Am nächsten Morgen, nachdem ich aufgewacht war, bemerkte ich, daß Achmed Raschid nicht zu Hause war. Da ich mich ziemlich gut ausgeruht und um ein Vielfaches zuversichtlicher fühlte als in den letzten Tagen, war ich bereit, meine Lage nüchtern zu überdenken und eigene Pläne ins Auge zu fassen. Das erste, was ich tat, nachdem ich geduscht und den Schakal wieder unter meiner Bluse versteckt hatte, war, einen Blick auf den Schreibtisch zu werfen, an dem mein Gastgeber bis spät in die Nacht hinein gearbeitet hatte. Wenn ich erwartete, irgend etwas Aufschlußreiches über seine Stellung bei der Regierung (wenn es überhaupt stimmte) zu finden, so wurde ich enttäuscht. Die wenigen vorhandenen Schriftstücke waren alle auf arabisch und somit für mich ohne Wert. Ansonsten lagen verschiedene Bücher, auch diese nicht in Englisch, so etwas wie ein Katalog, Zeitschriften und einige Zeitungsausschnitte auf der Schreibtischplatte. Halb beschriebene Blätter, Papierfetzen mit hastig dahingekritzelten Aufzeichnungen und Zettel, die so aussahen wie Dienstnotizen, waren ebenfalls darauf verstreut. Aber auch diese waren auf arabisch und konnten mir daher nicht weiterhelfen. Als ich so auf das Durcheinander hinabblickte, fiel mir eine Bemerkung ein, die Dr. Kellerman einmal gemacht hatte, als er mich in meiner Wohnung besuchte. »Lydia Harris, ein ordentlicher, sauberer Schreibtisch ist ein Zeichen für einen kranken Geist.« Ich lächelte jetzt darüber. Mein eigener Schreibtisch zu Hause sah aus wie ein Museumsstück. Dieser hier strahlte Leben aus. Aber er gab mir keinerlei Aufschluß über den Mann, der ihn benutzte. Ich war auf den Gedanken gekommen, die Wohnung systematisch zu durchstöbern, nach irgend etwas zu suchen, das mir einen Einblick in die Identität meines »Beschützers« geben könnte. Wenn ich nur herausfände, welche Funktion er bei der ägyptischen Regierung innehatte, dann könnte ich mir unter Umständen zusammenreimen, in was für einer Art von Klemme Adele sich befand. Doch ich konnte mich nicht dazu überwinden, es zu tun. So neugierig ich auch war und so verzweifelt ich nach irgendeinem Lichtblick in diesem rätselhaften Dunkel suchte, es lag nicht in meinem Wesen, die Privatsphäre von jemand anderem zu verletzen. Und zu guter Letzt war der Gedanke, von Mr. Raschid auf frischer Tat ertappt zu werden, gelinde gesagt, ein Abschreckungsmittel. So stellte ich dieses Vorhaben auf meiner Dringlichkeitsliste hintan und nahm mir vor, nur im äußersten Notfall darauf zurückzugreifen. Jetzt und heute gab es etwas Wichtigeres zu tun.
Einen langen Augenblick spähte ich durch die Läden nach draußen, um festzustellen, ob sich dort etwas oder jemand Verdächtiges zeigte. Aber da war nichts. Die Straße führte ihr gewöhnliches rastloses Eigenleben und wußte nichts von dieser Wohnung und der Flüchtigen, die sich darin aufhielt.
Diesmal war ich nicht überrascht, als Asmahan hereinkam, und ich begrüßte sie freudig. Mit einem sehr hübschen Kleid, hochhackigen Schuhen und einem weitkrempigen Sonnenhut bekleidet, trat sie wieder mit einer Tasche voller Essen ein.
»Miis Hariis«, rief sie, während sie mit dem Fuß die Tür hinter sich zustieß. »Sabah el-cheer. Guten Abend.«
»Guten Morgen«, verbesserte ich sie.
Sie stellte die Tasche auf dem Tisch ab und führte die Unterhaltung auf arabisch fort. Als sie ihren breitkrempigen Hut von sich warf und ihr üppiges, langes Haar herabfallen ließ, versetzte mir der Neid einen kleinen Stich. Mein eigenes schulterlanges und in der Mitte gescheiteltes Haar war von einem durchschnittlichen Braun und glatt. Asmahans Haar dagegen war von einem eindrucksvollen Ebenholz-Schwarz mit bläulichen Strähnen, und ihre dichten, schweren Locken reichten bis an die Hüfte. Achmed Raschid konnte sich glücklich schätzen. Sie war eine schöne junge Frau.
Ohne ihren arabischen Wortschwall zu unterbrechen, packte sie die Einkaufstasche aus und stellte alles auf den Tisch: Dosen mit Fruchtsäften, einen Stapel Schokoladentafeln, eine Handvoll Kaugummi und eine Schachtel voll klebriger Kuchen. Das alles sollte wohl für mich bestimmt sein.
Als die Tasche leer war und ihre überreichen Gaben auf dem Tisch ausgebreitet lagen, wandte sie sich zu mir um und fragte mit einem reizenden Lächeln: »Gefällt Ihnen?«
»Ja, es gefällt mir. Schukran.«
»Affuan! Jetzt wir trinken Tee. Bitte setzen Sie sich.« Ich tat, wie mir geheißen, und machte mich auf eine weitere Portion dieses starken Pfefferminztees gefaßt, an dessen Einnahme alle paar Stunden ich mich allmählich gewöhnte. Während Asmahan in der Küche hantierte, beschäftigte ich mich in Gedanken mit dem Plan, über den ich den ganzen Morgen nachgesonnen hatte. Seine erfolgreiche Ausführung hing zu einem großen Teil davon ab, wieviel Asmahan von meiner Situation wußte und welche Anweisungen Achmed ihr in bezug auf mich gegeben hatte. Er hatte gesagt, sie sei hier, um mir Gesellschaft zu leisten, nichts weiter, und ich fragte mich, ob das wirklich stimmte.
Ein paar Minuten später gesellte sie sich mit dem süßen Tee und den von Fett triefenden Kuchenstücken zu mir. Eine Tasse guter, schwarzer Kaffee hätte zu beidem gepaßt, aber ich wollte nicht fragen, aus Angst, sie vor den Kopf zu stoßen. Während wir aßen und tranken, machte ich mehrere Versuche, eine Unterhaltung anzukurbeln. »Wie lange kennen Sie und Achmed sich schon?«
Asmahan sah mich verwirrt an, und es war offensichtlich, daß sie nicht verstanden hatte. So wiederholte ich es in vereinfachter Form: »Sie und Achmed?«
Noch immer schüttelte sie den Kopf. Wahrscheinlich verstand sie nicht, was ich wissen wollte, oder wußte nicht, wie sie ihre Antwort formulieren sollte, aber meine Frage hatte ich für klar gehalten. »Ich wollte, Sie könnten Englisch sprechen oder ich Arabisch.« Sie nippte an ihrem Tee und lächelte mir über den Rand ihrer Tasse hinweg zu.
Ich überlegte einen Moment, ob ich die Gelegenheit ergreifen sollte. Und als ich mich schließlich entschloß, es zu wagen, ließ ich die Katze geradewegs aus dem Sack und meinte: »Ich würde von Herzen gern ein Telefongespräch führen.«
»Telefon?« fragte sie.
»Ja, verstehen Sie?« Ich tat so, als hielte ich mir einen Hörer ans Ohr, und wählte eine Nummer.
