27


Tom Thorpe hatte keine Schwierigkeiten, sein Ziel auszumachen, als er mit dem Hüpfer tausend Meter über dem zerklüfteten Gelände des Ödlands nördlich des Ground-Zero -Kraters flog. Vor ihm stieg eine glockenförmige Wolke aus Eiskristallen von der Stelle aus in den tiefschwarzen Himmel, wo die schweren Laser der Arbeitsmannschaften einen tiefen Schacht bohrten. Drei weitere Wolken waren am Horizont sichtbar. Nach zehn Wochen knochenharter Arbeit wurden die letzten vier Bohrungen gerade vollendet. In einer Woche würde Donnerschlag weitgehend verlassen sein. Wieder eine Woche später würden mehr als zwei Dutzend Antimateriebomben ihren Inhalt gleichzeitig in das umgebende Eis abgeben. Dann würden sie wissen, ob ihre Anstrengungen vergeblich gewesen waren.

Thorpe brachte die Basis der nächstgelegenen Wolke mit einer elektronischen Peilmarke zur Deckung. Ein kurzer Daumendruck ließ das kleine Luftfahrzeug vom plötzlichen Rückstoß der Steuerdüsen krängen. Das Haupttriebwerk sprang an und richtete die Flugbahn auf die Bohranlage aus.

»Danke fürs Mitnehmen«, sagte Amber neben ihm. »Ich bin zu lange im Schiff eingesperrt gewesen.«

»Eine andere Möglichkeit, dass wir zusammen sein konnten, ist mir nicht eingefallen. Außerdem hört Hilary Dorchester dann endlich auf darauf herumzureiten, dass ich einen Assistenten bräuchte.«

»Geh nur darauf ein, und ich kratz dir die Augen aus«, warnte Amber.

»Es ist doch schön, wenn man geliebt wird.«

Sie flogen schweigend weiter, bis sich der Hüpfer der Bohrung bis auf einen Kilometer genähert hatte. Die Eiswolke war gewaltig angewachsen und sah aus wie der Trichter eines Tornados, ein Wirbelsturm, der sich bis in die Unendlichkeit zu erstrecken schien. Irgendein Witzbold hatte die Wolken ›Bohnenstangen‹ getauft, und die Bohrmannschaften wurden des Öfteren gemahnt, nach herabsteigenden Riesen zu schauen.

»Zeit, der Crew die schlechten Nachrichten mitzuteilen«, sagte Thorpe. Er wählte den allgemeinen Anrufkanal. »Laser Sechs, hier ist Jumper Zwei. Ich bin zwei Minuten entfernt und im Abstieg begriffen. Bereithalten zur Inspektion.«

Die knappe Bestätigung kam augenblicklich und wurde, wie Thorpe vermutete, von einer Reihe deftiger Flüche gefolgt. Seitdem er die Rolle des Generalinspekteurs einnahm, hatten seine Besuche zahlreichen Arbeitern den Verlust von Privilegien und Lohneinbußen eingebracht. Derlei Maßnahmen hielten die Leute auf Trab, waren jedoch nicht dazu angetan, ihn bei den Vakuumaffen lieb Kind zu machen.

Der Hüpfer verlangsamte, bis er hundert Meter vor der Wolke zum Stillstand kam, und senkte sich langsam herab. Thorpe übernahm die manuelle Steuerung und landete die Maschine. Das Gelände war mit Geräten übersät und wurde dominiert von der Energieversorgungseinheit der Bohrer. Dicke Stromkabel schlängelten sich zu dem Dreibein hinüber, das man über einem 30-cm-Bohrloch errichtet hatte, aus dem die ›Bohnenstange‹ in die Höhe schoss.

Als sie sich dem Loch näherten, bemerkten sie ein tiefes trommelndes Geräusch, das durch den Boden und ihre Stiefelsohlen drang. Dann gelangten sie an eine Stelle, von der aus sie freie Aussicht auf den Laserbohrer hatten. Seine Stützbeine waren in schweren Felsbrocken verankert, und die Spitze verschwand in der Dampffontäne, die aus der Bohrung fauchte. Der Bohrkopf erzeugte zwei separate Laserstrahlen.

