so hatten die Kategorien überdauert und waren bestätigt worden im Laufe der Zeiten.

Michel befand sich jetzt im Alchemistenviertel. Er bemühte sich um Aufmerksamkeit. Hier benutzten Menschen arkanes Wissen, um aus Kohle Diamanten herzustellen. Und sie taten das so leicht und genau, dass all ihr Fensterglas mit einer molekularen Schicht von Diamant bedeckt war, um es vor Stauberosion zu schützen. Ihre großen weißen Salzpyramiden (Pyramiden — eine der großen Figuren antiken Wissens) waren auch mit Schichten aus reinem Diamant bedeckt. Und dieser Prozess des Belegens mit monomolekularem Diamant war nur eine von Tausenden alchemischer Prozeduren, die in diesen gedrungenen Gebäuden abliefen.

In den letzten Jahren hatten die Gebäude ein leicht muslimisches Aussehen gewonnen. Ihre weißen Backsteinwände stellten eine Gleichung nach der anderen zur Schau, alle in schwarzen kalligraphischen Mosaiken. Michel stieß auf Sax, der am nächsten bei der letzten Gleichung stand, die auf der Mauer der Backsteinfabrik angeführt war, und schaltete auf die allgemeine Frequenz um: »Kannst du Blei in Gold verwandeln?«

Sax neigte spöttisch seinen Helm und sagte: »Nun, warum nicht? Es sind Elemente. Das würde schwierig sein. Lass mich etwas darüber nachdenken.«

Russell Sax, der Steinbrecher. Der perfekte Phlegmatiker.

Das wirklich Nützliche bei der Kartierung der vier Temperamente auf dem semantischen Viereck war, dass es sofort eine Anzahl fundamentaler struktureller Beziehungen zwischen ihnen aufzeigte, die dann Michel halfen, ihre Anziehungen und Gegensätzlichkeiten in einem neuen Licht zu sehen. Maya war labil und extrovertiert, deutlich cholerisch. Und Frank war das auch. Und beide waren Führer und wurden beide von einander angezogen. Aber der Umstand, dass beide cholerisch waren, war auch ein flüchtiger und im Grunde abstoßender Aspekt ihrer Beziehung, als ob sie gegenseitig genau erkennen würden, was sie bei sich selbst nicht mochten.

Und so war Mayas Liebe zu John, der deutlich sanguinisch war, mit einer Extroversion, die der von Maya ähnlich war, aber emotional viel stabiler bis hin zur Gelassenheit. So gab er die meiste Zeit den größten Frieden, wie ein Anker zur Realität — der dann gelegentlich schmerzte. Und Johns Hinneigung zu Maya? Vielleicht die Anziehung des Unverhersagbaren, das Gewürz in diesem herzlichen einfachen Glück. Sicher, warum nicht? Man kann nicht mit seinem Ruhm flirten. Auch wenn manche Leute es versuchen.

O ja, es gab viele Sanguiniker unter den Ersten Hundert. Wahrscheinlich bevorzugten die Spezialisten der Auswahl für die Kolonie diesen Typ. Arkady, Ursula, Phyllis, Spencer, Yeli … ja. Und da Stabilität die für die Auswahl am meisten geschätzte Eigenschaft war, gab es unter ihnen auch eine Menge Phlegmatiker: Nadia, Sax, Simon Frazier, vielleicht Hiroko — der Umstand, dass man ihrer nicht sicher sein konnte, legte diese Vermutung nahe —, Vlad, George, Alex.

Phlegmatiker und Melancholiker würden natürlich nicht miteinander auskommen, da beide introvertiert waren und sich rasch zurückzogen; und der Stabile würde von der Unvorhersagbarkeit des Labilen abgestoßen, so dass sie einander auswichen, wie Sax und Ann. Es gab nicht viele Melancholiker unter ihnen. Ann — ja. Und wahrscheinlich durch das Schicksal ihrer Hirnstruktur, obwohl es nicht half, dass sie als Kind falsch behandelt worden war. Sie hatte sich aus dem gleichen Grund in den Mars verliebt, aus dem Michel ihn hasste: Weil er tot war. Und Ann liebte den Tod.

