SIEBTER TEIL Senzeni Na

Am vierzehnten Tag der Revolution träumte Arkady Bogdanov, wie er und sein Vater auf einer Holzkiste saßen vor einem kleinen Feuer am Rande der Lichtung — einer Art von Lagerfeuer, nur dass die langen, niedrigen, mit Blech gedeckten Häuser von Ugoly nur hundert Meter hinter ihren Rücken standen. Sie hatten die bloßen Hände zu der wärmenden Hitze ausgestreckt, und sein Vater erzählte wieder einmal die Geschichte von seiner Begegnung mit dem Schneeleoparden. Es war windig, und die Flammen züngelten. Dann ertönte hinter ihnen ein Feueralarm.

Das war Arkadys Wecker, der auf vier Uhr morgens gestellt war. Ein Bild aus dem Traum kam ihm wieder in den Sinn. Er hatte seit dem Beginn der Revolte nicht viel geschlafen, ein paar Stunden hier und da; und dieser Alarm hatte ihn aus einigen Träumen im Tiefschlaf gerissen, aus Träumen, an die man sich normalerweise nicht erinnerte. Fast alle waren unverzerrte Erinnerungen an seine Kindheit gewesen, Erinnerungen, die ihm früher nie erschienen waren. Er musste sich fragen, wie viel das Gedächtnis barg, und ob sein Speicher nicht unendlich viel größer wäre als sein Mechanismus der Wiedergewinnung. Könnte man imstande sein, sich an jede Sekunde seines Lebens zu erinnern, aber nur in Träumen, die beim Erwachen immer verloren gingen? Und falls ja, was würde geschehen, wenn die Menschen zwei- oder dreihundert Jahre lang lebten?

Janet Blyleven kam vorbei. Sie sah besorgt aus. »Sie haben Nemesis in die Luft gejagt. Roald hat das Video analysiert und vermutet, dass sie es mit einem Bündel Wasserstoffbomben getroffen haben.«

Sie gingen nach nebenan in die großen Citybüros von Carr, wo Arkady den größten Teil der vergangenen zwei Wochen verbracht hatte. Alex und Roald waren drin vor dem Fernseher. Roald sagte: »Schirm, Band Eins wiederholen!«

Ein Bild flimmerte und stand: Schwarzer Raum, das dichte Netz der Sterne, und mitten im EM ein dunkler unregelmäßiger Asteroid, hauptsächlich sichtbar als Fleck verdeckter Sterne. Die Expansion und Dispersion des Asteroiden war unmittelbar zu sehen. »Schnelle Arbeit«, bemerkte Arkady.

»Da ist noch ein Bild aus einer entfernteren Kamera.«

Dieser Schnitt zeigte den Asteroiden als länglich, und man konnte die silbernen Blasen seines Massenantriebs erkennen. Dann war ein weißes Aufblitzen zu sehen; und als der dunkle Himmel wiederkam, war der Asteroid verschwunden. Ein Flimmern von Sternen rechts auf dem Schirm zeigte die Passage von Fragmenten an. Dann wurde es ruhig und war vorbei. Keine feurige weiße Wolke, noch ein Dröhnen auf der Tonspur. Nur die dünne Stimme eines Reporters, der sagte, dass die Drohung seitens der Marsrevolutionäre endlich beseitigt sei, und etwas über die Rechtfertigung des Konzepts strategischer Verteidigung. Obwohl die Geschosse ganz offensichtlich von der Amex-Mondbasis gekommen waren, von Magnetschienenkatapulten gestartet.

»Mir hat die Idee nie gefallen«, sagte Arkady. »Das war wieder gegenseitige totale Vernichtung.«

»Wenn aber bei gegenseitiger totaler Vernichtung eine Seite die Fähigkeit verliert …« wandte Roald ein.

»Wir haben hier aber nicht die Fähigkeit verloren. Und sie beurteilen das, was hier ist, genau so wie wir. So sind wir wieder bei der Schweizer Verteidigung angelangt.« Zerstören, was sie begehrten, und sich in die Berge zurückziehen, um ewig Widerstand zu leisten. Das war mehr nach seinem Geschmack.

»Es ist schwächer«, sagte Roald offen. Er hatte mit der Mehrheit dafür gestimmt, Nemesis auf Erdkurs zu bringen.

Arkady nickte. Es konnte nicht bestritten werden, dass ein Term aus der Gleichung gelöscht worden war. Aber es war nicht klar, ob sich das Gleichgewicht der Kräfte geändert hatte. Nemesis war nicht seine Idee gewesen. Mikhail Yangel hatte es vorgeschlagen, und die Gruppe in dem Asteroiden hatte es von sich aus durchgeführt. Jetzt waren viele von ihnen tot, getötet durch die große Explosion oder durch kleinere im Gürtel draußen, während Nemesis selbst den Eindruck erweckt hatte, dass die Rebellen Massenzerstörung auf der Erde dulden würden. Eine schlechte Idee, wie Arkady dargelegt hatte.

Aber so war es nun einmal bei einer Revolution. Niemand war unter Kontrolle, ganz gleich, was das Volk sagte. Und zum größten Teil war es so besser, besonders hier auf dem Mars. In der ersten Woche waren die Kämpfe heftig gewesen. UNOMA und die Transnationalen hatten ihre Sicherheitskräfte im vorangegangenen Jahr verstärkt. Eine Menge der großen Städte war sofort von ihnen eingenommen worden; und das hätte überall geschehen können. Nur stellte sich heraus, dass es so viel mehr Rebellengruppen gab, als sie oder sonst jemand gewusst hatten. Über sechzig Städte und Stationen waren ins Nachrichtennetz gegangen und hatten sich für unabhängig erklärt. Sie waren aus den Labors und Bergen herausgestürmt und hatten einfach die Macht ergriffen. Und jetzt, da die Erde auf der anderen Seite der Sonne stand und die nächste ständige Fähre zerstört war, waren es die Sicherheitskräfte, die unter Belagerung standen, ob große Städte oder nicht.

Es kam ein Anruf von der Versorgungszentrale. Sie hatten Schwierigkeiten mit den Computern und wollten, dass Arkady nach dem Rechten sah.

Er verließ die Stadtbüros und ging durch Menlo Park zur Zentrale. Es war kurz nach Sonnenaufgang, und der größte Teil des Carr-Kraters lag noch im Schatten. Zu dieser Stunde erhielten nur der Westrand und die hohen Betonbauten der Versorgungszentrale Sonnenlicht. Die Wände waren im Morgenlicht ganz gelb, und die den Kraterrand hinauflaufenden Pisten waren wie Goldbänder. In den schattigen Straßen begann die Stadt gerade zu erwachen. Eine Menge Rebellen waren von anderen Städten oder aus den mit Kratern bedeckten Gebirgen hereingekommen, und sie schliefen auf dem Gras des Parks. Einige richteten sich auf, die Schlafsäcke noch über den Beinen, die Augen verquollen, mit wirrem Haar. Die nächtliche Temperatur war aufrechterhalten worden, aber es war in der Morgendämmerung immer noch kühl. Die aus den Schlafsäcken Gekrochenen drängten sich um Herde zusammen, pusteten in die Hände und hantierten mit Kaffeekannen und Samowars. Sie schauten nach Westen, um zu sehen, wie weit die Linie des Sonnenscheins schon heruntergekrochen war. Als sie Arkady sahen, winkten sie ihm zu; und ein paar Mal wurde er von Leuten angehalten, die seine Meinung über die Neuigkeiten hören oder ihm Ratschläge erteilen wollten. Arkady antwortete allen fröhlich. Er spürte wieder jenen Unterschied in der Luft, das Gefühl, sie wären alle in einem neuen Raum beisammen, wobei jeder vor den gleichen Problemen stünde, alle einander gleich und jeder (das empfand er beim Anblick einer Heizspule, die unter einem Kaffeetopf glühte) glühend von der Elektrizität der Freiheit.

Beim Weitergehen fühlte er sich leichter und sprach dabei in seinen Armbandrecorder. »Der Park erinnert mich an das, was Orwell gesagt hat über Barcelona in den Händen von Anarchisten: ›Es ist die Euphorie eines neuen Sozialvertrags, einer Wiederkehr zu jenem Kindertraum von Fairness, mit der wir alle begonnen haben.‹«

Sein Armbandgerät piepte, und Phyllis erschien auf dem kleinen Schirm. Das war beunruhigend. Er fragte: »Was willst du?«

»Nemesis ist vernichtet. Wir wollen, dass ihr euch ergebt, ehe weiterer Schaden entsteht. Arkady, es ist jetzt ganz einfach. Kapitulation oder Tod.«

Er musste fast lachen. Sie war wie die böse Hexe in dem Film von Oz, die unerwartet in seiner Kristallkugel erschien.

»Da gibt es nichts zu lachen!« schrie sie. Er sah plötzlich, dass sie verstört war.

»Du weißt, dass wir mit Nemesis nichts zu tun hatten«, sagte er. »Das ist irrelevant.«

»Wie kannst du nur so ein Narr sein?«

»Das ist keine Narretei. Hör zu, sag deinen Herren folgendes: Wenn sie versuchen, die freien Städte hier auf dem Mars zu unterjochen, werden wir alles auf dem Mars zerstören.« Das war die Schweizer Verteidigung.

»Glaubst du, dass das etwas ausmacht?« Sie hatte blasse Lippen, und ihr kleines Bild zeigte die Maske einer Furie.

»O doch! Schau, Phyllis, ich bin nur die Polkappe davon. Es gibt einen massiven Untergrundblock, den du nicht sehen kannst. Er ist wirklich riesig; und sie haben die Mittel zum Gegenschlag, wenn sie das wollen.«

Sie musste den Arm gesenkt haben; denn das Bild auf seinem kleinen Schirm schaukelte wild und zeigte dann einen Fußboden. Ihre körperlose Stimme sagte: »Du bist immer ein Tor gewesen. Sogar schon auf der Ares.«

Die Verbindung riss ab.

Arkady ging weiter. Das Gewühl der Stadt war nicht mehr so erheiternd wie zuvor. Wenn Phyllis Angst hatte …

An der Versorgungszentrale ließen sie emsig eine Fehlersuche laufen. Vor ein paar Stunden hatte das Sauerstoffniveau in der Stadt zu steigen begonnen, aber die Warnlichter waren nicht angegangen. Ein Techniker hatte das durch Zufall bemerkt.

Nach einer halben Stunde Arbeit fanden sie es. Ein Programm war ausgetauscht worden. Sie ersetzten es; aber Tati Anokhin war nicht glücklich. »Schau, das muss Sabotage gewesen sein, und es gibt immer noch mehr Sauerstoff, als sein sollte. Schau, da draußen sind es immer noch fast vierzig Prozent.«

»Kein Wunder, dass alle heute morgen in so guter Stimmung sind.«

»Ich bin es nicht. Außerdem ist dies Gerede von der Stimmung eine Legende.«

»Bist du sicher? Geh noch einmal durch das Programm und sieh dir die Kennzeichen der Verschlüsselung an und schau, ob darunter noch eine andere Substitution verborgen ist.«

Er machte sich wieder auf den Weg zu den Stadtbüros.

Auf halbem Weg hörte er in der Höhe einen lauten Knall. Er schaute hoch und sah ein kleines Loch in der Kuppel. Die Luft gewann plötzlich einen irisierenden Schimmer, als ob sie in einer großen Seifenblase wären. Ein heller Blitz und ein lauter Bums warf ihn um. Als er sich hochrappelte, sah er, wie alles zugleich Feuer fing. Menschen brannten wie Fackeln, und direkt vor seinen Augen geriet sein Arm in Brand.


Es ist nicht schwer, Städte auf dem Mars zu zerstören. Nicht schwerer, als eine Fensterscheibe zu zerbrechen oder einen Ballon zum Platzen zu bringen.

Nadia Cherneshevsky entdeckte dies, während sie in den Stadtbüros von Laßwitz versteckt war, einer Kuppelstadt, die eines Abends gleich nach Sonnenuntergang ein Loch bekommen hatte. Alle überlebenden Einwohner hatten sich in den Stadtbüros oder der Versorgungszentrale zusammengedrängt. Drei Tage lang hatten sie ihre Zeit damit verbracht, nach draußen zu gehen und die Kuppel zu reparieren. Im Fernsehen hatten sie versucht herauszufinden, was vor sich ging. Aber die Nachrichtenblöcke von der Erde waren mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt, wo die verschiedenen kleinen Kriege sich zu einem einzigen großen verschmelzen schienen. Nur ab und zu kam eine kurze Meldung über die zerstörten Städte auf dem Mars. In einer davon hieß es, dass viele überkuppelte Krater von Geschossen getroffen worden seien, die über den Horizont gekommen waren. Gewöhnlich wurde zunächst Sauerstoff oder mit Luft gemischte Treibstoffe hineingeschickt und gleich danach ein Zünder, der Explosionen verschiedener Intensität bewirkte — von Menschen tötenden Feuern über Explosionen, die die Kuppel aufrissen, bis hin zu wirklich großen Detonationen, die den Krater praktisch entkernten. Sauerstoffbrände gegen Menschen schienen am häufigsten zu sein. Sie ließen die Infrastruktur größtenteils intakt.

Mit Kuppelstädten war es noch einfacher. Die meisten waren durch Laser von der Basis Phobos aus perforiert worden. Bei manchen waren die Versorgungszentralen durch gesteuerte Marschflugkörper getroffen worden. Andere waren von Truppen der einen oder anderen Seite erobert worden, die Raumhäfen besetzt und mit gepanzerten Rovern die Stadtwände durchbrochen hatten, und in seltenen Fällen waren Fallschirmspringer mit Raketen von oben eingefallen.

Nadia beobachtete die zitternden Fernsehbilder, die deutlich die Angst der Kameraleute zeigten. Ihr Magen krampfte sich zu einem faustgroßen Ball zusammen. »Was tun sie? Testen sie verschiedene Methoden?« rief sie.

»Das bezweifle ich«, sagte Veli Zudov. »Es sind wohl nur verschiedene Gruppen, die unterschiedliche Methoden verwenden. Manche sehen so aus, als ob sie möglichst wenig Schaden anrichten wollten, aber andere scheinen so viele von uns töten zu wollen, wie sie können, um neuen Raum für Auswanderer zu schaffen.«

Nadia wandte sich angewidert ab. Sie stand auf und ging in die Küche, leicht gebeugt wegen ihres verkrampften Magens. Sie wollte unbedingt etwas tun. In der Küche hatten sie einen Generator angestellt und wärmten gefrorene Mahlzeiten mit Mikrowelle auf. Sie half bei der Ausgabe und ging an einer Reihe von Leuten auf und ab, die draußen in der Halle saßen. Ungewaschene Gesichter mit schwarzen Frostblasen. Einige Leute redeten lebhaft, andere saßen da wie Stählen oder schliefen gegeneinander gelehnt. Die meisten von ihnen hatten in Laßwitz gewohnt, aber eine große Anzahl war aus Kuppeln oder Verstecken gekommen, die aus dem Weltraum zerstört oder durch Landstreitkräfte angegriffen worden waren. Eine alte arabische Frau sagte zu einem kleinen knorrigen Mann: »Das ist dumm. Meine Eltern waren beim Roten Halbmond in Bagdad, als die Amerikaner es bombardierten. Wenn sie die Lufthoheit haben, kann man nichts tun — gar nichts! Wir müssen uns ergeben. So bald wie möglich.«

»Aber wem?« fragte der kleine Mann. »Und für wen? Und wie?«

»Jedem, und natürlich über Funk!« Die Frau sah Nadia an, die die Achseln zuckte.

Dann piepte ihr Armband, und Sasha Yefremov plapperte mit einer kleinen Stimme aus dem Armbandlautsprecher. Die Wasserstation im Norden der Stadt war explodiert, und die Quelle, die sie abdeckte, war zu einem artesischen Brunnen aus Wasser und Eis geworden.

»Ich werde gleich da sein«, sagte Nadia entsetzt. Das Wasserwerk der Stadt bildete die Kappe des Wasserreservoirs von Laßwitz, welches recht groß war. Wenn ein wesentlicher Teil des Wasserlagers durch die Oberfläche brach, würden das Wasserwerk und die Stadt und der ganze Canyon in einer katastrophalen Flut verschwinden. Und noch schlimmer — Burroughs lag nur zweihundert Kilometer abwärts am Abhang von Syrtis und Isidis; und die Flut könnte recht wahrscheinlich so weit laufen. Burroughs! Seine Bevölkerung war für eine Evakuierung viel zu groß, besonders jetzt, wo es zu einem Zufluchtsort für Menschen geworden war, die dem Krieg entronnen waren. Es gab einfach keinen anderen Ort, wohin man gehen könnte.

»Kapitulation«, beharrte die Frau in der Halle. »Alle müssen sich ergeben!«

»Ich glaube nicht, dass das noch gehen wird«, sagte Nadia und lief zur Schleuse des Gebäudes.


Ein Teil von ihr war höchst erleichtert, etwas tun zu können, aufzuhören, sich in ein Gebäude zu drängen und Katastrophen im Fernsehen zu betrachten. Sie konnte etwas tun. Und Nadia hatte den Plan von Laßwitz angefertigt und den Bau vor sechs Jahren überwacht. Darum hatte sie jetzt eine Vorstellung davon, was zu tun war. Die Stadt war eine Kuppel der Nicosia-Klasse, bei dem die Farm und die Versorgungszentrale getrennte Strukturen waren und das Wasserwerk sich weit im Norden befand. Alle Bauten befanden sich auf dem Boden einer großen ostwestlichen Spalte, genannt der Arena-Canyon. Dessen Wände waren fast senkrecht und einen halben Kilometer hoch. Das Wasserwerk lag nur ein paar hundert Kilometer von der Nordwand des Canyons entfernt, die dort einen beachtlichen Überhang in der Höhe hatte. Während Nadia mit Sasha und Yeli zum Wasserwerk fuhr, skizzierte sie schnell ihren Plan. »Ich denke, wir können die Klippe sprengen und auf das Werk herunterlassen, und wenn das gelingt, sollte der Erdrutsch ausreichen, um das Leck abzudecken.«

»Würde die Flut nicht das heruntergekommene Gestein wegreißen?« fragte Sasha.

»Sicher, falls es der volle Ausbruch eines Wasserlagers ist. Aber wenn wir es abdecken, wird das austretende Wasser in dem Erdrutsch gefrieren und einen Damm bilden, der schwer genug ist, es festzuhalten. Der hydrostatische Druck ist in diesem Wasserreservoir nur etwas größer als der lithostatische Druck des Gesteins darüber. Also wird der artesische Strom nicht allzu stark sein. Andernfalls wären wir bereits tot.«

Sie bremste den Rover ab. Durch die Windschutzscheibe konnten sie in einer Wolke aus dünnem Reif die Reste des Wasserwerk erkennen. Ein Rover kam mit voller Geschwindigkeit auf sie zu. Nadia schaltete die Scheinwerfer ein und stellte das Radio auf die allgemeine Frequenz. Es war die Besatzung des Werks, ein Paar namens Angela und Sam, völlig entnervt nach den Abenteuern der letzte Stunde. Als sie nebeneinander stehend berichtet hatten, erklärte Nadia ihnen, was sie vorhatte. Angela sagte: »Das würde funktionieren. Bestimmt wird jetzt nichts anderes es stoppen können. Es pumpt richtig.«

»Wir müssen uns beeilen«, sagte Sam. »Es frisst das Gestein in unheimlichem Tempo.«

Angela sagte mit einer gewissen morbiden Begeisterung: »Wenn wir es nicht abdecken, wird es so aussehen wie damals, als der Atlantik durch die Meerenge von Gibraltar gebrochen ist und das Becken des Mittelmeers überflutet hat. Das war ein Wasserfall, der zehntausend Jahre gedauert hat.«

»Ich habe nie davon gehört«, sagte Nadia. »Kommt mit uns zur Klippe und helft uns, die Roboter in Gang zu setzen!«

Während der Hinfahrt hatte sie alle Bauroboter der Stadt aus ihrem Hangar zum Fuß der Nordwand dirigiert, neben dem Wasserwerk. Als die zwei Rover dort ankamen, fanden sie, dass einige der schnelleren Roboter schon eingetroffen waren. Der Rest wühlte sich über den Canyonboden auf sie zu. Eine kleine Geröllhalde befand sich am Fuß der Klippe, die im Mittagslicht schimmernd wie eine enorme gefrorene Welle über ihnen aufragte. Nadia schaltete sich auf die Räumfahrzeuge und Bulldozer und gab ihnen Anweisungen, Wege durch die Halde freizumachen. Danach würden direkt in die Klippe Tunnels gebohrt werden. Nadia zeigte auf eine areologische Karte des Canyons, die sie auf den Schirm des Rovers gerufen hatte, und sagte: »Seht, da hinter dem überhängenden Stück ist eine Störung. Sie ist die Ursache, weshalb die Lippe der Mauer ein wenig abrutscht. Seht ihr den etwas niedrigeren Sims ganz oben? Wenn wir alle Sprengmittel, die wir haben, am Fuß dieser Störung einsetzten, wird sicher der ganze Überhang herunterkommen. Meint ihr nicht auch?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Yeli. »Es ist aber einen Versuch wert.«

Inzwischen kamen die langsameren Roboter an und brachten verschiedene Sprengstoffe, die von der Ausschachtung bei der Gründung der Stadt übrig geblieben waren. Nadia ging ans Werk und programmierte die Vehikel, einen Tunnel in den Boden der Klippe zu bohren. Für den größten Teil einer Stunde war sie für die Welt verloren. Als sie fertig war, sagte sie: »Lasst uns wieder zur Stadt zurückgehen und alle evakuieren. Ich kann nicht sicher sein, wie viel von der Klippe herunterkommen könnte, und wir wollen nicht alle verschütten. Wir haben vier Stunden.«

»Jesus, Nadia!«

»Vier Stunden.« Sie gab den letzten Befehl ein und startete ihren Rover. Angela und Sam folgten mit Hochrufen.

