Kapitel 8.

Ich erwachte in völliger Verwirrung. Meine erste Empfindung war ein Schmerz im Hinterkopf. Aber es handelte sich um den vertrauten Schmerz, der von der Beule herrührte, und er beunruhigte mich nicht. Ich setzte mich mühsam auf, murmelte etwas vor mich hin, stöhnte ein wenig und warf, als ich endlich wieder voll bei Bewußtsein war, einen prüfenden Blick um mich herum.

Ich befand mich in einem mir völlig fremden Raum. Obwohl er nur spärlich beleuchtet war, reichte das Licht dennoch aus, um mich erkennen zu lassen, daß es sich nicht um ein Hotelzimmer handelte. Ebensowenig konnte dies das Büro eines Polizeibeamten oder eine Arztpraxis sein. Tatsächlich erkannte ich schon beim ersten flüchtigen Umschauen, daß ich mich in einer Privatwohnung befand. Es war ein Schlafzimmer. Ein schlichter Raum, der nur mit wenigen Möbeln ausgestattet war, in dem aber ein heilloses Durcheinander herrschte. Die Wände waren mit allen möglichen wahllos plazierten Fotos geschmückt, von denen einige gerahmt, andere ungerahmt waren. Der Spiegel des Toilettentisches war ebenfalls mit Fotos eingefaßt, viele davon verblichen und alt. Oben auf dem Toilettentisch lagen die üblichen Utensilien: Haarbürste und Kamm sowie sonstige Toilettenartikel, daneben eine zerknitterte Krawatte, geöffnete Post, Streichholzschachteln, ein altes Buch mit einem arabischen Titel. Andere Möbelstücke, wie das Bett, auf dem ich lag, und zwei kleine Sessel, standen auf einem schäbigen orientalischen Teppich. Jenseits der Tür hörte ich kein

Geräusch, obgleich unter dem Türspalt hindurch Licht schien. Und dann fiel es mir auf.

Voller Unruhe ließ ich meine Augen wieder zu dem Toilettentisch schweifen. Die Krawatte, das Rasierwasser, und die Tatsache, das nirgends ein Haarband oder Ähnliches zu sehen war, all dies konnte nur eines bedeuten: Daß ich mich im Schlafzimmer eines Mannes befand. Und man mußte nicht besonders scharfsinnig sein, um zu erkennen, daß dieser Mann ein Araber war.

Beherzt stieg ich aus dem Bett und lief nur mit Strümpfen an den Füßen zur Tür. Kein Geräusch. Wer auch immer da draußen war (denn man hatte mich sicher nicht allein gelassen), er verhielt sich verdammt ruhig. Ich öffnete die Tür einen Spalt weit und riskierte einen kurzen Blick. Alles, was ich sehen konnte, war helles Licht von zahlreichen Lampen. Obwohl ich noch immer nicht recht wußte, was mich da draußen erwartete, stieß ich die Tür vorsichtig ganz auf und trat in einen warmen, gut beleuchteten Raum. Irgendwo im Hintergrund tönte aus einem Radio leise arabische Musik, und ein ungewohnter, aber durchaus nicht unangenehmer Geruch erfüllte die Luft. Dieser Raum machte einen völlig fremdartigen Eindruck auf mich: weiße Wände, die mit Gemälden ägyptischer Altertümer geschmückt waren, Regale, auf denen sich antike Skulpturen dicht an dicht drängten, ein beachtlicher orientalischer Teppich, der den Fußboden fast ganz bedeckte. Auf einem sehr alten Fernseher standen eine Vase mit Trockenblumen und das Konterfei von Präsident Anwar As Sadat. Eine Couch war völlig mit Büchern überladen, und ein in der Nähe stehender Schreibtisch war ebenfalls mit Büchern, Papieren und Umschlägen bedeckt. Alle Fensterläden waren zugezogen, so daß ich keine Ahnung hatte, wie spät es sein mochte. Als Achmed Raschid, sich die Hände an einem Handtuch abtrocknend, aus einem angrenzenden Zimmer auftauchte, mußte ich ihn wohl sehr ungläubig angestarrt haben, denn er lachte und mußte sich mehrmals wiederholen, bevor ich ihn verstand. »Warum sind Sie so überrascht, Miss Harris? Sie wußten doch, daß Sie hierher kämen.«

Ich wich vor ihm zurück, verzog das Gesicht und runzelte die Stirn, während ich angestrengt versuchte, mich zu entsinnen. Doch meine letzte Erinnerung war, daß ich John Treadwell auf dem Fußboden liegend gefunden hatte. Danach war alles wie weggeblasen. »Sie haben das Hotel mit mir verlassen, und wir fuhren zusammen in einem Taxi. Erinnern Sie sich nicht daran?«

»Nein.« Meine Ratlosigkeit wurde immer größer. »Arme Miss Harris! Ich befürchtete, Sie würden sich nicht erinnern. Bitte setzen Sie sich. Ich werde Ihnen alles erklären.« Er machte eilig einen Platz auf der Couch für mich frei, half mir, mich zu setzen, und verließ dann für einen Augenblick das Zimmer. Gleich darauf kam er mit einem Tablett mit Tee und Keksen zurück. Er drückte mir eine Tasse und eine Untertasse in die Hand, setzte sich dann neben mich und fuhr fort: »Ich war gerade unterwegs, um Sie zu besuchen, als ich Sie in Mr. Treadwells Zimmer auf dem Fußboden fand. Es gelang mir, Sie wachzurütteln und aus dem Hotel zu begleiten. Ich kenne den Geschäftsführer recht gut und erklärte ihm, Sie seien eine Bekannte von mir und fühlten sich nicht gut. So habe ich Sie in einem Taxi hierher zu mir nach Hause gebracht. Erinnern Sie sich jetzt?«

Ich starrte einen Moment lang auf meinen Tee, bevor ich den Kopf schüttelte. Das Hämmern im Kopf klang allmählich ab, und mir fiel ein, daß ich wohl fürchterlich aussehen mußte. Zahllose Erinnerungsbilder gingen mir durch den Kopf, doch nur wenige ergaben irgendeinen Sinn. Eine dunkle Erinnerung an helle Lichter. Blitzende Lichter. Und Menschen. Viele

