Der Ruf zum Morgengebet weckte mich. Ich fuhr vor Schreck zusammen und riß die Augen auf. Dann blieb ich regungslos liegen, bis ich mich erinnerte, wo ich war. Licht drang durch die Lamellen der geschlossenen Fensterläden ins Zimmer, frisches Morgenlicht, das auch Straßenlärm und Stimmengewirr von unten zu mir herauftrug. Ich lag da und lauschte dem wie ein Klagelied klingenden Singsang des Muezzins, während ich meine wirren Gedanken ordnete. Das erste, was mir in den Sinn kam, war, daß dieses Bett, in dem ich da lag, äußerst bequem war und daß ich mich gut ausgeruht fühlte. Mein nächster Gedanke galt John Treadwell, zuerst mit Trauer, dann mit Ärger. Mein Ärger verwandelte sich in Bitterkeit, als ich daran dachte, für welch eine Närrin er mich gehalten haben mußte und wie ahnungslos ich in seine Falle getappt war. Ein klein wenig Charme, ein gut geschnittenes Gesicht, und schon war ich bereit gewesen, ihm mein Leben anzuvertrauen. Ich war nicht sicher, was mich mehr erzürnte, seine Hinterhältigkeit oder meine Einfalt. Ich wußte nur eines: Lydia Harris würde eine solche Dummheit kein zweites Mal begehen. Ganz egal, wie bezaubernd der Mann sein mochte. Dann dachte ich an Dr. Kellerman. Er war jetzt sicher furchtbar besorgt und machte sich bestimmt Vorwürfe, daß er mich hatte fortfliegen lassen. Als ich überlegte, wer ihm wohl in meiner Abwesenheit assistierte, mußte ich lächeln, denn ich wußte, wer es auch war, er würde sehnlichst auf meine Rückkehr warten. Er war ein rauher, alter Brummbär im OP, aber die Tatsache, daß er der beste Chirurg unter den Mitarbeitern des Krankenhauses war, gab ihm das Recht dazu.
Adele oder nicht, ich beschloß, Dr. Kellerman noch heute anzurufen.
Zuletzt schweiften meine Gedanken zu der Ursache dieses ganzen Wahnsinns: zu meiner Schwester Adele. Ich fragte mich, wo sie in diesem Augenblick wohl stecken mochte und was sie tat. Ich fragte mich auch, ob sie versuchte, sich mit mir in Verbindung zu setzen, ob sie vielleicht sogar in der Nähe war. Und das größte Rätselraten gab mir diese geheimnisvolle Sache auf, in die wir nun beide verstrickt waren.
Ich muß eine Stunde im Bett gelegen haben, bevor ich mich zögernd entschloß aufzustehen. Mein Kopf schmerzte noch immer und schrie förmlich nach Aspirin, während mein Magen knurrte wie hundert hungrige Löwen. Als ich mich angezogen hatte und vor meiner Tür noch immer kein Geräusch vernahm, schaute ich kurz nach dem Schakal. Nachdem Achmed Raschid mich in der Nacht zuvor allein gelassen hatte und ich gehört hatte, wie er wegging und ein paar Lichter löschte, hatte ich sofort meinen Koffer geöffnet und den Schakal - zu meiner gelinden Überraschung - noch genauso vorgefunden, wie ich ihn hinterlassen hatte. Ich hatte einige Minuten gebraucht, um mir ein neues Versteck für ihn zu überlegen, und ihn zu guter Letzt einfach unter das Kopfkissen gestopft. Falls irgend jemand auf die Idee gekommen wäre, nachts in meinem Zimmer herumzuschnüffeln, dann hätte er zumindest um den Schakal kämpfen müssen. Jetzt zog ich ihn unter dem Kopfkissen hervor, und da ich schon vollständig angekleidet war, schob ich ihn in meinen Hosenbund und ließ meine Bluse darüberfallen. Das war zwar nicht sonderlich angenehm, aber zumindest hatte ich den Schakal auf diese Weise immer bei mir und würde mir nicht ständig Sorgen darum machen müssen. Ich blieb stehen und schaute mich im Spiegel an. Die Bluse war weit und zeigte keine Ausbuchtung. In den letzten Tagen war der Wert dieses Stücks Elfenbein an irgendeiner mehr als obskuren Börse anscheinend um ein Vielfaches gestiegen, so daß es mir jetzt beinahe vorkam, als trüge ich die britischen Kronjuwelen an meiner Hüfte. Der Schakal war mir jetzt ebenso wichtig. Auf irgendeine Weise war er der Schlüssel zu Adeles Aufenthaltsort.
Achmed Raschid war nicht zu Hause. Dies überraschte und erleichterte mich zugleich, und in gewisser Weise verwirrte es mich auch. Da ich noch immer keine Klarheit darüber hatte, ob ich mich nun als seine Gefangene oder als seinen Gast betrachten sollte, war ich argwöhnisch und auf eine weitere Auseinandersetzung gefaßt aus dem Schlafzimmer herausgetreten. Aber er war nicht da, ich wurde nicht bewacht, und die Wohnungstür ließ sich ganz leicht öffnen. Nachdem ich einen raschen Blick auf die Treppe geworfen hatte, die von seiner Wohnung nach unten führte, schloß ich die Tür wieder. Immerhin verfügte sie über ein Schnappschloß, so daß ich vor unliebsamen Überraschungen einigermaßen sicher war. Dann durchquerte ich das Zimmer und stieß die Fensterläden auf.
Lärm, Licht und Gerüche und ein buntes Gemisch von orientalischer Betriebsamkeit schlugen mir entgegen. Ich befand mich im vierten Stockwerk und überblickte eine der geschäftigsten Straßen, die ich je zu Gesicht bekommen hatte. Als ich das Fußgängergewirr unter mir sah, trat ich schnell zurück und schloß die Läden wieder. In diesem Augenblick wußte ich, was Mr. Raschid gemeint hatte, als er sagte, daß die Straßen überfüllt seien und daß ich allein gegen ihn bessere Aussichten hätte als gegen jene da draußen. Lieber Himmel, in dieser Straße da unten drängten sich Hunderte von Menschen, und jeder von ihnen konnte Johns Mörder sein.
Ich preßte mein Gesicht gegen den Laden und versuchte, zwischen den Lamellen hindurchzuspähen. Direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite befanden sich Wohnhäuser wie dieses hier - unglaublich alt und grau, einige mit Baikonen, andere mit kompliziert geschnitzten, schmalen Vorbauten, hinter denen sich wahrscheinlich die Harems verbargen; bei den meisten Fenstern waren die Vorhänge zugezogen und die Läden geschlossen. Es schien keine Bedrohung von diesem Viertel auszugehen. Doch wie sollte ich bei der Menschenmenge, die sich durch die verstopfte Straße wälzte, erkennen, wer im einzelnen da unten war? Besonders, ohne daß er mich sah? Ich dachte an den beleibten Mann mit seinen dicken Brillengläsern und begann unwillkürlich zu zittern. Wenn er nun da draußen wartete? Wie sicher war sich Achmed Raschid, daß uns niemand beim Verlassen des Hotels beobachtet hatte und daß keiner wußte, wo ich mich aufhielt? Und je mehr ich an John Treadwell dachte, um so wütender wurde ich. Nicht so sehr wegen dem, was er getan hatte, sondern weil ich selbst so blind und naiv gewesen war. War ich wirklich so leicht zu beeinflussen, und ließ ich mich tatsächlich so bereitwillig benutzen?
