24


Der Kern des Kometen Hastings stand groß am schwarzen Himmel, als Tom Thorpe sich zwischen den Streben und Stützen hindurchzwängte, die den Wasserstofftank Nummer drei der Admiral Farragut stabilisierten. Um ihn herum lag ein Wald von isolierten Rohren und elektrischen Leitungen. Er ging zu einer Stelle, wo mehrere Leitungen in einer komplizierten Vorrichtung zusammenliefen, die Wasserstoff vom Tank zu den Schiffstriebwerken transportierte. Er schloss ein Ventil, dann betätigte er den Hebel, der die Schnappriegel löste, die den Tank mit dem Stützrahmen verbanden. Sich an einer Strebe festklammernd, platzierte er seinen Tornister gegen die äußere Isolationsschicht des Tanks und schob. Langsam trennte sich die 4000 Kubikmeter fassende Kugel von der Antriebssektion im Orbit.

»Er kommt«, funkte er zu Dieter Schmidt im MoonJumper Eins hinüber.

Der Hüpfer war eine plumpe Konstruktion. Sein transparenter Rumpf war auf vier schwere Landebeine mit übergroßen Polstern als Füßen montiert. Ihn umgaben eine Reihe von Streben und Bügeln, an denen alle möglichen Arten von Geräten befestigt waren, angefangen von Bündeln von Steuerdüsen über Funkantennen bis zu einer Vielzahl von Flugsensoren. Zwischen die Landebeine schmiegte sich das Sauerstoff-Wasserstoff-Triebwerk des kleinen Flugapparats mit seiner üerdimensionalen Düse. MoonJumper waren für den ballistischen Boden-Boden-Verkehr auf Luna konstruiert worden und somit zu keinem Zeitpunkt für Arbeiten im Orbit gedacht gewesen. Der Hüpfer gab jedoch unter der niedrigen Schwerkraft des Kerns eine ideale Orbitalfähre ab.

Thorpe und Schmidt hatten die Aufgabe, einen der Tanks der Admiral Farragut auf der Oberfläche zu landen. Dort sollte er mit Wasserstoff aus dem Cracker aufgefüllt und dann zum Schiff zurückgebracht werden. Dieser Vorgang würde so lange wiederholt werden, bis alle achtzehn Tanks des Schiffes gefüllt waren.

Schmidt brachte den Hüpfer an die sich langsam entfernende Kugel heran. Dabei benutzte er den ferngesteuerten Manipulator, um eins der vier Korrekturaggregate, die am Bugkorb des Hüpfers angebracht waren, zu entfernen. Er befestigte es an einem Stoßpolster am Äquator des Tanks, dann bewegte er sich um neunzig Grad um die Kugel herum und wiederholte den Vorgang. Noch zwei weitere Male wiederholte er ihn. Als alle vier Aggregate befestigt waren, brachte Schmidt den Hüpfer in eine sichere Entfernung und übergab die Kontrolle an den Autopiloten der Schubaggregate. Aus den Düsen schlugen simultan Flammen, und der langsame Fall des Tanks auf den Kometen zu beschleunigte sich sichtbar.

Thorpe sah dem Tank nach, bis er aus seiner Sicht verschwunden war, während Schmidt den Hüpfer nah an das Energiemodul heranmanövrierte. Thorpe benutzte seine Anzugdüsen, um den zehn Meter breiten Abgrund des Vakuums zu überqueren, dann quetschte er sich neben den Piloten. »Fliegen wir nach Hause.«

Sie folgten dem freifliegenden Tank auf seinem Weg zum Ground-Zero-Krater. Sie befanden sich zehn Kilometer über den Kleinen Alpen, als Thorpes Funkgerät zu piepsen begann.

»Hier spricht Thorpe«, meldete er sich.