»Ihr scheint nicht sehr traurig zu sein wegzukommen«, sagte Yeli.

»Es war höllisch langweilig«, erwiderte Angela.

»Ich denke nicht, dass das künftig noch ein Problem sein wird.«

Die Evakuierung war schwierig. Eine Menge Leute wollten die Stadt nicht verlassen, und es gab für sie kaum Platz in den verfügbaren Rovern. Schließlich waren alle in das eine oder andere Vehikel gestopft und befanden sich auf der Transponderstraße nach Burroughs. Laßwitz war leer. Nadia versuchte eine Stunde lang Phyllis über Satellitentelefon zu erreichen, aber die Kanäle waren unterbrochen durch etwas, das wie systematische Störbemühungen klang. Nadia hinterließ eine Mitteilung auf dem Satelliten: »Wir sind Nichtkombattanten in Syrtis Major und versuchen zu verhindern, dass das Wasserlager von Laßwitz Burroughs überflutet. Lasst uns also in Ruhe!« Eine Art von Kapitulation.

Zu Nadia, Sasha und Yeli stießen noch Angela und Sam in ihrem Rover, und sie fuhren die steilen Spitzkehren der Klippenstraße empor zum Südrand des Arena-Canyons. Querab von ihnen lag die imposante Nordwand. Links unten war die Stadt, die fast normal aussah. Aber zur Rechten war deutlich etwas nicht richtig. Das Wasserwerk war in der Mitte durch einen dicken weißen Geysir zerbrochen, der wie ein defekter Hydrant eine Fahne bildete, die in ein Gewirr aus schmutzig weißroten Eisblöcken absank. Noch während sie hinschauten, verschob sich die ungefüge Masse und ließ kurzzeitig schwarzes strömendes Wasser erkennen, das wild Rauhreifdampf ausstieß. Weiße Nebelschwaden drangen aus den schwarzen Rissen und peitschten dann mit dem Wind den Canyon hinab. Das Gestein und der Grus der Marsoberfläche waren so dehydriert, dass sie, wenn Wasser darauf klatschte, in heftigen chemischen Reaktionen zu explodieren schienen. Wenn Wasser über den Boden rann, schossen darum große Staubwolken in die Luft und verbanden sich mit dem Eisdampf, der vom Wasser aufwirbelte.

»Sax wird zufrieden sein«, sagte Nadia grimmig.

Zu der angegebenen Stunde schossen vier Rauchwolken aus der Basis der Nordwand. Einige Sekunden lang passierte nichts weiter, und die Beobachter stöhnten. Dann machte die Vorderseite der Klippe einen Ruck, und der Fels des Überhangs rutschte langsam und majestätisch in die Tiefe. Dicke Wolken schossen vom Boden der Klippe auf, und dann sprangen dichte Massen von Auswurfmaterial heraus wie Wasser unter einem kalbenden Eisberg. Ein tiefes Dröhnen erschütterte ihren Rover, und Nadia fuhr ihn vorsichtshalber vom Südrande zurück. Gerade noch, ehe eine massive Staubwolke ihnen die Sicht nahm, sahen sie, wie das Wasserwerk von der rasch kippenden Kante des Erdrutsches bedeckt wurde.

Angela und Sam hatten gejubelt. Sasha fragte: »Wie können wir feststellen, ob es geklappt hat?«

»Warte, bis wir es wieder sehen können!« sagte Nadia. »Hoffentlich wird die Flut stromabwärts weiß geworden sein. Kein offenes Wasser mehr, keine Bewegung.«

Sasha nickte. Sie saßen da und schauten in den alten Canyon hinunter. Sie warteten. Nadia fühlte sich leer. Trübe Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Sie brauchte mehr Aktion, als in den letzten paar Stunden, eine Tätigkeit, die ihr Zeit zum Nachdenken ließ. Nur einen Moment Pause, und die ganze elende Situation prallte wieder auf sie zurück: die ruinierten Städte, die Toten überall, Arkadys Verschwinden. Und offenbar hatte niemand die Kontrolle. Keinerlei Plan. Polizeitruppen verwüsteten Städte, um der Revolution Einhalt zu gebieten; und Rebellen verwüsteten Städte, um die Revolution in Gang zu halten. Es würde damit enden, dass alles zerstört war, ihr ganzes Lebenswerk, vor ihren Augen in die Luft geflogen — und völlig ohne Grund. Aus absolut keinem Grund!

Sie konnte es sich nicht leisten, nachzudenken. Da unten hatte ein Erdrutsch hoffentlich ein Wasserwerk überrannt, und das aus dem Brunnen brausende Wasser war blockiert worden und gefroren, um einen festen Damm zu bilden. Es war schwer zu sagen, was danach kommen würde. Wenn der hydrostatische Druck in dem Wasserreservoir groß genug war, konnte es zu einem neuen gewaltsamen Ausbruch kommen. Aber wenn der Damm dick genug war … Nun, man konnte daran nichts ändern. Wenn sie allerdings eine Art Notventil schaffen könnten, um den Druck von dem Erdrutschdamm zu nehmen …

Langsam trieb der Wind den Staub fort. Ihre Gefährten jubelten wieder. Das Wasserwerk war dahin, bedeckt von einem frischen schwarzen Erdrutsch, der aus der Nordwand herausgekommen war, die jetzt an ihrem Rand einen großen neuen Bogen bildete. Aber es war knapp gewesen. Nichts auch nur annähernd so Großes wie ein Erdrutsch, wie sie gehofft hatte. Laßwitz selbst gab es noch, und es schien, als ob die Gesteinsschicht über dem Wasserwerk nicht allzu dick wäre. Die Flut schien eingedämmt zu sein. Sie schien bewegungslos, ein klumpiger, dreckiger, weißer Schwaden, wie ein Gletscher, der mitten in einem Canyon hinabgleitet. Und es stieg nur noch sehr wenig Reif dampf von ihm auf. Aber …

»Wir sollten nach Laßwitz hinuntergehen und die Daten des Wasserreservoirs kontrollieren«, sagte Nadia.

Sie fuhren die Straße in der Canyonwand hinab und in die Garage von Laßwitz. Sie gingen in Schutzanzügen durch die leeren Straßen. Der Kontrollraum des Wasserwerks lag gleich neben den Stadtbüros. Es war seltsam, ihre Zufluchtstätte der letzten Tage leer zu sehen.

Im Kontrollraum untersuchten sie die Daten der verschiedenen unterirdischen Sensoren. Viele von ihnen funktionierten nicht mehr; aber die anderen zeigten an, dass der hydrostatische Druck im Reservoir höher war als je zuvor und noch zunahm. Wie um das zu unterstreichen, erschütterte ein leichtes Beben den Boden, dass die Sohlen ihrer Stiefel vibrierten. Keiner von ihnen hatte je zuvor so etwas auf dem Mars erlebt. »Scheiße!« sagte Yeli. »Das Ding wird sicher noch einmal explodieren.«

»Wir müssen einen Abzugskanal bohren«, sagte Nadia. »Eine Art Druckventil.«

»Aber wie, wenn es ausbricht wie das große?« fragte Sasha.

»Wenn wir es an das obere Ende des Reservoirs legen oder auf halber Strecke, so dass es einen Teil der Wassermassen aufnimmt, sollte es gut sein. Ebenso gut wie das alte Wasserwerk, das vermutlich jemand hat hochgehen lassen, sonst würde es noch prima funktionieren.« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Wir müssen es riskieren. Wenn es klappt, dann klappt es. Falls nicht, bewirken wir vielleicht einen Ausbruch. Aber wenn wir gar nichts tun, wird es mit Sicherheit einen Ausbruch geben.«

Sie führte die kleine Gruppe über die Hauptstraße zum Lagerhaus der Roboter in der Garage und fing an, im Befehlszentrum neu zu programmieren. Eine Standard-Bohrung mit maximaler Ausblashemmung. Das Wasser würde unter artesischem Druck an die Oberfläche kommen; und dann würden sie es in eine Pipeline leiten, die eine Robotergruppe in einer Richtung anlegen sollte, die aus dem Bereich des Arena-Canyons hinausführen würde. Nadia und die anderen studierten topographische Karten und ließen simulierte Fluten durch verschiedene, parallel zu Arena nach Norden und Süden verlaufende Canyons strömen. Sie fanden, dass die Wasserscheide enorm war. Alles auf Syrtis floss in Richtung Burroughs ab. Das Land war hier eine riesige Schüssel. Sie würden das Wasser fast dreihundert Kilometer nach Norden leiten müssen, um in die nächste Wasserscheide zu kommen. Yeli sagte: »Seht, wenn wir es in die Nili Fossae führen, wird es direkt nach Norden bis Utopia Planitia laufen und auf den nördlichen Dünen gefrieren.«

»Sax muss diese Revolution lieben«, sagte Nadia von neuem. »Er bekommt etwas, das sie ihnen nie genehmigt hätten.«

»Aber eine Menge seiner Projekte dürften schief gehen«, erklärte Yeli.

»Ich wette, das ist immer noch ein Nettogewinn, so wie Sax es sieht. All dieses Wasser auf der Oberfläche …«

»Wir werden ihn fragen müssen.«

»Wenn wir ihn je wieder sehen.«

Yeli schwieg. Dann sagte er: »Ist das wirklich so viel Wasser?«

»Es ist nicht bloß Laßwitz«, sagte Sam. »Ich habe neulich eine kurze Meldung gesehen — sie haben das Wasserreservoir von Lowell zerstört, ein großer Ausbruch wie jene, die einst die Ausflußkanäle geschnitten haben. Das wird Millionen Tonnen Regolith zu Tal reißen, aber ich weiß nicht, wie viel Wasser das war. Es ist unglaublich.«

»Aber warum?« sagte Nadia.

»Ich nehme an, es ist die beste Waffe, die sie haben.«

»Was heißt hier Waffe? Sie können weder damit zielen, noch sie anhalten!«

»Nein. Aber das kann auch sonst niemand. Und denk darüber nach: Alle Städte unterhalb von Lowell sind verschwunden. Franklin, Drexler, Osaka, Galileo. Ich glaube, sogar Silverton. Und das waren alle transnationale Städte. Ich denke, dass viele Bergwerkstädte in den Kanälen verwundbar sind.«

»Also greifen beide Seiten die Infrastruktur an«, sagte Nadia niedergeschlagen.

»Ja.«

Sie mussten arbeiten. Sie hatten keine andere Wahl. Sie programmierten Roboter; und sie verbrachten den Rest des Tages und den nächsten damit, dass sie die Roboterteams zur Bohrstelle hinausschickten und sich vergewisserten, dass der Start in Ordnung ging. Das Bohren ging gut voran. Man musste nur dafür sorgen, dass die Drücke in den Wasserlagern nicht zu einem Ausbruch führten. Und die Pipeline zu verlegen, die Wasser nach Norden leiten sollte, war noch einfacher, eine Arbeit, die seit Jahren vollautomatisiert war. Aber sie verdoppelten ihre Bemühungen bei allen Geräten, um sicherzugehen. Hinauf zum Bett des Nordcanyons und dann von dort noch weiter. Es war nicht nötig, Pumpen vorzusehen. Der artesische Druck würde die Strömung regeln; denn wenn der Druck stark genug fiel, dass kein Wasser aus dem Canyon hinausgedrückt wurde, dann wäre die Gefahr eines Ausbruchs am unteren Ende wahrscheinlich ohnehin vorbei. Als also die mobilen Magnesiummühlen sich vorarbeiteten und Grus aufschöpften und Rohre herstellten, und als die Gabelstapler und Frontlader diese Rohrabschnitte zur Montage brachten, und wenn das große, sich bewegende Bauwerk die Segmente aufnahm und hinter sich die Pipeline ausstieß, während es langsam die Straße entlangrollte, und ein weiterer mobiler Behemoth das fertige Rohr übernahm und es in eine Luftgitterisolierung hüllte, die aus Abfällen der Raffinerie angefertigt wurde, und das erste Segment der Pipeline erwärmt war und lief — da erklärten sie das System für brauchbar und hofften, dass es weitere dreihundert Kilometer schaffen würde. Die Pipeline würde mit ungefähr einem Kilometer pro Stunde gebaut werden, vierundzwanzigeinhalb Stunden täglich. Wenn also alles gut ginge, wären es etwa zwölf Tage bis Nili Fossae. In diesem Tempo würde die Pipeline sehr bald fertig sein, nachdem der Brunnen gebohrt und bereit wäre. Und falls der Erdrutschdamm so lange hielt, würden sie ihr Druckventil haben.

Also war Burroughs sicher, jedenfalls so sicher, wie sie es durch ihre Bemühungen machen konnten. Sie konnten jetzt gehen. Aber die Frage war, wohin. Nadia hockte über einem Mikrowellen-Essen und sah sich eine Nachrichtensendung von der Erde an, während sie hörte, wie ihre Gefährten über die Lage diskutierten. Die Bilder von der Revolution auf der Erde waren schrecklich. Extremisten, Kommunisten, Vandalen, Saboteure, Rote und Terroristen. Niemals die Worte Rebellen oder Revolutionäre, welche (mindestens) die halbe Erde billigen würde. Nein, es waren isolierte Gruppen wahnsinniger destruktiver Terroristen. Und es half Nadias Stimmung nicht, dass, wie sie fühlte, einige Wahrheit in der Darstellung steckte. Das machte sie nur noch wütender.

»Wir sollten uns mit jedem, wem auch immer wir können, zusammentun und beim Kampf helfen«, sagte Angela.

»Ich kämpfe gegen niemanden«, erwiderte Nadia störrisch. »Das ist blöde. Ich werde es nicht hin. Ich werde die Dinge in Ordnung bringen, wo ich kann. Aber ich werde nicht kämpfen.«

Im Radio kam eine Meldung. Der Krater Fournier, etwa fünfhundert Kilometer entfernt, hatte eine defekte Kuppel. Die Bevölkerung war in hermetischen Gebäuden gefangen, und die Luft wurde knapp.

»Ich werde dorthin gehen«, erklärte Nadia. »Dort gibt es ein großes zentrales Lagerhaus mit Baurobotern. Sie könnten die Kuppel reparieren und dann für andere Instandsetzungsarbeiten unten auf Isidis eingesetzt werden.«

»Wie willst du da hinkommen?« fragte Sam.

Nadia überlegte und holte tief Luft. »Ich denke, mit einem der Ultraleichtflugzeuge. Es gibt einige von diesen neuen 16Ds auf dem Flugfeld am Südrand. Das wäre gewiss der schnellste Weg und vielleicht auch der sicherste. Wer weiß?« Sie sah Yeli und Sasha an. »Wollt ihr mit mir fliegen?«

»Ja«, sagte Yeli. Sasha nickte.

»Wir gehen mit dir«, sagte Angela. »Mit zwei Flugzeugen wird es ohnehin sicherer sein.«


Sie nahmen zwei Flugzeuge, die von der aeronautischen Fabrik Spencer in Elysium gebaut worden waren. Das Neueste, einfach 16Ds genannt: ultraleichte viersitzige Turbojets, größtenteils aus Areogel und Plastik und gefährlich zu fliegen, weil sie so leicht waren. Aber Yeli war ein erfahrener Pilot, und Angela behauptete von sich dasselbe. Also stiegen sie am nächsten Morgen in zwei davon, nachdem sie die Nacht in dem leeren kleinen Flughafen verbracht hatten. Sie rollten zu der verschmutzten Startbahn und starteten direkt auf die Sonne zu. Sie brauchten lange, um auf tausend Meter zu kommen.

Der Planet unter ihnen sah trügerisch normal aus. Sein altes raues Gesicht war nur auf den nördlichen Flächen ein bisschen weißer, wie gealtert durch Parasitenbefall. Aber dann flogen sie in den Arena Canyon und sahen, dass darin ein schmutziger Gletscher floss, ein Fluss aus zerbrochenen Eisblöcken. Der Gletscher verbreiterte sich öfters, wo die Flut einige Zeit einen Teich gebildet hatte. Die Eisstücke waren manchmal rein weiß, aber zum größeren Teil mit der einen oder anderen Farbe des Mars getönt, dann zerbrochen und durcheinander gemischt, so dass der Gletscher ein buntes Mosaik bildete wie aus gefrorenem Backstein, Schwefel, Zimt, Kohle, Sahne, Blut … welches das flache Bett des Canyons hinabströmte zum Horizont in etwa fünfundsiebzig Kilometern Entfernung.

Nadia fragte Yeli, ob sie nach Norden fliegen und das Land inspizieren könnten, wo die Roboter die Pipeline bauen würden. Kurz nach ihrer Wendung empfingen sie eine schwache Mitteilung auf der Frequenz der Ersten Hundert von Ann Clayborne und Simon Frazier. Die waren im Krater Peridier gefangen, der seine Kuppel eingebüßt hatte. Das war auch im Norden; also waren sie schon auf dem richtigen Kurs.

Das Land, über das sie an diesem Morgen kamen, schien für die Robotergruppe brauchbar zu sein. Es war eben, und obwohl mit Auswurftrümmern übersät, gab es kerne behindernden Böschungen. In einiger Entfernung fingen die Nili Fossae an, zunächst ganz allmählich, nur vier sehr flache Senken, die sich nach Nordosten krümmten, wie die Fingerspitzen eines schwachen Handabdrucks. Aber hundert Kilometer weiter nördlich gab es Schluchten von fünfhundert Metern Tiefe, zwischen denen dunkles Land lag, das schwer von Kratern zernarbt war. Eine Art Mondlandschaft, die Nadia an eine unordentliche Baustelle erinnerte. Noch weiter im Norden erlebte sie eine Überraschung. Wo der östlichste Canyon nach Utopia einschwenkte, gab es noch einen Ausbruch eines Wasserlagers. An seinem oberen Ende war es bloß ein neuer Erdrutsch, eine große Landmulde wie eine zerbrochene Glasscheibe. Weiter unten erhoben sich Massen aus gefrierendem schwarzem und weißem Wasser direkt aus dem zerklüfteten Land. Sie zerrten an den sich bildenden Schollen und schleppten sie vor ihren Augen fort in einer dampfenden Flut, die das Land, das sie berührten, zur Explosion brachte. Diese entsetzliche Wunde war mindestens dreißig Kilometer breit und verlief über den Horizont nach Norden ohne ein Anzeichen, sich zu zerstreuen.

Nadia starrte auf das Bild und bat Yeli, näher hinzufliegen. »Ich möchte nicht in den Dampf geraten«, sagte Yeli. Er war selbst von dem Anblick gebannt. Der größte Teil der weißen Reifwolke zog nach Osten ab und sank zu Boden, aber der Wind war wechselhaft. Manchmal stieg der dünne weiße Schleier direkt nach oben und verdeckte die Streifen von schwarzem Wasser und weißem Eis. Was hinausfloß, war so viel wie bei einem großen antarktischen Gletscher oder noch mehr. Es schnitt die rote Landschaft in zwei Teile.

»Das ist höllisch viel Wasser«, sagte Angela.

Nadia ging auf die Frequenz der Ersten Hundert und rief Ann unten in Peridier an. »Ann, weißt du hiervon?« Sie beschrieb, worüber sie flogen. »Und es ist immer noch im Fluss. Das Eis bewegt sich, und wir können Stellen mit offenem Wasser ausmachen. Es sieht schwarz oder bisweilen rot aus.«

»Kannst du es hören?«

»Nur wie eine Art von Ventilatorsummen, und manchmal das Knallen und Krachen von brechendem Eis. Aber wir sind hier oben selbst recht laut. Eine höllische Menge Wasser!«

»Nun, dieses Wasserreservoir ist im Vergleich mit manchen anderen nicht sehr groß«, sagte Ann.

»Wie brechen sie sie auf? Kann man wirklich solche Lagerstellen aufreißen?«

»Manche davon, ja«, erklärte Ann. »Diejenigen mit hydrostatischem Druck, der höher ist als der durch das Gestein verursachte lithostatische, heben praktisch das Gestein hoch; und die Permafrostschicht bildet eine Art Damm, einen Eisdamm. Wenn man einen Brunnen bohrt und ihn hochjagt, oder es schmilzt …«

»Aber wie?«

»Reaktorschmelze.«

Angela stieß einen Pfiff aus.

»Aber die Strahlung!« schrie Nadia.

»Sicher. Habt ihr kürzlich mal auf euren Zähler geschaut? Ich nehme an, dass drei oder vier von ihnen hin sind.«

»Oho!« rief Angela.

»Und das ist nur vorläufig.« Anns Stimme hatte jenen distanzierten, toten Klang, den sie annahm, wenn sie wütend war. Sie beantwortete ihre Fragen wegen der Flut sehr kurz. Eine so große Flut bewirkte extreme Druckschwankungen. Und alles wurde stromabwärts gefegt in einem zermahlenden Tosen, einem reißenden, mit Gas gemischten und Felsblöcke mitführenden Brei. »Werdet ihr nach Peridier kommen?« fragte sie, nachdem sie die Fragen beantwortet hatte.