Offensichtlich hatte John Treadwell mich so beurteilt. Ich wandte mich jäh von den Fensterläden ab und marschierte durchs Zimmer zur Couch. Und während ich mich darauf plumpsen ließ, geißelte ich mich selbst mit dem Gedanken daran, wie dumm ich gewesen war. Falls Achmed Raschid irgendwelche Pläne hatte, mich ebenfalls zu benutzen, falls er beabsichtigte, mich mit ein wenig Charme und ein paar tröstlichen Worten zu lenken, dann würde ich ihm einen Strich durch die Rechnung machen. Von nun an war Dr. Kellerman der einzige Mensch auf der Welt, dem ich vertraute, und ich hätte alles darum gegeben, ihn hier bei mir zu haben. Aber er war nicht hier. Er war weit weg in einer anderen Welt.
Ein Geräusch an der Tür ließ mich hochfahren. Ich sprang im selben Augenblick auf, als Mr. Raschid mit einer Zeitung unterm Arm die Wohnung betrat. Als er meinen verwunderten Gesichtsausdruck bemerkte, sagte er: »Oh, Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß Sie schon auf sein würden. Es ist noch früh.«
»Ja, ich weiß. Guten Morgen.«
Er lächelte und erwiderte: »Ich werde für Sie Tee bereiten.« Ich sah ihm nach, als er in ein anderes Zimmer ging, und ich spürte, wie sich mein Körper vor Nervosität verkrampfte. Aus dem Raum, in dem sich wohl die Küche befand, drangen Geräusche zu mir herein - Klappern von Geschirr, Rauschen von fließendem Wasser, ein klirrender Laut von einem zu Boden fallenden Besteckteil. Gleich darauf kam er wieder herein, lächelte mich an und legte seine Jacke ab. Ich blieb einfach stehen und beobachtete ihn, wie er im Zimmer auf und ab ging, unsicher, was ich als nächstes sagen sollte. Schließlich half mir Mr. Raschid aus meiner Verlegenheit, indem er fragte: »Haben Sie gut geschlafen?«
»Ja, in der Tat, das habe ich.«
»Das freut mich. Es war sicher nötig. Bitte, nehmen Sie Platz.« Ich setzte mich auf die Couch und er sich in einen Lehnstuhl mir gegenüber. Er lächelte wieder, als er weitersprach: »Ich war heute morgen bei der Polizei. Ich wollte keine Zeit verlieren. Der Inspektor, der die Ermittlungen im Mordfall Treadwell leitet, ist ein Freund von mir. Wir hatten eine vertrauliche Unterredung. Ich teilte ihm mit, daß Sie wahrscheinlich die Amerikanerin seien, nach der er fahnde, und daß Sie nichts mit dem Mord zu tun hätten, da Sie mit mir zusammenarbeiten. Er hat daraufhin den Aushang mit Ihrer Beschreibung und Paßnummer von den Mitteilungstafeln der Hotels entfernen lassen und die Suche nach Ihnen eingestellt.«
»Oh, Gott sei Dank!« Ich atmete auf.
»Deswegen brauchen Sie sich jetzt keine Sorgen mehr zu machen.«
»Das heißt, ich kann mir ein Zimmer in einem Hotel nehmen. Die Polizei ist nicht mehr hinter mir her.«
»Ja, das stimmt.« Sein Lächeln wurde schwächer, und seine Miene verdüsterte sich ein wenig. »Trotzdem läuft Mr. Treadwells Mörder noch immer frei herum. Er könnte auch jetzt noch nach Ihnen Ausschau halten.«
»Der dicke Mann.«
»Oder dieser Arnold Rossiter. Sie wissen alle, daß Sie das Shepheard’s verlassen haben und irgendwo hingegangen sind. Jetzt werden sie die Hotels überwachen.«
»Mr. Raschid, ich möchte jetzt endlich, daß Sie mir sagen, worum es hier eigentlich geht. Warum sollte mich jemand umbringen wollen?«
»Es geht vielleicht nicht darum, Sie umzubringen, Miss Harris. Wahrscheinlich wollen sie Sie als Geisel festhalten, um an Ihre Schwester heranzukommen. Das ist nur eine Theorie von mir.«
»Und warum«, fragte ich matt, »warum suchen sie meine Schwester?«
»Entschuldigen Sie mich.« Er erhob sich. »Ich denke, der Tee ist fertig.«
Als er den Raum verließ, ging ich wieder zum Fenster und versuchte, indem ich die Läden einen Spalt breit öffnete, auf die stark belebte Straße hinunterzusehen. Autos fuhren sehr wenige vorüber, denn die Masse der Fußgänger war dicht und nahezu undurchdringlich. Es waren vorwiegend Orientalen -die Hälfte davon in westlicher Kleidung, einige in den langen Gewändern oder galabias, andere mit Turbanen und Kopftüchern, manche Frauen verschleiert, andere ganz ähnlich gekleidet wie ich selbst. Die meisten schienen irgendwo hin zu eilen, wichen dabei geschickt den Eselskarren aus oder spazierten Arm in Arm gegen den Strom. Kein einziger unter ihnen schien sich um dieses Haus hier zu kümmern.
»Ich kann Ihnen versichern, kein Mensch weiß, wo Sie sind.« Ich wandte mich zu Achmed Raschid um. Er trug ein Tablett, das mit Teekanne, Teetassen und einem Berg von Gebäckstücken beladen war. Während er es auf dem niedrigen Tisch vor der Couch abstellte, fuhr er fort: »Als ich Sie gestern nachmittag aus dem Shepheard’s Hotel herausbrachte, sah ich mich sehr sorgfältig in der Empfangshalle um. Keiner der Männer, die meines Wissens für Rossiter arbeiten, war zu sehen. Außerdem wären sie ja verrückt gewesen, in der Nähe des Ortes zu bleiben, wo sie gerade einen Mord begangen hatten.« Ich seufzte und setzte mich wieder auf die Couch. Er reichte mir eine Tasse Tee und schob den Gebäckteller zu mir hin. »Es gibt niemanden, der diese Wohnung beobachtet, Miss Harris. Ich habe mich dessen selbst versichert, bevor ich Sie allein ließ.«
Ich konnte nicht widerstehen, eines der Kuchenstücke zu nehmen, und fand, daß es ungewöhnlich süß war, wie der Tee, denn auf dem Boden der Tasse konnte ich eine dicke Schicht Zucker erkennen. Diese orientalischen Süßigkeiten waren voll mit Eiercreme, Zuckerguß und süßem Gelee.
»Sie müssen etwas essen«, meinte er und drängte mir bald ein zweites Stück auf.
Als ich in dieses hineinbiß, wunderte ich mich, warum die Ägypter nicht alle dick waren.
»Ich habe einen Freund, der im Shepheard’s Hotel arbeitet. Ich habe ihn wissen lassen, daß ich nach Ihrer Schwester suche. Er wird die Augen offenhalten und mich benachrichtigen, falls sie im Hotel auftaucht. Des weiteren habe ich von den Zollbeamten am Flughafen erfahren, daß Ihre Schwester das Land nicht verlassen hat.« Als ich etwas entgegnen wollte, hob er die Hand und fuhr fort: »Das muß jedoch nicht heißen, daß sie tatsächlich noch im Land ist. Ich erwarte noch Nachricht aus Alexandria und Luxor. Es ist auch nicht schwer, unbeobachtet in den Sudan zu gelangen.«
»Sudan! Warum sollte sie dorthin fahren wollen?« Er spreizte seine Finger. »In diesem Punkt, Miss Harris, ist meine Kenntnis ebenso beschränkt wie die Ihre.«
»Und wann werden Sie mir endlich den Rest erzählen?«
»Bald, das versichere ich Ihnen.«
>Ich versichere Ihnen< schienen seine Lieblingsworte zu sein, doch er flößte mir damit nicht die geringste Zuversicht ein. Als er den Teller zum drittenmal näher an mich heranschob, lehnte ich dankend ab und setzte mich mit meiner Teetasse auf dem Schoß zurück. Nun trat zwischen uns Schweigen ein, und ich gab mir alle Mühe, seinem Blick auszuweichen. Es war kein unverschämter Blick; es drückte sich eher Neugierde und Interesse darin aus. Es kam mir fast so vor, als fände er mich ungewöhnlich.