Aus seinen Ohrhörern schallte Cybil Barnards besorgte Stimme. »Thomas?«

»Ich höre.«

»Wir haben wahrscheinlich einen Notfall hier.«

»Wer?«

»Es handelt sich um Amber Hastings und Kyle Stormgaard.«

Thorpes Magen zog sich in plötzlicher Angst zusammen. »Was ist mit ihnen?«

»Sie antworten nicht. Sie haben sich vor etwa zwanzig Minuten gemeldet und eine Erdbebenwarnung erhalten, dann waren sie weg. Wir haben seitdem unaufhörlich versucht, sie zu erreichen.«

»Könnte ihr Funkgerät einen Defekt haben?«

»Möglich, aber wir meinen, Sie sollten besser nach ihnen sehen.«

»Einverstanden. Wo sind sie?«

»Cervantes-Spalte, fünfundsechzig Grad Nord, sechzehn Ost. Sie haben den anderen Hüpfer dabei.«

»Wir sehen nach.« Er wandte sich an Schmidt. »Wir landen woanders. Folgen Sie dem Leitstrahl von Hüpfer Zwei.«

Schmidts Hand huschte über das Armaturenbrett, und in ihrem Ohrhörer ertönte das beruhigende Dit-dit-da des Funkfeuers vom anderen Hüpfer.

Das Universum kippte plötzlich, als Schmidt die Flugbahn veränderte. Fünf Kilometer vor und unter ihnen setzte die winzige weiße Kugel ihren Flug zur Kraterbasis fort. Zehn Minuten später glitten sie über dem zerklüfteten Gebiet des Ödlands dahin und hielten Ausschau nach dem roten Blinklicht, das die Position des anderen Landefahrzeugs angeben würde.

»Ich hab es«, sagte Schmidt und zeigte auf einen schwarzen Riss in der Oberfläche des Kometen.

Thorpe nickte. Er hatte das Leuchtfeuer ebenfalls gesehen. »Versuchen Sie möglichst in der Nähe zu landen. Halten Sie genügend Abstand vom Spalt.«

»Wird gemacht.«

Die Landung verlief quälend langsam. Als die Landefüße aufsetzten, hatte sich Thorpe längst von seinem Sitz losgeschnallt und war halb aus der Luke heraus. Er hechtete durch die Lücke zwischen den Streben, ohne sich um den Aufprall Gedanken zu machen. Als er ankam, verankerte er sich am Hüpfer und sah sich um. Einen Moment später entdeckte er die Fußspuren in der dünnen Reifschicht, die das harte Eis der Asteroidenoberfläche überzog. Die Fußspuren führten in Richtung der Spalte.

»Sie waren zu dem Spalt unterwegs«, meldete er, bevor er in diese Richtung flog. Im Fliegen spulte Thorpe hinter sich eine Sicherheitsleine ab. Er bremste seinen Flug am Rand der Spalte ab, setzte auf und blickte umher. Was er sah, ließ sein Herz einen Schlag lang aussetzen.

Am Rand des tiefen Einschnitts befanden sich mehrere Befestigungshaken. Von zwei von ihnen gingen hellfarbene Sicherheitsleinen aus, die in die Spalte hinunterführten. Er trat an die Kante und neigte seine Anzuglampe zu den Leinen hinunter. Dort, an der Sichtgrenze, verschwanden die icherheitsleinen in etwas, das eine Schneemasse zu sein schien.

»O mein Gott!«

»Was ist los?«, fragte Schmidt.

»Sie sind von einer Lawine verschüttet worden. Die Leinen verschwinden in einem Haufen aus losem Eis.«

»Nur nicht verzagen«, antwortete Schmidt. »Ich komme aus einem Lawinenland auf der Erde. Es kommt vor, dass dort Menschen stundenlang verschüttet sind und dennoch überleben. Bei dieser Schwerkraft dürften sie kaum verletzt worden sein, es sei denn, ein dicker Brocken wäre auf sie gefallen. Sie werden schon in Ordnung sein, wenn wir sie ausgraben können, bevor ihnen die Atemluft ausgeht.«

»Sie vergessen etwas«, sagte Thorpe. »Dieser Schnee hat eine Temperatur nahe dem absoluten Nullpunkt. Ihre Anzüge sind dafür nicht ausgerüstet. Wenn wir sie nicht bald erreichen, werden sie erfrieren!«


Barbara Martinez lag angeschnallt auf der Andruckliege des Boden-Orbit-Shuttle und starrte durch die Sichtluke in den grenzenlosen Raum. Sie hatte nicht damit gerechnet, so bald schon einen schwarzen Tageshimmel zu Gesicht zu bekommen. Doch kaum einen Monat, nachdem sie die Newton-Station verlassen hatte, befand sie sich wieder im Raum, ohne überhaupt die Gelegenheit gehabt zu haben, von den Fleischtöpfen der Erde zu kosten. Sie spähte an der Tragfläche vorbei zur Erde hinüber und tröstete sich mit dem Wissen, dass ihre Situation nicht von Dauer sein würde.