Menschen. Nein, ich konnte mir keinen Reim darauf machen und schüttelte abermals den Kopf. »Vielleicht ist es ganz gut so«, meinte er ruhig. »Bitte trinken Sie den Tee. Er wird Ihnen guttun.«

Ich nippte brav daran und wünschte, daß es Bourbon wäre, während ich den Mann über den Rand meiner Tasse hinweg beobachtete. Ich muß wie eine fluchtbereite Katze ausgesehen haben, denn er sagte: »Bitte seien Sie ganz unbesorgt. Hier sind Sie sicher.« Ich wollte entgegnen: »Wovor?«, aber statt dessen fragte ich: »Wie geht es John? Ist er in Ordnung?«

Mr. Raschid wandte die Augen ab. »Es passierte alles sehr schnell. Ich kam an der offenen Tür vorüber, sah Sie dort liegen. eine sehr peinliche Situation, Sie verstehen. Wäre ich im Shepheard’s Hotel nicht so gut bekannt.«

Ich stellte meine Tasse klappernd auf die Untertasse zurück, als ob ich die Wiederkehr meiner Stärke verkünden wollte. »Wenn Sie nichts dagegen haben, hätte ich gerne ein paar Erklärungen, Mr. Raschid. Wie zum Beispiel, wer Sie eigentlich sind und warum Sie mir gefolgt sind.«

Es senkte sich ein Schweigen herab, das schwer auf dem Raum zu lasten schien. Von allen vier Wänden schien das Echo meines Herzschlags widerzuhallen. Die Lage, in die ich nun plötzlich geraten war, gefiel mir überhaupt nicht. Ich war die Gefangene dieses Mannes. Und niemand wußte, wo ich war. »Ich bin Ihnen natürlich eine Erklärung schuldig, Miss Harris, und ich möchte auch gleich für alle Unannehmlichkeiten um Verzeihung bitten, die ich Ihnen vielleicht verursacht habe. Aber sehen Sie, eigentlich folgte ich nicht Ihnen, sondern Mr. Treadwell.« Ich blickte ihn verständnislos an. »Sie folgten John?«

»Ich wartete auf ihn, als er am Flughafen Leonardo da Vinci ankam, und folgte Ihnen beiden zum Hotel Palazzo Residenziale.« Mr. Raschid schaute einen Augenblick lang auf seine Fingernägel. Ich spürte, daß er sich seine nächsten Worte überlegte: Was er mir sagen und was er zurückhalten sollte.

»Und außerdem«, plapperte ich weiter, »wer sind Sie eigentlich, daß Sie Leuten auf Schritt und Tritt nachspionieren, und in was für eine Sache ist John verstrickt, die es angeblich erforderlich macht, ihn zu verfolgen?«

»Auf all das werde ich gleich zu sprechen kommen, Miss Harris, aber Sie müssen mir bitte erst einmal Gelegenheit geben, auszureden. Nun ja, ich bin Mr. Treadwell in Rom tatsächlich gefolgt, und ich hatte erwartet, daß er an jenem Tag nach Rom zurückkehren würde. Ich hatte jedoch nicht damit gerechnet, daß er in Begleitung - nämlich in Ihrer Begleitung -eintreffen würde. Deshalb beschloß ich, Sie eine Weile zu beobachten, um herauszufinden, in welcher Beziehung Sie zu John Treadwell standen.«

Mein Mund stand offen. »Was soll das heißen, Sie erwarteten, daß er an jenem Tag zurückkehren würde?«

»Mr. Treadwell hatte sich nur ein paar Tage vorher in Rom im Palazzo Residenziale aufgehalten.«

»Wie bitte?« Das Zimmer begann sich langsam vor meinen Augen zu drehen. Möglicherweise halluzinierte ich noch von dem Schlag auf meinen Kopf. »Sie meinen, John ist einige Tage, bevor er mit mir ankam, bereits in Rom gewesen?« Mr. Raschid nickte bedächtig.

»Moment mal, das glaube ich Ihnen aber nicht. Wer sind Sie überhaupt?«

»Das dürfen Sie gerne erfahren. Ich arbeite für die ägyptische Regierung. Ich bin ein Ermittlungsbeamter, wie Sie es ausdrücken würden.«

»Für die ägyptische Regierung?«

Er grinste. »Ich kann Ihnen meine Ausweispapiere zeigen, aber sie sind in Arabisch.«

Ich kniff die Augen zusammen. »Was für ein Ermittlungsbeamter?«

»Das darf ich Ihnen nicht genau sagen, Miss Harris, ebensowenig wie ein Agent Ihrer Regierung alle Informationen über sich preisgeben darf. Lassen Sie es mich so ausdrücken, daß ich in gewisser Weise ein Polizist bin, der mit Mr. Treadwells Überwachung beauftragt ist.«

»O Gott!« Verblüfft und erschüttert fuhr ich mir mit der Hand über die Stirn und versuchte, das alles zu verstehen. Ich ließ mir auch eine Minute Zeit, um mich zurückzulehnen und Achmed Raschid eingehend zu mustern. Dabei stellte ich zu meinem Erstaunen fest, daß er vielleicht doch nicht so unheimlich war, wie ich anfangs geglaubt hatte. Was ich vor mir sah, war ein dunkelhäutiger Mann Anfang dreißig. Er trug eine helle Hose im Jeansschnitt und ein weißes Hemd mit bis zu den Ellbogen hochgekrempelten Ärmeln. Er hatte kräftiges schwarzes Haar und ein ausdrucksvolles typisch orientalisches Gesicht. Er sprach mit einem merkwürdigen, faszinierenden Akzent und drückte sich stets mit besonderer Vorsicht aus. Ich traute ihm aber noch immer nicht.

Er trank noch ein paar Schluck Tee, bevor er weitersprach: »Als ich aus dem Gespräch mit Ihnen erfuhr, daß Sie mit Mr. Treadwell befreundet waren, dachte ich, daß Ihr Handeln mir einen Hinweis auf Mr. Treadwells Aktivitäten geben könnte.« Ich war zutiefst entrüstet, daß meine Privatsphäre so leichtfertig mißachtet worden war. Doch allmählich vermochte ich die Informationen, die Mr. Raschid mir gab, in einen Zusammenhang zu bringen. Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen.