Das war lächerlich, wenn man bedachte, was für eine kuriose Erscheinung er selber war. Obgleich sein Äußeres fremdartig auf mich wirkte - mit seiner dunklen, kakaobraunen Haut, seinen buschigen Wimpern und seiner starken Nase - , war es eigentlich seine Art und Weise, zu sprechen, die mich am meisten faszinierte. Seine Stimme hatte einen weichen, näselnden Klang mit gelegentlichen stimmbruchähnlichen Ausrutschern. Er sprach überaus bedächtig und langsam, als wollte er sichergehen, daß ich ihn auch ganz gewiß verstünde -, und in ausgezeichnetem Englisch.
»Ich gehe jetzt weg«, verkündete er plötzlich, als besänne er sich auf etwas, »und komme heute nachmittag wieder. Bitte fühlen Sie sich wie zu Hause. Mein Haus ist Ihr Haus, und alles, was darinnen ist, gehört Ihnen.«
»Danke.«
»Schukran.«
Als er in seine Jacke schlüpfte und zur Tür ging, fiel mir etwas ein: »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Ihr Telefon benutze? Ich werde ein R-Gespräch führen.«
»Ich habe kein Telefon, Miss Harris. Nur wenige Leute in Kairo besitzen eines, denn es ist ein teurer Luxus. Nicht weit von hier gibt es aber eine Telefonzentrale. Ist es dringend?«
»Nun, eigentlich schon.«
»Ich würde es nicht begrüßen, wenn Sie jetzt schon ausgingen. Lassen Sie uns noch etwas abwarten, und ich werde Sie hinbringen. Auf diese Weise ist für Ihre Sicherheit gesorgt. Auf Wiedersehen.« Ich horchte hinter der Tür, wie seine Schritte auf der Treppe verhallten, und stellte mich dann wieder hinter die Fensterläden. Durch die schmale Öffnung konnte ich sehen, wie Achmed Raschid unten aus dem Haus trat und im Gewühl der Fußgänger verschwand. Als er außer Sicht war, beobachtete ich eine Weile die unten vorbeiziehende Menschenmenge, die gegenüberliegenden Fenster und die Dächer. Da gab es niemanden, nicht einen einzigen, den man in Verdacht haben könnte, diesen Ort zu überwachen.
Ich schloß die Läden und setzte mich wieder auf die Couch. Dr. Kellerman nicht anrufen zu können war eine Enttäuschung, aber ich war fest entschlossen, am Abend darauf zu dringen. Ich schenkte mir eine zweite Tasse von dem süßen Tee ein und lehnte mich zurück, um eine Weile meinen Gedanken nachzuhängen. Ich glaube, es war eine Art Flucht, ein Verteidigungsmechanismus, der die Gegenwart aus meinem Sinn verdrängte und mich in die Vergangenheit abdriften ließ. Ich wollte nicht an John Teadwell oder Adele oder den Schakal oder die Männer denken, die mir nach dem Leben trachteten. Ich wollte mich mit etwas Vertrautem trösten, mit etwas Warmem und Angenehmem. So dachte ich an Dr. Kellerman. Du hast mir vorgeworfen, zu pedantisch zu sein, sagte mein Geist zu seinem Bild, das mir vorschwebte. Du hast immer gesagt, ich sei zu ordentlich und zu organisiert. Dann schau mich doch jetzt einmal an, wo ich aus einem Koffer lebe, in
Freizeithosen und Bluse herumlaufe und mich irgendwo in Kairo in der Wohnung eines seltsamen Mannes verstecke, mit dem Schakal, der wie eine verborgene Waffe in meiner Seite steckt.
Ich hatte alles um mich herum vergessen. In meiner Träumerei von Dr. Kellerman und vergangenen Dingen war ich der Gegenwart entglitten. Wieder war es der Muezzin und sein geheimnisvoller Singsang, der mich auf den Boden der Wirklichkeit zurückholte. Zum x-ten Mal erhob ich mich und ging zum Fenster, spähte durch die Läden hinaus, hielt nach verdächtigen Personen Ausschau und wandte mich, in bezug auf meine Sicherheit etwas beruhigter, wieder ab. Falls irgendwer diese Wohnung bewachte, dann stellte er sich verdammt geschickt dabei an.
Ich lief eine Zeitlang hin und her. Das Kopfweh klang allmählich ab und damit auch die ständige Erinnerung an die Gefahr, in der ich schwebte. Vielleicht war das alles ein wenig zu melodramatisch, begann ich zu denken. Gewiß gab es auf alles eine einfache Antwort. Dann schoß mir ein anderer Gedanke durch den Kopf. Einer, der mir erstaunlicherweise vorher nicht gekommen war, obwohl er eigentlich nahe lag. Die Arme in die Seite gestemmt, hielt ich mitten im Zimmer inne.
Diese Frage hatte sich ganz zufällig unter meine ziellosen Gedanken gemischt und mich zusammen mit den anderen Ängsten und Zweifeln überfallen: Wo war Adele? Was bedeutete der Schakal? Wer war Achmed Raschid? Warum sollte ich ihm vertrauen? Warum sollte ich glauben, daß nicht er John umgebracht hatte?
Und außerdem. warum sollte ich ihm eigentlich glauben, daß John tot sei?
Angesichts dieser Möglichkeit sank ich auf der Couch in mich zusammen und starrte bestürzt auf meine Hände. Allmächtiger, es war ja denkbar, daß John noch am Leben war und nach mir suchte und noch immer mein Freund war und überhaupt nicht das, was Achmed Raschid von ihm behauptete. Aber wie sollte ich dann seine Zusammenkunft mit dem dicken Mann verstehen, und warum hatte er ohnmächtig auf dem Boden gelegen?
Jetzt begann mein Kopf wieder zu schmerzen. So wenig Gewißheit hatte ich in dieser dunklen Angelegenheit! Alles, dessen ich hier sicher sein konnte, war meine eigene Identität und daß ich noch im Besitz des Schakals war. Ich war nicht einmal mehr über den Wochentag auf dem laufenden. Wieder spürte ich Wut in mir hochkommen - diesmal aus Frustration über meine Hilflosigkeit und meine Unfähigkeit, irgend etwas alleine zu tun. Ich wollte die Situation im Griff haben, doch in Wirklichkeit war ich bloß eine hilflose Schachfigur. War John noch am Leben?
Es lag auf der Hand, daß ich schwerlich einen Beweis dafür finden würde. Und natürlich konnte ich auch nicht hinausgehen und nach ihm suchen. Nicht zurück ins Shepheard’s. Dieses Risiko war wirklich zu groß.
Dann stutzte ich abermals. Etwas erregte meine Aufmerksamkeit. Ich weiß eigentlich nicht, warum es mir auffiel, doch als ich an dem kleinen, gegen eine Wand geschobenen Eßtisch vorüberging, fiel mein Blick auf die zusammengefaltete Zeitung, die Achmed Raschid am Morgen mitgebracht und achtlos liegengelassen hatte. Als ich jetzt daraufschaute, überkam mich eine beunruhigende Vorahnung. Es war beinahe, als ob ich, ohne überhaupt in die Zeitung hineinzusehen, wußte, was sie enthielt.