Das Projekt Donnerschlag, wie die Arbeitsgruppe in New Mexico inzwischen genannt wurde, brauchte jemanden, der die Offiziere einwies, die die Großtransporter zum Kometen fliegen würden. Eine kurze Überprüfung der Liste hatte ergeben, dass Barbara über mehr Raumerfahrung verfügte als jeder andere im Team.

»Sie haben mir nicht einmal Zeit zum Packen gelassen«, murmelte sie, während sie nach den Schiffen suchte, die ihr Ziel waren.

Gwilliam Potters Idee zur Modifizierung der Flugbahn von Donnerschlag war zur offiziellen Politik geworden. Sie war angenommen worden, nachdem sie eine Woche lang von den am Projekt beteiligten Wissenschaftlern diskutiert worden war. Nach ihrer Absegnung hatte Direktor Warren die Idee wegen ihrer Einfachheit bejubelt. Selbst diejenigen, die bezweifelten, dass man ein ausreichend großes Stück des Kerns würde absprengen können, gaben zu, dass der Vorschlag theoretisch fundiert war. Die Potter unterstützten, verwiesen auf das ausgedehnte Netz von Störungen unterhalb des Ground-Zero-Kraters, um ihren Bedenken zu begegnen.

Dass die innere Struktur von Donnerschlag erschüttert worden war, war für jedermann offensichtlich. Risse und Spalten umgaben den Krater bis in eine Entfernung von siebzig Kilometern. Seismische Messungen hatten bestätigt, dass die Risse Folge eines tiefliegenden Störungssystems waren. Wenn es gelang, eine hinlänglich starke Explosionskraft richtig einzusetzen, könnte die Menschheit sehr wohl den Spaltungsprozess beenden, den ein namenloser Asteroid vor einer Million Jahrtausenden begonnen hatte.

Für die Sprengung würden sie Antimateriebomben verwenden, die am Grund tiefer Bohrlöcher platziert waren. Die ›Bomben‹ waren im Grunde einfache Antimateriebehälter, an denen kleine chemische Sprengladungen befestigt wurden. Wenn die Sprengladungen gezündet wurden, würde das Magnetfeld jedes einzelnen Behälters zusammenbrechen und ein ganzes Kilogramm von Antimaterie in das umliegende Eis freisetzen. Die daraus resultierende Energie würde in das Störungssystem abgeleitet werden und hoffentlich unter mehreren Quadratkilometern der Asteroidenoberfläche eine gewaltige Dampfexplosion freisetzen, die ihn wie eine reife Melone aufplatzen lassen und den Ground-Zero-Krater samt Umgebung in den Raum schleudern würde.

»Wir nähern uns Goliath an Ihrer Fensterseite, Miss Martinez«, gab der Shuttlepilot über InterKom bekannt.

»Danke, Captain«, antwortete Barbara. Sie drückte sich hinunter, um ihre Wange gegen die kühle Sichtluke zu pressen. Und dort, in geringer Höhe über dem Planeten, erblickte sie eine Dreieckskonstellation aus blinkenden Lichtern, den Leuchtfeuern der Schiffe, die Menschen und Material zum Kometen transportieren würden.

Goliath, Gargantua und Godzilla waren zu der Zeit, als Luna City noch keinen Massebeschleuniger besaß, für die Beförderung von Schüttgut zwischen Luna und den Raumstationen gebaut worden. Seitdem der Massebeschleuniger sie überflüssig gemacht hatte, hatte man sie zusammen mit ihren fünf Schwesterschiffen im Raum eingelagert, wo sie dreißig Jahre lang geblieben waren, bis das Unternehmen Donnerschlag sie übernommen hatte. Während der letzten beiden Monate waren fünfhundert erfahrene Arbeiter rund um die Uhr damit beschäftigt gewesen, sie für die bevorstehende Mission umzubauen. Die alten chemischen Triebwerke waren herausgerissen und die neuesten antimateriebetriebenen Konverter installiert worden. Innerhalb der schützenden Magnetfelder arbeiteten die Antimateriekammern bei nahezu einer Million Grad Hitze. Wo die Admiral Farragut sechs Monate gebraucht hatte, um Jupiter zu erreichen, konnten Goliath und seine Schwestern die gleiche Strecke in nur zwölf Wochen zurücklegen.