»Wir wenden uns gerade nach Osten«, erwiderte Yeli. »Ich wollte erst eine visuelle Peilung von Fv-Krater bekommen.«

»Eine gute Idee.«

Sie flogen weiter. Das wilde Toben der Flut versank unter dem Horizont, und sie flogen wieder über dem vertrauten alten Sand und Gestein. Bald erschien Peridier vor ihnen über dem Horizont, eine niedrige, stark erodierte Kraterwand. Die Kuppel war verschwunden. Zerrissene Gewebefetzen flatterten noch da und dort am Kraterrand, als ob ein Saatbeutel geplatzt wäre. Die nach Süden führende Piste spiegelte die Sonne wie ein Silberfaden. Sie flogen über den Bogen der Kraterwand, und Nadia betrachtete mit dem Feldstecher die dunklen Gebäude. Dabei fluchte sie in einem leisen slawischen Singsang. Wie? Wer? Warum? Es war nicht zu verstehen. Sie flogen weiter zur Landebahn an der anderen Kraterböschung. Keiner der Hangars war in Funktion. Sie mussten Schutzkleidung anlegen und mit kleinen Wagen über den Rand in die Stadt fahren.

Die überlebenden Bewohner von Peridier waren in der Versorgungszentrale zusammengedrängt. Nadia und Yeli gingen durch deren Schleuse, umarmten Ann und Simon und wurden dann den anderen vorgestellt. Das waren ungefähr vierzig Personen, die von Notvorräten lebten und sich bemühten, die Luftversorgung in den hermetisch verschlossenen Gebäuden aufrecht zu halten. Zum Glück war die Zentrale verstärkt gewesen und hatte dem inneren Druck ihrer eigenen Luftversorgung widerstanden. Angela fragte die Überlebenden, was geschehen sei. Sie erzählten die Geschichte wie eine Art von griechischem Chor, wobei sie einander häufig unterbrachen. Eine einzige Explosion hatte die Kuppel wie einen Ballon zerplatzen lassen und eine sofortige Dekompression bewirkt, die auch viele Gebäude in der Stadt hatte hochgehen lassen. Aber die im Innern der Zentrale hatten überlebt. Die draußen auf den Straßen oder in den anderen Gebäuden nicht.

»Wo ist Peter?« fragte Yeli aufgeregt und ängstlich. Simon sagte rasch: »Er befindet sich auf Clarke. Er hat uns angerufen, gleich nachdem alles anfing. Er hat versucht, in einem Aufzug nach unten einen Platz zu bekommen. Aber dort ist alles von Polizeitruppen übernommen worden. Ich nehme an, dass sie sich bereits im Orbit befanden. Er wird herunterkommen, sobald er kann. Da oben ist es jetzt sicherer, daher habe ich es nicht besonders eilig, ihn zu sehen.«

Nadia dachte an Arkady. Aber da war nichts zu machen, und sie ging rasch daran, Peridier wieder aufzubauen. Zunächst fragte sie die Überlebenden nach ihren Plänen; und als sie die Achseln zuckten, schlug sie vor, sie sollten zunächst eine kleinere Kuppel auf dem Grund des Kraters errichten, unter Benutzung von Zeltmaterial, das draußen am Flughafen für Bauzwecke gelagert war. Da draußen waren auch eine Menge älterer Roboter eingemottet, so dass der Wiederaufbau ohne allzu viel Gerätebeschaffung möglich war. Die Bewohner waren begeistert, sie hatten nichts von dem Inhalt der Lagerhäuser am Flughafen gewusst. Nadia schüttelte darüber den Kopf. Sie sagte später zu Yeli: »Das steht alles in den Dateien. Sie hätten bloß zu fragen brauchen. Sie haben einfach nicht nachgedacht. Sie schauen bloß das Fernsehen an, sehen zu und warten.«

»Nun, Nadia, es ist ein Schock, plötzlich ohne Kuppel zu sein. Sie mussten sich erst vergewissern, dass das Gebäude sicher war.«

»Scheint so.«

Aber unter ihnen waren sehr wenige Ingenieure oder Baufachleute. Sie waren zumeist Areologen, Spezialisten für Böschungen oder Bergwerksleute. Der Bau von Basen war etwas für Roboter, so schienen sie jedenfalls zu denken. Es war schwer zu sagen, wie lange sie gebraucht hätten, um selbst an den Wiederaufbau zu gehen; aber mit Nadia, die zeigte, was getan werden konnte, die sie mit einem kurzen Wutausbruch über ihre Untätigkeit auf Trab brachte, waren sie bald am Werk. Nadia arbeitete jeden Tag achtzehn bis zwanzig Stunden lang. Sie ließ eine Grundmauer errichten und setzte Kräne ein zum Bau der Kuppel. Danach war es nur noch eine Sache der Aufsicht. Nadia fragte ihre Gefährten aus Laßwitz unentwegt, ob sie wieder mit ihr in die Flugzeuge steigen würden. Sie sagten zu, und so starteten sie etwa eine Woche nach ihrer Ankunft wieder, wobei Ann und Simon sie in Angela und Sams Flugzeug begleiteten.


Während sie nach Süden flogen, den Abhang von Isidis hinab auf Burroughs zu, knisterte plötzlich eine codierte Mitteilung über ihre Lautsprecher. Nadia wühlte in ihrem Gepäck und fand einiges Zeug, das Arkady ihr gegeben harte. Sie fand, was sie suchte, und stöpselte es in die KI des Flugzeugs ein. Einige Sekunden nachdem die Mitteilung Arkadys Entschlüsselungsprogramm durchlaufen hatte, sprach das Gerät monoton:

»UNOMA in Besitz von Burroughs. Hält jeden fest, der dorthin kommt.«

In beiden Flugzeugen herrschte Schweigen, während sie durch den leeren rosa Himmel südwärts strebten. Unter ihnen senkte sich die Ebene von Isidis nach links.

»Lasst uns jedenfalls hingehen«, schlug Ann vor. »Wir können ihnen persönlich sagen, dass sie die Angriffe einstellen sollen.«

»Nein«, entgegnete Nadia. »Ich will imstande sein zu arbeiten. Und wenn sie uns einsperren … Außerdem, warum denkst du, dass sie sich anhören werden, was wir über die Angriffe sagen?«

Keine Antwort von Ann.

»Können wir es bis Elysium schaffen?« fragte Yeli.

»Ja«, erwiderte Nadia.

Also wandten sie sich nach Osten und ignorierten Beschwerden seitens der Flugüberwachung von Burroughs. »Sie werden nicht hinter uns herkommen«, sagte Yeli zuversichtlich. »Schaut, das Satellitenradar zeigt, dass viele Flugzeuge hier herum in der Luft sind, zu viele, um alle zu verfolgen. Und es wäre auf jeden Fall eine Zeitverschwendung, weil ich den Verdacht habe, dass einige davon Köder sind. Da hat jemand eine Menge Drohnen hochgeschickt, was die Sache hübsch verwirrend macht, was uns betrifft.«

»Dabei hat sich jemand wirklich viel Mühe gegeben«, flüsterte Nadia, während sie das Radarbild betrachtete. Fünf oder sechs Objekte glühten im Südquadranten. »Bist du das gewesen, Arkady? Hast du so viel vor mir verheimlicht?«

Sie dachte an seinen Radiosender, auf den sie gerade in ihrem Gepäck gestoßen war. »Oder vielleicht war es gar nicht versteckt. Vielleicht habe ich es bloß nicht sehen wollen.«


Sie flogen nach Elysium und landeten dicht bei South Fossa, dem größten überdachten Canyon von allen. Sie stellten fest, dass das Dach noch da war, aber, wie sich herausstellte, nur deshalb, weil der Druck aus der Stadt abgelassen worden war, ehe sie leck wurde. Daher waren die Einwohner in vielen intakten Gebäuden gefangen und hatten versucht, die Farm in Gang zu halten. Es hatte in der Versorgungszentrale eine Explosion gegeben und mehrere weitere in der Stadt selbst. Also gab es hier viel Arbeit; aber man hatte eine gute Grundlage für einen raschen Wiederaufbau; und die Bevölkerung war unternehmenslustiger als in Peridier. Also machte Nadia sich wie zuvor ans Werk und beschloss, jeden wachen Augenblick mit Arbeit auszufüllen. Sie hielt es nicht aus, müßig zu sein. Die alten Jazzmelodien gingen ihr durch den Kopf — nichts Passendes; es gab keinen hierfür geeigneten Jazz oder Blues. Alles war völlig inhomogen. ›On the Sunny Side of the Street‹, ›Pennies from Heaven‹, ›A Kiss to Build a Dream On‹ …

Und in diesen hektischen Tagen in Elysium wurde ihr langsam klar, wie viel Kraft die Roboter besaßen. Sie hatte nie versucht, diese Möglichkeiten voll auszunutzen. Das war einfach nicht nötig gewesen. Aber jetzt mussten Hunderte von Aufgaben erledigt werden, mehr als selbst mit einer totalen Anstrengung geschafft werden konnten. Daher beanspruchte sie das System bis an die Halskrause, wie die Programmierer sagen würden, und sah zu, wie viel dabei herauszuholen war, obwohl sie immer noch mehr zu erzielen hoffte. Sie hatte das Teleoperating immer für eine im Grunde lokale Prozedur gehalten. Aber das war nicht notwendigerweise so. Mit Hilfe eines Relais-Satelliten konnte sie einen Bulldozer auf der anderen Hemisphäre des Planeten steuern. Und das tat sie jetzt, wann immer sie eine gute Verbindung herstellen konnte. Sie hörte nicht eine einzige ihrer wachen Sekunden auf zu arbeiten. Sie arbeitete beim Essen und las Berichte und Programme im Bad. Sie schlief nur dann, wenn Erschöpfung sie umhaute. In diesem zeitlosen Zustand sagte sie jedem ihrer Mitarbeiter, was zu tun war — ohne Rücksicht auf deren Meinung oder Bequemlichkeit. Und angesichts ihrer monomanen Konzentration und Autorität in der Beurteilung der Lage gehorchten ihr die Leute.

Trotz all dieser Anstrengungen konnte sie nicht genug tun. Alles fiel auf sie zurück; und sie allein verlieh in den schlaflosen Stunden dem System vollen Schwung, immer an der Grenze des Möglichen. Elysium hatte schon eine große Menge von Baurobotern fertig gestellt, so dass es möglich war, die allerdringendsten Probleme sofort in Angriff zu nehmen. Bei den meisten davon ging es um die Canyons am Westhang von Elysium. Alle überdachten Canyons waren mehr oder weniger aufgebrochen worden, aber die meisten ihrer Versorgungszentralen waren nicht betroffen, und es gab eine große Anzahl Überlebender, die in einzelnen Gebäuden hockten, welche Notgeneratoren hatten wie die in South Fossa. Nachdem South Fossa wieder überdacht, beheizt und unter Druck gesetzt war, schickte sie Teams aus, um alle Überlebenden auf dem Westhang ausfindig zu machen. Diese wurden aus den anderen Canyons herausgeholt und nach Süden geschafft und dann mit Arbeitsaufgaben wieder zurückgeschickt. Die an den Kuppeln tätigen Mannschaften zogen von einem Canyon zum andern; und deren frühere Bewohner gingen darunter ans Werk und bereiteten das Wiederaufpumpen vor. Als es so weit war, richtete Nadia ihr Augenmerk auf andere Dinge. Sie programmierte Werkzeugmacher und setzte Roboter als Streckenarbeiter längs der unterbrochenen Pipelines von Chasma Borealis in Marsch. »Wer hat nur das alles getan?« sagte sie wütend, als sie eines Abends im Fernsehen geborstene Wasserleitungen anschaute.

Diese Frage war ihr herausgerutscht. In Wirklichkeit wollte sie es gar nicht wissen. Sie wollte nicht über das größere Bild nachdenken, über irgend etwas außer der Pipeline hier, die zerstört auf den Dunen lag. Aber Yeli nahm sie beim Wort und sagte: »Das ist schwer zu sagen. Die terrestrischen Nachrichten berichten jetzt ausschließlich von der Erde. Es gibt nur gelegentlich eine Kurzmeldung von hier; und sie wissen auch nicht, was sie daraus machen sollen. Offenbar werden die nächsten Fähren UN-Truppen hier herbringen, die die Ordnung wiederherstellen sollen. Aber die meisten Nachrichten von der Erde betreffen den Krieg im Mittleren Osten, das Schwarze Meer und Afrika. Viele vom Südlichen Club bombardieren Länder mit Gefälligkeitsflaggen; und die Gruppe der Sieben hat erklärt, diese verteidigen zu wollen. Und dann treibt sich in Kanada und Skandinavien ein biologischer Saboteur herum …«

»Und hier vielleicht auch«, unterbrach Sasha. »Habt ihr dies Bild von Acheron gesehen? Da ist etwas passiert. Alle Fenster des Habitats sind herausgeflogen, und der Boden unter der Finne ist mit diesen Gewächsen von Gott weiß was bedeckt. Niemand traut sich nahe genug heran, um das heraus zu finden …«

Nadia schottete ihren Geist von deren Gerede ab und konzentrierte sich auf das Problem der Pipeline. Als sie wieder in die reale Zeit zurückkehrte, stellte sie fest, dass jeder Roboter, den sie finden konnte, mit der Wiederherstellung der Städte beschäftigt war. Und die Fabriken lieferten noch mehr Bulldozer, Planierraupen, Abraumlaster, Frontlader, Dampfwalzen Schweißgeräte, Zementmischer, Kunststoffbereiter, kurzum alles. Das System war in voller Fahrt, und es gab für sie nicht mehr genug zu tun. So sagte sie den anderen, dass sie wieder aufbrechen wolle. Ann, Simon, Yeli und Sasha beschlossen, sie zu begleiten. Aber Angela und Sam hatten in South Fossa Freunde gewonnen und wollten bleiben.

Also stiegen die fünf in ihre Flugzeuge und hoben wieder ab. So pflegte es überall zu gehen, wie Yeli versicherte. Wenn Mitglieder der Ersten Hundert zusammentrafen, würden sie sich nicht trennen.


Sie wandten sich nach Süden auf Hellas zu. Als sie über Tyrrhena Mohole kamen, nahe bei Hadriaca Pater a, landeten sie kurz. Die Mohole-Stadt hatte ein Loch bekommen und brauchte Hilfe zum Wiederaufbau. Es waren keine Roboter verfügbar; aber Nadia hatte die Erfahrung gemacht, dass sie Maßnahmen ergreifen konnte mit lediglich ihren Programmen, einem Computer und einer Luftverwertungsanlage als Ausgangsbasis. Diese Art von spontaner Erzeugung von Maschinen war ein weiterer Aspekt ihrer Möglichkeiten. Der Start verlief zweifellos langsam. Aber im Verlauf eines Monats würden diese drei Komponenten zusammen folgsame Tiere aus dem Sand geschaffen haben. Erst die Fabriken, dann die Montagewerke und danach die Bauroboter selbst, Vehikel so groß und gegliedert wie Häuserblocks in der Stadt, die in ihrer Abwesenheit ihre Arbeit verrichteten. Ihre neue Kraft war erstaunlich.

Und dennoch war all dies nichts angesichts der menschlichen Zerstörungswut. Die fünf Reisenden flogen von Ruine zu Ruine und wurden taub gegenüber dem Schaden und den Toten. Nicht dass sie sich nicht ihrer eigenen Gefahr bewusst gewesen wären. Nachdem sie im Flugkorridor Hellas-Elysium an einer Anzahl abgeschossener Flugzeuge vorbeigekommen waren, gingen sie zu Nachtflügen über. Die waren in vielfacher Hinsicht gefährlicher als Flüge bei Tag, aber Yeli fühlte sich dabei wohler. Die 16Ds waren für Radar fast unsichtbar und würden auf den stärksten Infrarotdetektoren mit enger Bündelung nur sehr schwache Spuren hinterlassen. Sie waren alle gewillt, diese minimale Blöße zu wagen. Nadia war es gleichgültig. Sie wäre gern bei Tag geflogen. Sie lebte so sehr im Augenblick, wie sie konnte; aber ihre Gedanken bewegten sich in Kreisen, wenn sie sich ständig bemühte, sie in die Gegenwart zurückzuführen. Benommen durch das Ausmaß der Zerstörungen wurde sie von ihren Emotionen abgeschnitten. Sie wollte lediglich arbeiten.

Und Ann ging es noch schlechter, wie ein Teil von Nadia bemerkte. Natürlich musste sie sich um Peter Sorgen machen. Und dann auch noch alle diese Zerstörungen — für Ann waren das weniger die Bauten und Konstruktionen, sondern das Land selbst, die Fluten, die Massenverluste, der Schnee und die Strahlung. Und sie hatte keine Arbeit, um sich abzulenken. Ihre Aufgabe wäre gewesen, den Schaden zu untersuchen. Und so tat sie nichts oder suchte, Nadia zu helfen, wenn sie konnte. Sie bewegte sich wie ein Automat, Tag für Tag arbeitete sie, um die Reparatur der einen oder anderen beschädigten Struktur in Gang zu setzen, einer Brücke, einer Pipeline, eines Brunnens, eines Kraftwerks, einer Piste, einer Stadt. Sie lebten in etwas, das Yeli eine Waldo-Welt nannte. Sie scheuchten Roboter mit Befehlen herum, als wären sie Sklavenhalter, Zauberer oder Götter. Und die Maschinen gingen an die Arbeit, versuchten, den Film der Zeit rückwärts laufen zu lassen und zerbrochene Dinge wieder zusammenzusetzen. Bei dem Luxus der Eile konnten sie nachlässig sein; und es war unglaublich, wie schnell sie einen Wiederaufbau starten und dann weiterfliegen konnten. »Im Anfang war das Wort«, sagte Simon müde eines Abends und drückte auf sein Armband. Ein Brückenkran schwenkte über die untergehende Sonne. Und dann waren sie wieder unterwegs.


Sie starteten Dämmungs- und Eingrabungsprogramme für drei explodierte Reaktoren. Dabei blieben sie in Sicherheit hinter dem Horizont und arbeiteten mit Teleoperating. Während er die Arbeiten überwachte, wechselte Yeli manchmal die Kanäle und warf einen Blick auf die Nachrichten. Ein Bild kam aus dem Orbit. Eine Aufnahme der Tharsis-Hemisphäre, welche die ganze Sichel außer den Westrand bei Tageslicht zeigte. Aus dieser Höhe konnten sie kein Anzeichen der Ausflüsse erkennen. Aber die Stimme aus dem Off erklärte, dass diese in allen alten Flussbetten stattgefunden hätten, die von Marineris nach Norden zu Chryse verliefen. Und das Bild sprang zu einem teleskopischen Bild, das in jener Region rötlich weiße Bänder zeigte. Also jetzt wirkliche Kanäle.

Nadia ging nach dem Fernsehbericht gleich wieder an ihre Arbeit. So viel zerstört, so viele Menschen getötet, Menschen, die tausend Jahre hätten leben können, und natürlich kein Wort von Arkady. Es waren jetzt zwanzig Tage. Manche sagten, er konnte gezwungen worden sein, ganz unterzutauchen, um nicht durch einen Schlag aus dem Orbit getötet zu werden. Aber Nadia glaubte das nicht mehr länger, außer in Momenten extremer Sehnsucht und Schmerzes, den beiden Emotionen, die durch die besessene Arbeitsweise in einer brandneuen Mischung aufwallten zu einem neuen Gefühl, das sie hasste und fürchtete. Sehnsucht bewirkte Schmerz, und Schmerz bewirkte Sehnsucht — ein heißes wildes Verlangen, dass die Dinge nicht so sein sollten, wie sie waren. Wie quälend ein solches Verlangen war! Aber wenn sie hart genug arbeitete, gab es keine Zeit dafür. Keine Zeit zu denken oder zu fühlen.

Sie flogen über die Brücke, die an der Ostgrenze von Hellas Harmakhis Vallis überspannt hatte. Sie war hinuntergebrochen. Instandsetzungsroboter waren bei allen großen Brücken in Nischen versteckt; und sie konnten zur völligen Rekonstruktion der Spannweite programmiert werden, obwohl sie dabei langsam sein würden. Die Reisenden brachten sie in Gang; und nachdem sie die letzten Programme installiert hatten, setzten sie sich in den Kabinen der Flugzeuge zu in Mikrowellen erhitzten Spaghetti hin, und Yeli stellte wieder den Kanal des Fernsehens von der Erde ein. Es gab nur Statik und ein wackelndes, miserables Bild. Er versuchte es mit Kanalwechsel, aber es war überall dasselbe. Starke, brummende Störungen.

Ann sagte: »Haben sie etwa die Erde in die Luft gejagt?«

»Nein, nein«, meinte Yeli. »Da stört jemand. Die Sonne steht in diesen Tagen zwischen uns und der Erde. Man braucht nur mit ein paar Relais-Satelliten dazwischenzufunken, um den Kontakt ganz abzuschneiden.«

Sie starrten finster auf den sprühenden Schirm. In den letzten Tagen waren die asynchronen Nachrichtensatelliten links und rechts abgestürzt — abgeschossen oder durch Sabotage, das war unmöglich zu sagen. Jetzt, ohne die Nachrichten von der Erde, würden sie wirklich im Finstern sitzen. Radiosignale von Oberfläche zu Oberfläche waren sehr begrenzt in Anbetracht des nahen Horizonts und des Fehlens einer Ionosphäre. Kaum größere Reichweite als mit Handsprechgeräten. Yeli versuchte es mit mannigfaltigen stochastischen Resonanzmustern, um zu sehen, ob er die Blockade durchdringen könnte. Die Signale waren hoffnungslos verzerrt und überlagert. Er gab knurrend auf und tastete ein Suchprogramm ein. Das Radio oszillierte durch die Frequenzen hinauf und herunter, erwischte Statik und hielt bei der gelegentlichen schwachen Hervorhebung an. Codiertes Knacken, unwiederbringliche Musikfetzen. Geisterstimmen plapperten in unverständlichen Sprachen, als ob Yeli dort Erfolg gehabt hätte, wo das SETI-Programm der Suche nach extraterrestrischer Intelligenz versagt hatte. Als ob jetzt, da es sinnlos war, Botschaften von den Sternen eingetroffen wären. Wahrscheinlich nur irgendwelches Zeug von den Bergwerksleuten auf Asteroiden. Auf jeden Fall unverständlich und nutzlos. Sie waren auf der Oberfläche des Mars allein, fünf Personen in zwei kleinen Flugzeugen.