»Er war im Palazzo Residenziale, einige Tage bevor ich dort ankam?«

»Ich habe ihn dort mit eigenen Augen gesehen.«

»Aber er hat niemals erwähnt.« Meine Stimme versagte. Ich schaute wieder zu Achmed Raschid auf und stellte fest, daß er mich mit unerschütterlichem Blick anstarrte. »Machen Sie weiter, sagen Sie es schon«, flüsterte ich, obwohl ich es nicht hören wollte. »Ich bin sicher, Sie haben es jetzt schon erraten, Miss Harris. John Treadwell kannte Ihre Schwester Adele.«

Ich kniff meine Augen fest zusammen, und als ich sie wieder öffnete, war das Zimmer noch immer da. Die schmuddeligen Wände, der orientalische Teppich, das Aroma des Tees, die kaum hörbare arabische Musik im Hintergrund, alles war noch da. Auch Achmed Raschid - der Geheimpolizist -, der Mann mit den geheimnisvollen Augen. »Wissen Sie, das kann ich gar nicht glauben.«

Er zuckte die Achseln. »Ich habe ja nicht behauptet, daß er sie gut kannte. Ich habe sie nur einmal dabei beobachtet, wie sie im Palazzo Residenziale zusammen beim Abendessen saßen.«

»War er dort als Gast registriert?«

»Ja, das war er, aber unter einem anderen Namen. Er und zwei weitere Männer teilten sich eine Suite und hatten sich unter dem Namen Mr. Arnold Rossiter eingetragen.« Mr. Raschid sah mich eindringlich an und schien eine Reaktion zu erwarten. Daß ich noch nie von einem Arnold Rossiter gehört hatte, mußte wohl ziemlich deutlich erkennbar gewesen sein.

»War einer von ihnen ein fetter, kleiner Mann mit dicken Brillengläsern?«

Er hob die Augenbrauen. »Ja doch! Was wissen Sie von ihm?« Das erklärte also das Geheimnis. John und der dicke Mann kannten einander tatsächlich. »Er ist in Ägypten. Ich sah ihn heute mit John, kurz bevor wir alle beschlossen, ein Nickerchen auf dem Fußboden zu machen.«

»Seine Freunde sind also mit ihm hier. Das überrascht mich nicht.« Ich rutschte unbehaglich auf der Couch hin und her.

Irgendwie war das alles zu phantastisch, zu heikel. Da saß ich nun in der Wohnung eines Ägypters, der von sich behauptete, ein Geheimpolizist zu sein und meinen Freund John Treadwell zu beschatten, der wiederum, wie sich herausstellte, mich belogen hatte, da er meine Schwester Adele in Rom kennengelernt hatte. Ich spürte, wie mir langsam flau im Magen wurde.

»John Treadwell kannte meine Schwester, nicht wahr? Das bedeutet also, daß er eigens nach Los Angeles flog, um sich auf dem Rückflug wie zufällig neben mich zu setzen und vorzugeben, Adele nicht zu kennen. Es tut mir leid, Mr. Raschid, aber das alles ergibt für mich wenig Sinn.«

»Für mich auch nicht, Miss Harris.«

»John wußte demnach, daß ich nach Rom kommen würde. Dann muß Adele ihm wohl gesagt haben, daß sie mich anrufen wollte, um mich herzubestellen. Wozu dann aber diese Heimlichkeit?« Natürlich wußte ich bereits die Antwort. »Er oder sein Freund muß derjenige gewesen sein, der meine Wohnung in Los Angeles durchsucht hat.«

»Ist sie durchsucht worden?« Er schien überrascht.

Ich schloß meine Augen und nickte. Mir wurde übel im Magen. »John wußte also auch, wer mich in Neros Goldenem Haus niedergeschlagen hat. Er war sogar daran beteiligt.« Mir wurde immer schlechter.

»Ich fürchte, das alles entspricht der Wahrheit, Miss Harris.« Achmed Raschid saß in abwartender Haltung vor mir, als erwartete er, daß ich noch etwas sagen würde. Nur noch etwas. Ich gab mich nicht gern geschlagen, aber ich hatte keine Wahl. »Dann wissen Sie also, daß ich den Schakal noch immer habe, nicht wahr?«

»Ja«, sagte er.

Ich hatte Mühe, den Brechreiz zu unterdrücken. Wir tranken weiter unseren Tee, als befänden wir uns auf einer

Gartenparty. Darauf brachte er eine Schale Orangen und ließ sich lang und breit über die Qualität ägyptischer Früchte aus. Ich hörte natürlich nicht zu, sondern versuchte, mir auf die ganzen verwirrenden Tatsachen einen Reim zu machen. Auch war ich plötzlich sehr traurig. Ich wollte nicht glauben, was dieser Araber sagte, und doch schien alles zuzutreffen. Zu entdecken, daß John Treadwell mich hintergangen hatte, war ein schrecklicher Schlag. Ich wußte nicht, was ich denken sollte.

Was hatte ich aber mit all dem zu tun? Und warum sollte ich es überhaupt glauben? Die Worte eines mysteriösen Fremden, der mich in seiner Wohnung gefangenhielt. Warum sollte ich glauben, was er über John Treadwell sagte? Über einen Mann, in den ich mich schon beinahe verliebt hatte. Er reichte mir eine zweite Tasse Tee, und ich starrte ungläubig darauf. »Hätten Sie nichts Heilsameres?«

»Wie bitte?«

»Bourbon, Scotch, Wodka oder Wein?«

»Bedaure, ich habe keinen Alkohol. Als Moslem trinke ich keinen. Vielleicht hätten Sie lieber Kaffee statt Tee, oder vielleicht Saft.«

»Nein.« Es war sinnlos. »Ganz und gar nicht. Der Tee ist schon gut.« Ich nippte daran, und er schmeckte wirklich köstlich. »Würden Sie mir jetzt eine andere Frage beantworten, Mr. Raschid?«

»Gewiß.«

»In was für eine Sache ist Mr. Treadwell da verstrickt?« Sein Lächeln wurde etwas kühler. »Es tut mir leid, Miss Harris, aber das ist vertraulich, und ich kann nicht.«

»Lassen Sie es mich anders formulieren.« Ich stellte meine Tasse ab und straffte meine Schultern. »Was ist das für eine Sache, in die John Treadwell verwickelt ist, in die meine

Schwester Adele hineingezogen wurde und in die ich jetzt ebenfalls verstrickt bin?«

»Miss Harris, ich habe aufrichtiges Verständnis für Ihre Gefühle, aber ich bin nicht berechtigt, darüber zu reden. Ja, Sie sind nun darin verwickelt, ebenso wie Sie glauben, daß Ihre Schwester darin verwickelt ist. Auch wenn sie vielleicht keine Schuld trägt.«

»Woran?« beharrte ich.