Ich breitete sie mit der Titelseite nach oben auf dem Tisch aus, sah die verschlungenen arabischen Buchstaben der
Schlagzeile, sah das Foto des zugedeckten Körpers und den Kreis der Beine und Füße darum herum und stellte mir vor, daß die schnörkeligen Schriftzeichen der Bildunterschrift besagten, daß in einem der feinsten Kairoer Hotels ein Mord geschehen war.
Tränen stiegen mir in die Augen. Erneute Trauer über Johns Tod, und diesmal sah ich ihn, wie ich ihn zuletzt gesehen hatte. Wahrscheinlich war meine Phantasievorstellung, daß John ja eigentlich gar nicht tot sei, ein schwacher Versuch meines überstrapazierten Hirns gewesen, sich an der kleinsten Hoffnung festzuklammern. Der Versuch war fehlgeschlagen. So schön es gewesen war, sich für einen kurzen Augenblick vorzustellen, daß John wirklich lebte und daß der Araber mir nur Lügenmärchen erzählt hatte, so mußte ich jetzt den Tatsachen ins Auge sehen.
Das Geräusch von Schritten auf der Treppe riß mich aus meinen Gedanken. Ich drehte mich um und horchte. Anfangs weit entfernt, wurden die langsamen und gleichmäßigen Tritte immer lauter, bis ich merkte, daß sie sich der Wohnungstür näherten. Plötzlich verstummten sie, worauf man ein leichtes Pochen vernahm. Jemand klopfte an die Tür.
Ich stürzte sofort ins Schlafzimmer und warf die Tür hinter mir zu. Mit einer Hand an dem Schakal unter meiner Bluse öffnete ich sie gleich darauf wieder einen winzigen Spalt. Dicht dagegengepreßt, stand ich da und spähte mit einem Auge durch den Spalt. Ich hielt den Atem an. Als ich das Geräusch eines Schlüssels vernahm, setzte mein Herz einen Schlag aus. Langsam ging die Wohnungstür auf. Die Tür, die ich selbst gut zugedrückt hatte.
Ich wagte kaum zu atmen und preßte mein Gesicht gegen die Tür, während ich mit einem Auge wild nach draußen starrte. Im nächsten Moment trat eine Frau ins Zimmer, zog den Schlüssel ab und schloß dann leise die Tür hinter sich.
Es war eine junge Frau, die ich nie zuvor gesehen hatte, ungefähr in meinem Alter, mit pechschwarzem Haar, das ihr bis zu den Hüften reichte, dunkler, olivfarbener Haut und großen, suchenden Augen. Die Schlüssel in der einen Hand, eine Handtasche in der anderen, schaute sie sich in der Wohnung um. Sie schien zu lauschen. Ich hielt noch immer den Atem an und fragte mich, ob sie das Pochen meines Herzens hören konnte.
Dann rief sie: »Miis Hariis!« Ich fuhr zusammen. Sie horchte, sah sich abermals um und rief noch einmal: »Miis Harris!« Im Bruchteil einer Sekunde entschloß ich mich, ihr entgegenzutreten. Sie würde ohnehin nicht lange brauchen, um mich zu finden, und mich verängstigt im Schlafzimmer zu verstecken war nicht die Art von Eindruck, den ich bei ihr erwecken wollte. So beschloß ich, in der selbstsichersten und furchtlosesten Haltung, zu der ich mich zwingen konnte, direkt auf sie zuzugehen. Es kam gar nicht in Frage, daß ich mich gleich zu Anfang in die Verteidigung drängen lassen sollte. Ich riß die Tür auf. »Ja?«
»Oh, Miis Hariis!« Auf ihrem Gesicht machte sich ein strahlendes Lächeln breit. »Guten Tag.« Sie streckte ihre Hand aus. Völlig verwirrt ergriff ich sie, und wir schüttelten uns die Hände. Mit einem lächerlich schwerfälligen Akzent sagte sie: »Ich freue mich, Sie zu treffen, danke.« Als nächstes äußerte sie etwas auf arabisch. Als sie mein verständnisloses Gesicht sah, lachte sie, schüttelte den Kopf und deutete auf sich. »Asmahan«, stellte sie sich vor, »ich bin Asmahan.«
Ich hob erstaunt die Augenbrauen. »Guten Tag. Sie wissen ja schon, wer ich bin.«
»Aywa.« Dann sprudelte sie wieder auf arabisch los, und ich glaubte ein paarmal, den Namen Achmed herauszuhören. »Achmed?«
»Aywa!« Sie nickte lebhaft.
Obgleich ich noch immer verwirrt war, erkannte ich, daß mir von dieser jungen Frau keine Gefahr drohte. Sie hatte ein offenes, freundliches Gesicht und eine warmherzige Art. Sie lachte auch ganz ungezwungen und erschien nicht verdächtig. Nichtsdestoweniger blieb ich auf der Hut.
Asmahan schwatzte noch ein wenig weiter auf arabisch, so beiläufig, als ginge sie davon aus, daß ich jedes ihrer Worte verstünde. Dann wandte sie sich plötzlich von mir ab und verschwand in die Küche. Einen Augenblick blieb ich wie angewurzelt auf der Stelle stehen, während ich meinen Ellbogen gegen den Schaft aus Elfenbein in meinem Hosenbund preßte. Gleich darauf hörte ich das Klappern von Geschirr und das Rauschen von Wasser, und so beschloß ich, mich zu ihr zu gesellen. Asmahan kochte Tee.
»Guten Morgen, guten Tag, guten Abend«, plapperte sie in einer hohen Stimme. »Ich spreche Englisch. Wie geht es Ihnen?« Sie warf ihr langes, schwarzes Haar zurück und zwinkerte mir über die Schulter hinweg zu. Sie schien auf eine Reaktion von mir zu warten. Ich konnte nur lächeln.
So fuhr sie mit dem Teezubereiten fort, kochte das Wasser, maß die Teeblätter ab und überprüfte die Tassen auf ihre Sauberkeit. Die ganze Zeit über erweckte sie den Eindruck, als sei sie hier ganz und gar zu Hause und in vertrauter Gesellschaft.
Als der Tee fertig war und wir ins Wohnzimmer zurückkehrten, machte meine Besucherin einen weiteren Versuch, sich mir mitzuteilen.
»Ich spreche Englisch«, erklärte sie, als wir uns vor dem Tablett mit Tee und Gebäck auf der Couch niederließen, »so!« Und sie hielt ihren Daumen und Zeigefinger etwa einen Zentimeter auseinander. »Wenig«, fügte sie hinzu.
»Das habe ich mir schon gedacht. Und ich spreche leider überhaupt kein Arabisch.«
Asmahan zuckte die Schultern. »Ma’alesch. Tee bitte, Miis Harris.«
Ich nahm die Tasse von ihr entgegen, sog den süßen Minzeduft ein und trank. Ich hatte bis dahin noch gar nicht bemerkt, daß ich hungrig war. Oder daß es schon später Nachmittag sein mußte. Dann schob sie mir das Gebäck hin. »Miis Hariis, Achmed sprechen zu mir. Sie verstehen?«
»Und er hat Ihnen gesagt, daß Sie herkommen sollen?« Sie runzelte die Stirn.