Das war ein neues und sehr eigenartiges Gefühl, das in den folgenden Tagen noch stärker wurde, als sich nichts änderte. Es wurde ihnen klar, dass sie weitermachen mussten, während alle ihre Fernseh- und Funkgeräte durch weißes Rauschen überdeckt waren. Das war für sie eine einzigartige Erfahrung, nicht nur auf dem Mars, sondern in ihrem gesamten Leben. Und sie merkten bald, dass der Verlust elektronischer Information wie der Verlust eines ihrer Sinne war. Nadia blickte dauernd auf ihr Armbandgerät, auf dem vor dieser Panne Arkady jede Sekunde hätte erscheinen können. Auf dem jeder Beliebige der Ersten Hundert hätte auftauchen und sich für sicher erklären können. Und dann blickte sie von dem kleinen leeren Quadrat auf das Land um sie herum, das plötzlich so viel größer, wilder und leerer war als je zuvor. Es war erschreckend. Nichts als zerklüftete rostfarbene Hügel, so weit das Auge reichte, selbst wenn man in der Dämmerung in den Flugzeugen saß und nach einem der kleinen Landeplätze Ausschau hielt, die auf der Karte verzeichnet waren, und die, wenn man sie ausgemacht hatte, wie kleine Bleistifte aussahen. Eine so große Welt! Und sie waren in ihr allein. Selbst auf Navigation konnte man sich nicht mehr verlassen. Sie blieb nicht den Computern überlassen. Man musste Straßentransponder benutzen und Koppelnavigation und visuelle Bezugspunkte, indem sie ängstlich in der Morgendämmerung die nächste Landebahn in der Wildnis suchten. Einmal brauchten sie weit bis in den Vormittag, um einen Platz nahe Dao Vallis zu finden. Danach entschloss Yeli sich, Pisten zu folgen. Er flog in der Nacht tief und beobachtete das kleine silbrige Band, welches sich unter ihnen im Sternenlicht dahinschlängelte, während er die Transpondersignale mit den Karten verglich.

Und so schafften sie es, in das weite Tiefland des Hellas-Beckens hinunterzufliegen, indem sie der Piste nach Low Point Lakefront folgten. Dann kam im roten Licht des Horizonts und den langen Schatten des Sonnenaufgangs ein See aus zerbrochenem Eis in Sicht. Er füllte den ganzen westlichen Teil von Hellas. Ein See!

Die Piste, der sie gefolgt waren, führte direkt ins Eis. Die gefrorene Küstenlinie war ein gezacktes Wirrwarr von Eisplatten, die schwarz oder weiß oder sogar blau oder jadegrün waren. Alles zusammen aufgehäuft, als ob eine Gezeitenwoge die Schmetterlingssammlung des Großen Mannes zerbrochen und über einem unfruchtbaren Strand ausgeschüttet hätte. Dahinter zog sich der gefrorene See bis über den Horizont dahin.

Nach einigen Sekunden des Schweigens sagte Ann: »Sie müssen das Wasserlager von Hellesponrus zerbrochen haben. Das war wirklich groß, und es würde bis Low Point hin auslaufen.«

»Also muss das Mohole Hellas überflutet sein«, sagte Yeli.

»Richtig! Und das Wasser auf seinem Boden wird sich erwärmen. Wahrscheinlich so weit, dass die Oberfläche des Sees nicht gefriert. Schwer zu sagen. Die Luft ist zwar kalt, aber durch die Konvektion könnte es eine offene Stelle geben. Falls nicht, dann wird es bestimmt dicht unter der Oberfläche flüssig sein. Es muss wirklich starke Konvektionsströme geben. Aber die Oberfläche …«

»Das werden wir gleich sehen«, sagte Yeli. »Wir werden darüberfliegen.«

Nadia wandte ein: »Wir sollten landen.«

»Nun, das werden wir, sobald wir können. Außerdem scheint sich die Lage etwas zu beruhigen.«

»Das kommt nur daher, dass wir von den Nachrichten abgeschnitten sind.«

»Hmm.«

Es stellte sich heraus, dass sie die ganze Strecke quer über den See fliegen mussten, um auf der anderen Seite zu landen. Es war ein unheimlicher Morgen, tief über eine zerrissene Fläche zu fliegen, die an das Eismeer der Erde erinnerte, nur dass hier die Eisströme die Landschaft wie die offene Tür einer Tiefkühltruhe bereiften und Farben durch das ganze Spektrum aufwiesen, natürlich mit Schwerpunkt auf Rot. Aber dadurch kamen das gelegentliche Blau und Grün und Gelb nur noch besser heraus als Partikel eines immensen chaotischen Mosaiks.

Und dort im Zentrum, wo sich selbst in der Höhe, in der sie flogen, der See aus Eis nach jeder Richtung bis zum Horizont erstreckte, stand eine gewaltige Dampfwolke, die Tausende von Metern in die Luft aufstieg. Als sie diese vorsichtig umkreisten, sahen sie, dass das Eis darunter in Berge und Schollen zerbrochen war, die dicht gepackt in sprudelndem dampfendem schwarzem Wasser schwebten. Die schmutzigen Berge rotierten, stießen zusammen, überschlugen sich, und dicke Fluten schwarzen Wassers spritzten hoch. Wenn diese Wände hinunterfielen, breiteten sich in konzentrischen Kreisen Wellen aus, die alle Berge, die vorbeizogen, auf und ab hüpfen ließen.

In beiden Flugzeugen herrschte Stille, während die Insassen dieses für den Mars unpassende Schauspiel betrachteten. Schließlich, nachdem sie zweimal schweigend die Dampfsäule umrundet hatten, flogen sie in westlicher Richtung weiter über die zerrissene Einöde. »Sax muss diese Revolution lieben«, sagte Nadia von neuem und brach damit das Schweigen. »Meint ihr, dass er ein Teil von ihr ist?«

»Das bezweifle ich«, sagte Ann. »Er würde wahrscheinlich nicht seine Investition auf der Erde riskieren. Auch nicht einen ordentlichen Fortschritt des Projekts oder eine gewisse Kontrolle. Aber ich bin sicher, dass er die Revolution danach beurteilt, wie sie das Terraformen beeinflusst. Nicht danach, wer stirbt oder was ruiniert wird oder wer hier die Macht übernimmt. Nur inwiefern sie das Projekt beeinflusst.«

»Ein interessantes Experiment«, sagte Nadia.

»Aber schwer zu gestalten«, gab Ann zu bedenken. Sie mussten beide lachen.


Wenn man vom Teufel spricht … Sie landeten westlich des neuen Sees (Lakefront stand unter Wasser) und verbrachten den Tag mit Ausruhen. Als sie in der nächsten Nacht der Piste nordwestlich in Richtung auf Marineris folgten, kamen sie über einen Transponder, der in Morsezeichen SOS blinkte. Sie umkreisten ihn bis zur Morgendämmerung und landeten direkt auf der Piste, gleich neben einem defekten Rover. Und dicht dabei war Sax in einem Schutzanzug. Er fummelte an dem Transponder herum und sendete manuell SOS.

Sax stieg in ihr Flugzeug und nahm den Helm ab, zwinkernd und mit zusammengepressten Lippen, so ausdruckslos wie gewohnt. Müde, aber er sah aus wie die Ratte, die den Kanarienvogel gefressen hat, wie Ann später zu Nadia sagte. Er sprach wenig. Er war vor drei Tagen auf der Piste hängen geblieben mit dem Rover, der sich nicht mehr bewegte. Die Piste war tot, und er hatte keinen Reservetreibstoff. Lakefront war in der Tat überschwemmt. »Ich habe es in Richtung Cairo verlassen, um Frank und Maya zu treffen«, berichtete er, »weil sie denken, es wäre hilfreich, wenn die Ersten Hundert alle zusammenkommen würden, um eine gewisse Autorität darzustellen für Verhandlungen mit der UNOMA-Polizei und sie zu veranlassen, aufzuhören.« Er war gestartet und befand sich in den Vorbergen von Hellespontus, als die thermische Wolke des Mohole von Low Point plötzlich gelb geworden war und zwanzigtausend Meter in den Himmel aufstieg. Er erklärte: »Sie verwandelte sich in eine Pilzwolke wie bei einer Atomexplosion, aber mit einer kleineren Kappe. Der Temperaturgradient ist in unserer Atmosphäre nicht steil.«

Danach war er umgekehrt und an den Rand des Beckens gefahren, um etwas von der Überschwemmung zu sehen. Das aus dem Norden ins Becken herunterfließende Wasser war schwarz gewesen, wurde aber allmählich weiß, indem es fast sofort in großen Stücken zu Eis wurde, außer bei Lakefront, wo es geblubbert hatte »wie Wasser auf dem Herd«, sagte er. »Die Thermodynamik war dort einige Zeitlang recht kompliziert, aber das Wasser kühlte das Mohole ziemlich schnell ab, und …«

»Halt den Mund, Sax!« sagte Ann.

Sax hob die Augenbrauen und machte sich daran, den Radioempfänger des Flugzeugs zu verbessern.


Sie flogen weiter, jetzt zu sechst. Sasha und Yeli, Ann und Simon, Nadia und Sax. Sechs der Ersten Hundert, zusammengerückt wie durch Magnetismus. Es gab in dieser Nacht viel Gesprächsstoff, und sie tauschten Geschichten, Information, Gerüchte und Spekulationen aus. Aber Sax konnte nur wenig Konkretes zu dem Gesamtbild beitragen. Er war von den Nachrichten abgeschnitten gewesen, genau wie sie. Nadia erschauerte wieder, wie über einen verlorenen Sinn. Sie erkannte, dass dieses Problem nicht verschwinden würde.

Am nächsten Morgen landeten sie bei Sonnenaufgang auf dem Behelfsflugplatz von Bakhuysen. Dort trafen sie auf ein Dutzend Leute mit Betäubungsgewehren der Polizei. Diese kleine Schar hielt die Läufe der Waffen nach unten, eskortierte sie aber mit sehr wenig Zeremonie in den Hangar, der sich im Innern der Kraterwand befand.

In dem Hangar waren noch mehr Leute, und es wurden immer noch mehr. Schließlich waren es etwa fünfzig Personen, dreißig davon Frauen. Sie waren höflich und sogar freundlich, als sie die Identität der Reisenden erfuhren. »Wir mussten uns nur vergewissern, mit wem wir es zu tun hatten«, sagte eine große Frau mit starkem Yorkshire-Akzent.

»Und wer seid ihr?« fragte Nadia frech.

»Wir kommen von Korolyov Prime«, sagte sie. »Wir sind entkommen.«

Sie führten die Reisenden in ihren Speisesaal und bewirteten sie mit einem üppigen Frühstück. Als alle Platz genommen hatten, ergriffen die Leute Magnesiumkrüge und reichten sie über den Tisch, um ihren Nachbarn Apfelsaft einzugießen. Die Nachbarn taten desgleichen, bis ein jeder bedient war. Dann aßen sie Pfannkuchen und tauschten Geschichten aus. Die Gruppe aus Bakhuysen war am ersten Tag der Revolte aus Korolyov entflohen und hatte sich in den Süden auf den Weg gemacht in der Absicht, bis hin zur südlichen Polgegend zu ziehen. »Das ist ein großer Rebellen-Sammelplatz«, sagte ihnen die Yorkshire-Frau (die, wie sich herausstellte, eigentlich Finnin war.) »Dort gibt es diese riesigen Terassenbänke, die praktisch lange Höhlen mit offenen Flanken bilden, meistens einige Kilometer lang und recht weit. Perfekt, um außer Satellitensicht zu bleiben und doch etwas Luft zu bekommen. Die richten da unten eine Art von Leben wie die Höhlenbewohner von Cro-Magnon ein. Wirklich reizend.« Offenbar waren diese langen Höhlen in Korolyov berühmt gewesen; und viele Gefangene hatten sich dort zum Rendezvous verabredet, falls es zu einem Ausbruch kommen sollte.

»Ihr haltet also zu Arkady?« fragte Nadia.

»Zu wem?«

Es stellte sich heraus, dass sie Anhänger des Biologen Schnelling waren, der wohl eine Art von rotem Mystiker gewesen war und in Korolyov mit ihnen festgehalten wurde, wo er vor ein paar Jahren gestorben war. Er hatte über Armbandgeräte Vorlesungen gehalten, die auf Tharsis sehr beliebt gewesen waren; und nach seiner Einäscherung waren viele Gefangene in Korolyov seine Schüler geworden. Anscheinend hatte er sie eine Art von Mars-Kommunalismus gelehrt, der auf Prinzipien der lokalen Biochemie beruhte. Die Gruppe in Bakhuysen war sich darüber nicht ganz klar. Aber jetzt waren sie draußen und hofften, mit anderen Rebellenkräften Kontakt aufzunehmen. Es war ihnen gelungen, mit einem verborgenen Satelliten Verbindung zu bekommen, der auf gerichtete Mikroimpulse programmiert war. Sie hatten es auch geschafft, kurz einen Kanal abzuhören, der von Sicherheitskräften auf Phobos betrieben wurde. Sie sagten, Phobos diene als Überwachungs- und Angriffsbasis für transnationale und UNOMA-Polizeikräfte, die kürzlich mit der letzten regulären Fähre eingetroffen waren. Diese gleichen Kräfte hatten die Kontrolle über den Aufzug, über Pavonis Mons und den größten Teil von Tharsis übernommen. Das Observatorium auf Olympus Mons hatte rebelliert, war aber durch einen Raketenangriff aus dem Orbit zerstört worden. Und transnationale Sicherheitskräfte hatten den größten Teil der Großen Böschung besetzt und den Planeten praktisch in zwei Teile geschnitten. Und der Krieg auf der Erde schien noch anzudauern, obwohl sie den Eindruck hatten, dass es am heißesten in Afrika, Spanien und an der US-mexikanischen Grenze tobte.

Den Versuch, nach Pavonis zu gelangen, hielten sie für zwecklos. »Sie werden euch entweder einsperren oder umbringen«, wie Sonja es ausdrückte. Als aber die sechs Reisenden beschlossen, es dennoch zu versuchen, erhielten sie genaue Hinweise für eine Zuflucht, die einen Nachtflug entfernt im Westen gelegen war. Das war die Wetterstation Southern Margarinfer, wie ihnen die Bakhuysenleute sagten. Besetzt von Bogdanovisten.

Nadias Herz hüpfte, als sie dieses Wort hörte. Sie konnte nicht anders. Aber Arkady hatte viele Freunde und Gefolgsleute, und keiner von denen schien zu wissen, wo er selbst sich aufhielt. Aber Nadia konnte an diesem Tage nicht schlafen. Ihr Magen war wieder wie ein Knoten. Sie war an diesem Abend bei Sonnenuntergang froh, wieder zu den Flugzeugen zu gehen und zu starten. Die Rebellen von Bakhuysen brachten sie auf den Weg, so beladen mit Hydrazin und Gas und gefriergetrockneter Nahrung, dass sie nur mühsam vom Boden freikamen.


Ihre Nachtflüge hatten einen eigenartigen rituellen Aspekt gewonnen, als ob sie dabei wären, eine neue und anstrengende Pilgerfahrt zu erfinden. Die Flugzeuge waren so leicht, dass sie von den vorherrschenden Westwinden stark geschüttelt wurden und manchmal zehn Meter wild auf und ab hüpften. Daher war es unmöglich, lange zu schlafen. Ein plötzliches Fallen oder Aufsteigen, und man war wieder wach in der dunklen kleinen Kabine, wo man aus dem Fenster auf den schwarzen Himmel und die Sterne in der Höhe oder die lichtlose Welt unten blickte. Es wurde kaum gesprochen. Die Piloten waren nach vorn gebeugt und verwendeten ihre Energie darauf, mit dem anderen Flugzeug in visuellem Kontakt zu bleiben. Die Flugzeuge brummten dahin, und die Winde schnitten über ihre langen, biegsamen Schwingen. Draußen herrschten sechzig Grad Kälte, und die Luft hatte nur hundertfünfzig Millibar und war giftig. Und es gab keine Zuflucht auf dem schwarzen Planeten da unten auf viele Kilometer in jeder Richtung. Nadia pflegte einige Zeit zu steuern, ging dann nach hinten, drehte und krümmte sich zusammen im Versuch, etwas Schlaf zu finden. Oft erinnerte sie das Klicken eines Transponders im Radio in Verbindung mit ihrer allgemeinen Situation an die Zeit, da sie und Arkady dem Sturm in der Arrowhead getrotzt hatten. Sie sah ihn dann wieder, wie er mit rotem Bart und nackt durch das zerbrochene Innere des Luftschiffs geschritten war und Verkleidung abriss, um sie über Bord zu werfen, wobei schwebende Partikel um ihn einen Nimbus bildeten. Danach riss sie die 16D wieder wach, und sie musste mit dem Unbehagen ihrer ewigen Angst kämpfen. Es hätte ihr geholfen, wieder das Steuer zu übernehmen, aber Yeli wollte seinen Teil als Pilot, wenigstens in den ersten Stunden seiner Wache. Sie konnte ihm also nur helfen bei der Ausschau nach dem anderen Flugzeug, das sich immer einen Kilometer rechts von ihnen befand, wenn alles stimmte. Sie hatten mit ihm auch gelegentlich Funkkontakt, aber in Form von Mikroimpulsen, die sie auf ein Minimum beschränkten. Stündliche Kontrollen oder Rückfragen, wenn einer zurückblieb. In der toten Nacht schien dies manchmal alles zu sein, was ein jeder von ihnen je getan hatte. Es war schwer, sich daran zu erinnern, wie das Leben vor der Revolte gewesen war. Und wie lange war das her? Vierundzwanzig Tage? Drei Wochen, obwohl es sich wie fünf Jahre anfühlte.

Und wenn sich dann der Himmel hinter ihnen zu röten begann, wenn hohe Cirruswolken purpurn wurden, rot, karmesin, lavendel und dann schnell in einem rosigen Himmel die Farbe von Metallspänen annahmen; und wenn sich die unglaubliche Fontäne der Sonne über einen Felsenrand ergoss, suchten sie, während sie geisterhaft über die steinige und im Dunkeln liegende Landschaft glitten, nach Zeichen einer Piste. Nach der ewigen Nacht schien es unmöglich, dass sie überhaupt erfolgreich navigiert hatten. Aber da unten lag die schimmernde Piste, auf der sie in einem Notfall direkt landen würden. Und die Transponder ließen sich alle einzeln identifizieren und markierten Punkte auf der Karte. Ihre Navigation war immer sicherer, als es schien. Also erspähten sie jeden Morgen einen Behelfslandeplatz in den Schatten voraus, einen willkommenen gelben Strich, der vollkommen eben war. Sie glitten hinunter, setzten auf, bremsten und rollten zu irgendwelchen Einrichtungen, die sie finden konnten, hielten die Motore an und sanken in ihre Sitze zurück. Sie genossen das seltsame Fehlen von Vibrationen und die Stille eines weiteren Tages.


An diesem Morgen landeten sie auf der Rollbahn an der Margaritifer-Station. Als sie aus ihren Flugzeugen stiegen, kamen ihnen ein Dutzend Männer und Frauen entgegen, deren Willkommen sehr enthusiastisch ausfiel. Sie drückten und küssten die Reisenden immer wieder und lachten dabei. Die sechs drängten sich zusammen, hierdurch mehr alarmiert als durch die vorsichtige Begrüßung am Tag zuvor. Immerhin versäumten die Leute nicht, Laser-Leser über ihre Handgelenke zu führen, um sie zu identifizieren. Das war beruhigend. Als aber die KIs bestätigten, dass sie in der Tat sechs der Ersten Hundert empfingen, brachen sie in Hochrufe aus und fuhren in allerbester Stimmung fort. Als die sechs dann durch eine Schleuse in die Messe geführt wurden, gingen einige ihrer Gastgeber sofort zu einigen kleinen Tanks und atmeten Proben von etwas ein, das sich als Sauerstoffnitrat und ein Pandorphin-Aerosol herausstellte, wonach sie sich kaputtlachten.

Einer von ihnen, ein schlanker Amerikaner mit frischem Gesicht, stellte sich vor. »Ich bin Steve. Ich habe mit Arkady in Phobos 12 trainiert und mit ihm auf Clarke gearbeitet. Die meisten von uns hier haben mit ihm auf Clarke gearbeitet. Wir waren in Schiaparelli, als die Revolution begann.«

»Weißt du, wo Arkady ist?« fragte Nadia.

»Zuletzt hörten wir, dass er in Carr wäre, aber jetzt ist er aus dem Netz heraus, wie es wohl sein sollte.«

Ein großer hagerer Amerikaner trat zu Nadia, legte ihr die Hand auf die Schulter und sagte: »Wir sind nicht immer so.« Dabei lachte er.

»O nein!« stimmte Steve zu. »Aber heute ist ein Feiertag! Habt ihr nicht gehört?«

Eine kichernde Frau riss ihr Gesicht vom Tisch hoch und schrie: »Unabhängigkeitstag! Der Vierzehnte!«

»Seht her!« sagte Steve und zeigte auf ihren Fernseher.