»Ach, Telefon!« rief sie plötzlich. »Aywa, aywa!«
»Aber Achmed hat keines. Ich wünschte, ich könnte irgendwohin gehen.«
»Miis Hariis!« Mit einem freudestrahlenden Gesicht ergriff sie spontan meine Hand. Ein weiterer Schwall Arabisch sprudelte aus ihrem Mund, und ich glaubte, das Wort »Telefon« herauszuhören. Dann stand sie auf, ging zu den Läden, öffnete sie und deutete nach unten auf die Straße. »Telefon!« erklärte sie aufgeregt. Plötzlich war ich mit mir selbst zufrieden. Meine Vermutung, daß Asmahan nichts über meine wirkliche Lage wußte und daß Mr. Raschid ihr keine Anweisungen gegeben hatte, mich hinter Schloß und Riegel zu halten, hatte sich als richtig erwiesen. »Wir gehen!« rief sie aufgeregt. »Miis Hariis, wir gehen, ja?« Dann dachte ich etwas weiter. Allem Anschein nach hatte Achmed Raschid darauf vertraut, daß ich auf meine eigene Sicherheit achten würde, und geglaubt, daß ich nicht so unvernünftig wäre, die
Wohnung auf eigene Faust zu verlassen. Nun, jetzt war ich drauf und dran, unvernünftig zu sein. Schließlich konnte keiner meiner anonymen, geheimnisvollen Gegner wissen, wo ich war. Raschid selbst hatte mich davon überzeugt. Und ein harmloser Ausflug zur Telefonzentrale würde ohnehin nicht lange dauern; es war nicht weit, und es war heller Mittag über Kairo. Wie sollte es irgend jemandem möglich sein, mich unter diesen Millionen von Menschen zu entdecken? Ich trat zu Asmahan ans Fenster und spähte hinunter. Eine riesige Menge von Passanten zog wie ein Fluß unter uns vorbei. Jeder von ihnen hatte sein eigenes Ziel vor Augen, und keiner schenkte dieser Wohnung auch nur die geringste Beachtung. Ich sah dem Gedränge eine Weile zu und fühlte mich schließlich wieder in meiner Sicherheit bestätigt. Achmed Raschid hatte recht. Keiner von Rossiters Leuten kannte mein Versteck. Es wäre so einfach, schnell hinauszugehen, den Anruf zu tätigen, einen beruhigenden Moment lang mit Dr. Kellerman zu plaudern und danach schleunigst zurückzukehren. Es konnte nicht schiefgehen. Ich würde mich ja sowieso in Begleitung von Asmahan befinden. Niemandem würden zwei junge Frauen auffallen, die zusammen spazierengingen. Insbesondere - ich drehte mich um und blickte auf den breitkrempigen Sonnenhut auf dem Tisch - insbesondere ein ägyptisches Mädchen mit einer Freundin, deren Gesicht verborgen war.
Mein Herz begann wie wild zu schlagen. Natürlich würde es klappen!
Ich wurde ganz aufgeregt. Gleich würde ich mit Dr. Kellerman sprechen, würde seine Stimme hören, meine Augen schließen und mir vorstellen, daß er hier bei mir wäre. »Können wir gehen?« fragte ich Asmahan.
Sie war ein gefühlsbetontes, leicht erregbares Wesen und ließ sich offensichtlich von meiner eigenen plötzlichen Aufregung anstecken. Sie mußte es für ein Abenteuer halten. »Aywa!«
Dann sagte sie etwas auf arabisch und lachte. Ich rannte noch einmal schnell ins Schlafzimmer - in aller Eile, denn ich wollte nicht erleben, daß sie es sich plötzlich aus irgendeinem Grund anders überlegte -, packte meine Handtasche, versicherte mich, daß der Schakal sicher unter meiner Bluse steckte, und entschloß mich im letzten Augenblick, eine Jacke anzuziehen. Damit wollte ich verhindern, daß man meine weißen Arme in der dunkelhäutigen Menge erkennen könnte.
Als wir uns zum Gehen anschickten, warf ich einen bewundernden Blick auf ihren Hut, bemerkte, wie schön er doch sei, und war froh, als sie mir anbot, ihn aufzusetzen. Asmahan berührte mit der Fingerspitze meine Wange und deutete dann auf ihr eigenes Gesicht, um auf den Unterschied unserer Teints hinzuweisen. Dann zeigte sie mit dem Finger nach oben, beschrieb einen Kreis in der Luft und berührte abermals meine Wange. Übersetzt sollte das wohl in etwa bedeuten, daß ich diejenige sei, die den Hut tragen solle, da meine Haut unter der sengenden Sonne eher leiden würde. Ich blieb kurz vor dem Spiegel neben der Tür stehen. Von meinem Gesicht war wenig zu erkennen, denn ich hatte zusätzlich noch eine große Sonnenbrille aufgesetzt, die zusammen mit dem Schatten der Hutkrempe dazu beitrug, das meiste von meiner Hellhäutigkeit und meiner Identität als Amerikanerin zu vertuschen. Dann hing ich mir den Riemen meiner Handtasche über die Schulter, überlegte noch einmal flüchtig, was ich tat, beschloß, den einmal gefaßten Plan durchzuführen, und öffnete die Tür.
Nicht einmal, als wir zusammen ins strahlende Sonnenlicht der Straße hinaustraten, erkannte ich die wahre Bedeutung dessen, was ich tat. Ich hatte mir diesen Plan aus mehreren Gründen ausgedacht. Der erste und wichtigste bestand darin, mit Dr. Kellerman Kontakt aufzunehmen und ihm zu versichern, daß mit mir alles in Ordnung sei. Ein weiterer
Grund war, daß ich alles getan hätte, um aus dieser Wohnung herauszukommen. Es war nervenzermürbend, in der Wohnung eingesperrt auszuharren und mich ständig zu fragen, wo ich eigentlich war, von wessen Gunst ich abhing und wie lange das alles noch so weitergehen sollte. Ein dritter, mir weniger bewußter Grund, mich ins Freie zu begeben, war, glaube ich, daß ich mir selbst etwas beweisen wollte. Ich brauchte den zweifelsfreien Beweis, daß ich in Mr. Raschids Wohnung tatsächlich sicher war und daß ich noch immer genug Mut besaß, jeder Herausforderung zu begegnen. Ich mußte die Gewißheit haben, daß die Mörder von John Treadwell mich schließlich doch nicht aus nächster Nähe beschatteten und daß ich mein furchtloses Wesen nicht allmählich dadurch verlor, daß ich mich hinter zugezogenen Fensterläden versteckt hielt. So zog ich an diesem Nachmittag in einer Art bewußt leichtsinniger Verwegenheit los. Und wegen des Befürfnisses, mit Dr. Kellerman zu sprechen, wegen der persönlichen Tests, denen ich mich unterzog, wegen des Lärms und der vermeintlichen Sicherheit des überfüllten Gehsteigs und der warmen Sonne auf meiner Haut, wegen alledem verschwendete ich keinen Gedanken an den Ernst meiner Handlungsweise. Ich war übertrieben zuversichtlich.
Meine Begleiterin und ich verschmolzen mit den Hunderten anderer Fußgänger, die den Gehsteig bevölkerten und die Straße beherrschten, und genossen unseren Spaziergang in der Sonne aus vollen Zügen. Überrascht stellte ich fest, wie nahe wir dem Zentrum von Kairo waren. Die Straße, die wir entlangliefen und in der Mr. Raschid wohnte, war eine der Hauptverkehrsstraßen, die den Namen Schari at-Tahrir oder At-Tahrir-Straße trug. Asmahan und ich liefen nicht weit, bis wir auf einen hektischen, lärmenden Kreisel von gewaltigen Ausmaßen stießen. Es war der Platz der Freiheit, Midan at-Tahrir, an dessen anderem Ende das Nil-Hilton-Hotel und das
Ägyptische Museum lagen. Praktisch direkt am Ufer des berühmten Flusses. Zu unserer Linken befand sich, von anderen Gebäuden verdeckt, auch das Shepheard’s Hotel. Achmed hatte an dem bewußten Nachmittag nicht weit mit mir fahren müssen.
Eine überwältigende Fülle von Eindrücken bot sich mir, begleitet von der ungewohnten Geräuschkulisse mit den fremdartigen Gerüchen dieser unglaublichen Stadt. Als wir anfangs in das helle Tageslicht hinausgetreten waren, war ich auf der Hut gewesen und hatte ängstlich jedes vorüberkommende Gesicht gemustert, unzählige Male über meine Schulter gespäht und auf verdächtige Geräusche gelauscht. Ich wußte nicht, wonach ich suchte, aber ich war sicher, daß ich es wüßte, wenn ich es fand. Doch als ich die heiße, strahlende Sonne spürte und mich von der knisternden Spannung des Lebens um uns her mitreißen ließ, verlor ich allmählich meinen Argwohn und begann schließlich, diese prickelnde, neue Erfahrung völlig entspannt zu genießen.