Der mittlere Strahl war ultraviolett und ultrastark. Er schwenkte ständig in einem engen Winkel hin und her und höhlte so den Boden des Lochs aus. Dieser innere Frässtrahl erzeugte dort, wo er auftraf, ein hohes Vakuum und besaß immer noch genügend Energie, um das massive Gestein am Grund der Bohrung zu durchschneiden.

Der zweite Strahl umgab den ersten und war blaugrün. Er füllte das ganze Bohrloch mit einer leuchtenden aquamarinblauen Farbe. Der äußere Strahl hielt den Dampf in einem Zustand der Überhitzung. Andernfalls wäre der Dampf an den extrem kalten Wänden kondensiert und hätte die Bohrung bald mit flüssigem Wasser aufgefüllt.

»Hallo, Mr. Thorpe, Miss Hastings«, begrüßte sie Roger Borokin, der Vorarbeiter des Bohrteams. »Ich habe mir schon gedacht, dass ich Sie heute sehen würde.«

»Warum haben Sie das gedacht?«, fragte Thorpe.

»Es war logisch. Wir sind eines der letzten vier aktiven Bohrlöcher, und wir sind dabei, Schluss zu machen. Das ist unsere letzte Chance, noch eins auf den Kopf zu bekommen, bevor wir hier dichtmachen.«

Thorpe lachte. »Bin ich so leicht zu durchschauen? Eigentlich ist die Inspektion nur ein Vorwand. Ich wollte, dass Miss Hastings den Bohrvorgang aus der Nähe sieht.«

»Vorwand oder nicht, wir sind auf Sie vorbereitet. Mein Arbeitsprotokoll ist auf dem letzten Stand, und alle meine Leute kennen ihre Aufgaben.«

»Wie weit sind Sie gekommen?«

»Siebzehn Kilometer. Wir müssten jeden Augenblick in das Störungssystem Zwölf durchstoßen. Wenn wir so weit sind, lassen wir den ferngesteuerten Bohrer ins Bohrloch hinunter und höhlen eine Kammer für die Sprengladungen aus. Anschließend packen wir zusammen und machen uns auf zum Schiff.«


»Steuerdüsen des Frachtmoduls klarmachen, Chefingenieur.«

»Steuerdüsen klar, Captain.«

»Systeme überprüfen.«

»Alle Systeme zeigen grün.«

»Hat jemand daran gedacht, die Verankerung zu entriegeln?«

»Ankerseile entriegelt, Captain. Ich habe sie selbst überprüft. Zweimal.«

»Sehr schön. Letzter Manövercheck. Wenn jemand einen guten Grund kennt, warum wir nicht starten sollten, dann heraus mit der Sprache. Niemand? Einminuten-Countdown, Mr. Velduccio.«

»Jawohl, Captain. Einminuten-Countdown läuft … neunundfünfzig … achtundfünfzig …«

Karin Olafson blickte zu der Panoramakuppel hoch, auf der das startbereite Frachtmodul zu sehen war. Er sah fast genauso aus wie am Tag seiner Ankunft. Alles wieder einzuladen hatte drei Tage gedauert. Dennoch betrug die Masse des Moduls weniger als die Hälfte wie zum Zeitpunkt der Landung.

Unter den Ausrüstungsgegenständen, die man zurücklassen würde, befanden sich beide MoonJumper. Tom Thorpe benutzte Nummer zwei immer noch zur Fortbewegung. Hüpfer eins lag zerschmettert irgendwo im westlichen Ödland, Opfer eines Landeunfalls in der vorherigen Woche. Der Pilot, Emilio Rodriguez, hatte sich einen Arm gebrochen, während sein Passagier, Leon Albright, ohne eine Schramme davongekommen war. Karin Olafson fragte sich, ob die beiden Männer wussten, wie viel Glück sie dabei gehabt hatten.