»Das kann ich nicht sagen.« Seine Stimme blieb ruhig und unverändert. »Bitte glauben Sie mir, es ist besser so. Je weniger Sie von der ganzen Angelegenheit wissen, desto sicherer ist es für Sie.«

»Jetzt hören Sie mir gut zu, Mr. Raschid, es ist mir völlig egal, ob Sie das Oberhaupt des ägyptischen CIA sind. Eine solche Behandlung muß ich mir nicht gefallen lassen. Wir haben eine Botschaft in diesem Land, an die ich mich sofort wenden kann. Sie werden es dort nicht sehr schätzen, daß eine amerikanische Staatsangehörige gegen ihren Willen von der ägyptischen Polizei festgehalten wird.«

»Miss Harris.«

». und man ihr nicht einmal sagt, warum.«

»Miss Harris, bitte. Ich verstehe ja Ihre Gefühle. Nun lassen Sie mich erklären. Ja? Zunächst einmal hält Sie die ägyptische Polizei, wie Sie es bezeichnen, nicht gegen Ihren Willen fest. Ich bin nicht die ägyptische Polizei, und Sie werden nicht festgehalten. Ich habe Sie nur zu Ihrer Sicherheit hierher gebracht.«

»Warum? Weil John und sein beleibter Freund einen Boxkampf miteinander hatten? Vielleicht haben sie sich darüber gestritten, wer die Hotelrechnung bezahlen soll. Ich weiß nicht. Aber ich war sicher in dem Hotel, dessen bin ich gewiß. Das Domus Aurea war anders. Ich weiß es zu schätzen, daß Sie mich vom Boden aufhoben und mir den Staub abklopften, aber es war nicht nötig, mich in irgendein Versteck von Ali Baba zu schaffen.«

Achmed Raschid versuchte, seine Belustigung zu verbergen, und mir fiel plötzlich auf, wie wirklichkeitsfremd ich geworden war. Das sah mir gar nicht ähnlich.

»Und außerdem«, fuhr ich in einem würdigeren, gefaßteren Ton fort, »würde ich gerne einmal wissen, was es mit diesem verdammten Schakal überhaupt auf sich hat und warum jedermann so bestrebt ist, ihn an sich zu bringen.«

»Leider, Miss Harris.«

»Ja, ja, ich weiß schon. Sie sind wieder mal nicht berechtigt, mir Auskunft zu geben. Sind Sie wenigstens dazu berechtigt, mich jetzt ins Hotel zurückzubringen?« Seine Miene verdüsterte sich schlagartig. »Dann werde ich also doch gegen meinen Willen festgehalten.«

»Nein, so ist es nicht richtig. Sehen Sie, was Sie vorhin gesagt haben, daß Sie keinen Schutz brauchten und im Hotel sicher seien. Die Sache ist gefährlicher, als Sie annehmen. Sie sind jetzt nicht mehr sicher in Ihrem Hotel, Miss Harris. Und Sie können nicht zurückgehen.«

»Aber warum?«

Schließlich schaute er zu mir auf und blickte mir so fest in die Augen, daß ich meinte, er hielte meine Handgelenke umklammert. Ich konnte mich nicht bewegen. »Was ist geschehen? Sprechen Sie doch«, flüsterte ich. »John Treadwell war nicht bewußtlos. Er war tot.«

Ich nahm das Zimmer nur noch undeutlich, wie aus großer Entfernung wahr, und der Ägypter schien vollends zu verschwinden. Mein Körper fühlte sich weich wie Pudding an, und mein Magen schien sich zu drehen. Bilder zogen an meinem inneren Auge vorbei. Vage Erinnerungen und bruchstückhafte Szenen. Hatte ich es wirklich gesehen, oder hatte ich alles nur geträumt? Der Weg aus dem Shepheard’s Hotel, meine Faust, die sich gegen meine Stirn preßte, Mr. Raschid, der seinen Arm um meine Hüfte gelegt hatte. und am Ausgang ein heilloses Durcheinander, blitzende Rangabzeichen, jemand, der rief: »Aywa! Aywa!«, grelle Lichter und Polizeiuniformen. »Jetzt erinnere ich mich«, murmelte ich. »Die Polizei war im Hotel.«

»Ein Zimmermädchen fand Sie beide in Johns Zimmer auf dem Boden. Ich bekam zufällig mit, als sie es an der Rezeption meldete, und beschloß, selbst nach oben zu gehen und nachzusehen. Sie, Miss Harris, versuchten gerade, aufzustehen. So half ich Ihnen. Wir brauchten einige Minuten, um die Empfangshalle zu erreichen, und als wir unten ankamen, war die Polizei auch schon da. Die allgemeine Verwirrung erleichterte unser Fortkommen. Dank meiner Papiere wurden wir durchgelassen.«

Ich starrte Mr. Raschid wie benommen an, wobei mein Kopf auf der Couchlehne ruhte.

Er berichtete weiter: »Das Zimmermädchen gab nur eine dürftige Beschreibung von Ihnen ab. Alles, was sie sagen konnte, war: > Amerikanische Frau, amerikanische Frau.< Es gibt viele Amerikanerinnen in dieser Stadt. Sie haben keine Beschreibung von Ihnen.«

»Aber mein Paß.« Bei allem, was er durchgemacht hatte, funktionierte mein Kopf noch immer. »Mein Paß ist doch noch an der Rezeption.«

»Ich habe ihn für Sie mitgenommen, zusammen mir Ihrem Koffer und Ihrer Handtasche. Zum Glück hatten Sie in Ihrem Zimmer noch nicht ausgepackt. Ich teilte meinem Freund am Empfang mit, daß Sie abreisen würden. Offenbar hatte John Treadwell Sie unter seinem Namen angemeldet, so daß Sie für das Zimmer nicht bezahlen mußten. Auf alle Fälle hat im

Moment niemand irgendwelche Anhaltspunkte, um nach Ihnen zu suchen. Die Polizei hat weder Namen noch Beschreibung.« Er versuchte sein Bestes, um zu lächeln. Mein Mund war ganz trocken, und ich konnte kaum die Zunge bewegen. »Was meinen Sie mit >im Moment