Die Telefonzentrale befand sich vier Straßen weiter und einen halben Häuserblock vom Platz der Freiheit entfernt. Wir mußten Straßen mit irrsinnigem Autoverkehr überqueren, wurden in die an den Bordsteinkanten wartenden Menschenmassen hineingedrängt und bahnten uns einen Weg über beschädigte Gehsteige. Die Menschen waren faszinierend. Da gab es alles, angefangen von jungen Männern und Frauen in vertrauter westlicher Kleidung bis zu Greisen in den traditionellen langen galatias. Da sah man gänzlich in Schwarz gekleidete Bäuerinnen, fromme Musliminnen mit Schleier vor dem Gesicht, Eseltreiber, »Bakschisch« rufende Straßengören, Schwarze, Orientalen und Amerikaner und Europäer. Sie alle füllten die lärmenden Straßen mit Leben, lauter Unterhaltung, Gelächter, Geschrei und Hupen.
Als wir in die Telefonzentrale eintraten, empfand ich die Stille als äußerst wohltuend. Es war ein Raum mit einer kleinen Ladenfront, großen Fenstern und einer Schwingtür, die sich geräuschlos schloß. Wir brauchten einen Moment, um unsere Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen - ich setzte meine Sonnenbrille nicht ab -, und meine Ohren summten in der Stille noch von dem Lärm draußen. Die kleinen türlosen Telefonkabinen waren rings herum an den Wänden angebracht, und einige standen auch wie eine Insel in der Mitte des Raumes. Mehrere dieser Kabinen wurden gerade benutzt, wobei sich die Leute so vertraulich wie möglich in die kleinen Zellen drängten, leise murmelnd sprachen und niemandem anderen Beachtung schenkten. Ein einfacher, bescheidener Schalter befand sich links vom Eingang. Dahinter saßen drei Frauen, die ein Schaltpult bedienten. Etwas rechts von diesem Schalter, an einem kurzen Mauerstück, stand eine Holzbank.
Asmahans Beispiel folgend, ging ich auf den Schalter zu und wartete, bis eine ungeheuer fettleibige Frau in einem geblümten Kleid aufstand, um uns zu bedienen. Asmahan übernahm das Reden und ergatterte nach einer Minute einen Zettel, auf den ich bestimmte Auskünfte schreiben sollte. »Sprechen Sie Englisch?« fragte ich hoffnungsvoll.
Die Frau nickte. Sie schien gelangweilt. »Sie werden hier den Namen und die Telefonnummer der Person angeben, die Sie anrufen wollen. Dafür werden Sie mich jetzt gleich bezahlen und warten, bis der Anruf beendet ist. Dann werden Sie mich für alles bezahlen. Verstehen Sie?«
»Ja, ja, danke.« Ich nahm den Bleistiftstummel, den sie mir reichte, und hielt meine Hand schreibbereit über das Papier. Welche Nummer sollte ich ihr geben? »Wissen Sie zufällig, wie spät es in Los Angeles ist?«
Sie warf einen Blick auf die Uhr an der Wand, dachte einen Augenblick nach und meinte dann: »Zehn Uhr abends.«
»Zehn Uhr. Oh, um Himmels willen. Nun, das ist eigentlich zu spät fürs Krankenhaus.« Da ich aber wußte, zu welch merkwürdigen Zeiten Dr. Kellerman bisweilen noch arbeitete, beschloß ich, ihr trotzdem die Nummer der Krankenhauszentrale zu geben. Auf diese Weise würde ich ihn erreichen, egal, wo er sich gerade aufhielt. Als sie mich davon unterrichtete, daß ich vor dem Anruf eine Gebühr zu entrichten habe, erinnerte ich mich an die ägyptischen Pfundnoten, die ich am Flughafen in der Nacht meiner Ankunft eingetauscht hatte. Ich zog einige der Geldscheine hervor und hielt sie der Frau zögernd hin.
»Es wird eine Weile dauern, die Verbindung nach Amerika herzustellen«, erklärte die fette Frau, während sie die Telefonnummer betrachtete. »Sie werden sich setzen, bis ich Sie aufrufe. Dann werden Sie zu einem Telefon gehen. Verstehen Sie?«
So ließen wir uns auf der hölzernen Bank nieder und falteten geduldig die Hände. Asmahan und ich warteten eine Ewigkeit, während der ich an nichts anderes dachte als daran, Dr. Kellermans Stimme zu hören. Ich hatte weder Gedanken für Achmed Raschid noch für Adele, noch für den Schakal, noch für den Tod von John Treadwell und auch nicht für die Gefahr, in der ich schwebte. Ich dachte ausschließlich an Dr. Kellerman und an den Trost, den mir der Kontakt mit ihm spenden würde.
Als die dicke Frau hinter dem Schalter nach mir rief, schnellte ich regelrecht von der Bank hoch. Sie reichte mir einen Notizzettel mit einer sorgfältig daraufgeschriebenen Nachricht und sagte mir dabei: »Die gewünschte Person kann nicht ermittelt werden. Es hieß, Sie sollten es später noch einmal probieren.«
Ich las in der reinlichen Handschrift der Telefonistin: Das Santa-Monica-Krankenhaus hat mitgeteilt, daß Dr. Kellerman an diesem Abend nicht zu erreichen ist. Im Notfall solle man Dr. Thomas anrufen.
»Verdammt!« murmelte ich enttäuscht. Da er seinen Bereich einem anderen Chirurgen übertragen hatte, gab es wohl keine Möglichkeit, Dr. Kellerman ausfindig zu machen. Mein einziger Ausweg bestand darin, es bei ihm zu Hause zu probieren. So füllte ich einen neuen Zettel aus, ließ Asmahan eine weitere Gebühr bezahlen und setzte mich wieder auf die Bank. Stunden schienen zu vergehen, ehe die dicke Telefonistin meinen Namen wieder aufrief. Inzwischen hatte ich bemerkt, wie anderen Leuten, die nach uns gekommen waren, längst Telefonkabinen zugewiesen worden waren. Sie hatten unendlich viel mehr Glück gehabt als ich, und so sollte es anscheinend auch bleiben. »Unter dieser Nummer nimmt niemand ab«, sagte die Matrone.
Ich verspürte Lust zu fragen: »Sind Sie sicher?«, aber ich erkannte noch rechtzeitig, daß es keinen Sinn hatte. Dr. Kellerman war einfach nicht aufzufinden und wollte nicht gestört werden. Deshalb ließ er sich durch Dr. Thomas vertreten, und deshalb nahm auch bei ihm zu Hause niemand ab. Ich war vollkommen niedergeschmettert. Ich schaute Asmahan an, als wollte ich gleich losheulen, und als sie meinen Gesichtsausdruck wahrnahm, tätschelte sie meine Hand und meinte: »Ana asif.«
»Ja, mir tut es auch leid.« Verdammt. Ich hatte solche Hoffnungen in diesen Anruf gesetzt. »Ich möchte es später noch einmal probieren.« Und zu der Frau sagte ich: »Wie lange haben Sie geöffnet?«
»Wir schließen in einer Stunde für drei Stunden und machen um fünf Uhr wieder auf. Dann schließen wir um zehn Uhr.«
»Gut, wir kommen zurück.«
Ich dachte fieberhaft nach. Asmahan und ich konnten in weniger als einer Stunde zurückkehren und es nochmals versuchen. Um diese Zeit wäre es fast Mitternacht in Los Angeles, was die Wahrscheinlichkeit erhöhen würde, Dr. Kellerman zu Hause anzutreffen. Wenn nicht, würden wir es um fünf wieder probieren, hoffentlich noch bevor Achmed Raschid nach Hause kam. Ich bat die Frau an der Telefonvermittlung, diesen Plan an Asmahan auf arabisch weiterzugeben, worauf diese ihre Zustimmung durch eifriges Nicken kundtat. Dann stellte sie mir eine Frage. Die dicke Frau dolmetschte: »Sie will wissen, was Sie in der Zwischenzeit tun möchten.« Ich zuckte hilflos die Schultern.
Asmahan redete schnell auf die Frau ein, wobei sie lebhaft gestikulierte und über ihre Schulter deutete. Danach wurde es für mich übersetzt: »Ihre Freundin möchte Ihnen gerne das Muski-Viertel zeigen. Sie sagt, Sie können zu Fuß dorthin gehen.«
»Wie weit ist es?«
Sie hob ihre massigen Schultern. »Nicht weit. Aber es ist eine lange, lange Straße.«
»Nun, was gibt es denn eigentlich in diesem Muski-Viertel?«
»Es ist zum Einkaufen. Sie werden sehen.« Und sie wandte sich ab, bevor wir sie noch weiter in Anspruch nehmen konnten. Unter einem üppigen arabischen Wortschwall ließ ich mich von Asmahan am Handgelenk aus der Telefonzentrale zurück auf die Straße ziehen.
