Wie William Howells betont hat, ist es ein eher seltenes Vorkommnis, wenn ein Lebewesen auf eine Art und Weise stirbt, die dazu führt, daß es als Fossil für künftige Jahrhunderte erhalten bleibt. Dies gilt insbesondere für einen kleinen, empfindlichen Bodenbewohner wie den Menschen, und die Anzahl der frühmenschlichen Fossilienfunde ist denn auch bemerkenswert gering. Lehrbuchdiagramme vom »Stammbaum der Menschheit« deuten ein Ausmaß an sicherem Wissen an, das irreführend ist; alle paar Jahre wird dieser Stammbaum beschnitten und revidiert. Einer der umstrittensten und undankbarsten Zweige an diesem Baum ist derjenige, der normalerweise unter der Bezeichnung »Neandertaler« geführt wird.
Dieser Urmensch verdankt seinen Namen einem Tal in der Nähe von Düsseldorf in Deutschland, wo 1856, drei Jahre vor der Veröffentlichung von Darwins Vom Ursprung der Arten, die ersten Überreste seines Typus entdeckt wurden. Die viktorianische Welt war alles andere als glücklich über die Skelettfunde und wies mit Nachdruck auf das grobe und ungeschlachte Aussehen des Neandertalers hin; bis zum heutigen Tage gilt das Wort an sich im allgemeinen Bewußtsein als ein Synonym für alles Dumpfe und Bestialische im menschlichen Wesen.
So schwang denn auch eine Art Erleichterung mit, als die Gelehrten seinerzeit feststellten, daß der Neandertaler vor etwa fünfunddreißigtausend Jahren »verschwand«, um vom Cro-Magnon-Menschen abgelöst zu werden, dessen aufgefundene Skelette, wie man annahm, auf ebensoviel Feinheit, Sensibilität und Intelligenz hindeuteten wie andererseits der Schädel des Neandertalers auf eine ungeheure Grobschlächtigkeit. Die allgemeine Vermutung lief darauf hinaus, daß der moderne, überlegene Cro-Magnon-Mensch den Neandertaler ausgerottet hatte. Nun ist es aber eine Tatsache, daß wir in unseren Fossiliensammlungen nur über wenige guterhaltene Exemplare des Neandertalers verfügen - von mehr als achtzig Fragmenten sind nur etwa ein Dutzend so vollständig oder so genau datiert, daß sie ernsthafte Studien ermöglichen. Wir können wahrhaftig nicht mit Sicherheit sagen, wie verbreitet er als Art war oder was mit ihm geschehen war. Aufgrund jüngerer Untersuchungen des Fossilienmaterials wird die Annahme, er sei von einem monströsen, halbmenschlichen Aussehen gewesen, vehement bestritten. Straus und Cave schrieben 1957 in ihrer Zusammenfassung: »Wenn er wiedererweckt und in eine New Yorker U-Bahn gesetzt werden könnte, so darf -vorausgesetzt, er wäre gebadet, rasiert und modern gekleidet -durchaus bezweifelt werden, ob er mehr Aufmerksamkeit erregen würde als einige der anderen Fahrgäste.« Ein anderer Anthropologe hat es schlichter ausgedrückt: »Man könnte meinen, daß er vielleicht etwas wild aussieht, aber man hätte nichts dagegen, wenn die eigene Schwester ihn heiraten würde.«
Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zu dem, was einige Anthropologen bereits glauben: daß der Neandertaler als eine anatomische Spielart des modernen Menschen nie verschwunden ist, sondern noch immer unter uns weilt. Darüber hinaus unterstützen neue Auswertungen der dem Neandertaler zugeschriebenen kulturellen Hinterlassenschaften eine wohlwollendere Haltung gegenüber diesem Wesen. In der Vergangenheit waren Anthropologen höchst beeindruckt von der Schönheit und Fülle der Höhlenmalereien, die erstmals mit dem Auftreten des Cro-Magnon-Menschen auftauchen; wie auch die Fossilienfunde waren diese Malereien dazu angetan, den Eindruck einer wunderbaren neuen Sensibilität zu bestätigen, die den Inbegriff der »grobschlächtigen Unbedarftheit«: ablöste. Doch der Neandertaler war um seiner selbst willen bemerkenswert. Sein Kulturkreis, Mousterien genannt - wiederum nach einem Fundort, Le Moustier in Frankreich -, zeichnet sich durch eine Steinbearbeitung von recht hoher Qualität aus, die dem Niveau einer jeden früheren Kultur weit