»Die ägyptische Polizei ist sehr gründlich, besonders wenn sich ein derart peinlicher und skandalöser Mord ereignet. Die Behörden erwarten von ihr, den Fall unverzüglich zu lösen. In Kürze wird sie daher ihre Akten auf alle Pässe hin untersuchen, die in den letzten paar Tagen registriert wurden. Der Ihre wird auch darunter sein, und es wird nicht lange dauern, bis sie durch ein Ausscheidungsverfahren auf Ihren Namen stoßen und nach Ihnen zu fahnden beginnen.«

»Mit der Beschreibung, die sie dem Paß entnommen haben.«

»Das ist nicht so wichtig wie die Tatsache, daß Sie in Kairo in kein anderes Hotel mehr gehen können. Die Polizei wird nach einer Amerikanerin mit Ihrer Paßnummer Ausschau halten.«

»Ich verstehe.« Ich setzte mich gerade hin und faltete die Hände in meinem Schoß. Vor mir sah ich John Treadwell auf dem Fußboden liegen, mit seinem jungenhaft zerzausten Haar, das mir so vertraut geworden war. Tränen traten mir in die Augen. Bevor ich anfing zu weinen, brachte ich gerade noch heraus: »Danke, Mr. Raschid, daß Sie mich dort

herausgebracht haben. Wenn Sie nicht gerade in diesem Augenblick gekommen wären.« Ich schüttelte den Kopf. »In Rom dachte ich, Sie wären mein Feind.«

»Aber jetzt sehen Sie, wir stehen auf derselben Seite.«

»Und welche Seite ist das?« Meine Stimme war scharf und bitter. »Wir wollen beide Ihre Schwester finden.«

Mit einem Mal hatten diese Worte keine Bedeutung mehr. Als ich mich auf der Couch zurücklehnte und meine Fingernägel in eine Orangenschale krallte, galt mein einziger

Gedanke John, dem lieben, sanften John, der so freundlich und hilfsbereit gewesen war. Jetzt war er tot, und ich wußte nicht einmal warum. Alles, was ich wußte, war, daß dieser Ägypter ihn ermordet hatte.

Als ich seine Hand an meiner Wange spürte, merkte ich, daß ich weinte, denn er wischte mir die Tränen ab. Dabei meinte er: »Wissen Sie, daß Allah uns immer glücklich sehen wollte und daß er uns deshalb das Lachen gab? Aber er gab uns auch die Tränen, um das Lachen noch süßer zu machen. Ich nehme an, Sie liebten John Treadwell. Es tut mir schrecklich leid, daß ausgerechnet ich Ihnen eine so schlimme Nachricht überbringen mußte.«

»Ich weine um den Mann, für den ich John Treadwell hielt, nicht um den Mann, der er wirklich war. Er hat mich von Anfang an belogen, wenn das, was Sie mir sagen, wahr ist. Und er hat mich bis zuletzt hintergangen. Und wenn ich Ihnen in bezug auf seine Freundschaft mit dem dicken Mann, deren ich zugegebenermaßen selbst Zeuge geworden bin, Glauben schenken soll, dann sieht es ganz so aus, als hätte John auch bei dem Zwischenfall im Domus Aurea seine Hand im Spiel gehabt. Einen solchen Mann könnte ich nicht lieben, und ich tue es auch nicht. Ich beweine den Verlust eines Menschen, den ich außer in meiner Vorstellung niemals gekannt habe.« Doch als ich so dasaß, eine halbgeschälte Orange in den Händen und salzige Tränen auf den Wangen, da fühlte ich, wie meine Trauer allmählich in Ärger und bittere Enttäuschung umschlug. Es wäre Zeitverschwendung, um einen Mann zu trauern, der mich zum Narren gehalten hatte. Dieser ganze Alptraum geriet langsam außer Kontrolle. Er war zu einer ernsten Angelegenheit geworden. Ein Mensch war ermordet worden, und um ein Haar hätte mich dasselbe Schicksal ereilt. Und das alles wegen des Schakals.

Ich schaute wieder auf Mr. Raschid. »Sie verstecken mich also vor der Polizei. Ist das nicht ungesetzlich?«

Er zuckte die Schultern, aber es war keine lässige Geste. »Sie haben John Treadwell nicht umgebracht, aber Sie wären auch nicht imstande, der Polizei zu sagen, wer es getan hat. Deshalb könnten Sie ihr nicht helfen, und mit Ihrer Verhaftung wäre wenig erreicht. Es wäre töricht, sich der Polizei zu stellen. Es wäre für alle Beteiligten die reine Zeitverschwendung und würde das Auffinden Ihrer Schwester nur verzögern. Ja, ich verstecke Sie vor der Polizei, und ja, es ist gegen das Gesetz. Aber es wird nicht für lange Zeit sein. Morgen wird meine Behörde umfassende Erklärungen abgeben und Sie der Polizei gegenüber vom Mordverdacht freisprechen.«

Ich biß in die Orange. Mr. Raschid hatte recht, sie schmeckte köstlich. Er beobachtete mich beim Essen mit seinem unsteten, scharfen Blick, der nichts von seinen Gedanken verriet. Er wußte mehr, viel mehr, als er sich anmerken ließ, und ich mußte es einfach herausfinden. »Mr. Raschid«, begann ich mit Bedachtsamkeit, »ich bin in eine schlimme Sache hineingezogen worden. Offensichtlich suchen Sie, die ägyptische Regierung, ebenso nach meiner Schwester wie ich. Allem Anschein nach war auch John in dieselbe Sache verwickelt wie meine Schwester. Und ich werde vielleicht bald von der ägyptischen Polizei wegen Mordes gejagt. Sie können wohl verstehen, daß ich Fragen habe, und es ist nur anständig, sie mir zu beantworten. Ich habe ein Recht, zu erfahren, in was ich da unwissentlich hineingeraten bin und an was für einer Sache John Treadwell beteiligt war, deretwegen er umgebracht wurde. Es ist auch mein gutes Recht zu wissen, warum Sie nach meiner Schwester suchen und welche Bedeutung dieser Schakal hat.«

»Ja, auf all das hätten Sie durchaus ein Recht.« Er lächelte geduldig und griff nach einer Orange. Während er sie schälte, sprach er weiter: »Doch glauben Sie mir, Miss Harris, es geschieht nur zu Ihrer Sicherheit, wenn ich Ihnen von diesen Dingen nichts erzähle. Sie sind besser dran, wenn Sie nichts wissen. Es sind noch andere Leute beteiligt, Leute, die vor nichts zurückschrecken würden, um an Informationen über Ihre Schwester zu gelangen. Und wenn Sie in deren Hände fallen würden.« Er hielt inne, um eine dramatische Wirkung zu erzielen.