Auf dem Schirm flimmerte ein Bild aus dem Weltraum; und plötzlich fing die ganze Gruppe an zu schreien und zu jubeln. Sie hatten, wie Steve erklärte, auf einen codierten Kanal von Clarke geschaltet; und obwohl sie nicht seine Mitteilungen entschlüsseln konnten, hatten sie ihn als Leuchtsignal benutzt, um das optische Teleskop ihrer Station auszurichten. Das Bild aus dem Teleskop wurde auf den Fernseher in der Messe übertragen und war nun da. Der schwarze Himmel und die Sterne, die sie alle zu erkennen gelernt hatten. Der quadratische Asteroid mit dem Kabel ragte davor auf. »Passt jetzt auf!« riefen sie den verwirrten Reisenden zu.

»Aufpassen?«

Sie heulten wieder auf; und einige fingen einen Countdown an, von hundert abwärts. Manche atmeten außer Stickoxid auch Helium ein. Sie standen unter dem großen Bildschirm und sangen: »We’re off to see the wizard, the wonderful wizard of Oz!« Und so weiter das ganze Lied von dem Zauberer in dem alten Märchenfilm …

Nadia erschauerte. Der laute Countdown wurde immer heftiger gebrüllt und erreichte ein gekreischtes: »Null!«

Zwischen dem Asteroiden und dem Kabel erschien eine Lücke. Clarke verschwand sofort aus dem Bild. Das Kabel, filigranhaft zwischen den Sternen, fiel fast ebenso schnell aus dem Blickfeld.

Wilde Hurrarufe erfüllten den Raum, wenigstens für einen Augenblick. Aber es erstickte ruckartig, als einige der Feiernden durch Ann abgelenkt wurden, die mit beiden Fäusten vor dem Mund aufsprang.

»Er wird jetzt bestimmt unten sein!« rief Simon Ann über das Getöse zu. »Er ist bestimmt unten. Es sind Wochen her, dass er angerufen hat.«

Langsam wurde es ruhig. Nadia fand sich an Anns Seite, gegenüber von Simon und Sasha. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Ann war starr, und ihre Augen traten schrecklich hervor.

»Wie habt ihr das Kabel zerbrochen?« fragte Sax.

»Nun, das Kabel kann kaum zerbrochen werden«, erwiderte Steve.

»Habt ihr das Kabel zerbrochen?« rief Yeli.

»Nein. Wir haben nur das Kabel von Clarke abgetrennt. Aber der Effekt ist der gleiche. Das Kabel ist unterwegs nach unten.«

Die Gruppe brach wieder in Hochrufe aus, allerdings etwas schwächer. Steve erklärte den Reisenden über den Lärm hinweg: »Das Kabel selbst ist nicht zu durchtrennen. Es besteht aus Graphitfäden mit einem Diamantschwammgemisch in einer Doppelspirale darin. Und sie haben geschickte Abwehrstationen gegen Steine alle hundert Kilometer und an den Wagen enorme Sicherheitsvorkehrungen. Darum schlug Arkady vor, an Clarke selbst zu arbeiten. Seht, das Kabel verläuft direkt durch das Gestein zu den Fabriken im Innern, und sein eigentliches Ende war sowohl physisch wie magnetisch am Fels des Asteroiden befestigt. Aber wir sind mit einem Haufen unserer Roboter in einer Fracht von Material aus dem Orbit gelandet, haben uns in das Innere gegraben und thermische Bomben außen am Gehäuse des Kabels angebracht und um den magnetischen Generator herum. Dann haben wir heute alle auf einmal gezündet; und das Gestein wurde zur gleichen Zeit flüssig, wie der Magnet unterbrochen war. Und ihr wisst, dass Clarke losgelöst wie eine Gewehrkugel davonschießt, so dass er in dieser Weise vom Kabelende abrutschte. Und wir haben es zeitlich so eingerichtet, dass er sich direkt von der Sonne weg bewegt und auch um zwanzig Grad aus der Ebene der Ekliptik heraus. Also wird es verdammt schwer sein, ihn zu verfolgen. Jedenfalls hoffen wir das.«

»Und das Kabel selbst?« fragte Sasha.

Es gab wieder laute Jubelrufe, und Sax antwortete ihr im nächsten ruhigen Moment. »Es fällt herunter.« Er war an der Computerkonsole und tippte, so schnell er konnte. Aber Steve rief ihm zu: »Wir haben die Daten für den Abstieg, wenn du sie haben willst. Das ist ziemlich komplex, eine Menge partieller Differentialgleichungen.«

»Ich weiß«, sagte Sax.

»Ich kann es nicht glauben«, sagte Simon. Er hatte immer noch die Hände an Anns Arm und sah sich mit grimmigem Gesicht bei der Meute um. »Der Aufprall wird viele Menschen töten!«

»Wahrscheinlich nicht«, antwortete einer von ihnen. »Und die es erwischt, das werden hauptsächlich UN-Polizisten sein, die den Aufzug zu benutzen pflegten, um herunterzukommen und hier auf dem Boden Menschen umzubringen.«

»Er ist wahrscheinlich seit einer oder zwei Wochen unten«, wiederholte Simon nachdrücklich für Ann, die ganz blass war.

»Vielleicht«, sagte sie.

Einige Leute hörten das und wurden ruhiger. Andere wollten nichts hören und feierten weiter.

»Wir wussten es nicht«, sagte Steve zu Ann und Simon. Seine triumphierende Miene war verschwunden. Er machte ein besorgtes Gesicht. »Hätten wir es gewusst, hätten wir versucht, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Aber wir wussten es nicht. Das tut mir leid. Hoffentlich …« — er schluckte — »hoffentlich war er nicht da oben.«

Ann ging zu ihrem Tisch zurück und setzte sich hin. Simon trieb sich besorgt in ihrer Nähe herum. Keiner von beiden schien etwas von dem gehört zu haben, was Steve gesagt hatte.


Der Funkverkehr nahm sofort zu, als die Verantwortlichen der restlichen Nachrichtensatelliten die Meldung über das Kabel erhielten. Einige der feiernden Rebellen machten sich daran, diese Nachrichten zu verfolgen und aufzuzeichnen. Andere feierten weiter.

Sax war noch in die Gleichungen auf dem Schirm vertieft. »Geht nach Osten«, bemerkte er.

»Das ist richtig«, sagte Steve. »Es wird erst in der Mitte einen großen Bogen machen, weil der untere Teil es herunterzieht; und dann wird der Rest folgen.«

»Wie schnell?«

»Schwer zu sagen; aber wir denken etwa vier Stunden für die erste Runde und dann noch eine Stunde für die zweite.«

»Zweite Runde!« sagte Sax.

»Nun, du weißt, das Kabel ist siebenunddreißigtausend Kilometer lang, und der Äquatorumfang beträgt einundzwanzigtausend. Also wird es fast zweimal herumreichen.«

»Die Leute auf dem Äquator sollten sich lieber rasch in Bewegung setzen«, sagte Sax.

»Nicht genau am Äquator«, korrigierte Steve. »Die Phobos-Oszillation wird es zu einem gewissen Grad vom Äquator wegschwingen lassen. Das ist auch am schwierigsten zu berechnen, weil es davon abhängt, an welcher Stelle das Kabel in seiner Oszillation war, als es zu fallen anfing.«

»Nördlich oder südlich?«

»Das sollten wir in den nächsten paar Stunden erfahren.«

Die sechs Reisenden starrten hilflos auf den Schirm. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft war es still. Der Schirm zeigte nichts als Sterne. Es gab keinen Aussichtspunkt, von dem aus man den Fall des Aufzugs hätte beobachten können. Das Kabel, von dem jeder einzelne Beobachter immer nur einen Bruchteil seiner Länge sehen konnte, würde bis zum Ende unsichtbar bleiben. Oder nur als eine herabfallende feurige Linie zu sehen sein.

»Das war’s dann also mit Phyllis’ Brücke«, sagte Nadia.

»Das war’s dann also mit Phyllis«, sagte Sax.

Die Margaritifer-Gruppe stellte wieder Verbindungen zu den Satellitensendungen her, die sie geortet hatten. Es gelang ihnen auch, eine Anzahl von Sicherheitssatelliten anzuzapfen. Aus all diesen Kanälen waren sie imstande, einen partiellen Bericht über den Sturz des Kabels zusammenzustückeln. Aus Nicosia meldete ein UNOMA-Team, dass das Kabel nördlich von ihnen heruntergekommen sei, wobei es sich vertikal verkrümmte, aber zugleich noch rasch Boden gewann, als ob es durch den rotierenden Planeten hindurchschnitte. Obwohl nördlich von ihnen, dachten sie doch, es wäre nördlich vom Äquator. Eine verzerrte, unter Panik stehende Stimme von Sheffield fragte, ob sie das bestätigen könnten. Das Kabel war schon über die halbe Stadt gefallen und eine Reihe von Kuppeln östlich davon — die ganze Strecke über den Abhang von Pavonis Mons und quer über das östliche Tharsis. Es hatte mit seinem sonischen Knall eine zehn Kilometer breite Zone flachgelegt. Das hätte noch schlimmer sein können; aber die Luft war in dieser Höhe so dünn, dass das Dröhnen keine größere Kraft entwickeln konnte. Jetzt wollten die Überlebenden in Sheffield wissen, ob sie nach Süden laufen müssten, um der nächsten Runde zu entgehen, oder ob sie versuchen sollten, um die Caldera herum nach Norden zu gelangen.

Sie erhielten keine Antwort. Aber weitere Entkommene aus Korolyov, am Südrand von Melas Chasma in Marineris meldeten über einen Rebellenkanal, dass das Kabel inzwischen so hart aufschlüge, dass es beim Aufprall zerschellte. Eine halbe Stunde später meldete sich eine Bohrmannschaft von Aureum. Sie waren nach den sonischen Schlägen hinausgegangen und hatten einen Haufen von Trümmerstücken gefunden, die als glühende Brekzien von Horizont zu Horizont reichten.

Eine Stunde lang gab es keine neue handfeste Kommunikation. Nichts als Fragen, Spekulationen und Gerüchte. Dann lehnte sich einer mit Kopfhörern zurück und machte den anderen ein Zeichen mit dem erhobenen Daumen. Er schaltete das Interkom ein, und durch das statische Rauschen ertönte eine gellende Stimme: »Es explodiert! Es ist in ungefähr vier Sekunden heruntergekommen. Es brannte von oben bis unten, und als es den Boden traf, sprang alles direkt unter den Füßen hoch. Wir haben hier Probleme mit einem Leck. Wir nehmen an, dass wir uns ungefähr achtzig Kilometer südlich von der Aufschlaglinie befinden und sind selbst fünfundzwanzig südlich vom Äquator, so dass ihr hoffentlich den Rest des Malheurs danach berechnen könnt. Es brannte von oben bis unten! Wie diese weiße Linie, die den Himmel in zwei Teile geschnitten hat. Ich habe nie so etwas gesehen. Ich habe immer noch hellgrüne Nachbilder in den Augen. Es war, als hätte ein Meteor seine Bahn gezogen … Wartet — Jörge ist im Interkom. Er ist hier draußen und sagt, es ist nur drei Meter hoch, wo er sich befindet. Hier gibt es weichen Regolith. Darum steckt das Kabel in einem Graben, den es sich selbst eingedrückt hat. Er sagt, an manchen Stellen steckt es so tief, dass man es zuschütten könnte und dann eine ebene Fläche bekäme. Er sagte, die wären wie Furten; denn an anderen Stellen ragt es fünf oder sechs Meter hoch. Ich nehme an, das dürfte es Hunderte von Kilometern in einem Zuge tun. Es wird wie die große chinesische Mauer sein.«

Dann kam ein Anruf vom Krater Escalante, der genau auf dem Äquator liegt. Sie hatten nach der Meldung über Clarke sofort evakuiert, waren aber nach Süden gegangen, so dass sich das Eintreffen des Kabels als eine sehr knappe Sache erwiesen hatte. Sie meldeten, dass das Kabel jetzt explodierte, wenn es aufprallte, und breite Streifen geschmolzener Auswurfstoffe in den Himmel schickte, wie ein lavaartiges Feuerwerk, das sich bogenförmig in ihre Morgendämmerung emporzog und matt und schwarz war, wenn es wieder auf die Oberfläche zurückfiele.

Während all dem verließ Sax nie seinen Schirm. Und jetzt murmelte er mit zusammengepressten Lippen vor sich hin, während er Tasten bediente und las. In seiner zweiten Runde würde sich, wie er sagte, die Fallgeschwindigkeit auf einundzwanzigtausend Kilometer in der Stunde erhöhen, so dass es bei sechs Kilometern in der Sekunde für jeden, der in Sichtweite davon wäre, gefährlich sei, sogar tödlich, wenn man sich nicht auf einer Anhöhe und viele Kilometer entfernt befände. Es würde aussehen wie ein Meteoritentreffer und in weniger als einer Sekunde den Horizont überqueren. Sonische Schläge würden folgen.

»Gehen wir hinaus und sehen wir es uns an!« schlug Steve vor und blickte dabei Ann und Simon schuldbewusst an. Viele von ihnen zogen sich an und gingen hinaus. Die Reisenden begnügten sich mit einem Videobild, das von einer externen Kamera hereingesendet wurde und mit Videoclips von den Satelliten abwechselte. Eindrucksvoll waren kurze Clips von der nächtlichen Seite der Oberfläche. Sie zeigten eine flammende gekrümmte Linie, die nach unten schnitt wie die Klinge einer weißen Sense, die den Planeten entzweizuschneiden suchte.

Selbst so war es schwer, sich zu konzentrieren und die Aufmerksamkeit auf das zu richten, was sie sahen, und es zu verstehen, geschweige denn etwas dabei zu empfinden. Sie waren schon erschöpft gewesen, als sie gelandet waren; und jetzt waren sie es noch mehr. Dennoch war es unmöglich zu schlafen. Immer mehr Videoclips zogen vorbei. Manche aus Robotkameras, die in unbemannten Sonden auf der Tagseite flogen und einen schwarz werdenden, dampfenden Streifen der Verwüstung zeigten. Der Regolith war in zwei langen parallelen Deichen von Auswurfmaterial zur Seite geflogen und bildete das Ufer für einen Kanal voller Schwärze, die bestreut war mit einer Mischung aus Brekzienmaterial, die um so exotischer wurde, je heftiger der Aufprall war, bis schließlich eine Sondenkamera das Bild eines von Horizont zu Horizont reichenden Grabens schickte, der laut Sax aus schwarzen Diamanten bestand.

In der letzten halben Stunde des Absturzes war der Aufprall so stark, dass nach Norden und Süden alles weithin eingeebnet wurde. Leute sagten, dass niemand, der nahe genug gewesen war, das Kabel wirklich zu sehen, den Aufprall überlebt hätte. Und die meisten Kamerasonden waren auch zerschmettert. Für die letzten Tausende von Kilometern des Aufpralls gab es keine Zeugen.

Ein später Clip kam von der Westseite von Tharsis, vom zweiten Durchgang über den großen Abhang. Er war kurz, aber stark. Ein weißes Aufblitzen am Himmel und eine Explosion, die wie der Funke an einer Zündschnur über die Westseite des Vulkans lief. Ein anderes Bild, von einem Roboter in West Sheffield, zeigte, wie das Kabel genau im Süden vorbeiblitzte. Dann der Schlag eines Erdbebens oder eines sonischen Stoßes, und der ganze Rand des Distrikts von Sheffield fiel in einem Stück herunter und sank langsam auf den Boden der Caldera fünf Kilometer tiefer.

Danach gab es jede Menge von Videoclips, die um das zerbrochene System herumsprangen. Aber es waren nur Wiederholungen oder Verspätungen oder Filme, die das Nachher zeigten. Und danach fingen die Satelliten wieder an, Bilder von oben zu schießen.

Es waren fünf Stunden, seit der Fall begonnen hatte. Die sechs Reisenden lagen in ihren Sesseln, sahen das TV an oder nicht, zu ausgelaugt, um etwas zu fühlen, zu müde, um zu denken.

»Na schön«, sagte Sax. »Jetzt haben wir einen Äquator genau so, wie ich mir den der Erde vorstellte, als ich vier Jahre alt war. Eine große schwarze Linie, die rund um den Planeten läuft.«

Ann warf Sax einen so bitteren Blick zu, dass Nadia fürchtete, sie könnte aufstehen und ihm eine herunterhauen. Aber keiner von ihnen bewegte sich. Die Bilder im Fernseher flimmerten, und die Lautsprecher zischten und krächzten.


In der zweiten Nacht ihres Fluges zu Shalbatana Vallis sahen sie die neue Äquatorlinie persönlich, zumindest den südlichen Teil. In der Dunkelheit war es ein breiter schwarzer Streifen, der sie nach Westen führte. Während sie darüberflogen, machte Nadia ein finsteres Gesicht. Es war nicht ihr Projekt gewesen, aber es war ein Werk, das zerstört war. Eine zum Einsturz gebrachte Brücke.

Und diese schwarze Linie war auch ein Grab. Es waren nicht viele Menschen auf der Oberfläche getötet worden, außer auf der Ostseite von Pavonis, aber die meisten, wenn nicht alle auf dem Aufzug musste es erwischt haben, und das bedeutete an sich schon einige tausend Personen. Die meisten von denen waren wohl unversehrt gewesen, bis ihr Teil der Kabels in die Atmosphäre schlug und verbrannte.

Während sie über die Verwüstung flogen, empfing Sax ein neues Video vom Fall. Jemand hatte schon einen chronologischen Zusammenschnitt aller Bilder gemacht, die live ins Netz gesendet waren oder in den Stunden unmittelbar danach. Bei dieser Montage, einem sehr eindrucksvollen Stück Arbeit, zeigten die letzten Clips den letzten Teil des Kabels, wie er in die Landschaft explodierte. Die Stelle des Aufschlags war nie mehr als ein sich bewegender weißer Fleck, wie ein Fehler im Band. Kein Video war imstande, eine solche Helligkeit aufzuzeichnen. Aber als die Montage fortfuhr, waren die Bilder verlangsamt und in jeder möglichen Weise bearbeitet worden. Und eines dieser manipulierten Bilder bildete den Schluss, eine Ultrazeitlupe, auf der man die Details sehen konnte, die man live nie hätte ausmachen können. Und so konnten sie sehen, dass, als die Linie den Himmel durchkreuzt hatte, der brennende Graphit zuerst abgerissen wurde und eine glühende Doppelspirale aus Diamant hinterließ, die majestätisch aus einem Himmel im Sonnenuntergang strömte.

Natürlich war das alles ein Grabmal. Die Leute darauf waren um die Zeit schon tot und verbrannt. Aber es war schwer, an sie zu denken, wenn das Bild so unheimlich fremd und schön war — die Vision einer phantastischen DNA, der DNA einer Makrowelt aus reinem Licht, die in unser Universum hereinpflügte, um einen unfruchtbaren Planeten zu befruchten …

Nadia hörte auf, das Fernsehen zu betrachten und ließ sich in den Sitz des Copiloten sinken, um bei der Beobachtung des anderen Flugzeugs zu helfen. Die ganze lange Nacht starrte sie aus dem Fenster, unfähig zu schlafen und unfähig, das Bild dieses herabsinkenden Diamanten aus dem Auge ihres Geistes zu bannen. Es war die bisher längste Nacht ihrer Reise. Es erschien ihr wie eine Ewigkeit, bis die Dämmerung kam.

Aber die Zeit verging, wieder eine Nacht ihres Lebens, und schließlich kam die Morgendämmerung. Bald nach Sonnenaufgang landeten sie bei einer Pipeline auf einer Rollbahn über Shalbetana und verweilten bei einer Gruppe von Flüchtlingen, die an der Pipeline gearbeitet hatte und jetzt hier festsaß. Nadia fand die Haltung der Leute nur zum Teil erfrischend und versuchte, sie zu überreden, dass sie nach draußen gingen und Pipelines reparierten. Aber sie hatte nicht den Eindruck, dass sie überzeugt waren.


An diesem Abend starteten sie aufs neue, wieder beladen mit Vorräten, die sie von ihren Gastgebern erhalten hatten. In der nächsten Morgendämmerung landeten sie auf dem verlassenen Flugplatz vom Krater Carr. Noch vor acht waren Nadia, Sax, Ann, Simon, Sasha und Yeli in Schutzkleidung draußen und unterwegs zum Kraterrand.

Die Kuppel war fort. Unten hatte es gebrannt. Alle Gebäude waren intakt, aber angesengt, und fast alle Fenster waren zerbrochen oder geschmolzen. Plastikwände waren verformt, Beton geschwärzt. Überall gab es Rußflecke, und Haufen von Ruß waren auf dem Boden, kleine Haufen aus schwarzem Kohlenstoff. Manchmal sahen sie aus wie Hiroshima-Schatten. Jawohl, es waren Körper. Die Umrisse von Menschen, die versucht hatten, sich durch die Nebenstraßen zu kämpfen. »Die Luft der Stadt enthielt zu viel Sauerstoff«, vermutete Sax. In einer solchen Atmosphäre waren menschliche Haut und Fleisch höchst brennbar und leicht entzündlich. So war es jenen frühen Apollo-Astronauten ergangen, die in einer Testkapsel gefangen waren, die mit reinem Sauerstoff gefüllt gewesen war. Als das Feuer ausbrach, hatten sie wie Paraffin gebrannt.

So auch hier. Alle auf den Straßen hatten Feuer gefangen und waren wie Fackeln umhergerannt. Das konnte man an der Anordnung der Rußhaufen erkennen.

Die sechs alten Freunde gingen zusammen in den Schatten der östlichen Kraterwand. Unter einem runden dunkelroten Himmel hielten sie an der ersten Gruppe geschwärzter Leichen an und gingen dann rasch weiter. Sie öffneten Türen in Gebäuden, wenn es möglich war, klopften an alle verschlossenen Türen und horchten an den Wänden mit einem Stethoskop, das Sax mitgebracht hatte. Kein Geräusch außer ihrem eigenen Herzschlag.