»Ich weiß nicht recht.«, begann ich zögernd. »Miis Hariis. Itneen baad izzuhr.« Sie tippte an ihr Uhrglas und hielt zwei Finger in die Höhe. »Itneen baad izzuhr. Telefon.«
»Sind Sie sicher, daß wir um zwei zurück sind?«
»Aywa! Aywa!« Ihr Kopf bewegte sich rasch auf und ab, als sie sich bei mir unterhakte. »Jetzt wir gehen zu Muski. Sie sehen schöne Dinge. Kommen Sie.«
Es war nicht allein Asmahan, die mich dazu bewog, in unbekannte Teile der Stadt aufzubrechen, sondern auch das strahlende Sonnenlicht, der überfüllte Gehsteig und ein vollkommenes Gefühl von Sicherheit. Als ich im Vorübergehen mein Spiegelbild in den Schaufensterscheiben sah, stellte ich fest, daß ich so gut verkleidet war, daß ich mich im ersten Augenblick selbst nicht erkannte. Es war gut, draußen zu sein und spazierenzugehen und, sei es auch nur für kurze Zeit, zu vergessen, warum ich hier war.
Eine halbe Stunde später, mitten im Muski-Viertel, verlor ich Asmahan. Auf einmal wurden wir vor dem Stand eines Tuchhändlers zusammengedrängt, als wir eben dabei waren, die feinen Stoffe zu befühlen, und in der Menge nach Luft rangen. Im nächsten Augenblick glitt ihr Arm wie zufällig von meinem. Ich schenkte diesem Vorgang keine Beachtung, da ich glaubte, sie habe sich entfernt, um sich etwas anderes anzusehen. Es kam mir nicht einmal so recht zum Bewußtsein, was geschehen war, bis ich aufschaute, um sie etwas zu fragen.
Da fand ich mich mutterseelenallein wieder.
Ich brach zunächst nicht in Panik aus, und es geschah erst später, daß mir wahrhaftig angst und bange wurde. Aber als ich Asmahan auf den ersten Blick in die Menge nicht erspähte, setzte mein Herz einen Schlag aus. Ich bewahrte meine Ruhe und meinen Gleichmut und blieb zunächst auf derselben Stelle stehen, wobei ich hierhin und dorthin sah und jeden Augenblick erwartete, daß sie, eine Entschuldigung auf den Lippen, aus der Menge hervorträte. Aber sie kam nicht.
Hunderte von Menschen tummelten sich in dieser engen Marktstraße, und ein ohrenbetäubender Lärm von dröhnendem Schreien und Rufen verursachte mir Kopfschmerzen. Und dann erinnerte ich mich an das Domus Aurea. Nachdem ich so lange ich konnte auf diesem einen Fleck gestanden und mich immer wieder umgesehen hatte, beschloß ich schließlich, ein paar Schritte in die Richtung zu tun, in die sie meiner Meinung nach verschwunden war. Überall sah ich dunkle Gesichter und blitzende Augen, aber keine Asmahan. Auf einem Haufen Eselsmist geriet ich ins Rutschen. Ständig wurde ich von Leuten angerempelt, die von allen Seiten an mir vorbeieilten. Plötzlich ertönte über Lautsprecher das Geheul des Muezzins. Im ersten Moment erschrak ich und zuckte zusammen. Es war ein lauter, gellender Schrei, der auf dem überfüllten Muski von allen Seiten gleichzeitig zu kommen schien. Es roch nach Zwiebeln und Kokosnuß und ranzigem Parfüm. Der übelriechende, buschige Schwanz eines Tieres streifte an meinem Rücken vorbei. Ich stolperte über die holprigen Pflastersteine und rutschte auf Schalen, Öl und Exkrementen aus. Schmutzige, zerlumpte kleine Kinder zerrten an meiner Bluse und riefen: »Bakschisch! Bakschisch!«
Asmahan war wie vom Erdboden verschluckt. Jede Frau auf dem Basar hatte schwarze Haare. Einige sahen ihr zum Verwechseln ähnlich. Und je länger ich suchte, desto weiter wurde ich von unserem Ausgangspunkt weggedrängt. Wie leicht es war, vom Fußgängerstrom mitgerissen und weitergetrieben zu werden wie von einem tosenden Fluß. Plötzlich empfand ich die Sonne nicht mehr als himmlisch, und ich bereute es, so rasch und unüberlegt gehandelt zu haben. Wir hatten ein ziemliches Stück laufen müssen, um das Muski-Viertel zu erreichen, und ich fühlte mich nicht imstande, alleine zurückzufinden. Ich würde bald jemanden um Hilfe angehen müssen, einen Taxifahrer oder einen Polizisten, bevor mir noch irgend etwas zustieß. Aber auf diesem Basar war mir noch kein einziges Taxi aufgefallen, und obendrein konnte ich mich nicht mehr an den Namen von Achmeds Straße erinnern. Dann besann ich mich auf den Schakal, den ich bei mir trug, und mir fiel ein, daß es in dieser Stadt gewisse Leute gab, die vor Mord nicht zurückschrecken würden, um sich in seinen
Besitz zu bringen. Die größte Angst, die ich während meines endlosen Umherirrens durch das Muski hatte, war, daß ich mich weiter und weiter vom Zentrum von Kairo entfernte. Doch mit Sicherheit konnte ich es nicht sagen. Ich hatte keine Möglichkeit, über alle Köpfe hinwegzusehen, und selbst wenn ich es gekonnt hätte, bezweifelte ich, daß ich irgendeinen Orientierungspunkt erkannt hätte. Trotzdem behielt ich einen einigermaßen klaren Kopf. Eines stand für mich fest - daß es nämlich weitaus klüger war, in dem Getümmel dieses verrückten Marktes zu bleiben, als zu versuchen, in eine der unzähligen Straßen und Gassen einzubiegen, die davon abzweigten. Hier unter den Tausenden von Einheimischen und Bauern, die sich um mich herum drängten, war ich wenigstens einigermaßen sicher. Wenn ich dagegen allein eine unbekannte Straße hinunterliefe, könnte ich eine leichte Zielscheibe werden.
Ich dachte auch an etwas anderes: Sollte nämlich Achmed Raschid nach mir suchen, so wäre es entlang des Muski-Basars. Auch wenn er kilometerlang und mit Abertausenden von Menschen überfüllt war.
Ein Gedanke drängte sich mir aber vor allen anderen auf und war stärker als die Angst, auf einen von Rossiters Agenten zu stoßen und um meinen Schakal kämpfen zu müssen. Es war der Gedanke daran, daß die Tageszeit allmählich vorrückte und es schon bald dunkel würde. Und dann würden meine Schwierigkeiten erst richtig beginnen.
Dann sah ich die amerikanischen Touristen. Es waren ungefähr zwölf, die sich alle um den Stand eines Silberschmieds herum scharten. Daß es sich um Amerikaner handelte, war an ihrer Kleidung zweifelsfrei zu erkennen, vielleicht aber noch mehr an ihrer lauten Sprechweise und ihren Gebärden, durch die sie mir aufgefallen waren. So strebte ich gegen den Strom vorwärts und kämpfte mich bis zu ihnen durch, in dem festen Glauben, daß sie mir als eine größere Gruppe von Landsleuten Sicherheit bieten würden.
Einige von ihnen waren dabei, um ein paar handgearbeitete Silberstücke zu feilschen, während die anderen die Waren begutachteten und den drei Kunsthandwerkern hinter dem Tisch ihre Bewunderung kundtaten. Drei Ägypter, die wohl Großvater, Vater und Sohn waren, saßen über ihre Arbeit gebeugt da, während eine vierte Person, eine Frau, mit den Touristen die Preise aushandelte. »Zehn ägyptische Pfunde!« stieß ein Amerikaner lautstark hervor.
»Zehn ägyptische Pfunde dafür?« Er hielt eine zierliche Silbertasse in seinen dicken Wurstfingern. Die ägyptische Frau zuckte die Schultern und streckte ratlos die Hände aus.