überlegen ist. Und heute wird allgemein anerkannt, daß der Neandertaler auch Werkzeuge aus Knochen besaß. Am eindrucksvollsten von allem aber ist, daß der Neandertaler der erste unter unseren Ahnen war, der seine Toten nach einem Ritual bestattete. In Le Moustier wurde ein halbwüchsiger Knabe in Schlafstellung in eine Grube gelegt; er wurde mit einer Beigabe aus Feuersteingeräten, einer Steinaxt und gebratenem Fleisch ausgestattet. Daß diese Gaben dem Verblichenen in einer Art Leben nach dem Tode von Nutzen sein sollten, wird von der Mehrzahl der Anthropologen nicht bestritten. Es gibt weitere Beweise eines religiösen Grundgefühls: In der Schweiz gibt es einen Altar für einen Höhlenbären, ein Tier, das angebetet, geachtet und auch verzehrt wurde. Und in der Höhle von Shanidar im Irak wurde ein Neandertaler mit Blumen im Grab bestattet. All dies deutet auf eine gewisse Einstellung zu Leben und Tod hin, eine selbstbewußte Wahrnehmung der Welt, welche den Kern dessen ausmacht, was unserer Meinung nach den denkenden Menschen vom übrigen Tierreich abhebt. Aufgrund der existierenden Beweise müssen wir schließen, daß diese Einstellung erstmals beim Neandertaler zu erkennen war.
Die allgemeine Neubewertung des Neandertalers fällt mit der Wiederentdeckung von Ibn Fadlans Bericht über seine Begegnung mit den »Dunstwesen« zusammen; seine Beschreibung dieser Wesen läßt einen an die Anatomie des Neandertalers denken, und somit erhebt sich die Frage, ob der Typus des Neandertalers tatsächlich vor Tausenden von Jahren von der Erde verschwand oder ob diese frühen Menschen bis in geschichtliche Zeit fortlebten.
Auf Analogien beruhende Argumente weisen auf beide Möglichkeiten hin. Es gibt historische Beispiele, wie eine Handvoll Menschen aus einer technologisch überlegeneren Zivilisation innerhalb weniger Jahre eine primitivere Gesellschaft auslöschen kann; bei der Berührung der Europäer mit den Völkern der Neuen Welt handelt es sich weitgehend um eine solche Geschichte. Doch es gibt auch Beispiele für primitive Gesellschaften, die in abgelegenen Gebieten lebten und den fortschrittlicheren Zivilisationen in nächster Nähe unbekannt blieben. Erst unlängst wurde ein solcher Stamm auf den Philippinen entdeckt. Der akademische Disput über die von Ibn Fadlan beschriebenen Wesen läßt sich aufgrund der Standpunkte von Geoffrey Wrightwood von der Oxford University und E. D. Goodrich von der University of Philadelphia vortrefflich zusammenfassen. Wrightwood stellt fest (1971): »Der Bericht des Ibn Fadlan liefert uns eine überaus brauchbare Beschreibung von Neandertalern, die mit den Fossilienfunden und unseren Mutmaßungen bezüglich des kulturellen Niveaus dieser Frühmenschen übereinstimmt. Wir würden sie augenblicklich akzeptieren, wären wir nicht bereits zu dem Schluß gelangt, daß diese Menschen etwa dreißig- bis vierzigtausend Jahre zuvor spurlos verschwunden sind. Wir sollten bedenken, daß wir nur deshalb an dieses Verschwinden glauben, weil wir über keine Fossilien jüngeren Datums verfügen, und daß das Fehlen derartiger Fossilien nicht bedeutet, daß es sie in Wirklichkeit nicht gibt. Objektiv betrachtet gibt es a priori keinen Grund abzustreiten, daß eine Gruppe Neandertaler in einem abgelegenen Gebiet in Skandinavien sehr viel länger überlebt haben könnte. Auf jeden Fall paßt diese Vermutung bestens zu der Beschreibung in dem arabischen Text.