Auch einige Alchemisten waren Melancholiker. Und leider auch Michel selbst. Vielleicht alles in allem fünf Personen. In beiden Ausschüssen hatte man gegen sie die Wahl getroffen, da weder Introversion noch Labilität für wünschenswert erachtet wurden. Nur Leute, die sehr geschickt ihre wahre Natur vor dem Komitee verbargen, hatten durchrutschen können, Leute mit großer Kontrolle über ihre personas, jene das Leben überdauernden Masken, die alle wilden Unstimmigkeiten im Innern verbergen. Vielleicht war nur ein bestimmter Typ von persona für die Kolonie ausgesucht worden, mit einer großen Mannigfaltigkeit von Personen dahinter. War das so? Die Auswahlkomitees hatten unmögliche Anforderungen gestellt. Es war wichtig, sich daran zu erinnern. Sie hatten Stabile haben wollen und dennoch nach Leuten verlangt, die so leidenschaftlich und monomanisch zum Mars gehen wollten, dass sie Jahre ihres Lebens diesem Ziel zu widmen bereit waren. Vertrug sich das miteinander? Sie wollten Extrovertierte und zugleich hervorragende Wissenschaftler, die sich notwendigerweise tief in einsames Studium vergraben mussten. Passte das zusammen? — Nein, nie! So ging es die ganze Liste hinunter weiter. Sie hatten eine doppelte Bindung nach der anderen geschaffen. Kein Wunder, dass die Ersten Hundert sich vor ihnen versteckt hatten und sie hassten. Mit Schaudern erinnerte er sich an den großen Sonnensturm auf der Ares, wo ein jeder erkannte, wie viel Lügen und sich Verstecken er hatte tun müssen, als sich alle umgewendet und ihn angestarrt hatten mit all jener verhaltenen Wut, als ob das alles sein Fehler wäre, als ob er nur Psychologe wäre und die Kriterien zusammengebraut und die Tests durchgeführt und die Auswahl ganz allein getroffen hätte. Wie er in diesem Moment zusammengezuckt war, wie allein er sich gefühlt hatte! Es hatte ihn so sehr schockiert und erschreckt, dass er nicht imstande gewesen war, schnell genug zu denken, um sich einzugestehen, dass auch er gelogen hatte. Natürlich hatte er das getan, mehr als viele andere von ihnen.

Aber warum hatte er gelogen? Warum?

Das war es, an das er sich nicht recht erinnern konnte. Melancholie als Gedächtnisfehler, eine akute Empfindung der Irrealität der Vergangenheit, ihre Nichtexistenz … Er war Melancholiker, zurückgezogen, ohne Kontrolle über seine Gefühle, zu Depression neigend. Man hätte ihn nicht auswählen sollen zu gehen; und jetzt konnte er sich nicht erinnern, weshalb er so leidenschaftlich gekämpft hatte, ausgewählt zu werden. Die Erinnerung war fort, vielleicht überwältigt von den quälenden, schmerzenden, bruchstückhaften Bildern des Lebens, das er zwischen seinen Gelüsten, zum Mars zu gehen, geführt hatte. So winzig und so kostbar. Die Abende auf den Plazas, die Sommertage an den Stränden, die Nächte in den Berten von Frauen. Die Olivenbäume von Avignon. Die grün leuchtenden Zypressen.

Er stellte fest, dass er das Alchemistenviertel verlassen hatte. Er befand sich am Fuße der großen Salzpyramide. Er ging langsam die vierhundert Stufen hinauf und setzte seine Füße vorsichtig auf die blauen rutschfesten Platten. Jede Stufe lieferte ihm eine weitere Sicht auf die Ebene von Underhill; aber es war immer der gleiche sterile Steinhaufen, ganz gleich, wie groß er wurde. Von dem quadratischen weißen Pavillon auf dem Gipfel der Pyramide konnte man eben noch Tschernobyl und den Raumhafen erkennen.