Nadia stolperte umher. Ihr Atem ging rau und stoßweise. Sie zwang sich, die Leichen anzusehen, an denen sie vorbeikam, und versuchte, an den schwarzen Kohlenhaufen Größen abzuschätzen. Wie in Hiroshima oder Pompeji. Die Menschen waren jetzt größer. Aber sie verbrannten bis auf die Knochen, und sogar die Knochen waren nur noch dünne schwarze Stangen.

Als sie zu einem Haufen passender Größe kam, blieb sie stehen und starrte ihn an. Nach einer Weile ging sie näher heran, fand den rechten Arm und kratzte mit ihrem vierfingrigen Handschuh an der Rückseite der verkohlten Knochen des Handgelenks. Sie schaute nach dem Datenschild. Sie fand es und säuberte es. Ließ ihren Laser darübergleiten. Emily Hargrove.

Sie ging weiter und machte dasselbe mit einem anderen ähnlichen Haufen. Thabo Moeti. Das war besser, als die Zähne mit entsprechenden Aufzeichnungen zu vergleichen. Aber das hätte sie nicht gemacht.

Sie war benommen und starr, als sie zu einem klumpigen Haufen nahe der Stadtbüros kam. Der lag allein da und hatte die rechte Hand vorgestreckt, so dass sie nur zu prüfen brauchte. Sie säuberte das Schild und sah nach. Arkady Nikelyovich Bogdanov.


Sie flogen weitere elf Tage lang nach Westen. Bei Tage versteckten sie sich unter Tamdecken oder fanden Zuflucht bei Leuten, die sie unterwegs antrafen. Während der Nächte folgten sie Transpondern oder den Angaben der letzten Gruppe, bei der sie Station gemacht hatten. Obwohl diese Gruppen oft etwas über ihre gegenseitige Existenz und deren Ort wussten, gehörten sie bestimmt keiner geschlossenen Widerstandsbewegung an oder waren sonst wie koordiniert. Manche hofften, es bis zur südlichen Polkappe schaffen zu können wie die Gefangenen von Korolyov, andere hatten nie von diesem Refugium gehört. Manche waren Bogdanovisten, andere Revolutionäre, die verschiedenen Führern folgten. Manche waren religiöse Gemeinden oder utopische Experimente oder nationalistische Gruppen, die mit ihren Regierungen daheim Verbindung zu halten bemüht waren. Und manche waren nur zusammengewürfelte Überlebende ohne ein Programm, verwaist durch den Terror. Die sechs Reisenden hielten sogar bei Korolyov selbst an, versuchten aber nicht hineinzugehen, als sie die nackten gefrorenen Leichen der Wachen vor den Schleusen sahen, manche in stehender Position fixiert wie Statuen.

Nach Korolyov begegneten sie niemandem. Die Radio- und Fernsehsender waren tot, als die letzten Satelliten abgeschossen worden waren, die Pisten waren leer, und die Erde befand sich auf der anderen Seite der Sonne. Die Landschaft erschien so unfruchtbar wie vor ihrer Ankunft — mit Ausnahme sich verbreitender Flecke von Reif. Sie flogen dahin, als wären sie die einzigen Menschen auf der Welt, die einzigen Überlebenden.

In Nadias Ohren summte weißer Lärm. Das hatte ohne Zweifel etwas mit den Ventilatoren des Flugzeugs zu tun. Sie sah die Ventilatoren nach, aber die waren in Ordnung. Die anderen gaben ihr einiges zu tun und ließen sie vor dem Start und nach der Landung allein spazieren gehen. Sie waren selbst bestürzt durch das, was sie bei Carr und Korolyov gefunden hatten, und nicht imstande, sie aufzumuntern, was sie als Erleichterung empfand. Ann und Simon waren immer noch in Sorge um Peter, und Yeli und Sax machten sich Gedanken wegen ihrer Nahrungsbestände, die rapide abnahmen. Die Vorratsfächer der Flugzeuge waren fast leer.

Aber Arkady war tot; und so spielte das alles keine Rolle. Die Revolte erschien Nadia unsinniger denn je, ein unkonzentrierter Wutausbruch, ein Schnitt ins eigene Fleisch, als ob man sich die Nase abhacken würde. Die ganze Welt war zuschanden! Sie bat die anderen, auf einem der allgemeinen Kanäle eine Nachricht zu senden, dass Arkady tot wäre. »Das wird dazu beitragen, dass eher Schluss sein wird«, sagte Sasha.

Sax schüttelte den Kopf und sagte: »Aufstände haben keine Anführer. Außerdem wird es keiner hören.«

Aber einige Tage später war klar, dass einige Leute es doch gehört hatten. Sie empfingen eine Impulsmeldung von Alex Zhalin als Antwort. »Schau, Sax, dies ist nicht die amerikanische Revolution, noch auch die russische oder englische. Dies sind alle Revolutionen zugleich, in einem Land, dessen Areal gleich dem der Erde ist. Und nur ein paar tausend Leute versuchen, ihr Einhalt zu gebieten. Und die meisten von denen befinden sich noch im Weltraum, wo sie eine gute Sicht haben, aber sehr verwundbar sind. Wenn es ihnen also gelänge, eine Macht in Syrtis zu bezwingen, gibt es eine weitere in Hellespontus. Stell dir vor, mit Kräften im Weltraum eine Revolution in Kambodscha stoppen zu wollen, oder auch in Alaska, Japan, Spanien, Madagaskar. Wie willst du das machen? Das kannst du nicht. Ich wünsche nur, dass Arkady Nikelyovich es noch erlebt hätte. Er …«

Die Sendung brach abrupt ab. Vielleicht ein schlechtes Zeichen, vielleicht auch nicht. Aber selbst Alex war es nicht gelungen, eine Note der Entmutigung in seiner Stimme zu verhehlen, als er über Arkady sprach. Das war unmöglich. Arkady war viel mehr gewesen als ein politischer Führer. Er war jedermanns Bruder gewesen, eine Naturkraft, die Stimme des eigenen Gewissens. Das angeborene Empfinden für das, was gut und recht war. Der beste Freund.

Nadia kämpfte sich durch ihren Kummer. Sie half nachts bei der Navigation der Flüge und schlief tagsüber soviel, wie sie konnte. Sie verlor an Gewicht. Ihr Haar wurde schneeweiß. Alle restlichen grauen und schwarzen Haare waren in der Bürste hängen geblieben. Das Sprechen fiel ihr schwer. Sie fühlte sich, als ob sich ihre Kehle und Innereien versteinert hätten. Es war ihr unmöglich zu weinen, und sie wollte für sich sein. Niemand, den sie trafen, hatte Nahrung zu vergeben; die Vorräte wurden immer knapper. Sie stellten einen strengen Rationierungsplan auf mit halben Portionen.

Und am zweiunddreißigsten Tag ihrer Reise von Laßwitz, nach mehr als zehntausend Kilometern, kamen sie nach Cairo am Südrand von Noctis Labyrinthus, genau südlich vom südlichsten Strang des gefallenen Kabels.


Cairo stand de facto unter Kontrolle der UNOMA, da in der Stadt nie jemand etwas anderes behauptet hatte, und wie alle Kuppelstädte schutzlos den Orbitalen Lasern der UNOMA-Polizeischiffe preisgegeben, die im letzten Monat in den Orbit gebracht worden waren. Zu Beginn des Krieges waren die meisten Einwohner Cairos Araber und Schweizer gewesen; und zumindest schienen Angehörige dieser beiden Nationen nur bemüht zu sein, sich aus dem Unheil herauszuhalten.

Aber jetzt waren die sechs Reisenden nicht die einzigen eintreffenden Flüchtlinge. Eine Flut solcher war gerade von Tharsis herunter nach der Verwüstung in Sheffield und dem Rest von Pavonis. Andere trafen von Marineris ein durch das Labyrinth von Noctis. Die Stadt war vierfach überbelegt. Menschenmassen wohnten und schliefen in den Straßen und Parks. Die Versorgungszentrale war kritisch überlastet. Nahrung und Luft gingen zu Ende.

Den sechs Reisenden erzählte dies eine Flughafenangestellte, die immer noch stur ihren Dienst tat, obwohl keine Shuttles mehr verkehrten. Nachdem sie sie zu Parkplätzen zwischen einer großen Flugzeugflotte am Ende der Rollbahn geleitet hatte, sagte sie ihnen, sie sollten die Schutzkleidung anlegen und die Strecke bis zur Stadtmauer zu Fuß gehen. Es machte Nadia schrecklich nervös, die zwei 16Ds zurückzulassen und in eine Stadt zu gehen. Sie war auch nicht beruhigt, nachdem sie durch die Schleuse gegangen waren, und sie sah, dass die meisten drinnen Schutzanzüge trugen und ihre Helme dabei hatten für den Fall eines etwaigen Druckverlustes.

Sie gingen zu den Stadtbüros und fanden dort Frank und Maya vor, ebenso Mary Dunkel und Spencer Jackson. Sie begrüßten einander erleichtert. Aber es war keine Zeit, um sich über ihre verschiedenen Abenteuer auszusprechen. Frank war vor einem Bildschirm beschäftigt und sprach, nach dem Ton zu urteilen, mit jemandem im Orbit oder sogar mehreren. Er wehrte ihre Umarmungen ab und winkte nur kurz, um ihr Eintreffen zu bestätigen. Offenbar steckte er in einem funktionierenden Nachrichtensystem oder sogar mehreren, denn er blieb sechs Stunden hintereinander vor dem Schirm und sprach mit dem einen oder anderen Gesicht. Er machte nur eine Pause, um einen Schluck Wasser zu trinken oder einen anderen Anruf zu tätigen, ohne für seine alten Gefährten einen Blick zu erübrigen. Er schien sich in einem Zustand ständiger Raserei zu befinden, denn seine Kiefermuskeln arbeiteten rhythmisch. Im übrigen war er in seinem Element. Er erklärte und dozierte, schmeichelte und drohte, fragte und machte dann ungeduldig Bemerkungen zu den erhaltenen Antworten. Mit anderen Worten, er wendete sich und verhandelte in seiner alten Art, aber mit einer bitteren und sogar erschrockenen Note, als ob er nach einem erschöpfenden Spaziergang auf einer Klippe über seinen Rückweg zum Boden diskutieren würde.

Als er schließlich auflegte, lehnte er sich in seinem Sessel zurück und seufzte theatralisch. Dann stand er steif auf und kam herüber, um sie zu begrüßen. Er legte eine Hand kurz Nadia auf die Schulter. Im übrigen war er allen gegenüber brüsk und völlig desinteressiert daran, wie sie es geschafft hatten, bis Cairo zu gelangen. Er wollte nur wissen, wen sie getroffen hatten und wo, und wie gut es diesen verstreuten Gruppen ginge und was diese vorhätten. Ein paar Mal ging er an seinen Schirm zurück und setzte sich mit diesen Gruppen unmittelbar in Verbindung, nachdem er ihren Standort erfahren hatte — eine Fähigkeit, die die Reisenden erstaunte, da sie angenommen hatten, alle wären so abgeschlossen gewesen, wie sie es waren. »UNOMA-Verbindungen«, erklärte Frank und fuhr mit einer Hand über sein dunkles Kinn. »Die halten für mich einige Kanäle offen.«

»Warum?« fragte Sax.

»Weil ich bestrebt bin, dem Einhalt zu gebieten. Ich bemühe mich um einen Waffenstillstand und dann eine Generalamnestie. Danach einen Wiederaufbau unter Beteiligung aller.«

»Aber unter wessen Leitung?«

»Natürlich unter der Leitung der UNOMA. Und der nationalen Büros.«

»Aber die UNOMA stimmt nur dem Waffenstillstand zu«, mutmaßte Sax, »während die Rebellen nur der Generalamnestie zustimmen.«

Frank nickte kurz. »Und keine von beiden sind für einen Wiederaufbau unter Beteiligung aller. Aber die gegenwärtige Lage ist so schlimm, dass sie mitmachen könnten. Vier weitere Wasserlager sind in die Luft geflogen, seit das Kabel herunterkam. Die liegen alle am Äquator. Manche Leute sprechen von Ursache und Wirkung.«

Ann schüttelte dabei den Kopf, und Frank schien darüber erfreut zu sein. »Ich bin ziemlich sicher, dass sie aufgebrochen wurden. Eines haben sie an der Mündung von Chasma Borealis aufgebrochen. Das strömt aus in die Dünen von Borealis.«

»Das Gewicht der Polkappe setzt es wahrscheinlich stark unter Druck«, sagte Ann.

Sax fragte Frank: »Weißt du, was mit der Acherongruppe geschehen ist?«

»Nein. Die ist verschwunden. Ich fürchte, es könnte so gewesen sein wie mit Arkady.«

»Aber was geschieht auf der Erde?« fragte Ann. »Was hat die UN zu alledem zu sagen?«

Frank erklärte nachdrücklich: »Der Mars ist keine Nation, sondern eine Ressource der Erde. Sie sagen, dass der winzige Bruchteil der Menschheit, der hier lebt, nicht alle Ressourcen kontrollieren darf, wenn die materielle Basis der Menschheit im ganzen so stark gefährdet ist.«

»Das ist wahrscheinlich richtig«, hörte Nadia sich sagen. Ihre Stimme war heiser. Ihr war, als hätte sie seit Tagen nicht mehr gesprochen.

Frank zuckte die Achseln.

»Ich nehme an, dass sie deshalb den Transnationalen so freie Hand gelassen haben«, sagte Sax. »Mir scheint, dass die hier mehr von ihren Sicherheitsleuten haben, als die UN-Polizei ausmacht.«

»Das stimmt«, sagte Frank. »Die UN hat lange gebraucht, um ihre Friedenstruppen zu schicken.«

»Die haben nichts dagegen, wenn die Dreckarbeit von anderen erledigt wird.«

»Natürlich nicht.«

»Und die Erde selbst?« fragte Ann.

Frank zuckte die Achseln. »Die Gruppe der Sieben scheint die Dinge unter Kontrolle zu bekommen.« Er schüttelte den Kopf. »Das ist von hier aus allerdings wirklich schwer zu sagen.«

Er ging an seinen Schirm, um weitere Anrufe zu tätigen. Die anderen gingen fort zum Essen und um Freunde und Bekannte zu treffen aus dem Rest der Ersten Hundert, oder zu hören, was es von der Erde Neues gab. Die Gefälligkeitsflaggen waren durch Angriffe der Habenichtse im Süden vernichtet worden; aber offenbar hatten sich die Transnationalen zu der Gruppe der Sieben geflüchtet. Sie wurden aufgenommen und von den riesigen Streitkräften der Sieben verteidigt. Der zwölfte Anlauf zu einem Waffenstillstand hielt jetzt schon seit einigen Tagen.

So hatten sie ein bisschen Zeit, sich zu erholen. Aber als sie durch den Gemeinschaftsraum gingen, war Frank immer noch da. Er geriet, wie es schien, immer mehr in Wut und bahnte sich einen Weg durch einen endlosen Alptraum von Bildschirmdiplomatie und redete ständig in einem drängenden, zornigen und beißenden Ton. Er war darüber hinaus, irgendwen zu irgend etwas zu beschwatzen. Es war eine reine Willenssache. Er versuchte, die Welt ohne einen Angelpunkt, oder nur mit einem minimalen Hebelansatz zu bewegen, wobei sein Hebel hauptsächlich aus seinen alten amerikanischen Verbindungen bestand und seinem laufenden persönlichen Verhältnis zu verschiedenen Revolutionsführern. In beiden Fällen war er stark behindert durch die Ereignisse und TV-Ausfälle. Und beides verlor auf dem Mars zunehmend an Gewicht, während UNOMA und die transnationalen Kräfte eine Stadt nach der anderen einnahmen. Es schien Nadia, als versuche Frank jetzt den Fortgang des Prozesses durch die reine Kraft seines Ärgers über seinen Mangel an Einfluss zu erzwingen. Sie fand, dass sie es nicht mehr ertragen konnte, bei ihm zu sein. Die Dinge waren so schon schlimm genug ohne seine giftige Galle.

Aber mit Saxens Hilfe bekam er ein unabhängiges Signal zur Erde, indem er sich mit Vesta in Verbindung setzte und die dortigen Techniker veranlasste, Mitteilungen in beiden Richtungen zu senden. Das bedeutete ein paar Stunden zwischen Sendung und Empfang; aber nach etlichen Tagen brachte er fünf codierte Nachrichten an Staatssekretär Wu durch; und während er in der Nacht auf Antworten wartete, füllten die Leute auf Vesta die Lücken mit Bändern voll Nachrichtenprogrammen von der Erde, die sie nicht gesehen hatten. Alle diese Meldungen stellten, sofern sie überhaupt auf die Lage auf dem Mars eingingen, die Revolte als eine unbedeutende Unterbrechung dar, verursacht durch kriminelle Elemente, hauptsächlich entwichene Gefangene von Korolyov, die tobend sinnlosen Sachschaden angerichtet und dabei viele unschuldige Zivilisten getötet hätten. In diesen Meldungen spielten Clips der erfrorenen nackten Wächter vor Korolyov eine bevorzugte Rolle, wie auch Telefotos der Wasserausbrüche. Die skeptischsten Programme erwähnten, dass diese und alle anderen Clips vom Mars von UNOMA geliefert wären; und einige Stationen in China und den Niederlanden stellten sogar die Richtigkeit der UNOMA-Meldungen in Frage. Aber sie boten keine alternative Erklärung der Ereignisse, und zum größten Teil verbreiteten die terrestrischen Medien die transnationale Version der Dinge. Als Nadia darauf hinwies, knurrte Frank und sagte verächtlich: »Natürlich. Die Nachrichtendienste der Erde sind transnational.« Er stelle den Ton ab.

Hinten beugten sich Nadia und Yeli instinktiv auf der Bambuscouch vor, als ob das helfen würde, den stummen Clip besser zu hören. Die zwei Wochen des Abgeschnittenseins von der Außenwelt waren wie ein Jahr erschienen; und jetzt beobachteten sie hilflos den Bildschirm und sogen jede Information ein, die sie aufschnappen konnten. Yeli stand sogar auf, um den Ton wieder anzustellen, sah aber, dass Frank in seinem Sessel eingeschlafen war mit dem Kinn auf der Brust. Als eine Nachricht vom Ministerium kam, wurde Frank ruckartig wach, drehte den Ton auf, starrte auf die kleinen Gesichter auf dem Schirm und gab mit heiserer Stimme eine knappe Antwort. Dann schloss er die Augen und schlief weiter.

Am Ende der zweiten Nacht der Verbindung über Vesta hatte er Minister Wu dazu gebracht, dass er versprach, die UN in New York zu drängen, die Kommunikation wiederherzustellen und alle Polizeiaktionen zu unterlassen, bis man die Lage beurteilen konnte. Wu wollte sogar versuchen, dass transnationale Kräfte auf die Erde zurückbeordert würden, obwohl das, wie Frank bemerkte, unmöglich sein würde.

Die Sonne war schon vor einigen Stunden aufgegangen, als Frank an Vesta eine abschließende Dankesbotschaft schickte und ausschaltete. Yeli war auf dem Fußboden eingeschlafen. Nadia erhob sich steif und ging zu einem Spaziergang in den Park, wobei sie das Licht ausnutzte, um sich umzuschauen. Sie musste über Körper von Leuten steigen, die im Gras schliefen in Gruppen von drei oder vier oder in Kochlöffelhaltung zusammengedrückt wegen der Kälte. Die Schweizer hatten große Küchen aufgestellt, und Reihen von Nebengebäuden säumten die Stadtmauer. Es sah aus wie auf einem Bauplatz, und mit einem Mal merkte sie, dass ihr Tränen die Wangen hinunterliefen. Sie ging weiter. Es war angenehm, im hellen Tageslicht umhergehen zu können.

Schließlich kehrte sie zu den Stadtbüros zurück. Frank stand vor Maya, die auf einer Couch schlief. Er sah ausdruckslos auf sie hinunter und dann mit trüben Augen zu Nadia hoch. »Sie ist wirklich am Ende.«

»Alle sind wir erschöpft.«

»Hmm. Wie war es mit Hellas?«

»Unter Wasser.«

Er schüttelte den Kopf. »Das muss Sax gefallen.«

»Das habe ich dauernd gesagt. Aber ich glaube, es liegt für ihn zu weit außer Kontrolle.«

»O ja.« Er schloss die Augen und schien für eine oder zwei Sekunden zu schlafen. »Mir tut es leid um Arkady.«

»Ja.«

Wieder Schweigen. »Sie sieht aus wie ein Mädchen.«

»Ein wenig.« Nadia hatte Maya eigentlich nie älter gesehen. Sie gingen alle auf die achtzig zu und konnten nicht Schritt halten, ob mit oder ohne Behandlungen. In ihrem Innern waren sie alt.

»Die Leute auf Vesta haben mir erzählt, dass Phyllis und die restlichen Leute auf Clarke versuchen wollen, in einer Notrakete zu ihnen hinüberzugelangen.«

»Befinden sie sich nicht außerhalb der Ekliptik?«

»Derzeit ja, aber sie wollen zum Jupiter hinunterstoßen und den zu einem Flyby-Manöver zurück ins System benutzen.«

»Wird das nicht etwa ein Jahr dauern?«

»Ja, ungefähr ein Jahr. Ich hoffe, dass sie ihn verfehlen oder in den Jupiter stürzen. Oder dass ihnen die Nahrung ausgeht.«

»Ich habe den Eindruck, dass du Phyllis nicht leiden kannst.«

»Dieses Biest! Sie ist für vieles verantwortlich. Sie hat alle diese Transnationalen herbeigelockt, indem sie ihnen jedes irgendwie nützliche Metall versprochen hat. Sie hat sich eingebildet, die Königin des Mars sein zu können mit all diesen Leuten hinter sich. Du hättest sie da oben auf Clarke sehen sollen, als sie wie ein kleiner Popanz auf den Planeten hinunterblickte. Ich hätte sie erwürgen können. Wie gern hätte ich ihr Gesicht gesehen, als Clarke abhob und davonschoß wie ein Champagnerkorken.« Er lachte rau.