»Zum Kuckuck, wieviel ist das in richtigem Geld? Edna!« Er fuhr herum und brüllte: »Edna!« in mein Gesicht. Worauf er mit einem verlegenen Grinsen fortfuhr: »Oh, verzeihen Sie. Haben Sie zufällig meine Frau gesehen?«
»Nein.«
»Sicher gibt sie wieder irgendwo Geld aus. Sagen Sie, wissen Sie, wieviel Geld zehn ägyptische Pfunde sind?«
»Nein, leider nicht. Entschuldigen Sie, könnten Sie mir vielleicht sagen.«
»Edna, wo steckst du?« Der Mann war groß und stämmig, hatte fauligen Mundgeruch und einen leichten Südstaatenakzent. Er drehte seinen Kopf nach allen Seiten und sah sich nach seiner Frau um. »Verzeihen Sie, wissen Sie, in welcher Richtung das Nil-Hilton liegt?«
Er schaute auf mich herab. »Das Hilton-Hotel? Na klar, da lang.« Und er wies mit dem Kopf nach links. »Dort wohnen wir. Wo zum Teufel treibt sich bloß meine Frau wieder herum? Sie hat alle Reiseschecks bei sich.«
Die anderen Mitglieder der Reisegruppe hatten sich zum Kauf entschlossen. Sie sprachen nun alle lauter und beanspruchten die Aufmerksamkeit der ägyptischen Verkäuferin. Ich wurde angerempelt, zur Seite gedrängt, und von überallher wurde mir ins Ohr geschrien.
»Könnten Sie sich bitte etwas präziser ausdrücken? Wo genau liegt das Hilton?«
»Hm? Oh, in dieser Richtung.« Diesmal deutete er mit dem Daumen nach links. »Den Weg kann ich Ihnen aber nicht beschreiben. Bin mit einem verdammten Bus hierher gekommen. Die Straßen in diesem Land sind chaotisch. Warum, haben Sie sich verlaufen? Wo ist Ihre Gruppe?«
»Ich gehöre nicht zu einer Gruppe.«
»Dann nehmen Sie doch ein Taxi.« Er sah sich über die Köpfe hinweg um. »Wenn Sie eines finden können.«
»Ich habe auch schon daran gedacht«, schrie ich. »Aber hier gibt es keine. Wissen Sie denn keinen direkten Weg zurück zum Hilton?«
»Warum rufen Sie nicht einfach das Hilton an? Vielleicht schicken Sie jemanden, der Sie hier abholt.« Dann wandte er sich von mir ab und reckte seinen Hals wieder über die Silbergegenstände. »Nun, ich wohne ja selbst nicht im Hilton. Ich denke nicht, daß sie.«
Ein wenig verärgert drehte er sich wieder zu mir um. »Wo wohnen Sie dann?«
»Bei. bei Freunden.«
»Dann rufen Sie die doch an. Oder geben Sie einem Taxifahrer ihre Adresse. Wo zum Teufel ist Edna nur?« Er stellte sich auf die Zehenspitzen und blickte sich erneut suchend um. »Da ist sie ja!« brüllte er über die Menge hinweg. »He, Edna! Hier bin ich!« Als er seinen Arm hob, um zu winken, wehte mir Schweißgeruch ins Gesicht. »Sie hat mich nicht gesehen.« Er warf wieder einen Blick auf mich und sagte: »Wenn Sie mich bitte entschuldigen«, und schickte sich an, davonzugehen.
Ich zögerte einen Augenblick und beobachtete, wie sogar ein Mann mit einem so breiten Rücken in der Menge zu verschwinden drohte. Da rief ich spontan: »Warten Sie einen Moment, bitte!« Er blieb stehen und drehte sich um. Sein Lächeln war ungeduldig. »Meinen Sie, ich könnte mit Ihnen und Ihrer Frau ins Hilton zurückkehren? Wäre Ihnen das recht?«
Er hob seine breiten Schultern. »Wüßte nicht, was ich dagegen haben sollte.«
Ich war sofort erleichtert. Ich wußte, daß ich, wenn ich erst einmal am Hilton wäre, schon irgendwie zu Achmeds Wohnung zurückfinden würde. »Wann fährt Ihr Bus ab?«
»Ach, zum Teufel mit dem Bus, ich habe keine Lust, so lange zu warten. Dieser Ort verursacht mir Kopfschmerzen. Ich besorge uns ein Taxi, sobald ich Edna von den Läden hier wegbekomme. Wir setzen Sie auch gerne bei Ihren Freunden ab. Wo sagten Sie doch gleich, daß sie wohnen?«
»Ich. ich erinnere mich nicht. Ich meine an den Straßennamen. Ich wüßte es, wenn ich es sehe.«
Gerade da stieß mich jemand an, so daß ich gegen diesen Hünen von einem Touristen geworfen wurde. Er packte meinen Arm und hielt ihn fest. »Achtung, kleines Fräulein. Sie sind dieser Menge nicht gewachsen. Wir Amerikaner müssen zusammenhalten. Kommen Sie, lassen Sie uns meine Frau holen und machen, daß wir hier herauskommen.« Er reihte sich wieder in den Menschenstrom ein und begann, mich hinter sich her zu ziehen, wobei er knurrte: »Zehn Pfund für diesen minderwertigen Schrott!«
Mein Landsmann zerrte mich mit einem eisernen Griff weg. Ein Frösteln überkam mich. Ich weiß nicht, wodurch es verursacht wurde oder warum ich jetzt plötzlich wieder Angst haben sollte. Doch als wir uns durch die Traube amerikanischer Touristen einen Weg bahnten, ließ mich eine unheilvolle Vorahnung erschauern und einen raschen Blick über meine Schulter werfen.
Der beleibte Mann mit der dicken Brille stand unmittelbar hinter mir.
Wenn mein Retter mich nicht so fest in seiner Gewalt gehabt hätte, wäre ich vielleicht gefallen, denn meine Beine gaben plötzlich nach. Ich strauchelte ein wenig und lehnte mich unwillkürlich gegen seinen massigen Körper. Im Bruchteil einer Sekunde gelang es mir, mich wieder zu fassen und Ruhe zu bewahren.
Ich hatte keine Ahnung, wie der Mann mit den dicken Brillengläsern mich ausfindig gemacht hatte, und es war mir auch egal. Der einzige Gedanke, der mir durch den Kopf ging, war die Frage, ob er mich erkannt hatte. Mit dem Sonnenhut und der dunklen Brille war ich möglicherweise nur schwer zu identifizieren. Aber nein, da machte ich mir wohl falsche Hoffnungen. Wenn man bedachte, über wie viele Quadratkilometer Kairo sich erstreckte und wie viele Millionen von Menschen in dieser Stadt lebten, wäre es ein zu großer Zufall, daß der dicke Mann ausgerechnet in diesem Augenblick hinter mir stehen sollte. Ja, er wußte ganz genau, daß ich es war. Mit plötzlichem Ungestüm drängte ich mich nach vorne und klammerte mich an meinen Begleiter. »Wo ist Ihre Frau?« rief ich außer mir. »Gleich da drüben, sehen Sie sie? Wieder dabei, mein Geld hinauszuwerfen.«
Ich schaute mich um. »Können wir uns bitte beeilen?« Sein Griff um meinen Arm wurde fester, bis es fast weh tat. »Keine Sorge, kleines Fräulein«, meinte er ruhig.