Sonst aber nichts. Warum war er zu diesem Platz gekommen? Warum hatte er so hart gearbeitet, um hierher zu kommen und so viele der Freuden von Leben, Familie, Heim, Muße und Spiel geopfert? Er schüttelte den Kopf. Soweit er sich erinnern konnte, war es einfach das gewesen, was er zu tun verlangt hatte, die Definition seines Lebens. Ein Zwang, ein Leben mit einem Ziel — wie konnte man den Unterschied benennen? Von Mond erhellte Nächte im duftenden Olivenhain, der Boden gefleckt von kleinen schwarzen Kreisen und die elektrisierende warme Brise des Mistral, die die Blätter in schnellen kleinen Wellen rauschen lässt. Er flach auf dem Rücken, die Arme weit ausgebreitet, während die Blätter silbrig und grau unter der schwarzen Kuppel der Sterne flackern. Und einer dieser Sterne war still, schwach, rot; und er würde ihn suchen und beobachten, dort zwischen den von Wind bewegten Olivenblättern. Und er war acht Jahre alt gewesen! Mein Gott, was waren die? Nichts erklärte das. Ebenso gut könnte man erklären, warum sie in Lascaux gemalt hatten, warum sie steinerne Kathedralen in den Himmel gebaut hatten. Warum Korallenpolypen Riffe bauten.

Er hatte eine gewöhnliche Jugend gehabt, war oft umgezogen, hatte die gewonnenen Freunde verloren, war auf die Universität von Paris gegangen, um Psychologie zu studieren. Er hatte seine Dissertation über Depression auf Raumstationen angefertigt und dann für Ariane und später Glavkosmos gearbeitet. Inzwischen hatte er geheiratet und war geschieden. Franchise hatte gesagt, er ›wäre nicht da‹. All diese Nächte mit ihr in Avignon, all jene Tage in Villefranche-sur-Mer. Ein Leben auf dem schönsten Fleck der Erde — und er war umhergelaufen in einem Nebel von Verlangen nach dem Mars! Das war absurd! Schlimmer noch, es war töricht. Ein Fehler der Phantasie, der Erinnerung und letztlich sogar der Intelligenz. Er war nicht imstande gewesen zu sehen, was er gehabt hatte, oder sich vorzustellen, was er bekommen könnte. Und jetzt musste er dafür zahlen, gefangen auf einer Eisscholle in der arktischen Nacht mit neunundneunzig Fremden, von denen kein einziger richtig Französisch sprach. Nur drei, die es immerhin versuchen konnten. Und Franks Französisch war schlimmer als gar keins. Es war, als ob man die Sprache mit einer Axt bearbeitete.

Das Fehlen der eigenen Zunge seines Geistes hatte ihn dazu getrieben, das Fernsehen aus der Heimat zu betrachten, was aber seine Qual nur noch verschärfte. Dennoch schickte er auf Band gesprochene Videomonologe an seine Mutter und Schwester, damit sie in gleicher Weise antworten konnten. Er sah sich diese Antworten oft an und achtete mehr auf die Hintergründe als auf seine Verwandten. Er führte auch gelegentlich Live-Gespräche mit Journalisten und wartete ungeduldig während der Dialogpausen auf Antworten. Solche Unterhaltungen zeigten, wie berühmt er in Frankreich war, eine allgemein vertraute, eine ›öffentliche‹ Person; und er bemühte sich, alle Fragen konventionell zu beantworten, indem er die Persona von Michel Duval spielte und das Michel-Programm ablaufen ließ. Manchmal sagte er Konsultationen mit Kolonistenkollegen ab, wenn ihm danach war, Französisch anzuhören. Sollten jene doch Englisch essen!

Aber diese Vorfälle trugen ihm eine scharfe Rüge seitens Frank ein und eine Konferenz mit Maya. War er überarbeitet? Natürlich nicht. Er hatte nur neunundneunzig Personen geistig gesund zu halten und wanderte zugleich in einer geistigen Provence auf von Bäumen bedeckten steilen Bergflanken mit ihren Weingärten, Bauernhäusern und verfallenen Städten und Klöstern in einer lebendigen Landschaft, einer Landschaft, die unendlich viel schöner und menschlicher war als die steinige Wüste dieser Realität …

Er saß in der Fernsehlounge. In Gedanken verloren war er offenbar in sich gegangen. Aber er konnte sich nicht daran erinnern. Er hatte gedacht, er stünde oben auf der Großen Pyramide. Und dann hatte er gezwinkert und befand sich in der TV-Lounge (alle Wohnkomplexe haben eine) und sah das Videobild einer von Flechten bedeckten Canyonwand in Marineris.