Als sie den Boden des Ground-Zero-Kraters überblickte, empfand sie eine vorübergehende Traurigkeit. Die vergangenen Monate hatten zu den aufregendsten ihres Lebens gezählt.

»Dreißig Sekunden … zwanzig … fünfzehn … zehn …«

»Automatik klarmachen.«

»Autopilot eingeschaltet, Captain«, kam die Antwort von ihrem Mann.

»… fünf … vier … drei … zwei … eins … ab geht’s!«

Über der Eisebene erwachte das Frachtmodul zum Leben, als Feuer aus seinen überdimensionalen Korrekturtriebwerken brach. Die Abgase wirbelten Wolken von Ammoniakschnee auf. Das Modul hob langsam ab, dann begann es zu beschleunigen. Im Weitersteigen legte es sich auf die Seite und verschwand nach Norden.

»Wir haben es im Bild, Captain«, meldete Dieter Schmidt. »Sollflugbahn wird eingehalten.«

»Sehr schön, Mr. Schmidt. Machen Sie uns fertig zum Start.«

»Habitatmodul ist startklar, Captain.«

»Verankerung?«

»Ausgekuppelt.«

Karin nickte. Sie hatte die Anker selbst überprüft. Nur wenige Dinge konnten verhängnisvoller sein als eine Landestütze, die beim Start noch fest mit der Oberfläche verbunden war. So etwas konnte einem den ganzen Tag verderben.

»Alle Passagiere an Bord?«, fragte sie.

»Zwölf Leute an Bord und gesichert, Captain«, meldete Cybil Barnard über InterKom. »Tom Thorpe, Amber Hastings, mein Mann, Chen Ling Tsu, Bradford Goff und Hilary Dorchester sind nicht an Bord.«

Karin Olafson nickte. Sie startete nicht gerne ohne vollzählige Besatzung, aber sie konnte nichts daran ändern. Thorpe, Hastings und Barnard waren gezwungen, noch eine weitere Woche am Boden zu verbringen. Sie würden das Positionieren der letzten Antimaterieladungen überwachen. Die anderen wurden noch bei den Arbeitsmannschaften gebraucht.

»Fertigmachen zum Start!«

»Maschine, fertig zum Start.«

»Funker, fertig zum Start.«

»Ladung gesichert. Alle Passagiere angeschnallt.«

»Korrekturtriebwerke klarmachen!«

»Korrekturtriebwerke sind klar.«

»Schalten Sie auf allgemeine Durchsage!«

»Ist geschaltet, Captain.«

»Achtung, an alle. Fertigmachen zum Start. Falls Sie noch irgendwohin müssen, haben Sie Ihre Chance verpasst. In zwei Minuten heben wir ab. Ich wiederhole, Start in zwei Minuten.«

Es entstand eine lange Pause, während der sie die Countdownanzeige beobachtete. »Sie können einen weiteren Countdown beginnen, Mr. Velduccio. Übertragen Sie ihn ins Schiff.«

»Aye, aye, Captain … Start in sechzig Sekunden … neunundfünfzig … achtundfünfzig …«

»Tut es dir leid, abfliegen zu müssen, Karin?«, fragte ihr Mann über ihren privaten Funkkanal.

»Ein bisschen. Es hat Spaß gemacht, oder?«

»Das hat es. Mir tut’s auch leid, dass es zu Ende geht.«

»Denk einfach an das Feuerwerk hier in einer Woche.«

»Da ist etwas dran«, stimmte Stormgaard zu.

»Zehn Sekunden bis zum Start, Captain.«

»Sehr schön, Mr. Velduccio.«

»Fünf … vier … drei … zwei … eins … Zündung!«

Ein tiefes Grollen hallte durch das Habitatmodul, während der Kontrollraum zu beben begann. Karin Olafson ließ ihren Blick über die Anzeigen schweifen. Alle Werte waren normal. Sie betätigte den Schalter, der die Korrekturdüsen auf volle Leistung brachte. Plötzlich kippte die entfernte Ringwand des Ground-Zero-Kraters, während der Boden zurückfiel. Bevor das Habitatmodul nach Norden davonschoss, erhaschte sie einen Blick auf das von den Arbeitern weitgehend verlassene Basislager. Karin Olafson erlaubte sich den Luxus eines Seufzers.