Was genau als nächstes geschah, ist mir schleierhaft, denn mehrere unerwartete Dinge ereigneten sich auf einmal und zu schnell. Auf unserer Rechten stürzte plötzlich ein Eselskarren um, und tausend Orangen hagelten auf uns nieder. Ich schrie auf und spürte, wie ein Körper gegen mich fiel. Der stämmige
Amerikaner ließ meinen Arm für einen Moment los, versuchte ihn wieder zu fassen, griff aber daneben, da er beiseite gestoßen wurde. In heillosem Schrecken, da ich an den dicken Mann hinter mir dachte, streckte ich meine Arme nach Ednas Mann aus. Doch eine riesige Menschenwoge riß uns endgültig auseinander. Ein noch größeres Chaos brach aus, Esel brüllten, ein Stand mit Töpferwaren stürzte krachend zusammen, Frauen kreischten und Männer schrien. Als nächstes flog mir der Hut vom Kopf, und mein Haar fiel mir auf die Schultern herunter. Unwillkürlich hielt ich meine Hand fest an den Schakal gepreßt, der mir in die Seite stach. Als ich immer weiter von der amerikanischen Reisegruppe fortgerissen wurde, wußte ich, daß ich um mein Leben würde kämpfen müssen. Ich wurde herumgestoßen und beiseite gedrängt; dauernd trampelte mir jemand auf die Füße; meine Handtasche wurde mir beinahe vom Arm gerissen. Ich suchte blindlings nach einem Ausweg, aber es gab keinen. Als ich verzweifelt versuchte, der Raserei der Menge zu entkommen, und schon glaubte, daß mir jeden Augenblick die Beine versagten und ich vielleicht niedergetrampelt würde, packte mich jemand von hinten um die Hüfte und begann mich zurückzuziehen. »Nein!« hauchte ich atemlos. Ich versuchte dagegen anzukämpfen, aber ich war zu schwach. »Bitte nicht.« Er war zu stark für mich. Er hielt meine Arme fest und zog mich aus der Mitte des Pöbelhaufens. Ich konnte nichts tun. Ich schrie, aber niemand hörte mich. Während ich trotz meiner Versuche, mich zur Wehr zu setzen, immer weiter zurückgetrieben wurde, sah ich, daß wir den Rand der Menge erreichten und auf eine enge Gasse zustrebten. »Bitte!« heulte ich, mich in seiner Umarmung windend. Durch meinen Kopf schoß der rasende Gedanke: Nein, nicht so. Es kann nicht alles so enden! Und ich dachte an Dr. Kellerman und versuchte verzweifelt mich loszumachen. Außer Sichtweite der Menge hielt mein
Gegner plötzlich inne und wirbelte mich herum. Ich starrte ungläubig in die wutentbrannten Augen von Achmed Raschid. »Sprechen Sie nicht. Wir müssen uns beeilen.« Er ergriff meine Hand, und zusammen stürmten wir durch die dunkle Gasse davon, weg vom Chaos des Muski. Wir rannten über das Kopfsteinpflaster, flitzten um schlafende Esel herum, ließen Bettler aus ihrem Nickerchen hochfahren und liefen, bis wir nach Luft schnappten. Als ich anfing zu stolpern und mich nur noch von Achmed Raschid ziehen ließ, mündete die Gasse in eine sonnenbeschienene Straße, wo ein schwarz-weißes Taxi stand.
Ohne ein Wort riß Mr. Raschid die Tür auf, stieß mich hinein und stieg nach mir ein. Er sagte zu dem Fahrer etwas auf arabisch, und der Wagen schoß davon.
»O Gott!« heulte ich und verbarg mein Gesicht in den Händen. »O Gott! O Gott!«
Raschid legte seinen Arm auf meine Schulter, aber er sprach nicht. Tränen strömten mir über die Wangen, Tränen der Erleichterung, Tränen der Angst und Tränen der Erschöpfung. Mein ganzer Körper zitterte und bebte. Ich warf meine Sonnenbrille auf den Boden, schluchzte noch etwas weiter, holte dann tief Atem und setzte mich schließlich aufrecht hin. Ich rieb mir mit den Fäusten die Augen, bevor ich zu Mr. Raschid aufsah. Ich bedauerte sofort, den Blick riskiert zu haben.
Während er noch immer den Arm um mich gelegt hatte, starrte Achmed Raschid mich mit nahezu ungezügelter Wut an. Seine Augen glühten vor Zorn, glänzend und geweitet wie die eines Fieberkranken. Seine Lippen bildeten einen schmalen Strich. Sein ganzes Gesicht war wutverzerrt.
Das Taxi raste unter Nichtbeachtung jeglicher Verkehrsregeln durch die überfüllten Straßen, überfuhr rote Ampeln, scherte vor Fußgängern plötzlich aus und gewährte anderen Fahrern keine Vorfahrt. In Ägypten schien die Hupe vollkommen die Bremsen ersetzt zu haben, so daß niemand vor nichts haltmachte; man sprengte sich regelrecht seinen Weg frei. Ich preßte meine Füße auf den Boden und hielt mich an der Lehne des Vordersitzes fest, als wir uns ruckend und ratternd einen Weg durch die überfüllten, engen Straßen bahnten. Meine Erleichterung war unermeßlich, als wir endlich an einem vertrauten Ort ankamen. Und dieses war das erste und einzige Mal, daß der Fahrer auf die Bremse trat. Als wir vor Mr. Raschids Wohnung hielten und ausstiegen, ich war arg mitgenommen, hörte ich eine hohe Stimme meinen Namen rufen: »Miis Harris!« Asmahan kam auf den Gehsteig hinausgerannt und umarmte mich. Sie sprach keuchend und abgehackt und in einer ungewöhnlich hohen Tonlage. Als sie zurücktrat, sah ich, daß ihre Augen rot umrandet waren. Bevor ich ein Wort sagen konnte, faßte mich Achmed Raschid am Arm und schickte sich an, mich in das Gebäude zu führen. Er blieb gerade lange genug stehen, um die Straße hinauf und hinunter zu blicken und sich zu vergewissern, daß niemand in den spätnachmittäglichen Schatten lauerte. Dann gingen wir nach oben. Erst als wir uns allesamt in der Wohnung befanden, die Tür verriegelt und die Fensterläden geschlossen waren, wandte er sich endlich mir zu. In seinen Augen spiegelte sich die Wut, die er in seiner Stimme zu beherrschen suchte. »Was glaubten Sie eigentlich zu tun, Miss Harris?«
Ich öffnete meinen Mund, um zu sprechen, aber alles, was herauskam, war ein kaum hörbares Flüstern. »Es tut mir leid.«
»Konnten Sie sich nicht vorstellen, in welche Gefahr Sie sich begeben würden?«
»Ich dachte nicht.«
»Miss Harris« - seine Stimme wurde lauter -, »Sie hatten kein Recht, sich einem solchen Risiko auszusetzen. Oder Asmahan. Oder mir diese Sorge zu bereiten. Ich habe eine
Menge Schwierigkeiten in Kauf genommen, um Sie zu beschützen. Und dann tun Sie so etwas. Als ich heimkam und Asmahan mir erzählte, sie habe Sie aus den Augen verloren, konnte ich es gar nicht fassen. War Ihr Telefonanruf so wichtig?«
Ich antwortete nicht, sondern starrte ihn an wie ein getadeltes Kind.
»Als Asmahan sagte, Sie seien im Muski-Viertel, allein im Muski, da bekam ich es mit der Angst! Was sage ich? Ich war geradezu verzweifelt! Ich wußte nicht, was ich tun sollte! Um Sie unter all diesen Menschen zu finden, bevor jemand anders Sie aufspürte.« Seine Stimme versagte ihm plötzlich, aber seine Augen drückten noch immer Ärger und Wut aus.
Wir standen alle drei lange in dem dunkel werdenden Zimmer. Asmahan hielt sich hinter ihm, rang die Hände und schien die ganze Schuld auf sich nehmen zu wollen. Achmed stand direkt vor mir, weniger als einen Meter entfernt, kochend vor Wut und mit finsterster Miene. Es fiel ihm sichtlich schwer, sich zu beherrschen. Ich konnte sie nur entschuldigend ansehen und wußte nicht, was ich sagen sollte. Seine Stimme hatte sich wieder beruhigt, als er in wohlüberlegten Worten weitersprach: »Ich habe Asmahan nicht gesagt, warum Sie hier sind oder daß Sie sich in Gefahr befinden. Ich habe ihr nur gesagt, Sie seien eine Freundin, die sich in Kairo nicht auskennt und eine Unterkunft braucht. Ihr die Wahrheit zu sagen, hätte ihr nur unnötig Angst und Sorge bereitet. Selbst jetzt ist ihr der Ernst dessen, was heute geschehen ist, nicht voll bewußt. Wenn ich sie jetzt darauf ansprechen würde und ihr erklären würde, daß man Sie hätte ermorden können.«
»Warten Sie. Warten Sie bitte. Seien Sie nicht streng mit ihr. Es war alles meine Schuld.«
»Das weiß ich. Ich war nicht böse auf sie. Aber Sie sehen ja selbst, wie schuldbewußt sie ist. Meine Angst und meine Sorge um Sie, als Sie allein im Muski waren, überraschten sie. Sie hat mir immer wieder versichert, daß Sie allein heimfinden würden. Wie hätte ich ihr sagen können, daß Sie vielleicht niemals zurückkommen würden?«
»Mr. Raschid.«
»Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht, als Sie die Wohnung verließen? Und Asmahan dieser Gefahr aussetzten?«
»Ich dachte, es sei in Ordnung. Sie sagten schließlich, ich sei sicher.«
»Gestern abend sagte ich, wir würden noch nicht ausgehen. Hatten Sie John Treadwell ganz vergessen?«
»Jetzt halten Sie aber mal die Luft an!« Plötzlich war ich ärgerlich. »Ich sagte bereits, daß es mir leid tut. Es gefällt mir nicht, daß Sie da vor mir stehen und sich aufführen wie der höchste Scharfrichter. Wie oft muß ich mich noch entschuldigen? Ich fühle mich elend, hundeelend wegen dem, was passiert ist! Ich weiß, daß Sie sich um Asmahan Sorgen machten, und Sie haben recht. Ich hätte sie nicht mitnehmen sollen. Ich riskierte meinen eigenen Kopf und hätte allein gehen sollen. Aber um Gottes willen, ich fühle mich deswegen schrecklich! Und ich fühle mich am ganzen Körper krank, verschrammt und verletzt!« Meine letzten Worte hingen schwer in der Luft, und ich bemerkte, daß meine Stimme hoch und schrill geworden war. Ich zitterte auch wieder.