Er erschauderte. Es war wieder passiert. Er hatte den Kontakt verloren, war fortgegangen und später am Tage wieder zu sich gekommen. Das war schon einige dutzend Male passiert. Und es war nicht einfach Verlorensein in Gedanken, sondern darin vergraben sein, für die Welt tot. Er schaute sich in dem Raum um und erbebte krampfhaft. Es war jetzt Ls = 5, der Anfang des nördlichen Frühlings, und die Nordwände der großen Canyons erwärmten sich in der Sonne. Da sie alle irgendwie verrückt werden würden …

Dann war es Ls = 157, und 152 Grade waren in einer verschwommenen Nichtexistenz vergangen. Er wärmte sich in der Sonne im Hofe von Francoises Villa am Strand von Villefranche-sur-Mer und schaute hinab auf die Dächer und Terracottasäulen und ein kleines Becken, türkisfarben über dem Kobalt des Mittelmeeres. Eine Zypresse stand wie eine grüne Flamme über dem Teich, schwankte in der Brise und ergoss ihren Duft über sein Gesicht. In der Ferne die grüne Landzunge einer Halbinsel …

Nur befand er sich real in Underhill Prime, gewöhnlich als ›der Graben‹ oder ›Nadias Arkade‹ bezeichnet, und saß auf dem oberen Balkon mit Blick auf eine Zwergsequoia. Dahinter die Glaswand und die Spiegel mit ihrem abgestuften Reflexionsindex, die das Licht aus seinem Ursprung an der Cote d’Or in den Promenadeplatz hinunterlenkten. Tatiana Durova war durch einen von einem Roboter umgekippten Kran getötet worden, und Nadia war untröstlich. Aber Kummer läuft von uns ab wie Regen an einer Ente, dachte Michel, als er bei ihr saß. Im Laufe der Zeit würde Nadia sich erholen. Inzwischen konnte man nichts tun. Hielt man ihn etwa für einen Zauberer? Einen Priester? Wenn das stimmte, hätte er sich längst selbst heilen können und auch all diese Welt oder noch besser, er wäre durch den Weltraum nach Hause geflogen. Hätte das nicht eine Sensation ausgelöst, am Strand von Antibes zu erscheinen und zu sagen »Bonjour, ich bin Michel. Ich bin nach Hause gekommen?«

Dann war es Ls = 190, und er war eine Eidechse oben auf dem Pont du Gard, auf den schmalen rechteckigen Steinplatten, die den eigentlichen Aquädukt bedeckten, der geradlinig hoch über die Schlucht verlief. Seine schuppige Haut hatte sich um die Taille herum abgeschält, und die heiße Sonne brannte ein schachbrettartiges Muster in die neue Haut. Nur, dass er sich tatsächlich in Underhill befand, im Atrium, und dass Frank weggezogen war, um bei den Japanern zu wohnen, die in Argyre gelandet waren, und dass Maya und John sich in den Haaren lagen wegen ihrer Zimmer und darüber, wo das lokale Hauptquartier der UNOMA unterzubringen wäre. Maya selbst, schöner denn je, schlich ihm durch das Atrium nach und beschwor ihn zu helfen. Er und Marina Tokareva hatten vor fast einem vollen Marsjahr aufgehört zusammenzuwohnen — sie hatte gesagt, er wäre nicht da. Und wenn er Maya anschaute, fand Michel, dass er sie sich als Geliebte vorstellte. Aber das war natürlich verrückt. Sie war eine russalka — eine Wasserhexe — und hatte mit Bossen von Glavkosmos und mit Kosmonauten geschlafen, um ihren Weg durch das System nach oben zu machen. Dadurch war sie ungesellig, bitter und unberechenbar geworden. Sie benutzte Sex jetzt, um zu verletzen. Sex war für sie einfach Diplomatie mit anderen Mitteln. Es wäre unsinnig, mit ihr auf diese Art etwas zu tun zu haben und sich in den Wirbel ihrer Glieder und ihres Bannkreises ziehen zu lassen. Warum sollte man nicht an erster Stelle verrückte Leute schicken …