»Leute wie dieser Arnold Rossiter, den Sie erwähnten.«

»Genau.«

»Dann verstecken Sie mich also auch vor ihm?«

»In der Tat, das ist zutreffend.«

»Warum sind Sie eigentlich so um meine Sicherheit besorgt, Mr. Raschid?«

»Weil ich, wenn Sie ermordet würden, vielleicht niemals Ihre Schwester finden würde.«

»Aha.« Wir saßen eine Weile schweigend da und lauschten der Musik, die leise an unser Ohr drang. Sie schien aus einer Wohnung in der Nähe zu kommen, das typische monotone Wehklagen ägyptischer Musik, das sich für mich immer gleich anhörte. Doch es war in seiner Fremdartigkeit auch faszinierend. Ich ertappte mich dabei, wie ich mit dem Fuß auf dem Teppich den Takt schlug. »Kann ich Ihnen noch etwas anderes anbieten, Miss Harris?«

»Nur Antworten, wenn es Ihnen beliebt.«

»Ich war Mr. Treadwell schon seit einiger Zeit gefolgt, um herauszufinden, welcher Art die. na, sagen wir mal, eine bestimmte Angelegenheit, war. In Rom sah ich ihn die Bekanntschaft von Adele Harris machen. Sie pflegten eine Weile freundschaftlichen Umgang miteinander. Dann flog Mr. Treadwell in die Vereinigten Staaten. Ich wußte, daß Ihre Schwester Ihnen den Schakal geschickt hatte, und mir war auch bekannt, daß sie Sie nach Rom bestellt hatte. Überrascht war ich indessen, als ich Sie mit John Treadwell ankommen sah. Ich konnte nicht sagen, ob Sie zu seiner Gruppe oder vielmehr zu Arnold Rossiters Gruppe gehörten, oder ob Sie, um es einmal so auszudrücken, mit Ihrer Schwester zusammenarbeiteten. Oder ob Sie völlig unbeteiligt waren, wovon ich jetzt überzeugt bin. Wir verließen Rom alle zusammen, nachdem Sie den Brief von Ihrer Schwester erhalten hatten. Ich hatte Treadwells Ermordung nicht vorausgesehen. Ich kann mir nicht vorstellen, warum sie es taten.«

»Arnold Rossiters Leute?«

»Ja, jedenfalls sieht es so aus.« Achmed Raschid runzelte die Stirn. »Das hat alles noch viel komplizierter gemacht.«

»Dann haben Sie mich also benutzt, um Adele zu finden. Und eigentlich ist es das, was Sie auch jetzt tun. Sie benutzen mich als Köder.«

»Ich fürchte, das ist die einzige Möglichkeit. Ihre Schwester hält sich entweder versteckt, oder sie wird irgendwo gefangengehalten. Welches von beiden auch der Fall ist, sie wird versuchen, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen.«

Das gab mir zu denken. Versteckt oder gefangen. Sehr interessant. »Und obgleich John Treadwell der Mann war, auf den Sie es abgesehen hatten, gehen die Ermittlungen auch nach seinem Tod noch weiter. Doch nun hat sich die Suche auf meine Schwester verlagert.«

»Sie war von Anfang an verdächtig. Aber jetzt ist sie unsere Hauptverdächtige.«

»In welcher Sache, Mr. Raschid?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Dann sagen Sie mir dieses: Hat Treadwell ihr den Schakal gegeben?«

»Das weiß ich nicht.« »So wäre es durchaus möglich, daß sie ihn in Besitz hatte, bevor sie ihn traf, und daß sie beide in diese >Angelegenheit< verstrickt waren, noch bevor sie sich in Rom kennenlernten?«

»Ja.«

»Mit anderen Worten, John machte sie ausfindig, um sich allein wegen des Schakals mit ihr anzufreunden. Als sie sich dann seiner entledigte, heftete er sich an meine Fersen.«

»So könnte es gewesen sein.«

»Was ich dann aber nicht verstehe, ist, warum John den Schakal nicht einfach an sich nahm, als wir gemeinsam in Rom waren. Er hätte gewiß mehrfach die Gelegenheit dazu gehabt.«

»Er tat es nicht, weil Sie für ihn wertvoller waren. Sie hätten ihn zu Adele geführt. Warum hätte er durch die Entwendung des Schakals sein gutes Verhältnis mit Ihnen zerstören sollen, wo er doch tatsächlich bereits beides hatte, nämlich Sie und den Schakal.« Ich nickte nachdenklich. »Er hatte uns beide, nun gut. Dann ist Adele also der Schlüssel zu dem ganzen Geheimnis.«

»Allerdings. Es muß jedoch nicht so schwerwiegend sein, wie Sie vielleicht vermuten. Ihre Schwester könnte ebenso unschuldig an der Sache sein wie Sie und ganz unabsichtlich hineingeschlittert sein. Das kann ich nicht beurteilen. Auf der anderen Seite könnte sie sich aber auch schwerer Verbrechen schuldig gemacht haben und in ernsten Schwierigkeiten stecken. Das wissen wir nicht, und das versuche ich eben herauszufinden.«

Ich schob mir eine weitere Orangenscheibe in den Mund und dachte eine Weile nach. »Wissen Sie, unter welchen Umständen meine Schwester Rom verlassen hat? Wußten Sie, daß es mitten in der Nacht war?«

»Nein, das wußte ich nicht. Sie war einen Tag da, und am nächsten Tag war sie verschwunden. Ich hatte sie fahrlässigerweise aus den Augen verloren. Ich weiß nicht, ob sie aus freien Stücken abreiste oder ob sie entführt wurde.«

Ich begann, ausdruckslos vor mich hin zu starren. Irgendwie fühlte ich mich von der Sache völlig losgelöst, als ob ich abseits stünde und das Ganze wie ein Spiel beobachtete. Diese Lydia Harris war in eine ganz dumme Affäre geraten, und es würde interessant sein zu sehen, wie sie sich wieder daraus befreite. Wenn es ihr überhaupt gelingen sollte. »Beschützen Sie mich außer vor der Polizei auch noch vor anderen Leuten?«

Sein Zögern war mir Antwort genug.