Im Zimmer wurde es jetzt rasch immer dunkler, aber niemand machte Anstalten, eine Lampe anzuschalten. »Es wird nicht wieder vorkommen«, murmelte ich.
Achmed Raschid stand weiter reglos vor mir und sah mir in die Augen, als ob er mir etwas sagen wollte, aber nicht wüßte, wie. Ich wiederholte noch einmal: »Es tut mir leid«, und in meiner Stimme lag Bitterkeit.
Da regte sich Mr. Raschid ein wenig, seufzte tief und sagte zu meiner Überraschung mit leiser Stimme: »Ich war in Sorge um
Sie.« Ich erwiderte seinen Blick. Irgendwo aus der Ferne, durch den lavendelfarbenen Sonnenuntergang hindurch und über die Dächer hinweg ertönte das Klagen des Muezzins. Sein Ruf drang durch die Läden, wanderte durch den Raum und rief uns sanft in Erinnerung, wer und wo wir waren. Entfernte Straßengeräusche wurden dadurch gedämpft, und die blecherne ägyptische Musik drang kaum noch hörbar durch die Mauern. Und in der zunehmenden Finsternis und Schwermut begann ich unwillkürlich zu zittern.
Ich weiß nicht, wie lange Raschid und ich so dastanden und uns anstarrten. Doch als Asmahans Stimme den Bann brach, wandte ich schnell meine Augen ab. Als nächstes ging ein Licht an und gleich darauf ein zweites. Dann eilte Asmahan an uns vorbei in die Küche. Als ich ihr nachschaute, fühlte ich den harten Blick Achmed Raschids im Rücken.
»Verzeihen Sie mir«, sagte er ruhig. »Ich habe kein Recht, so böse auf Sie zu sein.« Ich fuhr herum.
»Sie können tun, was Ihnen beliebt«, fügte er hinzu. »Ich hätte Asmahan nicht mit hineinziehen dürfen. Es tut mir leid. Und. und danke, daß Sie mich gerettet haben. Gott, wie blöd von mir!«
Er schien einen anderen Gedanken zu erwägen, ließ ihn jedoch gleich wieder fallen. Statt dessen ging er an mir vorbei und trat zu Asmahan in die Küche.
Ich ging ein wenig im Zimmer umher, betrachtete dies und berührte jenes, bevor ich mich auf der Couch niederließ und versuchte, mich zu beruhigen. Daß ich einen schweren Schock erlitten hatte, war offensichtlich, denn ich bebte noch immer und fühlte mich ganz schwach. An der Stelle, wo der amerikanische Tourist mich gepackt hatte, war mein Arm wund, und dort, wo man mir im Gedränge auf die Füße getreten hatte, befanden sich Hautabschürfungen. Während ich meine schmerzenden Stellen rieb und versuchte, mich durch tiefes Ein- und Ausatmen zu entspannen, ließ ich mir den ganzen Vorfall noch einmal durch den Kopf gehen und war am Ende genauso verblüfft wie am Anfang. Asmahan und Achmed kamen leise ins Zimmer, stellten Tassen und Kuchenstücke auf den Kaffeetisch und setzten sich geräuschlos hin. Während Asmahan den Tee einschenkte, sah sie mich unverwandt aus dem Augenwinkel an. Es machte mich verlegen. Was um alles in der Welt dachte sie über meine Beziehung zu ihrem Verlobten? »Miss Harris«, begann Mr. Raschid, der neben mir auf der Couch saß, »sagen Sie mir, haben Sie auf dem Basar irgend jemanden bemerkt, der Ihnen verdächtig vorkam? Ich meine, wäre es möglich, daß Sie verfolgt wurden?«
»Der fette Kerl mit den dicken Brillengläsern, von dem ich Ihnen erzählt habe, war da.«
Er schloß einen Augenblick die Augen. »Ich verstehe.«
»Aber ich weiß nicht, wie lange er da war. Er muß mich gerade in * diesem Moment entdeckt haben, weil ich ihn davor nicht bemerkt hatte, und ich denke, ich bin wohl längere Zeit herumgeirrt, bevor ich auf die Touristen stieß.«
»Touristen?«
»Eine Gruppe von Amerikanern. Ich kann Ihnen sagen, nachdem ich Asmahan aus den Augen verloren und längere Zeit nichts als Arabisch gehört und nur fremde Gesichter gesehen hatte, war ich froh, auf sie zu treffen. Sehen Sie, Mr. Raschid, ich kann doch auf mich allein aufpassen. Ich hatte gerade jemanden gefunden, der mich zum Hilton zurückbegleiten wollte, als die Hölle losbrach und kurz danach Sie auftauchten.« Ich runzelte die Stirn, als ich versuchte, diesen chaotischen Augenblick zu rekonstruieren. »Wer wollte Sie begleiten?« »Ein amerikanischer Tourist und seine Frau. Ich glaubte, bei ihnen sei ich sicher. So hätte der Mann mit der Brille mich wohl doch nicht erwischt.«
Er dachte über meine Worte nach. »Ein amerikanischer Tourist? Wie sah seine Frau aus?«
»Edna? Nun, ich weiß nicht recht. Ich habe sie eigentlich gar nicht gesehen. Sie hielt sich etwas von der Gruppe entfernt auf.«
»Woher wissen Sie dann, daß sie überhaupt da war?«
»Wie bitte?«
»Und woher wußten Sie, daß dieser Amerikaner, mit dem Sie fahren wollten, tatsächlich zu dieser amerikanischen Gruppe gehörte?«
»Was?« Ich sah ihn ungläubig an. »Ist das Ihr Ernst? Einen Moment mal, Mr. Raschid.« Ich zwang mich zu einem Lachen. »Ich glaube, jetzt sind Sie aber wirklich zu melodramatisch. Ja, zugegeben, der dicke Mann war da, aber ich war drauf und dran, ihm zu entrinnen. Ich dachte, es sei eine gute Idee, mich schnell mit einem amerikanischen Touristenehepaar anzufreunden.«
Ohne ein weiteres Wort stand Achmed auf und durchquerte das Zimmer, wo seine Jacke über einer Stuhllehne hing. Er griff in die Innentasche, zog etwas heraus und kam damit zurück zur Couch. »Sagen Sie, Miss Harris«, begann er und hielt mir ein Foto hin, »haben Sie diesen Mann schon einmal gesehen?«
Ich starrte ungläubig auf das Gesicht des Mannes auf dem Bild. Es war Ednas Ehemann, der große amerikanische Tourist. »Aber das ist doch.«
»Dieser Mann, Miss Harris, ist Arnold Rossiter.«
Das Klappern meiner Tasse, als ich sie in die Untertasse fallen ließ, brachte mich in die Wirklichkeit zurück. Ich drehte meinen Kopf nach dem Geräusch, dann richtete sich mein Blick auf Asmahans Hände, und der Nebelschleier hob sich. Irgendwo in der Nähe fragte eine Männerstimme: »Ist alles in Ordnung, Miss Harris?« Ich schaute in Achmed Raschids Gesicht. Ich schlotterte wieder am ganzen Körper. »Er hatte mich in seiner Gewalt«, antwortete ich kaum lauter als ein Flüstern. »Hier«, und ich deutete auf die roten Druckstellen an meinem Arm. »Er hielt mich mit einem starken Griff fest und führte mich weg. Er tat mir weh, aber ich dachte, er sei sich dessen nicht bewußt. Ich dachte, er habe es nur eilig, seine Frau zu holen und ein Taxi zu finden.« Meine Stimme erstarb. »Jetzt verstehen Sie, warum ich mir solche Sorgen um Sie machte. Er ist ein schlauer Fuchs, dieser Arnold Rossiter, und als ausgezeichneter Schauspieler bekannt. Er ist übrigens nicht Amerikaner, sondern Brite.«
»Er hätte mich täuschen können«, erwiderte ich. »Das hat er ja auch.« Mr. Raschid nahm mir das Foto wieder aus der Hand, betrachtete es einen Augenblick und legte es dann auf den Tisch. »Aber das konnten Sie nicht wissen. Sie hatten sich in einer fremden Stadt verlaufen und waren bereit, jedem zu trauen, der Ihnen einigermaßen ehrlich erschien. Ich denke, es ist pure Ironie, daß ich Ihr einzig wahrer Freund bin und daß Sie mir dennoch nicht vertrauen.« Ich hob jäh den Kopf.