Aber jetzt war es Ls = 241. Er ging über die löchrige Brustwehr von Les Baux und blickte in die verfallenen Kammern der mittelalterlichen Einsiedelei. Es war kurz vor Sonnenuntergang, und das Licht war marsartig orangefarben. Der Kalkstein glühte, und das ganze Dorf und die dunstige Ebene unten dehnten sich bis hin zur weißbronzenen Linie des Mittelmeers. Sie sahen so unerklärlich aus wie ein Traum … Außer, es war ein Traum. Und er erwachte und fand sich wieder in Underhill. Phyllis und Edvard waren gerade von einer Expedition zurückgekehrt. Phyllis lachte und zeigte ihnen einen glatten Steinklumpen. Sie sagte fröhlich: »Das war über den ganzen Canyon verstreut. Goldnuggets von Faustgröße.«

Dann ging er durch die Tunnels hinaus zur Garage. Der Psychiater der Kolonie erlebte Visionen und fiel in Lücken des Bewusstseins und des Gedächtnisses. Arzt, hilf dir selber! Aber das konnte er nicht. Er war an Heimweh erkrankt. Heimweh — es müsste einen besseren Ausdruck dafür geben, ein wissenschaftliches Etikett, um es zu legitimieren und für andere real zu machen. Aber er wusste schon, dass es real war. Er vermisste die Provence so sehr, dass er glaubte, nicht atmen zu können. Er war wie Nadias Hand, ein Teil davon abgerissen, und die Phantomnerven pulsierten noch schmerzhaft.

Und ihnen die Mühe ersparen?

Die Zeit verging. Das Michel-Programm machte die Runde, eine hohle Persona, innen leer, nur irgendein winziger Homumculus des Kleinhirns noch verblieben, um das Ding aus der Ferne zu bedienen.

In der Nacht des zweiten Tages von Ls = 266 ging er zu Bett. Er war hundemüde, obwohl er nichts getan hatte, völlig erschöpft und ausgelaugt, und dennoch lag er in der Dunkelheit seines Zimmers und konnte nicht schlafen. Seine Gedanken drehten sich wild im Kreise. Er war sich durchaus darüber im klaren, wie krank er war. Er wünschte, er könnte die Verstellung aufgeben und zugeben, dass er verloren hatte. Sich selbst in die Klinik schicken. Heimgehen. Er konnte sich an fast nichts aus den letzten Wochen erinnern — oder gar etwa noch länger? Er war sich nicht sicher. Er fing an zu weinen.

Die Tür knackte, schwang auf, und ein kleiner Lichtkeil aus der Halle schien ungehindert herein. Niemand da.

»Hallo?« sagte er, bemüht, die Tränen aus seiner Stimme zu verdrängen.

Die Antwort drang ihm direkt ins Ohr, wie vom Interkom eines Helms. Eine männliche Stimme sagte: »Komm mit mir!«

Michel prallte zurück und stieß gegen die Wand. Er starrte auf eine schwarze Silhouette.

Die Gestalt flüsterte: »Wir brauchen deine Hilfe.« Eine Hand packte seinen Ann, als er sich an die Wand presste. »Und du brauchst die unsere.« Die Andeutung eines Lächelns in der Stimme, die Michel nicht erkannte.