»Wer auch immer John getötet hat, könnte also auch mir nach dem Leben trachten. Warum hat man mich dann aber nicht gleich in Rom getötet und den Schakal einfach weggenommen?«

»Ich habe keine Ahnung, Miss Harris.«

Plötzlich riß ich die Augen auf und suchte das Zimmer nach meinem Koffer ab. Doch Mr. Raschid hatte meine Gedanken gelesen und meinte beruhigend: »Keine Angst, ich habe Ihre Sachen nicht angerührt. Der Schakal befindet sich immer noch in Ihrem Besitz.«

»Sie sind wirklich ein Polizist.«

Er lachte darüber und reichte mir eine bereits geschälte Orange. »Nicht ganz, aber für den Augenblick genügt es.«

»Und Sie arbeiten für die Regierung, was nur bedeuten kann, daß Adele in ein Verbrechen gegen den Staat verwickelt ist. Oh, was für eine böse Geschichte!« Ich war hundemüde und hatte große Lust, wieder loszuheulen. Es ist erstaunlich, wie sehr man sich selbst bedauern kann, wenn man bis zum Äußersten getrieben wird. Innerhalb von weniger als vierundzwanzig Stunden war ich in einer römischen Ruine beinahe umgebracht worden, war sodann an Bord eines Flugzeuges in den geheimnisvollen Nahen Osten geflogen, hatte die Spur meiner Schwester ein zweites Mal verloren, war sozusagen auf die Liste steckbrieflich gesuchter Mörder der ägyptischen Polizei geraten und in der Wohnung eines mysteriösen Mannes untergetaucht, der mir nicht sagen konnte, wer er war.

Wie von weither hörte ich meine müde Stimme fragen: »Was soll ich jetzt tun?« Es gefiel mir nicht, jemanden anderes um Rat zu bitten und so hilflos zu erscheinen. Ich war daran gewöhnt, selbständig zu handeln und auf eigenen Füßen zu stehen. Ich lebte in einer wohlgeordneten Welt, in der es keinen Platz für Überraschungen gab. Aber diese Welt lag Tausende von Meilen entfernt. »Ich fürchte, in ein Hotel können Sie nicht gehen. Die Polizei würde Sie finden. In meiner Stellung bei der Regierung bin ich zwar in der Lage, Sie vom Verdacht des Verbrechens zu befreien, aber dazu brauche ich Zeit. Und wer auch immer John getötet hat, wird natürlich in den Hotels nach Ihnen Ausschau halten. Es wäre mir daher lieber, wenn Sie hierblieben, wo Sie sicher sind.«

Bei diesem Vorschlag kniff ich die Augen zusammen. Denn für mich stand es beinahe fest, daß Achmed Raschid Johns Mörder war. Ich traute ihm noch immer nicht. »Sie sind sicher, solange Sie hier sind.«

Und dann wiederum, welche Wahl hatte ich schon? Welche Wahl hatte ich in meiner Lage, außer diesem Mann zu vertrauen und zu hoffen, daß er mir die Wahrheit sagte? Ich würde mir selbst bestimmt keinen Gefallen tun, wenn ich mich gerade jetzt verhaften ließe oder von dem Mann, der John Treadwell ermordet hatte, gefunden würde.

»Mein Zuhause ist Ihr Zuhause«, versicherte er. Ich glaube, ich starrte ihn in diesem Moment etwas ungläubig an, als er das Wort Zuhause gebrauchte. Hierbleiben? dachte ich verstört. Ohne zu versuchen, es zu verbergen, ließ ich meine Augen in dem Zimmer umherschweifen. Ich betrachtete die überall verstreuten Bücher und Papiere, das wirre Muster des Teppichs, die zugezogenen Läden an den Fenstern und die schäbige Couch, auf der wir saßen. Hierbleiben? Und wo genau war hier? In der Wohnung eines Mannes, der, wie ich zu wissen glaubte, Adele töten wollte. Ein Mann, der viele Behauptungen aufstellte, aber keine einzige davon durch Beweise untermauerte. Ein Mann, der dunkelhäutig war und mit einem fremden Akzent sprach und der verwirrende Augen hatte. »Sie trauen mir nicht«, stellte er nüchtern fest. »Nein.«

»Welche Wahl haben Sie, Miss Harris? Wollen Sie das Wagnis eingehen, daß ich möglicherweise kein Freund bin, und ins Hotel zurückkehren? Und Ihr Leben aufs Spiel setzen? Es ist jetzt Abend in Kairo«, sagte er ruhig, wie ein Mensch, der behutsam auf ein scheues Tier einredet. »Die Straßen sind dunkel und überfüllt. Selbst wenn Sie mir nicht vertrauen, stehen Ihre Chancen allein gegen mich besser als gegen die Männer, die Mr. Treadwell töteten.«

Ich fragte mit schwacher Stimme: »Woher soll ich wissen, daß Sie ihn nicht getötet haben?«

Mr. Raschid gab keine Antwort. Statt dessen hielt er mich weiterhin mit seinem geheimnisvollen Blick in Schach, und es gab keine Möglichkeit, die Maske zu durchdringen.

»Ich bin müde«, sagte ich schließlich, »und ich habe es auch einigermaßen satt. Ich bin nicht in der Stimmung, schwerwiegende Entscheidungen zu treffen. Schon gut, vielleicht haben Sie John umgebracht, vielleicht auch nicht, aber ich bin nicht in der Verfassung, mich auf irgendein Wagnis einzulassen. Sie hätten mich wahrscheinlich schon im Shepheard’s töten können, oder vielleicht warten Sie auch nur darauf, daß ich Adele finde, und erledigen uns dann gemeinsam.«

Ich preßte meine Hände gegen meine heißen Wangen und stellte fest, daß sie glühten. »Ich habe nur einen Wunsch, nämlich mich hinzulegen und in Ruhe gelassen zu werden.«

»Dann werden Sie also hierbleiben?«

»Ich habe doch wirklich keine Wahl, oder?«

Mr. Raschid lächelte. Dann stand er auf und räumte die Teetassen und Orangenschalen ab. Ich nutzte den kurzen Augenblick, in dem er weg war, um meine Lage einzuschätzen. Angenommen, er hätte John nicht getötet. Das hieße noch immer nicht, daß ich bei ihm sicher wäre. Was, wenn er mich von Adele fernhielt, statt darauf zu warten, daß ich sie fände?