« Goodrich, ein für seine Skepsis wohlbekannter Paläontologe, bezieht den entgegengesetzten Standpunkt (1972): »Die bei Ibn Fadlan allgemein festzustellende Genauigkeit mag uns dazu verführen, über gewisse Übertreibungen in seinem Manuskript hinwegzusehen. Davon gibt es mehrere, und sie rühren entweder von seinen kulturellen Voraussetzungen her oder von einem für den Geschichtenerzähler typischen Wunsch, Eindruck zu hinterlassen. Er bezeichnet die Wikinger als Riesen, wo sie es doch ganz gewiß nicht waren; er betont das schmutzige, betrunkene Erscheinungsbild seiner Gastgeber, das ein weniger pingeliger Beobachter nicht weiter bemerkenswert fand. In seinem Bericht über die sogenannten >Wendol< legt er großen Wert auf ihr behaartes und grobschlächtiges Äußeres, wo sie doch in Wahrheit keineswegs so behaart oder grobschlächtig gewesen sein mögen. Es kann sich schlichtweg um einen Stamm von Homo sapiens gehandelt haben, der in Abgeschiedenheit und ohne das bei den Skandinaviern anzutreffende Niveau an kulturellen Errungenschaften lebte. Im Manuskript des Ibn Fadlan gibt es interne Hinweise, welche die Annahme unterstützen, daß es sich bei den >Wendol< tatsächlich um Homo sapiens handelte. Die von dem Araber beschriebenen Bildnisse schwangerer Frauen erinnern in hohem Maße an die prähistorischen Skulpturen und Figurinen, die sich an den Produktionsstätten des Aurignacien in Frankreich und den Fundorten des Gravettien in Willendorf, Österreich, Ebene 9, auffinden lassen. Die Kulturstufen sowohl des Aurignacien wie auch des Gravettien werden eindeutig dem modernen Menschen zugeschrieben und nicht dem Neandertaler. Wir dürfen nie vergessen, daß von ungeschulten Beobachtern kulturelle Unterschiede oftmals als physische Unterschiede interpretiert werden, und man braucht nicht besonders naiv zu sein, um diesen Fehler zu begehen. So konnten gebildete Europäer noch im Jahre 1880 laut darüber nachdenken, ob Neger in >primitiven< afrikanischen Gesellschaften überhaupt als Menschen betrachtet werden dürften oder ob sie irgendeine bizarre Mischform aus Menschen und Affen darstellten. Nun sollten wir uns vor Augen führen, in welchem Ausmaße Gesellschaften mit weitgehend voneinander abweichenden kulturellen Errungenschaften nebeneinander Bestand haben können: Derartige Gegensätze kommen zum Beispiel heute noch in Australien vor, wo sich Steinzeit und Atomzeitalter in unmittelbarer Nachbarschaft befinden. Daher brauchen wir uns bei der Interpretation der Beschreibungen des Ibn Fadlan nicht zu der Feststellung hinreißen lassen, es handle sich um überlebende Neandertaler, es sei denn, wir lassen uns von unserer Phantasie leiten.«
Letzten Endes stolpert jedes Argument über die wohlbekannten Grenzen der wissenschaftlichen Methodik an sich. Der Physiker Gerhard Robbins stellt fest, daß »strenggenommen keine Hypothese oder Theorie jemals belegt werden kann. Sie kann nur widerlegt werden. Wenn wir sagen, wir glauben an eine Theorie, so meinen wir damit in Wirklichkeit, daß wir nicht fähig sind aufzuzeigen, daß die Theorie falsch ist - und nicht, daß wir fähig sind, ohne jeden Zweifel aufzuzeigen, daß eine Theorie richtig ist.
Eine wissenschaftliche Theorie kann über Jahre, ja sogar Jahrzehnte Bestand haben, und zu ihrer Unterstützung können Hunderte erhärtender Beweise zusammengetragen werden. Doch eine Theorie ist stets angreifbar, und es bedarf nur einer einzigen widersprüchlichen Entdeckung, um die Hypothese über den Haufen zu werfen und nach einer neuen Theorie zu rufen. Man kann nie wissen, wann ein derartiger widersprüchlicher Beweis vorgebracht werden wird. Vielleicht geschieht dies schon morgen, vielleicht niemals. Doch die Geschichte der Wissenschaft ist voll der Trümmer gewaltiger Gedankengebäude, die aufgrund eines Zufalles oder einer Banalität zum Einsturz gebracht wurden.«
Genau dies meinte Geoffrey Wrightwood, als er beim 7. Internationalen Symposium zur menschlichen Paläontologie 1972 in Genf feststellte: »Alles, was ich brauche, ist ein Schädel oder ein Schädelfragment oder ein Stück von einem Kiefer. Strenggenommen ist alles, was ich brauche, ein guter Zahn, und die Diskussion ist beendet.«
Bis dieser fossile Beweis gefunden ist, wird sich die Spekulation fortsetzen, und jedermann kann zu diesen Dingen eine Einstellung beziehen, die seinem inneren Gefühl entspricht.