Furcht schleuderte ihn in eine neue Welt. Plötzlich konnte er viel besser sehen, als ob die Berührung seines Besuchers seine Pupillen geöffnet hätte wie Kamerablenden. Ein hagerer dunkelhäutiger Mann. Ein Fremder. Erstaunen mischte sich in seine Angst; und er stand auf und bewegte sich mit traumwandlerischer Sicherheit durch das Zwielicht, trat in seine Pantoffeln und folgte dem Fremden auf sein Drängen hin in den Korridor, wobei er die Leichtigkeit der geringen Schwere des Mars zum ersten Mal seit Jahren empfand. Der Gang schien vor grauem Licht zu bersten, obwohl er bemerkte, dass nur die nächtlichen Leuchtstreifen in Betrieb waren. Es war hell genug, um zu erkennen, wer ihn belästigte. Sein Begleiter hatte kurze schwarze Haarborsten, wodurch sein Kopf stachlig erschien. Er war klein, mager, und hatte ein schmales Gesicht. Unzweifelhaft ein Fremder. Ein Eindringling aus einer der neuen Kolonien in der südlichen Hemisphäre, dachte Michel. Aber der Mann führte ihn mit ortskundiger Sicherheit und in tiefstem Schweigen durch Underhill, als ob es ein schwarzweißer Stummfilm wäre. Er blickte auf sein Armbandgerät. Es zeigte nichts an. Der Zeitrutsch. Er wollte sagen: »Wer bist du?«, aber das Schweigen war so überwältigend, dass er sich nicht zum Sprechen überwinden konnte. Er formulierte die Worte mit den Lippen, und der Mann drehte sich um und sah ihn über die Schulter an. Das Weiß in den Augen war rund um die Irisse sichtbar und leuchtend. Die Nasenlöcher waren weite schwarze Löcher. »Ich bin der blinde Passagier«, sagte er und grinste. Seine Eckzähne waren verfärbt. Sie waren aus Stein, wie Michel plötzlich erkannte. Steinzähne vom Mars in seinem Kopf. Er nahm Michel am Ann. Sie gingen auf die Farmschleuse zu. »Wir brauchen da draußen Helme«, flüsterte Michel und zögerte.

»Nicht heute Nacht.« Der Mann öffnete die Schleusentür, und keine Luft strömte hinein, obwohl sie auf der anderen Seite offen war. Sie traten ein und gingen zwischen den schwarzen Reihen aus dicht gepackten Blättern. Die Luft war angenehm. Hiroko wird ärgerlich sein, dachte Michel.

Sein Führer war verschwunden. Michel sah eine Bewegung und hörte ein helles leises Lachen. Es klang wie von einem Kind. Mit einemmal kam Michel der Gedanke, dass das Fehlen von Kindern für das die Kolonie durchdringende Gefühl von Sterilität verantwortlich sein mochte, dass sie Bauwerke errichten und Pflanzen ziehen konnten; jedoch würde dieses sterile Gefühl jeden Teil ihres Lebens durchdringen. Extrem erschrocken ging er weiter auf das Zentrum der Farm zu. Es war warm und feucht, und die Luft stank von nassem Schmutz, Dünger und Blättern. Licht schimmerte von tausend Blattflächen, als ob die Sterne durch das klare Dach gefallen wären und sich um ihn zusammengedrängt hätten. Reihen von Getreideähren raschelten, und die Luft stieg ihm zu Kopf wie Branntwein. Kleine Füße scharrten hinter den engen Reisbeeten. Sogar im Dunkeln war der Reis ein ausgedehntes schwärzliches Grün; und zwischen den Pflanzen erschienen kleine Gesichter, die kniehoch grinsten und verschwanden, wenn er sich ihnen zuwandte. Heißes Blut strömte ihm durch Gesicht und Hände, sein Blut wurde zu Feuer, und er trat drei Schritte zurück. Dann hielt er an und drehte sich um. Zwei nackte kleine Mädchen kamen durch die Schneise auf ihn zu, mit schwarzem Haar, dunklen Augen und schwarzer Haut, ungefähr drei Jahre alt. Ihre orientalischen Augen schimmerten in dem trüben Licht hell, ihre Mienen waren ernst. Sie nahmen ihn bei den Händen und drehten ihn um. Er gestattete ihnen, ihn den Weg hinabzuführen, und sah sich erst die eine und dann die andere an. Jemand musste beschlossen haben, etwas gegen ihre Sterilität zu unternehmen. Während sie so gingen, tauchten andere nackte kleine Kinder aus dem Gebüsch auf und drängten sich um ihn, sowohl Jungen wie Mädchen, einige davon etwas heller oder dunkler als die ersten zwei, meistens von der gleichen Farbe und alle im selben Alter. Neun oder zehn von ihnen begleiteten Michel zum Zentrum der Farm. Sie wimmelten in raschen Schritten um ihn herum. Und dort im Zentrum des Labyrinths war eine kleine Lichtung, derzeit besetzt von etwa einem Dutzend Erwachsener, die, alle nackt, in einem rohen Kreis saßen. Die Pupillen Michels weiteten sich in dem Nimbus von Sternenlicht und schimmernden Blättern. Er erkannte Mitglieder des Farmteams; Iwao, Raul, Ellen, Rya, Gene, Evgenia — alle vom Farmteam außer Hiroko selbst.