»Trotzdem«, fuhr er fort, »glaube ich nicht, daß wir hierher verfolgt wurden. Wir haben das Muski-Viertel schnell genug und in einem Augenblick der Verwirrung verlassen.«
»Großer Gott! Arnold Rossiter hatte mich tatsächlich in seiner Gewalt! Wenn dieser Eselskarren nicht gerade da umgestürzt wäre, wären Sie vielleicht nie imstande gewesen.« Ich schaute Achmed Raschid an. Ein rätselhafter
Ausdruck lag auf seinem Gesicht. »Sie?« fragte ich und deutete wie benommen auf ihn. »Haben Sie das getan?«
»Ich hatte keine andere Wahl, Miss Harris. Ich hatte das Muski eine halbe Stunde lang nach Ihnen abgesucht, bis ich Sie entdeckte. Und als ich sah, daß ein Mann, der wie Arnold Rossiter aussah, Sie festhielt, ein Mann, der viel größer ist als ich, da wußte ich, daß ich für eine Verwirrung sorgen mußte. Der Orangenkarren erschien dafür geeignet.« Plötzlich war mir irrsinnig nach Lachen zumute. »Und es hat geklappt!«
»Ja.« Endlich lächelte er. »Das hat es.«
Ich schüttelte vor Verwunderung den Kopf. »Ich kann es einfach nicht glauben. Wenn das wirklich Rossiter war, wie hat er es dann angestellt, im Muski vor mir zu sein? Wenn er mir dorthin gefolgt wäre, wie schaffte er es, vor mich zu kommen, sich dieser Gruppe anzuschließen und gerade, als ich vorüberkam, in eine Feilscherei um Silberzeug verwickelt zu sein? Dafür hätte er schon vorher wissen müssen, daß ich zum Muski gehen würde, und das konnte er ja wohl nicht wissen, weil Asmahan und ich den Entschluß, dorthin zu gehen, erst im letzten.« Ich schlug mir mit der Hand auf den Mund. »Natürlich, die Frau in der Telefonzentrale! Er könnte es durch sie herausgefunden haben. Er folgte mir dorthin, sah mich gehen. Oh!« Ich schüttelte abermals den Kopf. »Sieht so aus, als hätte ich mich heute nicht mit Ruhm bekleckert.«
Jetzt versuchte auch Achmed Raschid sich ein kleines Lachen abzuringen und tätschelte mir beruhigend die Hand. »Ist schon gut, Miss Harris. Sie sind wieder in Sicherheit, und das ist alles, worauf es ankommt.«
Als ich ihn lächeln sah, fühlte ich mich etwas besser. »Wie oft kann ein Mensch an einem Tag >es tut mir leid< sagen? Sie müssen denken, ich sei ein wahrer Tölpel.« Ich erwiderte sein Lächeln. »Sie haben selbst viel riskiert, um mich zu retten. Danke.«
Darauf erhob er sich, und während er sich mit Asmahan auf arabisch unterhielt, ging er und holte seine Jacke. »Es wird schon spät. Ich werde sie nach Hause bringen und bald zurückkommen. Sie verriegeln die Tür, ja?«
Diesmal gab ich mich nicht damit ab, durch die Läden zu schauen und sie beim Hinausgehen zu beobachten. Ich verschloß die Tür und kehrte auf die Couch zurück, wo ich dankbar den Rest von meinem Tee austrank. Ich war jetzt unglaublich müde, und jede Stelle meines Körpers tat mir weh. Doch wenn ich mir die Ereignisse des Tages durch den Kopf gehen ließ, würde ich schlafen können? Ich hatte im Muski ein böses Erlebnis gehabt, war so nahe daran gewesen, von einem Mörder entführt zu werden, und war - um die ganze Sache zu krönen - nicht einmal dazu gekommen, mit Dr. Kellerman zu sprechen.
Mein Kopf war voll mit wirren Gedanken und Gefühlen. Ich zog den Schakal aus meinem Hosenbund hervor und hielt ihn vor mich hin. Ich betrachtete eingehend das merkwürdige Gesicht, das breite Grinsen, die listigen Augen und spitzen Ohren. Welche Geheimnisse barg sie in sich, diese antike Spielfigur? Warum war sie so wertvoll, und warum versuchten so zwielichtige Gestalten, sie mit allen Mitteln in ihren Besitz zu bringen?
Ich ließ den Schakal in meinen Schoß fallen und begann auf die gegenüberliegende kahle Wand zu starren. Andere Bilder schossen mir durch den Kopf. Der große amerikanische Tourist mit dem Südstaatenakzent, und wie sicher ich mich in seiner Obhut gefühlt hatte. Die nackte Angst, als ich den dicken Mann genau hinter mir stehen sah. Der Schrecken, der in mich gefahren war, als der Karren umkippte und die Menge in Panik losstürmte. Und ich erinnerte mich an das Gefühl, das ich empfunden hatte, als Achmed Raschid seine Arme um meine Hüften geschlungen hatte.
Dann dachte ich daran, was er jetzt wohl mit Asmahan machte, daß er sie vielleicht küßte.
Als ich seine Schritte auf der Treppe hörte, verbarg ich den Schakal wieder unter meiner Bluse und stürzte den letzten Rest meines Tees hinunter und ließ Mr. Raschid ein. Während er die Tür hinter sich schloß und verriegelte, meinte er hastig: »Da draußen ist niemand, Mr. Rossiter hat keine Ahnung, wo oder bei wem Sie sich in diesem Augenblick aufhalten.«
»Gott sei Dank!«
Er lächelte: »Inscha’allah. Sind Sie hungrig, Miss Harris?«
»Nein, eigentlich nicht.« Ich glättete meine zerknitterte Kleidung. »Ich fühle mich schrecklich und will nur ins Bett gehen.«
»Sehr gut.« Er lief zum Tisch und begann seine Jacke abzulegen. »Mr. Raschid, wer genau ist Arnold Rossiter?« Er hielt eine Sekunde lang inne, zog dann vollends seine Jacke aus und hängte sie sorgfältig über den Stuhl. Das Hemd, das er darunter trug, war makellos weiß, oder aber es wirkte nur so durch den Kontrast, den es zu seiner dunklen Haut bildete. »Das werden Sie mir doch verraten, oder?«
»Nicht jetzt, noch nicht.«
»Nun ja.« Ich ging auf die Schlafzimmertür zu. »Jedenfalls tut es mir leid, daß alle heute meinetwegen so viel haben durchmachen müssen. Ich versichere Ihnen, es war nicht meine Absicht, in eine so schlimme Sache hineinzugeraten.« Er stand nahe bei mir und lächelte schwach.
»Und es tut mir wirklich auch wegen Asmahan leid. Ich wachte heute morgen auf und war von dem einzigen Gedanken besessen, Dr. Kellerman anzurufen. Nichts anderes erschien mir wichtig. Ich fühlte mich so sicher und geborgen, wahrscheinlich ein allzu großer Optimismus, und ich war mir so gewiß, daß man mich nicht erkennen würde. Ich hatte kein Recht, Ihre Verlobte einer solchen Gefahr auszusetzen.« Mr.
Raschids Lächeln veränderte sich zu einem verwirrten Gesichtsausdruck. »Verlobte?«
»Ja. So etwas wie Ihre Freundin, verstehen Sie? Ihre Braut. Oder wie immer man es auf englisch noch bezeichnen kann. Asmahan!«
»Ja, ich kenne das Wort, Miss Harris. Aber Asmahan ist nicht meine Verlobte.«
»Nicht?«
»Nein«, erwiderte er lachend, »sie ist meine Schwester!«