Der Tragflächenshuttle zündete seine Steuerdüsen, als es sich Goliath weiter genähert hatte. Der Schwertransporter war eine riesige Kugel von hundertfünfzig Metern Durchmesser. Das meiste davon beanspruchten, wie Barbara wusste, Tanks für Treibstoff und Verbrauchsgüter. Ein Großteil der schweren Ladung sollte außerhalb, an tragfähigen Stellen überall am Rumpf festgeschweißt, mitgeführt werden. Beim Näherkommen entdeckte Barbara an der Hülle von Goliath alles Mögliche, von mittelgroßen Kettenfahrzeugen bis zu großen Laser-Bohrvorrichtungen. Diese Anordnung gab dem Schiff ein schlampiges Aussehen und warf möglicherweise die Schwerpunktsberechnungen des Kapitäns über den Haufen, würde jedoch das Entladen auf dem Kometen erleichtern.

Zwei kurze Stöße der Manövrierdüsen, und der Shuttle hatte seine Geschwindigkeit der des Transporters angepasst. Fünf Minuten später schlängelte sich ein flexibler Transferschlauch auf die Mittschiffsschleuse des Shuttles zu. Barbara sammelte ihre Notizen ein und machte sich auf den Weg nach hinten. Ein Besatzungsmitglied half ihr durch die Schleuse und in den Schlauch. Als sie das größere Schiff betrat, fand sie einen Vierstreifenoffizier wartend vor.

»Willkommen an Bord der Goliath, Miss Martinez. Schön, dass Sie kommen konnten. Ich bin Captain Palanquin.«

»Guten Morgen, Captain. Schon alles vollzählig?«

Palanquin nickte. »In der Messe. Wenn Sie mir bitte folgen wollen, dann können wir mit der Einsatzbesprechung gleich anfangen.«

Barbara folgte dem Kapitän durch einen der peripheren Hauptkorridore. Überall waren Werftarbeiter, die in Barbaras Augen in einem vollkommenen Chaos arbeiteten. Das Schiff machte einen unfertigen Eindruck. Auf den Luken und den Decks waren Schweißnähte zu sehen, und Farbgeruch hing in der Luft. In die Abteilung des Schiffes, durch die sie geführt wurde, wurden gerade die Kabinen für die Bedienungsmannschaften der Schwergeräte eingebaut. Die Kojen waren zu vieren übereinandergestapelt.

»Wie viele Leute werden Sie zum Kometen mitnehmen, Captain?«, fragte sie, sich plötzlich der Größe ihrer Aufgabe bewusst werdend.

»Ungefähr tausend«, sagte er. »Goliath wird das Wohnschiff sein, während Gargantua und Godzilla für den Transport der Schwerausrüstung und der Vorräte eingesetzt werden.«

In der Messe drängten sich die Schiffsoffiziere. Nicht nur die höheren Offiziere der Goliath waren anwesend, sondern auch die Kapitäne, Ersten Offiziere und Chefingenieure der beiden anderen Schiffe. Barbara ordnete ihre Notizen auf einem Podium und reichte den Datenspeicher, den sie brauchen würde, einem Raumfahrer. Als alles so weit war, bat sie darum, das Licht zu dimmen.

»Guten Morgen, meine Damen und Herren«, begann sie. »Mein Name ist Barbara Martinez, und ich nehme als Programmiererin am Unternehmen Donnerschlag teil. Ich bin hier, um Sie über das zu unterrichten, was wir bis jetzt über den Kometenkern herausgefunden haben, und um Ihre Fragen zu beantworten.«

Barbara rief die erste Grafik ab, eine Gesamtansicht von Donnerschlag, vom Raum aus gesehen. Sie erläuterte, was der Kometenkern war und warum er eine Gefahr darstellte, dann gab sie einen Überblick der Oberflächenmerkmale. Als sie zum Ground-Zero-Krater kam, erläuterte sie Gwilliam Potters Plan, einen großen Brocken herauszusprengen, um die Bahn des Kometen zu verändern. Als sie ihre Erklärungen beendet hatte, hob ein grauhaariger Raumkapitän die Hand.