Nach kurzem Zögern zog Michel seine Pantoffeln aus, legte seine Kleider ab, legte sie auf die Pantoffeln und setzte sich an einer leeren Stelle im Kreis hin. Er wusste nicht, an was er hier teilnahm, aber das spielte keine Rolle. Einige Gestalten nickten ihm zur Begrüßung zu; und Ellen und Evgenia, die zu beiden Seiten von ihm saßen, berührten ihn an den Armen. Plötzlich standen die Kinder auf und liefen zusammen quietschend und kichernd eine Schneise hinunter. Sie kamen zurück in einem dichten Knäuel um Hiroko, die in die Mitte des Kreises trat, ihre nackte Gestalt dunkel in der Dunkelheit. Von den Kindern gefolgt ging sie langsam in dem Kreis herum und streute aus ihren zwei ausgestreckten Fäusten ein bisschen Schmutz in die ausgestreckten Hände aller Personen. Michel hielt seine Hände zusammen mit Ellen und Evgenia hin, als sie näher kam, und starrte auf ihre schimmernde Haut. Er war einmal am nächtlichen Strand von Villefranche an einer Schar afrikanischer Frauen vorbeigekommen, die in den phosphoreszierenden Wellen planschten, weißes Wasser auf schwarzer glänzender Haut …

Der Schmutz in seiner Hand war warm und roch nach Rost. Hiroko sagte: »Dies ist unser Körper.« Sie ging zur anderen Seite des Kreises, gab den Kindern je eine Handvoll Schmutz und schickte sie zurück, um zwischen den Erwachsenen Platz zu nehmen. Sie setzte sich Michel gegenüber hin und fing an, auf japanisch zu rezitieren. Evgenia beugte sich hinüber und flüsterte Michel eine Übersetzung oder wohl eher Erklärung ins Ohr. Sie feierten die Areophanie, eine Zeremonie, die sie unter Hirokos Anleitung und Inspiration geschaffen hatten. Das war eine Art landschaftlicher Religion, ein Bewusstsein vom Mars als eines physischen Raums, der erfüllt sei von Kami, welches die spirituelle Energie darstellte, die im Lande selbst ruhte. Kami manifestierte sich am augenfälligsten in bestimmten außergewöhnlichen Objekten in der Landschaft — Steinsäulen, isolierten Auswürfen, steilen Klippen, seltsam geglätteten Innenseiten von Kratern und den breiten runden Gipfeln der großen Vulkane. Diese intensiven Ausprägungen vom Kami des Mars hatten eine terrestrische Analogie unter den Kolonisten in jener Kraft, die Hiroko viriditas nannte, der grünenden fruchttragenden inneren Kraft, die weiß, dass die wilde Welt selbst heilig ist. Kami, viriditas. Es war die Kombination dieser geheiligten Kräfte, die es Menschen gestatten würde, hier sinnvoll zu existieren.

Als Michel hörte, wie Evgenia das Wort ›Kombination‹ flüsterte, fielen alle Ausdrücke sofort in ein semantisches Rechteck: Kami und viriditas, Mars und Erde, Hass und Liebe, Abwesenheit und Sehnsucht. Und dann schnappte das Kaleidoskop ein, und alle Rechtecke kamen in seinem Geist auf ihren Platz, alle Antinomien stürzten zu einer einzigen schönen Rose zusammen, das Herz der Areophanie, Kami, durchströmt von viriditas, beide zur gleichen Zeit völlig rot und völlig grün. Sein Kinnbacken war schlaff, seine Haut brannte. Er konnte und wollte das nicht erklären. Sein Blut war Feuer in den Adern.