So wiederholte ich es langsamer, und diesmal verstand sie. »Aywa. Achmed sagen, Miis Hariis hier ist. Wir sind Freunde, Sie verstehen?«
»Ich denke schon.«
Mein Instinkt riet mir zur Vorsicht. In Gegenwart dieser redseligen und lächelnden jungen Frau fiel es einem schwer, Abstand zu wahren. Und außerdem besaß sie einen Schlüssel zur Wohnung, hatte bereits meinen Namen gewußt und nach mir gesucht. Und jetzt behauptete sie auch noch, Achmed habe sie geschickt. Ich war sicher, daß ich mit meiner Schlußfolgerung gar nicht so falsch lag: Daß nämlich Asmahan seine Freundin oder Verlobte war, die er hierher geschickt hatte, entweder um mir Gesellschaft zu leisten oder um ein wachsames Auge auf mich zu haben oder beides. Sehr schlau. »Es ist sehr nett von Ihnen, daß Sie sich so um mich kümmern«, sagte ich und überlegte, wieviel Englisch sie wohl verstand. »Und der Tee schmeckt sehr gut.«
»Aywa.« Während sie trank, fiel ihr langes, schwarzes Haar nach vorn über ihre Schultern und umrahmte ihr hübsches Gesicht, wodurch ihre großen, dunklen Augen noch mehr zur Geltung kamen. Ich konnte leicht erkennen, was Achmed an ihr fand. Dann schwiegen wir. Es war zwar kein verlegenes Schweigen, aber eben doch Schweigen, so daß wir den Tee austranken und das (mir aufgedrängte) Gebäck verzehrten, ohne ein Wort zu sprechen. Hin und wieder schaute sie zu mir hinüber und lächelte, und ich lächelte schwach zurück. Aber das war alles. Und ich stellte fest, daß ich sehnsüchtig auf Achmeds Rückkehr wartete. Wir spülten gemeinsam die Tassen und die Teekanne, wieder schweigend, aber wir verkehrten trotzdem ungezwungen miteinander. Asmahan hatte eine Art, mit ihren Augen und ihrem Lächeln eine freundschaftliche Atmosphäre um sich her zu verbreiten. Während der merkwürdig schweigsamen Stunden, die wir an diesem Nachmittag miteinander verbrachten, mußte ich mir eingestehen, daß ich anfing, sie zu mögen.
Die Schatten auf der Straße wurden schon länger, als Achmed Raschid endlich in die Wohnung kam. Es überraschte mich nicht, daß ich eine Mischung aus Erleichterung und Freude empfand, ihn zu sehen, denn ich betrachtete ihn als meine einzige Verbindung zur Außenwelt und - hoffentlich - zu Adele. Ich vertraute ihm immer noch nicht, aber schließlich war er alles, was ich hatte.
Seine erste Reaktion, als er uns zusammen sah, war Überraschung, die sich schnell in ein Stirnrunzeln verwandelte. Asmahan sprang auf, rannte zu ihm hin und küßte ihn auf die Wange. Und dann plapperte sie in aufgeregtem Arabisch los, begleitet von lebhaftem Gebärdenspiel. Er nickte und antwortete hin und wieder mit einzelnen Worten, wobei er einoder zweimal zu mir herüberschaute, die ich stumm auf der Couch saß. Endlich, als Asmahan der Atem auszugehen schien, schob Achmed Raschid sie sanft beiseite und kam auf mich zu. »Es tut mir aufrichtig leid, Miss Harris, daß dies passieren mußte. Was für ein Schreck muß es für Sie gewesen sein!« Ich richtete einen verwirrten Blick auf Asmahan. »Ich bat Asmahan herzukommen, Miss Harris, um Ihnen
Gesellschaft zu leisten, denn es ist einsam für Sie. Aber ich hatte ihr gesagt, sie solle erst heute abend kommen, wenn ich wieder hier wäre. Doch Asmahan war zu begierig darauf, Ihnen zu helfen und Freundschaft mit Ihnen zu schließen. Ich erklärte ihr, Sie seien eine Besucherin unseres Landes, die Hilfe nötig habe, und in ihrer übereilten Gastfreundschaft kam Asmahan zu früh. Ich hätte Ihnen ihr Kommen angekündigt. Welch ein Schreck muß es für Sie gewesen sein, als sie so urplötzlich auftauchte!«
»Allerdings.«
»Dann verzeihen Sie mir, denn es war meine Schuld.« Sehr gewandt, dieser Mann. »Schon gut. Sie brachte es fertig, mir den Eindruck zu vermitteln, daß sie es gut mit mir meint. Doch zuerst wußte ich, ehrlich gestanden, nicht, was ich tun sollte.«
Achmed Raschid lächelte - dieses einnehmende, entwaffnende Lächeln. »Nun gut, jetzt werden wir erst einmal Tee trinken.« O Gott! Ich sprang auf. Offensichtlich bestand die Antwort der Ägypter auf jedes Problem darin, Tee zu bereiten. »Mr. Raschid, bitte berichten Sie mir, was Sie heute herausgefunden haben. Oder gibt es überhaupt nichts zu berichten?«
»Ich muß Ihnen sagen, daß es mir wiederum leid tut, denn wir haben nichts in Erfahrung bringen können.«
Haben Sie sich überhaupt bemüht? wollte ich am liebsten sagen, aber ich hielt meine Zunge im Zaum. »Und jetzt wollen wir essen. Sie sind sicher hungrig.«
»Das kann man wohl sagen.«
Er und Asmahan wechselten ein paar Worte auf arabisch, worauf sie kehrt machte und in die Küche eilte. Mein »Gastgeber« lächelte mir zu und meinte: »Asmahan möchte gerne etwas Besonderes für Sie zubereiten. Ich habe sie nicht darum gebeten, aber es ist ihre Art, Sie in Ägypten willkommen zu heißen.«
Kaum hatte er zu Ende gesprochen, da erschien sie auch schon wieder mit ihrer Handtasche und einer Papiertüte unter dem Arm. Ein paar Worte auf arabisch, und schon war sie aus der Wohnungstür. »Miss Harris, bitte nehmen Sie doch Platz.«
»Gibt es denn gar nichts Neues? Das Shepheard’s Hotel? Die Visumkontrolle? Können Sie mir gar nichts sagen?«
»Ich kann verstehen, wie Ihnen zumute ist, Miss Harris, und ich wünschte sehr, ich könnte Ihnen gute Nachrichten bringen. Aber es gibt nichts. Noch nicht.«
Wieder eine Enttäuschung. Aber sie traf mich nicht mehr so hart. Vielleicht gewöhnte ich mich bereits daran.
»Wie haben Sie und Asmahan sich verständigt?« erkundigte er sich. Mr. Raschid saß neben mir auf der Couch. Als er sich einmal nahe zu mir hinüberbeugte, nahm ich den schwachen Duft von Rasierwasser wahr. Seine Augen schienen mich eingehend zu mustern. »Ich weiß wirklich nicht. Sie sprach nicht viel Englisch, und ich kann kein Wort Arabisch.«
»Aber das stimmt doch nicht! Sie können schukran und sabah sagen. Und wenn Sie nicht verstehen, dann sagen Sie ma fhimtisch.«
»Asmahan wiederholte oft ein Wort. Ma'alesch. Was bedeutet es?«
Zu meiner gelinden Überraschung lachte er. »Es ist das wichtigste Wort im Arabischen! Es bedeutet >macht nichts<.«
»Oh!« Auch ich mußte nun lachen.