»Ja, Sir. Sie sind wer?«

»Captain Jacques Marche, von der Godzilla. Diese Antimateriebomben, die jedes Schiff befördern soll – wie viele sind es?«

»So viele wie möglich, Captain. Im Moment haben wir achtunddreißig Kilogramm Antimaterie für die Sprengladungen vorgesehen. Sie dürfen mir glauben, dass wir jedes einzelne Lager im Sonnensystem leerräumen mussten, um diese Menge zu bekommen.«

»Wird es reichen?«

»Wir glauben ja. Nicht alles wird gleich beim ersten Versuch eingesetzt werden. Wenn der Komet beim ersten Mal kein ausreichend großes Stück abspaltet, versuchen wir es noch öfter. Der Systemrat hat alle Kraftwerke im Orbit angewiesen, mit voller Kraft Antimaterie zu produzieren, selbst wenn sie die Lieferung anderer Energien an die Erde einschränken müssen. Dadurch werden vor dem Tag ›Z‹ ein paar weitere Kilogramm Antimaterie verfügbar.«

»Tag ›Z‹?«

»Tag des Zusammenstoßes.«

»Wie ich höre, erreichen wir den Kometen ein ganzes Jahr vor diesem Datum«, sagte ein anderer Kapitän.

»Das ist richtig. Wir hoffen, dass wir die erste Ladung bei Z minus 250 werden zünden können. Anschließend werden wir alle dreißig Tage sprengen, falls es sich als nötig erweisen sollte.«

»Ich mache mir Sorgen um mein Schiff. Ich bin gebeten worden, die Tanks auf der Hinreise leerzufliegen. Warum nicht etwas später ankommen und Treibstoff für Notfälle aufsparen?«

»Wir müssen den Kern so schnell wie möglich erreichen«, antwortete Barbara. »Je näher Donnerschlag der Erde kommt, desto schwieriger wird es, ihn dahin zu bringen, dass er sie verfehlt.«


Amber bewegte sich unruhig im Schlaf und wunderte sich, warum es so kalt war. Sie musste wieder im Kälteschlaftank sein, sagte sie sich. Suchend streckte sie einen Arm aus, in der Hoffnung, die manuelle Abschaltung zu finden. Nicht da. Sie fühlte sich, als wären ihre Glieder in schwere Gaze gewickelt. Die Kälte wurde mit einem Mal schlimmer, und irgendwo in ihrem Schädel begann ein heftiges Hämmern. Sie öffnete die Augen und blickte nach oben. Ein schneeweißes Glänzen reflektierte ihre Instrumentenlämpchen einen Zentimeter vor ihrem Gesicht.

Schneeweißes Glänzen!

Ihre Erinnerung sprang zu dem Moment zurück, als sie und Kyle fassungslos zu einer Eisschicht hochstarrten, die langsam auf sie herunterfiel.

»Keine Panik«, hatte ihr Stormgaard geraten. »Schwenken Sie Ihre Lampe nach Westen, während ich es im Osten versuche. Schauen Sie, ob Sie den Rand des Erdrutsches ausmachen können.«

Sie tat, wie er ihr gesagt hatte. Die gesamte Nordwand der Spalte schien eingedrückt zu sein. So weit ihre Lampe reichte, sah Amber über sich nichts als Eis. Der Anblick erinnerte sie an Bilder, die Taucher unter den polaren Eiskappen der Erde aufgenommen hatten. Sie gab ihre Beobachtung an Stormgaard weiter.

»Hier das Gleiche«, sagte er. »Wir werden uns durchkämpfen müssen. Antrieb auf volle Leistung. Arme anlegen. Haben Sie keine Angst, dass der Helm zerbrechen könnte. Er hält mehr aus als Sie.«

Sie hatte geschluckt und seinen Rat befolgt, und sie waren in die Höhe geschnellt, auf die herabfallende Lawine zu. Amber erinnerte sich an ein lautes Krack, als ihr Helm gegen die herabfallende Schicht aus schmutzigem Weiß gestoßen war. Stormgaards Beteuerungen zum Trotz wartete sie auf den Luftzug, der die beginnende explosive Dekompression ankündigen würde. Der Helm hielt, doch bei dem Aufprall schlugen ihre Zähne aufeinander. Der Eisrutsch war nicht massiv, sondern bestand aus faustgroßen Brocken. Sie konnte am Bombardement erkennen, dass sie an Höhe gewann. Es war, als würde man mit Steinen beworfen. Dann hörte das Geprassel auf, und das vor ihrem Visier herabfallende Eis verlangsamte sich. Plötzlich war das Eis um sie herum zum Stillstand gekommen. Sie wurde von der allgemeinen Abwärtsbewegung wieder nach unten gezogen.