Hiroko hörte mit der Rezitation auf, führte die Hand an den Mund und fing an, den Schmutz in ihrer Hand zu verzehren. Alle anderen taten desgleichen. Michel hob die Hand ans Gesicht. Eine Menge Schmutz zu essen; aber er streckte die Zunge heraus, leckte die Hälfte davon auf und fühlte einen kurzen elektrischen Schauer, als er sie gegen den Gaumen rieb und das glitschige Zeug nach vorn und hinten schob, bis es Schlamm war. Es schmeckte salzig und rostig, mit einer unangenehmen Spur von faulen Eiern und Chemikalien. Er würgte es hinunter und erstickte fast. Dann verschlang er die zweite Handvoll. Aus dem Kreis der Feiernden kam während des Essens ein ungleichmäßiges Summen. Vokale verschoben sich nacheinander, aaaa, oooo, iiiii, eeee, uuuu, wobei sie bei jedem Vokal wohl eine Minute lang verweilten und der Ton sich in zwei und manchmal drei Teile aufspaltete und Obertöne seltsame Harmonien bildeten. Hiroko fing an, über diesem Lied zu rezitieren. Alle standen auf, und Michel rappelte sich mit ihnen hoch. Sie bewegten sich alle zusammen in das Zentrum des Kreises. Evgenia und Ellen nahmen Michel bei den Armen und zogen ihn mit. Dann wurden sie alle um Hiroko zusammengepresst in eine Masse eng gedrängter Leiber, die Michel so umringten, dass warme Haut von allen Seiten gegen ihn gedrückt wurde. Dies ist unser Leib. Einige von ihnen küssten sich mit geschlossenen Augen. Langsam bewegten sie sich und drehten sich, um maximalen Kontakt zu halten, während sie zu neuen kinetischen Konfigurationen übergingen. Drahtiges Schamhaar kitzelte seinen Hintern, und er fühlte etwas, das ein erigierter Penis sein konnte, an der Hüfte. Der Schmutz lag ihm schwer im Magen, und er fühlte sich benommen. Sein Blut war Feuer, und seine Haut fühlte sich an wie ein praller Ballon mit Glut im Innern. Die Sterne waren über den Köpfen in erstaunlicher Anzahl zusammengedrängt, und ein jeder hatte seine eigene Farbe, grün oder rot oder blau oder gelb. Sie sahen aus wie Funken.

Er war ein Phoenix. Hiroko selbst drückte sich an ihn, und er erhob sich im Mittelpunkt des Feuers, bereit zur Wiedergeburt. Sie hielt seinen neuen Körper eng umschlungen und drückte ihn. Sie war groß und schien nur aus Muskeln zu bestehen. Sie blickte ihm direkt in die Augen. Er spürte ihre Brüste an seinen Rippen, und ihr Schambein presste sich hart an seinen Schenkel. Sie küsste ihn, wobei ihre Zunge seine Zähne berührte. Er schmeckte den Schmutz und empfand dann ganz plötzlich nur noch ganz sie. Für den ganzen Rest seines Leben sollte dieses Gefühl ausreichen, bei ihm eine impulsive Erektion auszulösen. Aber in diesem Moment war er allzu überwältigt und völlig entflammt.

Hiroko legte den Kopf zurück und schaute ihn wieder an. In seinen Lungen zischte der Atem hinein und heraus. Sie sagte auf englisch in einem formellen, aber freundlichen Ton: »Dies ist deine Einweihung in die Areophanie, die Feier des Körpers vom Mars. Sei dazu willkommen! Wir verehren diese Welt. Wir beabsichtigen, hier einen Ort für uns selbst zu schaffen, einen Ort, der auf eine neue Weise des Mars schön ist, eine Weise, die man nie auf Erden gesehen hat. Wir haben im Süden ein verstecktes Refugium errichtet und brechen jetzt dahin auf.

Wir kennen und lieben dich. Wir wissen, dass du unsere Hilfe brauchen kannst. Wir wollen genau das erbauen, wonach du dich sehnst und was du hier vermisst hast. Aber alles in neuen Formen. Denn wir können nie zurückkehren. Wir müssen vorwärts schreiten. Wir müssen unseren eigenen Weg finden. Wir brechen heute Nacht auf. Wir wollen, dass du mit uns kommst.«

Und Michel sagte: »Ich werde kommen.«

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