»Wenn Sie nicht verstehen oder nicht verstanden werden, dann macht das für Araber nichts aus. Es gibt etwas Wichtigeres als Worte. Es gibt Freundschaft. Sie und Asmahan sind jetzt Freundinnen, obwohl Sie keine gemeinsame Sprache besitzen. Verstehen Sie? Wenn sie mit Ihnen spricht und Sie verstehen nicht, sagt sie ma'alesch, weil es nicht wichtig ist. Alles, worauf es ankommt, ist die Freundschaft.«
Wie wohltuend einfach das doch war, und wie einfach für ihn. Keine komplizierten Beziehungen, keine Analyse der eigenen Gefühle, kein Nachsinnen darüber, welche Bedeutung einem anderen zukam. Nur schlichte und einfache Freundschaft. Ich fragte mich, ob er wirklich daran glaubte.
»Andere Worte, die Sie oft hören werden, sind ahlan wa sahlan und muhallabeya. Das erste heißt einfach >willkommen<. Sie werden in Kairo viele Leute treffen, die Ihnen ahlan wa sahlan zurufen, und wörtlich meinen sie damit >willkommen und Friede sei mit dir<. Muhallabeya bedeutet das hier.« Er tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe. »Es heißt, jemand ist verrückt. Muhallabeya ist eine Süßspeise, die wir aus Reis bereiten und die sehr beliebt ist. Wenn wir denken, daß jemand verrückt ist, sagen wir, er hat Brei im Kopf.« Ich lachte ein wenig. »Es ist doch überall dasselbe.«
»Wie interessant.«
»Ja«, ich rutschte auf der Couch hin und her, »ich glaube schon.« Jetzt hüllten wir uns beide in Schweigen, und es entstand eine peinliche Stille. Zumindest besaß er so viel Anstand, daß er aufhörte mich anzustarren, aber ich hatte den Eindruck, daß ihm noch hundert Fragen auf der Zunge lagen. »Sie müssen mir bitte verzeihen, Miss Harris, aber ich bin bisher mit so wenigen Amerikanern zusammengetroffen.«
Ich drehte mich überrascht um.
»Sie wirken seltsam auf mich. Nun. vielleicht ist das nicht der richtige Ausdruck. Aber in Ägypten haben wir auf privater Ebene wenig Kontakt mit Amerikanern. Für den Mann auf der Straße sind Amerikaner Leute, die in eleganten Luxusbussen von einem Hotel zum nächsten fahren. Sie schlendern selten über unsere Gehsteige oder besuchen unsere Geschäfte. Sie wohnen im Hilton und fahren im Bus zum Khanel-Khalili-Basar. Sie begeben sich in ihrem Bus zur Zitadelle und zu den
Pyramiden. Und sie essen in europäischen Restaurants. Sehr wenige unter uns haben die Gelegenheit, mit Ihresgleichen zu sprechen.«
Wieder dieser unverwandte, freimütige Blick. Ein betörender Blick, um es gelinde auszudrücken, aber ich würde ihm nicht erliegen. »Sicherlich wäre ein wenig kultureller Austausch interessant, Mr. Raschid, aber im Moment bin ich einzig und allein daran interessiert, zu erfahren, was Sie über Adele und diese Schakal-Geschichte wissen.«
Seine Gesichtszüge blieben in einem halben Lächeln erstarrt und veränderten sich nicht im geringsten bei dem Ton, den ich anschlug. »Ich habe das Recht, es zu erfahren«, fügte ich entschieden hinzu. Worauf Achmed Raschid mir direkt in die Augen schaute und nur sagte: »Vertrauen Sie mir.«
Wie einfach! »Vertrauen Sie mir«, sagte er, als ob damit alles geregelt wäre. Und war es eigentlich ein freundliches Ersuchen oder ein Befehl? Bat er mich oder gebot er mir? Möglicherweise war es auch nur ein rhetorischer Schnörkel und gehörte zu seinem reichen Wortschatz an Liebenswürdigkeiten. »Ich kann nicht«, erwiderte ich. Wir schwiegen für einen weiteren langen Augenblick, während dem ich im Hintergrund wieder die leisen Dissonanzen ägyptischer Musik vernahm. Es waren unterschwellige Klänge, die diesem fremdländischen Schauplatz einen kaum merklichen Hauch vollendeter Exotik verliehen.
»Sie werden mir schon noch vertrauen«, gab er schlicht zurück. Ob ich ihm seine selbstsichere Zuversicht verübelte oder ob ich in meiner Wut darüber, von John Treadwell manipuliert worden zu sein, noch immer Überreaktionen zeigte, vermag ich nicht zu sagen. Doch als Achmed Raschid versuchte, mich dazu zu bringen, ihm zu vertrauen, und mich von seiner Aufrichtigkeit zu überzeugen, bekämpfte ich ihn. »Sagen Sie mir, was los ist.«
Die kleinste Andeutung eines Lächelns zeigte sich in den Fältchen seiner Augenwinkel. »Ist es so wichtig, das zu wissen? Reicht es nicht, daß ich daran arbeite, daß Sie in Sicherheit sind und daß wir uns alle in Allahs Händen befinden?«
Ich schüttelte den Kopf.
Achmed Raschid fuhr fort mich zu fixieren. Was war es nur, das da hinter seinen Augen zu liegen schien? Welches Geheimnis? Oder hatte ich einfach zu viele Romane gelesen, zu viele Filme gesehen? Er war ein Mann, nichts weiter. Und in meinem Leben hatte ich schon viele Männer getroffen, im Beruf und natürlich auch im Privatleben, und ich hatte über den Rand von Operationsmasken hinweg schon in viele Augen geschaut. Aber nie zuvor hatte ich Augen wie diese hier gesehen. Oder vielmehr das Rätsel dahinter.
Plötzlich, als hätte er meine Unruhe gespürt, stand er auf. »Asmahan wird bald zurück sein, und wir werden dann essen.« Er tat ein paar Schritte von mir weg, hielt plötzlich inne und starrte vor sich. Als sich seine Stirn in Falten legte, folgte ich der Richtung seines Blicks und sah, daß ihm die aufgeschlagene Zeitung auf dem Tisch ins Auge gefallen war. Die Titelseite mit dem Foto! Wortlos ging er zu dem Tisch, nahm die Zeitung an sich, faltete sie zusammen und verschwand damit in der Küche. Kurz darauf erschien er wieder ohne die Zeitung, aber mit besorgtem Gesicht. »Es tut mir leid, daß Sie das gesehen haben, Miss Harris. Ich bedaure, daß ich so unachtsam gewesen bin.«
»Ist schon gut«, murmelte ich und stellte mir gleichzeitig die Frage, ob es wohl tatsächlich Zufall gewesen war. Einen Augenblick später und keine Sekunde zu früh kam Asmahan mit der vollen Papiertragetasche in beiden Armen durch die Eingangstür. Sie legte sofort in schnellem Arabisch los, redete auf dem ganzen Weg in die Küche, während Mr. Raschid ihr folgte, und plauderte munter weiter, als sie die Lebensmittel auspackte. Wie ich den beiden so zuhörte und die behagliche Vertrautheit zwischen ihnen erkannte, ertappte ich mich dabei, daß ich darüber nachgrübelte, wie lange sie sich wohl schon kannten und wann sie zu heiraten beabsichtigten. Jedoch schob ich solche müßigen Gedanken rasch beiseite, als Achmed Raschid mit einer Schale Orangen in den Händen ins Wohnzimmer zurückkam. »Asmahan wird ein besonderes Gericht für Sie zubereiten. Es macht ihr großes Vergnügen, Sie zu bekochen, denn sie nimmt an, daß Sie nie zuvor ägyptisches Essen gekostet haben.«
»Das stimmt.«
Er nahm mir gegenüber Platz, lächelte verständnisvoll und meinte: »Sie werden einen Festschmaus erleben.«
Er setzte sich in seinem Lehnstuhl bequem zurecht und machte sich daran, eine Orange zu schälen, während ich mich, noch immer auf der Kante der Couch sitzend, fragte, was jetzt wohl von mir erwartet wurde. Als ich mich erheben wollte, bedeutete mir Mr. Raschid sitzenzubleiben. »Sie sind unser Gast. Sie dürfen nicht in die Küche gehen.«
»Ich sollte doch helfen.«
Aber er lachte nur. »Asmahan wäre gekränkt. Bitte bleiben Sie.« So lehnte ich mich gemütlich auf der Couch zurück und zwang mich dazu, mich ein wenig zu entspannen. Mein Geist wanderte ziellos umher, während ich mit ausdruckslosem Blick auf Achmed Raschids braune Hände starrte, wie er die Orange schälte. Ich dachte an Rom, wo ich wenige Tage zuvor gewesen war und das mir jetzt so weit weg zu sein schien. Und ich dachte an Dr. Kellerman. »Können wir hinausgehen, damit ich meinen Anruf erledigen kann?« fragte ich plötzlich.