Maya wurde von ihrem Gespräch aufgeweckt. Sie zogen sie hoch und gingen in den Park auf die Suche nach einer Mahlzeit. Sie kamen in eine Warteschlange von Leuten, die in ihre Schutzkleidung gehüllt waren, husteten, die Hände aneinander rieben und Reiffahnen wie weiße Baumwollknäuel ausstießen. Sehr wenige sprachen. Frank betrachtete die Szene mit angewiderter Miene; und als sie ihre Teller mit Röschti und Tabouli erhielten, verschlang er seine Portion und sprach auf arabisch über ein Armbandgerät. Danach berichtete er: »Sie sagen, dass Alex und Evgenia und Samantha mit einigen Beduinenfreunden von mir kommen.«

Das war eine gute Nachricht. Von Alex und Evgenia hatte man zuletzt gehört in Aureum Overlook, einer Bastion der Rebellen, die einige Orbitale UN-Schiffe vernichtet hatte, ehe sie durch Beschuss von Phobos vernichtet wurde. Und von Samantha hatte man während des ganzen Kriegsmonats nichts gehört.

Also gingen alle der Ersten Hundert in der Stadt an diesem Nachmittag zum Nordtor von Cairo, um sie zu begrüßen. Dies Tor lag am oberen Ende einer langen natürlichen Rampe, die zu einem der südlichsten Canyons von Noctis führte. Die Straße stieg vom Boden des Canons auf dieser Rampe empor und sie konnten die ganze Strecke bis dahin überblicken. Dort tauchte am frühen Nachmittag eine Roverkarawane auf, die eine kleine Staubwolke hinter sich herzog und sich langsam bewegte.

Es dauerte fast eine Stunde, bevor die Wagen das letzte Stück der Rampe heraufrollten. Sie waren nicht mehr als drei Kilometer entfernt, als zwischen ihnen große Stichflammen und ausgeworfene Trümmer erschienen, die einige Rover in die Wand der Klippe drückten und manche über den Rand in den Raum schleuderten. Der Rest blieb zertrümmert und brennend stehen.

Dann erschütterte eine Explosion das Nordtor, und sie duckten sich gegen die Mauer. Über die allgemeine Frequenz waren Schreie und Rufe zu hören. Weiter nichts. Sie standen mit dem Rücken zur Wand. Das Material der Kuppel hielt noch, obwohl die Schleuse des Tors offenbar verklemmt war.

Unten auf der Straße stiegen dünne Fahnen aus braunem Rauch in die Luft, flatterten nach Osten und wurden vom Dämmerungswind nach Noctis hinuntergeweht. Nadia schickte einen Robotrover hinunter, um nach Überlebenden zu suchen. Die Armbänder knisterten nur mit Statik, und Nadia war dafür dankbar. Was hätte sie erhoffen können? Schreie? Frank fluchte in sein Armbandgerät und wechselte dabei zwischen Arabisch und Englisch. Er suchte vergeblich herauszufinden, was geschehen war. Aber Alexander, Evgenia, Samantha … Nadia sah ängstlich auf die kleinen Bilder auf ihrem Handgelenk und schwenkte die Robotkameras. Zertrümmerte Rover. Einige Leichen. Nichts bewegte sich. Ein Rover rauchte noch.

»Wo ist Sasha?« schrie Yeli. »Wo ist Sasha?«

Jemand sagte: »Sie war in der Schleuse. Sie wollte gerade zur Begrüßung hinausgehen.«

Sie machten sich daran, die innere Schleusentür zu öffnen. Nadia tastete alle Codes ein und arbeitete dann mit Werkzeug und zuletzt einer Sprengladung, die ihr jemand reichte. Sie zogen sich zurück, und die Schleuse sprang auf wie der Bolzen einer Armbrust. Dann waren sie drin, nachdem sie die schwere Tür mit einem Brecheisen zurückgedrückt hatten. Nadia lief hinein und sank neben Sasha auf die Knie, die sich in der Notfallhaltung mit dem Kopf in der Jacke zusammengekrümmt hatte. Aber sie war bereits tot, das Gesicht blaurot und die Augen erstarrt.

In dem Gefühl, dass sie sich bewegen musste, um nicht auf der Stelle zu versteinern, raste Nadia los und zurück zu den Stadtwagen, mit denen sie gekommen waren. Sie kletterte in einen hinein und fuhr weg. Sie hatte keinen Plan, und der Wagen schien sich die Richtung selbst zu suchen. Die Stimmen ihrer Freunde krächzten wie Grillen in ihrem Armbandgerät. Maya schimpfte böse auf russisch und weinte. Nur Maya war zäh genug, um bei alledem noch Gefühl zu behalten. Ihre Stimme rief: »Das war wieder Phobos! Die da oben sind wahnsinnig.«

Die anderen standen unter Schock. Ihre Stimmen klangen wie die von fremdartigen Computern. Frank sagte: »Sie sind nicht wahnsinnig. Das ist vollkommen rational. Sie sehen eine politische Regelung kommen und versuchen, noch so viel herauszuschlagen, wie sie können.«

»Mordlustige Schurken!« schrie Maya. »KGB-Faschisten!«

Der Wagen hielt bei den Stadtbüros. Nadia lief hinein zu dem Zimmer, wo sie ihre Sachen abgelegt hatte, die jetzt alle in ihrem alten blauen Rucksack Platz fanden. Sie wühlte darin, noch ohne sich bewusst zu sein, was sie suchte, bis ihre Klauenhand, die immer noch die stärkere war, in einen Beutel langte und ihn herauszog. Arkadys Sender. Natürlich. Sie lief zurück zum Wagen und fuhr zum Südtor. Sax und Frank waren noch im Gespräch. Sax hörte sich so an wie immer, sagte aber: »Jeder von uns, dessen Position entweder hier oder anderswo bekannt ist, wurde getötet. Ich glaube, sie sind besonders hinter den Ersten Hundert her.«

»Du meinst, sie pflücken uns heraus?« sagte Frank.

»Ich habe einige Nachrichten von der Erde gesehen, die besagten, wir wären die Rädelsführer. Und einundzwanzig von uns sind gestorben, seit die Revolte begann. Weitere vierzig werden vermisst.«

Der Wagen kam am Südtor an. Nadia stellte ihr Interkom ab, stieg aus, ging in die Schleuse und zog Stiefel, Helm und Handschuhe an. Sie checkte alles durch, drückte dann auf den Knopf zum Öffnen und wartete, bis die Schleuse evakuiert war und aufging. So wie es bei Sasha gewesen war. Sie hatten allein in dem letzten Monat die Zeit eines ganzen Lebens miteinander verbracht. Dann war sie draußen auf der Oberfläche im Licht und dem Drang eines windigen diesigen Tages. Sie fühlte den ersten diamantenen Biss der Kälte. Sie stieß mit den Stiefeln durch Haufen von Grus, und rote Staubwolken wurden vor ihr hingeweht. Die hohle Frau tritt gegen Blut. Draußen vor dem anderen Tor lagen die Leichen ihrer Freunde und anderer Menschen, die toten Gesichter purpurn und aufgedunsen wie nach Bau-Unfällen. Nadia hatte schon mehrere solche gesehen, hatte den Tod öfters erblickt; und jedes Mal war es entsetzlich gewesen. Aber hier schuf man vorsätzlich so viele dieser entsetzlichen Unglücksfälle, wie man konnte! Das war Krieg. Menschen mit allen möglichen Mitteln töten. Menschen, die tausend Jahre hätten leben können. Sie dachte an Arkady und an tausend Jahre und fauchte. Sie hatten sich in den letzten Jahren gestritten, meist über Politik. Nadia hatte gesagt: Deine Pläne sind alle anachronistisch. Du verstehst die Welt nicht. Ha! hatte er gekränkt gelacht. Ich verstehe diese Welt. Mit einem so finsteren Gesichtsausdruck, wie sie je bei ihm gesehen hatte. Und sie erinnerte sich daran, wie er ihr den Sender gegeben hatte, wie er um John geweint hatte und wie wild er vor Wut und Kummer gewesen war. Als sie sich weigerte, hatte er gesagt: Nur für den Fall, bitte. Nur für den Fall.

Und jetzt war es geschehen. Sie konnte es nicht glauben. Sie nahm den Kasten aus der Schenkeltasche ihres Anzugs und drehte ihn in der Hand. Phobos schoss über dem Westhorizont hoch wie eine graue Kartoffel. Die Sonne war gerade untergegangen, und das Alpenglühen war so stark, dass es aussah, als ob sie in ihrem eigenen Blut stünde, als ob sie eine Kreatur wäre, so klein wie eine Zelle, die auf der korrodierten Wand ihres Herzens stünde, während um sie herum die Winde ihres staubigen Plasmas fegten. Raketen landeten auf dem Raumflughafen nördlich der Stadt. Am Westhimmel glühte es wie von Sternhaufen. Ein lebhafter Himmel. Bald würden Schiffe der UN landen.

Phobos überquerte den Himmel in viereinviertel Stunden. Sie würde also nicht lange warten müssen. Er war als Halbmond aufgegangen, war jetzt aber bucklig, fast voll, auf halbem Wege zum Zenith, und bewegte sich gleichmäßig über den gefleckten Himmel. Sie konnte in der grauen Scheibe einen schwachen Lichtpunkt erkennen. Das waren die beiden überkuppelten Krater Semenov und Leveykin. Sie hielt den Radiosender hin und gab den Zündcode ein. Es war wie eine Fernbedienung beim Fernsehen.

Ein helles Licht flammte auf der vorderen Kante der kleinen grauen Scheibe auf. Die zwei schwachen Lichter erloschen. Das helle Licht wurde noch stärker. Konnte sie die Verlangsamung wirklich erkennen? Wahrscheinlich nicht. Aber es gab sie.

Phobos war auf dem Weg nach unten.


Wieder zurück in Cairo fand sie, dass sich die Nachricht schon verbreitet hatte. Das Aufflammen war hell genug gewesen, um den Leuten ins Auge zu fallen; und danach hatten sie sich wie gewohnt vor den leeren Fernsehschirmen zusammengedrängt und Gerüchte und Vermutungen ausgetauscht. Irgendwie hatte sich die Grundtatsache herumgesprochen oder war unabhängig herausgebracht worden. Nadia schlenderte von einer Gruppe zur anderen und hörte die Leute sagen: »Phobos ist getroffen worden!« Und jemand lachte. »Sie haben die Roche-Grenze bis zu ihm ausgedehnt!«

Sie glaubte schon, sich in der Medina verlaufen zu haben, kam aber fast direkt zu den Stadtbüros. Maya war draußen und rief: »He, Nadia, hast du Phobos gesehen?«

»Ja.«

»Roger sagt, als sie im Jahr Eins da oben waren, haben sie ein System von Sprengsätzen und Raketen eingebaut. Hat Arkady dir davon erzählt?«

»Ja.«

Sie gingen in die Büros. Maya dachte laut nach: »Wenn es ihnen gelingt, ihn genug zu verlangsamen, wird er herunterkommen. Ich frage mich, ob es möglich sein wird zu sagen, wo. Wir befinden uns hier verdammt nahe am Äquator.«

»Er wird sicher zerbrechen und an vielen Stellen herunterkommen.«

»Stimmt. Ich möchte wissen, was Sax denkt.«

Sie fanden Sax und Frank vor einem Schirm beisammen, Yeli, Ann und Simon vor einem anderen. Ein UNOMA-Satellit verfolgte Phobos mit einem Teleskop, und Sax maß die Durchgangsgeschwindigkeit des Mondes über der Marsoberfläche, um seine Geschwindigkeit zu bestimmen. In dem Bild auf dem Schirm leuchtete die Kuppel von Stickneys wie ein Faberge-Ei, aber das Ei wurde von der vorangehenden Kante des Mondes weggezogen, die unscharf und durch Gase und Auswürfe weiß gestreift war. Sax sagte zu niemandem im besonderen: »Seht, wie gut ausgeglichen der Schub ist! Bei einem zu jähen Schub wäre das ganze Ding zerbrochen worden. Und ein unausgeglichener Schub hätte es in Rotation versetzt, und dann hätte der Schub es über den ganzen Platz verstreut.«

»Ich sehe Anzeichen von stabilisierenden seitlichen Behüben«, sagte seine KI.

»Jets zur Lageregelung«, erklärte Sax. »Die haben aus Phobos eine große Rakete gemacht.«

»Das haben sie im ersten Jahr getan«, sagte Nadia. Sie wusste nicht genau, warum sie redete, sie schien immer noch nicht wieder ganz bei sich zu sein und beobachtete ihr Tun mit einigen Sekunden Verzögerung. »Ein großer Teil der Phobosbesatzung kam von der Raketen- und Steuerungstechnik. Sie haben die Eis-Adern zu flüssigem Sauerstoff und Deuterium umgewandelt und das in ausgerichteten Säulen gespeichert, die im Chondrit steckten. Die Motoren und der ganze Steuerungskomplex wurden zentral vergraben.«

»Er ist also eine große Rakete«, sagte Sax und nickte, während er Tasten bediente. »Umlaufperiode von Phobos 27547 Sekunden. Also macht er ungefähr … 2,146 Kilometer in der Sekunde. Um ihn herunterzuholen, muss man ihn auf … 1,561 Kilometer in der Sekunde abbremsen. Also 0,585 Kilometer in der Sekunde langsamer. Für eine Masse wie Phobos … Oho! Das ist eine Menge Treibstoff.«

»Auf wie viel ist er jetzt herunter?« fragte Frank. Sein Gesicht war schwarz, und seine Kinnmuskel arbeiteten unter der Haut wie ein kleiner Bizeps — wütend, wie Nadia sah, über seine Unfähigkeit vorherzusagen, was als nächstes geschehen würde.

»Ungefähr eins Komma sieben. Und diese großen Schubraketen brennen noch. Er wird herunterkommen. Aber nicht in einem Stück. Der Abstieg wird ihn zerbrechen. Ich bin sicher.«

»Die Roche-Grenze?«

»Nein, nur die Belastung durch Luftbremsung, und mit all diesen leeren Treibstoffkammern …«

»Was ist mit den Menschen auf ihm geworden?« hörte Nadia sich fragen.

»Jemand hat gesagt, es hätte so geklungen, als ob die ganze Bevölkerung herausgekommen wäre. Niemand war da, um zu versuchen, die Zündung zu stoppen.«

»Gut«, sagte Nadia und setzte sich schwer auf die Couch.

»Wann wird er herunterkommen?« fragte Frank.

Sax zwinkerte. »Unmöglich zu sagen. Hängt davon ab, wann er zerbricht. Aber ich schätze, recht bald. Und dann wird es ein Streifen irgendwo längs des Äquators sein, wahrscheinlich ein großer Streifen mit viel Unheil. Es wird ein recht großer Meteoritenschauer sein.«

»Das wird etwas von dem Aufzugskabel beseitigen«, sagte Simon leise. Er saß neben Ann und sah sie besorgt an. Sie starrte dumpf auf Simons Schirm und ließ nicht erkennen, dass sie etwas von ihnen hörte. Es war nie von ihrem Sohn Peter die Rede gewesen. War das besser oder schlimmer als ein Haufen Ruß und ein Datenschild an der Hand? Nadia entschied: besser. Aber immer noch hart.

»Seht!« sagte Sax. »Er zerbricht.«

Das Satellitenteleskop lieferte ihnen ein vorzügliches Bild. Die Kuppel über Stickney zerbarst nach außen in große Scherben, und die Kraterreihen, die für Phobos charakteristisch waren, stießen Staubwolken aus und gähnten offen. Dann blühte die kleine kartoffelähnliche Welt auf und zerfiel in etliche unregelmäßige Stücke. Ein halbes Dutzend größere breiteten sich langsam aus, wobei das größte vorausflog. Ein Brocken flog zur Seite, offenbar noch von einer der Raketen angetrieben, die im Innern des Mondes verborgen gewesen waren. Die restlichen Stücke begannen sich in einer unregelmäßigen Linie auszubreiten, wobei jedes mit unterschiedlicher Geschwindigkeit taumelte.

»Nun, wir sind irgendwie in der Schusslinie«, bemerkte Sax und sah die anderen an. »Die größten Brocken werden bald in die Atmosphäre treffen, und dann wird alles ziemlich schnell gehen.«

»Kannst du bestimmen, wann?«

»Nein. Es gibt zu viele Unbekannte. Längs des Äquators, das ist alles. Wir sind wahrscheinlich weit genug südlich, um die größten Brocken davon abzubekommen; aber es könnte durchaus ein Streueffekt eintreten.«

»Menschen auf dem Äquator sollten sich nach Norden oder Süden wenden«, sagte Maya.

»Wahrscheinlich wissen sie es. Auf jeden Fall hat der Fall des Kabels das Gebiet schon recht gründlich gesäubert.«

Man konnte kaum mehr tun, als zu warten. Keiner von ihnen wollte die Stadt verlassen — zu abgehärtet oder zu müde, um sich wegen langfristiger Risiken Sorgen zu machen. Frank ging im Raum hin und her, sein dunkles Gesicht vor Wut zuckend. Endlich konnte er es nicht mehr aushalten und ging wieder an seinen Schirm, um eine Reihe kurzer, bissiger Mitteilungen auszusenden. Es kam eine Antwort herein, und er knurrte: »Wir haben eine Galgenfrist; denn die UN-Polizei furchtet sich hier zu landen, solange nicht der ganze Dreck heruntergekommen ist. Aber danach werden sie wie Habichte hinter uns her sein. Sie behaupten, dass der Befehl zur Zündung der Explosionen auf Phobos von hier aus erfolgt wäre; und sie sind es satt, wenn eine neutrale Stadt als Befehlszentrum für den Aufstand benutzt wird.«

»Also haben wir Zeit gewonnen, bis der Fall vorbei ist«, sagte Sax.

Er schaltete sich in das UNOMA-Netz ein und bekam ein Radarmosaikbild der Fragmente. Danach gab es nichts mehr zu tun. Sie setzten sich, standen auf und gingen umher. Sie blickten auf die Schirme, aßen kalte Pizza, sie schlummerten. Nadia tat nichts dergleichen. Es gelang ihr nur zu sitzen, über den Magen gebeugt, der sich in ihrem Innern wie eine eiserne Faust anfühlte. Sie wartete.

Als Mitternacht und der Zeitschlupf nahe waren, erweckte etwas auf den Schirmen Saxens Aufmerksamkeit, und mit etwas wildem Herumtippen auf Franks Kanälen kam er zu dem Observatorium auf Olympus Mons durch. Dort war es kurz vor der Morgendämmerung, und eine der Kameras dort gab ihnen einen niedrigen Blick in den Raum nach Süden, wo die schwarze Krümmung des Planeten die Sterne verdeckte. Meteore schossen schräg leuchtend aus dem westlichen Himmel herunter, so schnell und hell, als wären sie geradlinige Blitzstrahlen oder titanische Leuchtspurgeschosse, die sich nacheinander ostwärts verteilten. In den letzten Momenten vor dem Auftreffen brachen sie in Stücke. An jedem Auftreffpunkt riefen sie phosphoreszierende Klumpen hervor wie in den ersten Augenblicken einer ganzen Reihe von Kernexplosionen. Das schwarze Feld wurde von gelben, durch Rauch getrübten Flecken überzogen.

Nadia schloss die Augen und sah verschwimmende Nachbilder des Einschlags. Sie öffnete sie wieder und blickte auf den Schirm. Rauchwolken stiegen in den Himmel vor der Morgendämmerung über West-Tharsis auf und stiegen so hoch, dass sie den Schatten des Planeten überragten und von der aufsteigenden Sonne beleuchtet wurden. Es waren riesige Wolkenpilze, die Hüte blaßrosa, die dunkelgrauen Stiele durch Reflektion von oben erhellt. Langsam glitt das Sonnenlicht an den bewegten Stielen herunter, bis sie alle von der jungen Morgensonne getönt waren. Dann driftete die hochragende Reihe der gelben und rötlichen Wolken über einen Himmel von zarter Indigo-Pastellfarbe. Es sah aus wie ein Alptraum von Maxwell-Parrish, zu fremdartig und schön, dass es kaum zu glauben war. Nadia dachte an den letzten Moment des Kabels, jenes Bild der leuchtenden Doppelspirale aus brennenden Diamanten. Wie konnte nur Vernichtung so schön sein? Lag es am Maßstab? Gab es im Volk einen Schatten, den es danach gelüstete? Oder war es nur eine zufällige Kombination der Elemente, der endgültige Beweis, dass Schönheit keine moralische Dimension war? Sie starrte immer wieder auf das Bild und konzentrierte ihren ganzen Willen darauf. Aber sie konnte dem keinen Sinn abgewinnen.

Sax bemerkte: »Das könnte genug zerteilte Materie sein, um einen neuen globalen Staubsturm auszulösen. Obwohl die Netto-Wärmezugabe für das System gewiss beträchtlich sein wird.«

»Halt den Mund!« sagte Maya.

»Jetzt sind wir wohl dran, getroffen zu werden, nicht wahr?« sagte Frank.

Sax nickte.