»Kyle, ich sitze fest!«, funkte sie. Ihr Ausruf wurde nicht beantwortet. Entweder war die Antenne abgebrochen, oder Stormgaard wurde durch zu viel Eis abgeschirmt. Amber bedachte ihre Zwangslage. Der Eisrutsch würde den Boden der Spalte in wenigen Sekunden erreichen, und dann würde es ein fürchterliches Knirschen geben. Sie musste sich befreien, bevor es dazu kam.

Dann wurde es dunkel um sie. Als sie das Bewusstsein wiedererlangte, war es ihr, als befände sie sich wieder im Kälteschlaf. Sie passte ihre Augen an, um auf das elmchronometer zu sehen. Es war eine Stunde her, dass sie und Stormgaard die Spalte betreten hatten, und beinahe eine halbe Stunde, dass sie ihren panischen Aufstieg begonnen hatten. Eine halbe Stunde. Wurde sie bereits vermisst? Machte sich jemand Sorgen um sie? Vielleicht waren sie bereits oben und heftig am graben, um zu ihr vorzustoßen. Falls ja, müssten sie sich beeilen.

Sie versuchte Arme und Beine zu bewegen und stellte fest, dass sie festgehalten wurde. Das verwunderte sie zunächst. Wenn sie sich nun den Nacken gebrochen hatte? Dann gewann die Vernunft die Oberhand. Wenn sie gelähmt wäre, sagte sie sich, hätte sie nicht ihre Finger und Zehen spüren können. Sie taten sämtlich entweder weh oder kribbelten. Es fühlte sich beinahe so an wie damals, als sie nach einem Experiment im Chemieunterricht Erfrierungen bekommen hatte.

Erfrierungen!

Bei dem Gedanken daran neigte sie den Kopf nach vorn, um mit dem Kinn den Heizregler zu verstellen, wobei sie feststellte, dass er bereits auf voller Leistung stand. Plötzlich wurde ihr der Grund für ihre Unbeweglichkeit klar. Bei der geringen Schwerkraft des Kerns und dem lose gepackten Eis um sie herum hätte sie in der Lage sein müssen, sich zu bewegen. Die Tatsache, dass sie sich nicht rühren konnte, deutete auf eine bedrohlichere Möglichkeit hin.

Verglichen mit der Temperatur des umgebenden Eises glühte Ambers Körper beinahe. Ihr Raumanzug war dazu gedacht, ihre Körperumgebung vor der Wärme zu schützen, die sie abstrahlte, und sie gleichzeitig in seinem Innern warmzuhalten. Während sie bewusstlos gewesen war, hatte ihr Anzug das Eis geschmolzen und sie in eine Wasserlache getaucht. Als die Außenseite des Anzugs abgekühlt war, hatte sich das Wasser jedoch wieder in Eis verwandelt. Als Amber erwacht war, war sie im Zentrum eines Eisblocks von ungewisser Dicke festgefroren.

Erst jetzt begann sie sich zu ängstigen. Im Hinterkopf hatte sie an ihre Luftvorräte, Nahrung und Trinkwasser gedacht. Jetzt wusste sie, dass nichts davon wichtig war. Das einzig Wichtige war die Kälte. Sie konnte bereits fühlen, wie sie in ihre Extremitäten einsickerte und sie betäubte. In weiteren zehn Minuten würde sie jegliches Gefühl in den Gliedern verloren haben. Weniger als eine halbe Stunde später würde sie starr gefroren sein, tote Anhängsel eines sich rasch abkühlenden Rumpfes.

Sie wusste, dass es nicht mehr darauf ankam, wie rasch die Retter vom Schiff eintreffen würden. Es war bereits zu spät. Wenn man sie ausgrub, würde sie so steifgefroren sein wie der Eisblock, in den sie eingebettet war. Bei der plötzlichen Erkenntnis, dass sie dem Tod entgegensah, begann Amber leise zu schluchzen. Das Geräusch hallte durch ihren Helm, als wollte es sie verspotten.


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