Es gab die wildesten Möglichkeiten. Im Augenblick konnte ich nur meiner instinktiven Vermutung folgen, daß er war, wer zu sein er vorgab, und es dabei belassen. Immerhin hatte er mich vor der Polizei und allem, was eine Verhaftung mit sich gebracht hätte, bewahrt. Er hatte nicht meinen Schakal genommen und sich davongemacht. Und - ich sah mich in seiner Wohnung um, in der Wohnung dieses sonderbaren Mannes - ich schien hier in Sicherheit zu sein. Als Mr. Raschid zurückkam, stand ich würdevoll auf und gab ihm zu erkennen, daß ich wirklich müde war. Dies schien in letzter Zeit eine Art Dauerzustand bei mir zu sein, und ich fragte mich, wie es wohl wäre, sich normal zu fühlen.

»Ich habe noch ein anderes Zimmer, ein kleines Wohnzimmer, wo ich schlafen werde«, erklärte er.

Wieder blickte ich mich um. Diese Junggesellenwohnung hätte einen Großputz dringend nötig gehabt. Um so mehr, als ihr eine gewisse Ordnung völlig abging, obgleich dieser Eindruck vielleicht durch die Tatsache verstärkt wurde, daß es sich um das Heim eines Orientalen handelte und daß die Art der Möblierung auf mich ziemlich exotisch wirkte. Ich dachte an meine eigene Wohnung, an die rot-weiß-blaue Ausstattung mit blankem Chrom und Glas. Wenn sie auch nicht gerade hypermodern war, so hatte sie zumindest einen gewissen Schick und wurde peinlich saubergehalten.

Dieser Ort hier war mit allen möglichen Dingen vollgestopft und hatte eine starke persönliche Note.

Es schien so absurd zu sagen: »Es ist mir äußerst unangenehm, Sie zu stören«, und doch sagte ich es. Eine unheimliche Müdigkeit überkam mich, und mein Kopf begann noch mehr zu schmerzen. Ich wollte nur allein sein und schlafen. Und wenn es denn in der Wohnung dieses Fremden und in seinem Bett sein sollte. Mein Körper machte einfach nicht mehr mit.

Mr. Raschid öffnete die Tür des Schlafzimmers, in dem ich vorhin aufgewacht war. »Niemand wird erfahren, daß Sie hier sind, Miss Harris. Sie werden vollkommen sicher sein.«

Ich versuchte die Stimme und das Verhalten dieses unbekannten Menschen zu beurteilen und wunderte mich, warum ich ihm gerade jetzt so bereitwillig vertraute. Irgendwie mußte ich aus diesem Schlamassel herauskommen, mit oder ohne Adele, und in eine von mir vertrauten Maßstäben regierte Welt zurückkehren. Ich befand mich auf der anderen Seite der Erdkugel, weit weg von dem Alltag und den Freunden, die ich kannte, und das Gefühl, das diese Vorstellung bei mir hinterließ, war kalt und leer.

»Bitte«, forderte er mich auf, wobei er mit den Fingern meinen Ellbogen berührte, »es ist schon spät.«

»Ja, natürlich.« Ich bewegte mich wie im Traum, denn es kam mir tatsächlich so vor, als ob ich träumte. Als ich das Schlafzimmer betrat, sah ich meinen Koffer und meine Handtasche in einer Ecke stehen. »Geht es Ihnen jetzt besser?« fragte er hinter mir. Ich nickte. »Dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht, Miss Harris.«

»Warten Sie einen Moment.« Ich wandte mich um und hob hilflos die Arme. »Trotz allem vielen Dank«, sagte ich schwach. Er nickte. »Sie sind sicher. Niemand weiß, wo Sie sind. Und ich halte im Shepheard’s Hotel Ausschau nach Ihrer Schwester. Es ist wirklich ganz einfach.«

»Ich weiß, aber. nun ja, ich meine.« Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich je zuvor so um Worte gerungen hatte. Ich fröstelte in dem warmen Zimmer. Ich wußte nicht, was mir größeres Grauen verursachte: Johns Tod oder die Aussicht, daß mir in meiner derzeitigen Lage das gleiche widerfahren könnte. In meiner beruflichen Praxis als Operationsschwester war ich dem Tod in vielerlei Gestalt begegnet. Ich hatte den Tod in seiner gräßlichsten, widerlichsten Stunde gesehen. Und als junges Mädchen hatte mich der Tod persönlich getroffen, als er mir meine Eltern und meinen Bruder raubte. Deshalb waren der Tod und ich uns nicht fremd. Doch das hier war anders. »Waren Sie in ihn verliebt?« hörte ich eine sonderbare Stimme fragen.

Ich starrte Achmed Raschid ausdruckslos an. In meinem ganzen vorausgeplanten, wohlgeordneten und durchorganisierten Leben war ich niemals in irgendeinen Mann »verliebt« gewesen. Ich hatte mir auch niemals ernstlich die Frage gestellt, obwohl alle meine Freunde bereits zahllose »Liebesgeschichten« hinter sich hatten und obgleich jedermann von mir erwartete, daß ich schon längst den richtigen Mann gefunden hatte und wahrscheinlich bald heiraten würde. Doch es hatte sich für mich einfach nie so ergeben, und ich erklärte es mir stets mit meiner Vorliebe für ein zurückgezogenes Dasein. Und jetzt, da ich in diesem halbdunklen Raum mit den verblichenen Tapeten und der arabischen Musik im Hintergrund stand und in die Augen dieses mir völlig Fremden blickte, da zog ich plötzlich meine ganze Vergangenheit in Zweifel.

»Nein, ich war nicht in ihn verliebt gewesen, aber es tut mir leid, daß er tot ist.«

»Er ist bei Allah.«

»Wahrscheinlich.«

»Gute Nacht, Miss Harris.«

»Ja«, flüsterte ich, »und danke.«

»In Ägypten sagen wir schukran.«

»Schukran.«

»Affuan und gute Nacht.«

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