Sie verließen die Stadtbüros und gingen hinaus in den Park. Alle standen mit den Gesichtern nach Osten gewandt da. Es war still, als ob sie ein religiöses Ritual vollzögen. Es war ein ganz anderes Gefühl als beim Warten auf ein Bombardement durch die Polizei. Aber jetzt war es Vormittag und der Himmel ein staubiges Rosa.

Dann schoss über dem Horizont ein schmerzhaft heller Komet herein. Es gab ein allgemeines Stöhnen und Luftholen, verstärkt durch einzelne Schreie. Die helle weiße Kurve krümmte sich auf sie zu, huschte dann in einem Augenblick über ihre Köpfe und verschwand über dem westlichen Horizont. Man hatte kaum Zeit zum Atmen gehabt, als er vorbeizog. Einen Moment später bebte der Boden leicht unter ihren Füßen, und die Stille wurde durch Rufe unterbrochen. Im Osten schoss eine Wolke hoch und markierte die Höhe des roten Himmelsgewölbes. Sie musste auf zwanzigtausend Meter aufgestiegen sein.

Dann querte ein neues weißes Leuchten den Himmel über ihnen und zog feurige Kometenschweife nach sich. Dann noch eines und noch eines und dann ein ganzer glühender Schwarm. Alles zog über den Himmel und sank über den Osthorizont hinab in das große Marineris. Endlich hörte der Schauer auf. Die Augenzeugen in Cairo waren halb blind und stolperten mit hüpfenden Nachbildern vor den Augen umher. Es war an ihnen vorbeigegangen.


Frank sagte: »Jetzt kommt die UN — bestenfalls.«

»Meinst du, wir sollten … Meinst du, wir sind …?« fragte Maya.

»In ihren Händen sicher?« sagte Frank bissig.

»Vielleicht sollten wir uns wieder zu den Flugzeugen begeben.«

»Bei Tageslicht?«

»Nun, das könnte besser sein, als hier zu bleiben«, entgegnete sie. »Ich weiß nicht, was du meinst, aber ich habe einfach keine Lust, an die Wand gestellt und erschossen zu werden.«

»Wenn sie UNOMA sind, werden sie das nicht tun«, sagte Sax.

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, entgegnete Maya. »Auf der Erde halten uns alle für Rädelsführer.«

»Es gibt überhaupt keine Rädelsführer«, sagte Frank.

»Aber sie wollen, dass es welche gibt«, sagte Nadia.

Das ließ sie verstummen.

»Vielleicht hat jemand entschieden«, sagte Sax ruhig, »dass die Dinge leichter zu kontrollieren sind ohne uns.«


Es trafen mehr Meldungen über Einstürze in der anderen Hemisphäre ein, und Sax setzte sich vor die Schirme, um sie zu verfolgen. Ann stand hilflos hinter seiner rechten Schulter, um auch hinzusehen. Schläge dieser Art hatten sich schon immer seit der Vorzeit ereignet; und die Chance, einen live zu beobachten, konnte sie unmöglich versäumen, selbst wenn es sich um das Resultat menschlicher Aktivität handelte.

Während sie beobachteten, drängte Maya sie ständig, etwas zu unternehmen — aufzubrechen, sich zu verstecken, was auch immer, nur überhaupt etwas. Sie beschimpfte Sax und Ann, als die nicht antworteten. Frank ging fort, um zu sehen, was sich auf dem Raumflughafen ereignete. Nadia begleitete ihn bis zur Tür des Stadtbüros. Sie fürchtete, dass Maya recht hatte, mochte aber nicht weiter zuhören. Sie verabschiedete sich von Frank und trat vor das Rathaus, um den Himmel zu betrachten. Es war Nachmittag, und die vorherrschenden Westwinde fingen an, den Tharsis-Hang herunterzuwehen. Sie führten den Staub der Einschläge mit sich. Er sah am Himmel aus wie Rauch, als ob auf der anderen Seite von Tharsis ein Waldbrand wäre. Das Licht in Cairo wurde schwächer, als die Staubwolken die Sonne verdunkelten, und die Polarisation der Kuppel schuf kurze Regenbogen und Nebensonnen, als ob das ganze Gewebe der Welt in kaleidoskopische Teile zerfiele. Zusammengedrängte Massen unter einem brennenden Himmel. Nadia erschauerte. Eine dickere Wolke verdeckte die Sonne. Nadia ging hinein und zurück in die Büros. Sax sagte gerade: »Die Verfinsterung dürfte global werden.«

»Das hoffe ich«, sagte Maya. Sie ging hin und her wie eine Großkatze im Käfig. »Das wird uns helfen zu entkommen.«

»Entkommen wohin?« fragte Sax.

Maya sog die Luft zwischen den Zähnen ein. »Die Flugzeuge sind bereit. Wir könnten zu den Hellespontus Montes zurückkehren, zu den dortigen Habitaten.«

»Sie würden uns sehen.«

Frank erschien bei Sax auf dem Schirm. Er blickte auf sein Armband, und das Bild zitterte. »Ich befinde mich am Westtor mit dem Bürgermeister. Da draußen ist ein Haufen Rover. Wir haben alle Tore verschlossen, weil sie sich nicht identifizieren wollen. Offenbar haben sie die Stadt umrundet und versuchen, die Versorgungszentrale von außen aufzubrechen. Also sollten alle ihre Schutzanzüge anlegen und sich fertig machen, rauszugehen.«

Maya schrie: »Ich habe euch gesagt, wir hätten abhauen sollen!«

»Das hätten wir nicht können«, erwiderte Sax. »Im übrigen sind unsere Chancen vielleicht ebenso gut in einem Durcheinander. Wenn alle gleichzeitig einen Ausbruch machen, könnten sie zahlenmäßig überwältigt werden. Also seht, wenn etwas passiert, wollen wir uns alle am Osttor versammeln, okay?« Er sagte zum Schirm: »Frank, ihr solltet auch dorthin gehen, wenn ihr könnt. Ich werde mit den Robotern der Versorgungsanlage einige Dinge ausprobieren, die diese Leute mindestens bis zur Dunkelheit draußenhalten sollten.«

Es war jetzt drei Uhr nachmittags, obwohl es wie Dämmerung aussah, da der Himmel voller hoher, sich rasch bewegender Staubwolken war. Die Streitkräfte draußen wiesen sich als UNOMA-Polizei aus und forderten Einlass. Frank und der Bürgermeister von Cairo fragten sie nach ihrer Vollmacht seitens UN in Genf und erklärten ein Verbot aller Waffen in der Stadt. Die draußen gaben keine Antwort.

Um 4.30 Uhr gab es in der ganzen Stadt Alarm. Die Kuppel war zerstört worden, offenbar in katastrophalem Ausmaß, da ein plötzlicher Wind nach Westen durch die Straßen fegte und in jedem Gebäude die Drucksirenen ansprangen. Die Elektrizität blieb aus, und ebenso schnell wurde aus der Stadt eine zertrümmerte Schale voller rennender Gestalten in Schutzanzügen und mit Helmen, die umherrannten und sich an den Toren zusammendrängten, umgeworfen durch Windstöße oder Rempeleien. Überall platzten Fenster heraus, und die Luft war voller Plastiksplitter. Nadia, Maya, Ann, Simon und Yeli verließen das Rathaus und kämpften sich durch die Mengen zum Osttor durch. Dort herrschte großes Gedränge, weil die Schleuse offen war und sich manche Leute hindurchquetschten. Das war eine tödliche Situation für jeden, der unter die Füße geriet; und wenn die Schleuse irgendwie blockiert war, könnte das für einen jeden tödlich werden. Und dennoch ging alles lautlos vonstatten, mit Ausnahme von Helmkommunikation und einigen Explosionen im Hintergrund. Die Ersten Hundert hatten ihre alte Frequenz eingeschaltet, und durch die Statik und äußeren Lärm drang die Stimme Franks: »Ich bin jetzt am Osttor. Löst euch aus dem Gedränge, damit ich euch finden kann!« Seine Stimme war leise und sachlich. »Beeilt euch, draußen vor der Schleuse passiert etwas!«

Sie arbeiteten sich aus der Menge heraus und sahen Frank gerade diesseits der Wand, wie er eine Hand über dem Kopf schwenkte. »Los, kommt her!« sagte die entfernte Gestalt ihnen in die Ohren. »Seid keine solchen Schafe! Es hat keinen Sinn, sich wie in einer Zahnpasta-Tube zusammenquetschen zu lassen, wenn die Kuppel nicht mehr heil ist. Wir können uns überall hindurchschneiden, wo wir wollen. Lasst uns direkt zu den Flugzeugen gehen!«

»Das habe ich ja gesagt«, fing Maya an, aber Frank fuhr sie an: »Halt den Mund, Maya! Wir konnten nicht gehen, ehe sich etwas Derartiges ereignete. Erinnerst du dich?«

Es war jetzt kurz vor Sonnenuntergang. Die Sonne drang durch eine Lücke zwischen Pavonis und der Staubwolke und beleuchtete die Wolken von unten in einem infernalischen Schauspiel violetter Marsfarben. Sie warf ein teuflisches Licht auf das Menschengewühl. Und jetzt strömten Gestalten in Tarnuniformen durch Risse in der Kuppel herein. Draußen waren große Shuttle-Busse vom Raumhafen geparkt, aus denen noch mehr Truppen quollen.

Sax tauchte aus einer Gasse auf. »Ich glaube nicht, dass wir zu den Flugzeugen gelangen können«, sagte er.

Eine Gestalt im Schutzanzug und mit Helm erschien aus dem Dunkel. Sie sagte auf ihrer Frequenz: »Los, folgt mir!«

Sie starrten den Fremden an. Frank fragte: »Wer bist du?«

»Folgt mir!« Der Fremde war ein kleiner Mann, und hinter seiner Gesichtsscheibe konnten sie ein wildes Grinsen erkennen. Ein braunes, schmales Gesicht. Der Mann ging in eine Gasse, die zur Medina führte, und Maya folgte ihm als erste. Überall liefen Leute mit Helmen herum. Die ohne Helme waren tot oder sterbend auf dem Boden hingestreckt. Man konnte durch die Helme Sirenen hören, sehr schwach; und es gab dröhnende Vibrationen unter den Füßen, irgendwelche seismische Erschütterungen. Aber davon abgesehen, verlief die ganze hektische Aktivität in Stille, nur unterbrochen durch das Geräusch ihres Atems und ihre Stimmen gegenseitig in den Ohren. »Wohin?« — »Sax, bist du da?« -»Er ist dorthin gegangen!« und so fort. Eine seltsam intime Konversation in Anbetracht des düsteren Chaos, in dem sie sich abspielte. Als sie sich umschaute, trat Nadia fast auf den Kadaver einer Katze, die im Gras lag, als ob sie schliefe.

Der Mann, dem sie folgten, schien auf ihrer Frequenz eine Melodie zu summen, ein kleines bum, bum, badum-dum-dum. Vielleicht Peters Thema aus ›Peter und der Wolf‹. Er kannte die Straßen von Cairo gut, bog in dem Labyrinth ab, ohne zu zögern, und führte sie in weniger als zehn Minuten zur Stadtmauer.

An der Mauer blickten sie durch das verzogene Gewebe der Kuppel. Draußen im Dunkel rannten Gestalten in Schutzanzügen allein oder in Gruppen zu zweit oder dritt davon, in einer Art Brownscher Molekularbewegung auf den Südrand von Noctis zu. »Wo ist Yeli?« rief Maya plötzlich.

Niemand wusste es.

Dann machte Frank ein Zeichen. »Schaut!«

Im Osten war auf der Straße eine Anzahl Rover aus Noctis Labyrinthus erschienen. Es waren sehr schnelle Wagen von unbekanntem Aussehen, die ohne Scheinwerfer aus dem Dunkel auftauchten.

»Wohin jetzt?« fragte Sax. Er wollte sich fragend an den Führer wenden, aber der Mann war weg, in den Gassen verschwunden.

Eine Stimme sagte: »Ist das noch die Frequenz der Ersten Hundert?«

»Ja!« antwortete Frank. »Wer ist das?«

Maya schrie: »Ist das nicht Michel?«

»Ein gutes Ohr, Maya. Ja, es ist Michel. Seht, wir sind hier, um euch wegzubringen, wenn ihr gehen wollt. Es scheint, dass sie systematisch jeden der Ersten Hundert ausmerzen, an den sie Hand anlegen können. Darum dachten wir, ihr würdet euch gern mit uns zusammentun.«

»Ich denke, wir sind alle bereit, zu euch zu kommen. Aber wie?« sagte Frank.

»Nun, das ist eine raffinierte Sache. Ist bei euch ein Führer aufgekreuzt und hat euch zu der Mauer geleitet?«

»Ja.«

»Gut. Das war Cojote. Der ist gut bei so etwas. Also wartet hier! Wir werden anderswo für einige Ablenkung sorgen und dann direkt zu eurem Abschnitt der Mauer kommen.«

Nach nur einigen Minuten, obwohl es wie eine Stunde schien, erschütterten Explosionen die Stadt. Sie sahen im Norden Lichtblitze, in Richtung des Raumhafens. Michel meldete sich wieder. »Lasst nur eine Sekunde lang eine Helmlampe nach Osten scheinen!«

Sax richtete sein Gesicht nach Osten und stellte seine Helmlampe an, die kurz einen Kegel aus Luft erhellte, die durch Rauch stickig war. Die Sichtweite war auf hundert Meter oder weniger gesunken und schien immer noch abzunehmen. Aber Michels Stimme sagte:

»Kontakt. Nun schneidet euch durch die Wand und kommt heraus! Wir sind beinahe da. Wir werden losfahren, sowie ihr in den Schleusen unserer Rover seid. Seid also vorbereitet! Wie viele seid ihr?«

»Sechs«, sagte Frank nach einer Pause.

»Wundervoll! Wir haben zwei Wagen, darum wird es nicht allzu schlimm sein. Drei von euch in jedem, okay? Macht euch bereit. Wir wollen es schnell machen.«

Sax und Ann schnitten mit kleinen Messern aus ihrem Werkzeugpack an den Handgelenken durch die Kuppelwand. Sie sahen aus wie Kätzchen, die an Gardinen kratzen, schafften aber schnell Löcher, die groß genug zum Hindurchkriechen waren; und sie alle kletterten über die hüfthohe Mauerkrone und hinaus auf den glatten Regolith der Mauereinfassung. Hinter ihnen jagten Explosionen die Versorgungszentralen in die Luft und erhellten die zerstörte Stadt mit zuckendem Licht, die wie Fotoblitze durch den Dunst schnitten und einzelne Momente festhielten, ehe sie im Dunkel verschwanden.

Plötzlich erschienen aus dem Staub die fremdartigen Rover und hielten rutschend vor ihnen an. Sie rissen die äußere Schleusentür auf und drängten sich hinein — Sax, Ann und Simon in die eine, Nadia, Maya und Frank in die andere. Sie purzelten kopfüber, als sich die Rover in Bewegung setzten und mit hoher Beschleunigung wegfuhren. »Au!« schrie Maya.

»Alle an Bord?« fragte Michel.

Sie riefen ihre Namen.

»Gut. Ich bin froh, dass wir euch haben!« sagte Michel. »Es wird ziemlich hart. Dmitri und Elena sind tot, wie ich eben gehört habe. Getötet bei Echus Overlook.«

In der anschließenden Stille konnten sie hören, wie die Reifen über den Kies der Straße knirschten.

Sax bemerkte: »Die Rover sind wirklich schnell.«

»Allerdings. Und mit großartigen Stoßdämpfern. Genau für diese Art von Situation gemacht. Ich fürchte aber, wir werden sie aufgeben müssen, wenn wir nach Noctis hinunterkommen. Sie sind zu gut zu sehen.«

»Habt ihr unsichtbare Wagen?« fragte Frank.

»In gewisser Weise.«

Nach einer halben Stunde des Herumhüpfens in der Schleuse hielten sie kurz an und kletterten in die Haupträume der Rover hinüber. Und in dem einen dort war Michel Duval, weißhaarig und runzlig — ein alter Mann, der Maya, Nadia und Frank mit Tränen in den Augen ansah. Er umarmte sie nacheinander und lachte eigenartig und gedämpft.

»Bringst du uns zu Hiroko?« fragte Maya.

»Ja, wir wollen es versuchen. Aber es ist ein weiter Weg, und die Verhältnisse sind schlimm. Aber ich denke, dass wir es schaffen könnten. Oh, ich bin so froh, dass ich euch gefunden habe! Ihr wisst nicht, wie schrecklich es war, immer nur hinzuschauen und nur Leichen zu finden.«

»Wir wissen«, sagte Maya. »Wir haben Arkady gefunden, und Sasha wurde gerade erst heute getötet und Alex und Edvard und Samantha, und ich vermute auch Yeli eben jetzt …«

»Ja. Aber wir werden uns zu vergewissern suchen, dass es sie nicht mehr gibt.«

Der Fernseher des Rovers zeigte das Innere des nachfolgenden Wagens, wo Ann, Simon und Sax von einem jungen Fremden steif begrüßt wurden. Michel blickte über die Schulter aus der Windschutzscheibe und stieß einen Pfiff aus. Sie waren am Anfang eines der vielen Trog-Canyons, die nach Noctis hinunterführten. Das abgerundete Ende des Canyons fiel steil ab. Die nach unten führende Straße war über eine künstliche Rampe geführt, die als Stütze dafür erbaut war. Aber jetzt war die Rampe verschwunden, mitsamt der Straße durch eine Explosion weggefegt.

»Wir werden zu Fuß gehen müssen«, sagte Michel nach einer Weile. »Wir hätten diese Wagen ohnehin bald aufgeben müssen. Es sind nur ungefähr fünf Kilometer. Sind eure Anzüge voll versorgt?«

Sie füllten ihre Tanks aus den Rovern auf und setzten wieder die Helme auf. Dann ging es durch die Schleusen wieder hinaus ins Freie.

Als sie alle draußen waren, starrten sie einander an: die sechs Flüchtlinge, Michel und der jüngere Fahrer. Sie machten sich in der Dunkelheit zu Fuß auf den Weg. Während des tückischen Abstiegs auf dem abgebrochenen Teil der Straßenrampe ließen sie ihre Stirnlampen eingeschaltet. Als sie wieder auf der Straße waren, schalteten sie sie aus und verfielen auf dem steilen abschüssigen Kiesweg von selbst in die langen, hüpfenden Schritte, die bei diesem Neigungswinkel die bequemste Gangart bildeten. Die Nacht war sternenlos, und der Wind pfiff um sie in den Canyon hinunter, manchmal in so starken Böen, dass es war, als würden sie von hinten geschoben. Es schien so, als ob wirklich ein neuer Staubsturm im Anzug wäre. Sax murmelte etwas über äquatorial gegenüber global, aber es war nicht möglich vorauszusagen, wie er sich entwickeln würde. Michel sagte: »Hoffen wir, dass er global ist. Wir könnten die Deckung gebrauchen.«

»Ich zweifle, ob er es sein wird«, meinte Sax.

»Wohin gehen wir?« fragte Nadia.

»Nun, in Aureum Chaos gibt es eine Notstation.«

Also mussten sie sich durch die ganze Länge von Valles Marineris hindurchquälen — fünftausend Kilometer! »Wie sollen wir das schaffen?« rief Maya.

»Wir haben Canyonwagen. Du wirst sehen«, sagte Michel knapp.

Die Straße war steil, und sie behielten die schnelle Gangart bei, zur Qual für ihre Gelenke. Nadias rechtes Knie fing an zu schmerzen, und ihr Phantomfinger juckte zum ersten Mal seit Jahren wieder. Sie war durstig und fror in dem alten Anzug.

Es wurde so staubig und finster, dass sie ihre Heimleuchten anstellen mussten. Die hüpfenden gelben Lichtkegel reichten kaum bis zur Straßenoberfläche, und beim Blick nach hinten meinte Nadia, sie sahen aus wie eine Kette Tiefseefische, deren leuchtende Flecken auf dem Boden eines großen Ozeans glühten. Oder wie Bergleute in einem stark verqualmten Tunnel. Ein Teil von ihr begann die Situation zu genießen. Es war nur eine kleine Erregung, eine überwiegend physische Empfindung, aber immerhin das erste positive Gefühl, seit sie Arkady gefunden hatte. Ein Vergnügen wie das Phantomjucken ihres verlorenen Fingers, schwach und leicht verwirrend.

Es war noch mitten in der Nacht, als sie zum Boden des Canyons kamen, einem breiten U, das in allen Canyons von Noctis Labyrinthus sehr verbreitet ist. Michel trat an einen Felsblock, stieß mit einem Finger an eine Stelle und hob dann eine Luke in der Seite des Felsens hoch. Er sagte: »Geht hinein!«

Wie sich herausstellte, gab es zwei solcher Felswagen: große Rover, die durch eine dünne Schicht aus echtem Basalt gepanzert waren. »Was ist mit ihren thermischen Signalen?« fragte Sax, als er in einen hineinkroch.

»Wir lenken alle Wärme in Spulen, die wir dann vergraben. Also gibt es kein nennenswertes Signal.«

»Eine gute Idee.«

Der junge Fahrer half ihnen in den Wagen. »Sehen wir zu, dass wir hier herauskommen!« sagte er grob und schob sie fast durch die äußeren Schleusentüren. Licht aus der Schleuse erhellte sein Gesicht, das vom Helm umrahmt war. Asiatisch, vielleicht fünfundzwanzig, half er den Flüchtlingen, ohne ihnen ins Auge zu blicken. Er wirkte verstimmt, verärgert, vielleicht erschrocken. Er sagte zu ihnen vorwurfsvoll:

»Wenn ihr das nächste Mal eine Revolution macht, solltet ihr es lieber irgendwie anders versuchen.«

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