Achmed Raschid schaute mich überrascht an und schien mein Ansinnen einer sorgfältigen Prüfung zu unterziehen. Nachdem er eine Weile nachgedacht hatte, meinte er: »Vielleicht ist es nicht klug, Miss Harris. Es bedeutet, die Wohnung zu verlassen, auf eine Straße hinauszugehen und sich eine Zeitlang in der Öffentlichkeit aufzuhalten.«
»Aber Sie haben doch behauptet, ich sei sicher hier?«
»Ja, hier.« Er legte die halb gegessene Orange auf den Tisch und neigte sich mit besorgtem Blick zu mir hin. »Und in dieser Straße sind Sie es wahrscheinlich auch noch. Aber die Telefonzentrale ist ein kleines Stück entfernt. Arnold Rossiters Leute könnten sich in der Nähe aufhalten. Und wäre es nicht möglich, daß sie in den Telefonzentralen nach Ihnen Ausschau halten? Könnten sie nicht vermuten, daß Sie versuchen würden, jemanden anzurufen? Ich halte es für zu riskant.«
Der vertraute Zwiespalt, der mir allmählich zur Gewohnheit wurde - der Versuch, mit logischer Argumentation gegen meine gefühlsmäßigen Wünsche anzukämpfen -, kam wieder in mir auf. Ich wußte, daß er recht hatte, aber ich wollte den Anruf tätigen. »Um Himmels willen, wie viele Telefonzentralen gibt es in Kairo? Rossiter hat doch bestimmt nicht hundert Leute, die für ihn arbeiten!« Raschid sah mich nachdenklich an.
»Ich würde nicht lange brauchen, um den Anruf zu erledigen. Die Wahrscheinlichkeit, daß mich einer von ihnen unter all diesen Menschen draußen entdeckt, ist praktisch Null.« Noch immer derselbe unveränderte Blick.
»Was bin ich eigentlich, Mr. Raschid, Ihr Gast oder Ihre Gefangene?«
Er schien sich seine Worte zu überlegen, bevor er antwortete: »Sie sind tatsächlich weder das eine noch das andere, Miss Harris. Sie sind hier unter meinem Schutz. Das heißt unter dem Schutz der ägyptischen Regierung. Der Ernst der Lage zwingt mich dazu, größte Vorsicht walten zu lassen. Ich kann Sie Ihr Telefonat nicht führen lassen.« Ich biß mir auf die Unterlippe. Aus irgendeinem Grund entwickelte ich ein verzweifeltes
Bedürfnis, mit Dr. Kellerman zu sprechen, ihm mitzuteilen, wo ich war, seine Stimme zu hören, meine Hand nach ihm auszustrecken. Gerade da kam Asmahan herein und verkündete auf arabisch, daß unser Abendessen fertig sei.
Ich genoß das Mahl in vollen Zügen. Ich hatte keine Ahnung gehabt, daß ich so hungrig war und daß ägyptisches Essen so köstlich sein konnte. Und auch die Gesellschaft war entzückend. Während der ganzen Mahlzeit pflegte Asmahan eine leichte, vergnügte Unterhaltung, ebenso natürlich, als verstünde sie Englisch genauso gut wie Arabisch. Achmed Raschid saß zwischen uns, dolmetschte und ließ mich die Namen aller Speisen, die wir aßen, nachsprechen. »Aisch baladi«, erklärte er, indem er einen runden Brotfladen nahm und ein Stück davon abriß. »So essen wir ful wa ta'ameya.« Und er tunkte es in den Teller mit pikanten, gebratenen Bohnen. Ich tat es ihm gleich und mußte das arabische Wort so oft wiederholen, bis es richtig klang. Wir aßen auch Linsensuppe, schurbet-ads, einen grünen Salat, salata chudra, Schisch Kebab und gebratenes Gemüse und zum Abschluß die Süßspeise, von der er mir erzählt hatte - muhallabeya.
Als ich Asmahan zu verstehen gab, daß es mir geschmeckt habe, und versuchte, ihr zu danken, warf Achmed Raschid dazwischen: »Wenn uns in Ägypten das Essen eines Freundes gemundet hat, dann sagen wir haniyan.«
So schaute ich Asmahan an und wiederholte: »Haniyan.« Worauf sie antwortete: »Allah yihanniki.«
»Asmahan hat Ihnen gesagt: >Möge Gott dir Glück
bescheren, dafür, daß du mir dies gewünscht hast. < Sie ist zufrieden, daß Sie zufrieden sind.«
»Nun, ich freue mich, daß sie sich freut.«
Wir lachten alle drei - auch Asmahan, als ob sie verstanden hätte -, und dann erhoben wir uns vom Tisch. Als ich Anstalten machte, beim Abräumen zu helfen, wurde mir abermals geduldig erklärt, daß ich als Gast mit einer Tasse Tee im Wohnzimmer auszuruhen habe. »Es ist eine Ehre für Asmahan, daß Ihnen das Essen geschmeckt hat. Sie will nicht, daß Sie zu ihr in die Küche kommen.«
Es dauerte nicht lange, bis Asmahan sich wieder zum Teetrinken zu uns gesellte, und wir verbrachten die folgende Stunde mit einer sehr leichten und müßigen Unterhaltung, die sich im wesentlichen um amerikanische Spielfilme und Filmstars drehte. Während wir plauderten und Achmed Raschid wieder dolmetschte, staunte ich über die Leichtigkeit, mit der ich mich dieser besonderen Situation angepaßt hatte. So ganz und gar nicht wie in meinem gewöhnlichen Leben, meinem privaten, ungeselligen und wohlgeordneten Leben, saß ich hier mit untergeschlagenen Beinen auf der Couch, trank ägyptischen Tee, als wäre es Coca-Cola, und lachte mit diesen beiden Orientalen, als ob ich sie schon Jahre kennen würde. Erst als ich versehentlich mit dem Ellbogen an dem noch immer unter meiner Bluse verborgenen Elfenbeinstab vorbeistreifte, wurde ich jäh daran erinnert, warum ich hier war, an die Vergänglichkeit des Augenblicks und an die Gefahr, in der ich schwebte. Weil ich von da an ständig an die unangenehme Wirklichkeit meiner Lage dachte, war ich nach einer weiteren Stunde froh, als Asmahan ihr Weggehen ankündigte. Ich hatte wieder das Bedürfnis, allein zu sein. Der Tag war recht lang gewesen, und ich hatte das Gefühl, mich von dem wirklichen Problem abgelenkt zu haben. Ich spürte ein starkes Verlangen nach Ungestörtheit, nach Zeit, um über Pläne nachzudenken, die ich bald für mich machen mußte.
Achmed Raschid half Asmahan in ihre Weste und schlüpfte dann in seine eigene Jacke. »Ich werde sie nach Hause begleiten und gleich zurückkommen.«
»Sie brauchen sich nicht zu beeilen«, erwiderte ich, da ich annahm, daß sie wohl gern eine Weile allein zusammen verbringen würden und daß ich ihre Privatsphäre störte.
»Ich werde mich nicht beeilen, Miss Harris, aber ich werde nicht lange ausbleiben. Schließen Sie aber bitte die Tür ab, wenn wir gegangen sind.«
Das tat ich und blieb an der Tür, bis ich ihre Schritte nicht mehr hören konnte. Dann lief ich zum Fenster und öffnete die Läden einen Spalt weit. Achmed Raschid und Asmahan erschienen unten auf dem Gehsteig.
Sie hatten sich untergehakt und verschwanden, eng nebeneinander laufend, im geschäftigen Gedränge. Ich kehrte wieder auf die Couch zurück und begann vor mich hin zu starren. Es war Nacht in Kairo. Die Straßen und Plätze wimmelten von Verkehr, Spaziergängern und Nachtschwärmern, von den Abertausenden von Menschen, die mit dem Nachlassen der Hitze nach Sonnenuntergang aus ihren Häusern strömten, um die prickelnde Atmosphäre von Kairo bei Nacht zu erleben. Straßenlaternen blinkten überall auf. Denkmäler wurden in Flutlicht getaucht. Schaufenster erstrahlten in hellem Licht, und von überallher drang Musik. Eine Stadt war zum Leben erwacht, und Achmed und Asmahan bildeten einen Teil von ihr. Ich dachte jetzt über die beiden nach. Sie war eine auffallend schöne junge Frau, und er war unleugbar ein ansehnlicher Mann. Ich beneidete sie. Ich beneidete sie um ihr gegenseitiges Einvernehmen, ihre stille Zuneigung und um ihr Vertrauen zueinander. Ich beneidete sie um das, was sie jetzt hatten, und um das, was noch vor ihnen lag. Ich war neidisch, weil ich bezweifelte, daß ich je dasselbe erreichen würde.
Und während eine Träumerei in die nächste überging, während Gedanken an andere Leute mich zum Nachdenken über mich selbst anregten, kam ich zu einer nicht allzu überraschenden Erkenntnis. Ich war dabei, mich zu verändern.
Es war nichts wirklich Greifbares, nur eine vage Eingebung ohne scharf umrissene Einzelheiten oder erkennbare Form. Diese Vorgänge spielten sich am Rande meines bewußten Denkvermögens ab, und nur eine schwache Ahnung davon drang an die Oberfläche. Ich spürte, daß ich mich veränderte, und doch konnte ich nicht klar umreißen, wie. Nur das Warum war offensichtlich. Mein geruhsames Leben war erschüttert, mein Wertesystem durcheinandergebracht worden. Die ganze Perspektive hatte sich gewandelt, und ich sah nun die Dinge aus einem anderen Blickwinkel. Nichts schien in den letzten paar Tagen so wie früher geblieben zu sein. Als Ergebnis dieses Wandels, den ich durchmachte, stellten sich andere Erkenntnisse ein. Zum hundertsten Mal an diesem Tag dachte ich an Dr. Kellerman. Ich sah ihn vor mir in seinem zerknitterten grünen Operationskittel, die Atemschutzmaske baumelte an seiner Brust, und seine Gesichtszüge waren von Erschöpfung und Anspannung gezeichnet. Dann malte ich mir aus, wie er einen Operationssaal betrat, wobei er durch seine bloße Anwesenheit augenblicklich Respekt gebot. Ich sah, wie seine klaren blauen Augen mir über die Maske hinweg zulächelten; Augen, die so viel gesehen hatten, die versucht hatten, so viel zu sagen, und hinter denen sich so viel verbarg.
Wie seltsam war es doch, daß es mir ausgerechnet jetzt, da ich, umgeben von ungewohnten Essensgerüchen und fremdländischer Musik, gemütlich auf der Couch dieses Unbekannten saß, daß es mir erst jetzt - und nie zuvor - zum Bewußtsein kam, daß Dr. Kellerman in mich verliebt war.
Ich sprang hoch, als die Tür aufging und Achmed Raschid hereinkam. Er konnte nicht länger als zehn Minuten weggewesen sein, und ich wunderte mich, wie er es fertiggebracht hatte, Asmahan so schnell zu verlassen. »Möchten Sie gerne etwas Tee, Miss Harris, oder vielleicht noch etwas zu essen?«
»O nein, danke.« Ich legte eine Hand auf meinen Magen, um ihm anzudeuten, wie satt ich war. »Ich bin eigentlich sehr müde und habe nur den Wunsch, ins Bett zu gehen.«
»Natürlich. Wenn Sie irgend etwas brauchen, ich werde noch ein wenig hier an meinem Schreibtisch sitzen und arbeiten. Bitte scheuen Sie sich nicht zu fragen.«
»Ich glaube, das wird nicht nötig sein. Danke. Schukran.« Ich fühlte mich etwas unbehaglich, als ich ihn im Wohnzimmer stehenließ und die Schlafzimmertür aufstieß. Und als ich mich erinnerte, daß es ja sein Bett war, in dem ich schlafen würde, und daß er selbst die Nacht im angrenzenden Zimmer verbringen würde, da war ich ziemlich peinlich berührt. Mir war auch der Gedanke gekommen, was Asmahan wohl darüber denken mußte, daß ich mich bei ihrem Verlobten einquartiert hatte. Und dann fragte ich mich, was er ihr über mich erzählt haben mochte. An der Schlafzimmertür zögerte ich. »Mr. Raschid, wie lange werde ich hier bleiben müssen?«
»Ich weiß nicht.«
»Tage? Wochen?«
»Das hoffe ich ehrlich nicht.«
»Und wie lange wird es noch dauern, bis Sie mir erzählen, warum ich hierbleiben muß? Ich meine, einmal abgesehen von der Gefahr, in der ich Ihrer Meinung nach schwebe. Ich glaube, da steckt noch mehr dahinter.«
Er lächelte freundlich. »Noch viel mehr, Miss Harris. Und ich versichere Ihnen, wenn ich fühle, daß es sicher ist, es Ihnen zu sagen, werde ich es tun.«
»Danke. Gute Nacht.«
Als ich die Tür schloß, rief er mir nach: »Tisbah ala cheer!« Ich lag lange in der Dunkelheit wach und konnte trotz meiner Müdigkeit keinen Schlaf finden. Mein Kopf war voller Gedanken: Merkwürdigerweise schien der Schakal Mr. Raschid nicht zu interessieren, und doch stand er irgendwie im Mittelpunkt des ganzen Geheimnisses. Zweimal waren meine Unterkünfte nach ihm durchsucht worden; ein Mensch war seinetwegen ermordet worden; und meine Schwester befand sich seinetwegen möglicherweise in ernster Gefahr. Doch Achmed Raschid schien nichts an ihm gelegen zu sein. Trotzdem, nur für den Fall, daß er mir gekonnt etwas vorgaukelte, stopfte ich den Schakal für die Nacht wieder in den Bezug des Kopfkissens.
Als ich schläfrig wurde und allmählich ins Reich der Träume abglitt, bestärkte ich mich selbst noch ein letztes Mal in einem Entschluß, den ich früher am Abend getroffen hatte. Morgen, ganz egal, was passierte, würde es mir irgendwie gelingen, aus der Wohnung herauszukommen und Dr. Kellerman anzurufen.