Sie war wieder ein Raumkapitän.


Eine Woche später näherte sich Tom Thorpe der Admiral Farragut mit dem MoonJumper. Das Schiff war wieder so, wie er es zum ersten Mal gesehen hatte – Antriebseinheit, Frachtmodul und Habitatkugel waren wieder zu einem funktionsfähigen Ganzen zusammengefügt.

»Heimkommen ist doch was Schönes, selbst wenn es so eine Sardinenbüchse ist«, murmelte er.

»Finde ich auch«, antwortete eine weibliche Stimme in seinen Ohrhörern.

Die Kabine des Hüpfers war voller Menschen. Neben Thorpe saß Amber, ihren Anzug fest gegen seinen gepresst. Neben ihr, eingekeilt auf einer Sitzbank, die eigentlich für zwei Personen gedacht war, saß Cragston Barnard. Während ihrer letzten Woche auf dem Kometen waren alle drei für kaum ein paar Stunden aus ihren Anzügen herausgekommen. Am Morgen hatten sie zugesehen, wie der letzte der tiefen Schächte mit Wasser gefüllt worden war. Innerhalb weniger Stunden war das Wasser zu einem Stöpsel von mehr als zwölf Kilometern Länge erstarrt. Nur ein dickes Kontrollkabel, das den Sprengbefehl weiterleiten würde, führte durch den Stöpsel bis nach unten.

Sie hatten insgesamt achtunddreißig Schächte gebohrt, sechs mehr als ursprünglich geplant. Jede einzelne Sprengvorrichtung war sorgfältig innerhalb einer größeren Verwerfung platziert worden. Anders als die auf dem Prinzip der Kernspaltung oder Kernfusion beruhenden Bomben, deren ganze Energie innerhalb von Nanosekunden freigesetzt wurde, benötigten Antimateriesprengkörper Millisekunden, um ihr Maximum zu erreichen. Aufgrund der Verzögerung würden die Annihilierungsprodukte – Pionen und Gammastrahlen – tief in das umgebende Eis eindringen können. Ziel war es, unter dem gesamten Ground-Zero-Krater ein unter hohem Druck stehendes Dampfpolster zu erzeugen. Für diesen Zweck eignete sich eine langsame Energiefreisetzung besser als eine rasche.

»Es wird guttun, sich wieder einmal zu waschen«, sagte Amber mit einem sehnsuchtsvollen Blick zum Schiff hinüber. »Fünf Tage im Raumanzug, das ist ein Dauerrekord, den ich niemals brechen möchte.«

Barnard lachte. »Es ist gut, dass ich hier drin eingeschlossen bin. Nicht einmal meine Frau würde meinen Geruch aushalten.«

»Die Zeit müsste gerade reichen, um sich zu waschen, etwas Warmes zu essen und sich vor der Detonation noch ein bisschen auszuruhen.«

»Wie lange noch?«

Thorpe blickte auf sein Anzugchronometer. »Vier Stunden und siebzehn Minuten. Bis Donnerschlag seine östliche Hemisphäre dem Jupiter zuwendet.«

Amber und Barnard beobachteten schweigend, wie Thorpe den Hüpfer dem Frachter entgegenlenkte. Einhundert Meter vor der Schleuse Eins brachte er ihn zum Stehen.

»Ich will nicht näher heran«, erklärte er. »Wär nicht schön, jetzt noch irgendwo gegenzuknallen, wo wir fast schon zu Hause sind. Ihr werdet springen müssen.«

»Kein Problem«, antwortete Barnard. Der Astronom öffnete die Luke und kletterte auf die Hülle hinaus. Thorpe vergewisserte sich, dass die Korrekturdüsen abgeschaltet waren. Als die Schiffsschleuse aufging, sah man eine Gestalt, die sich vor der Innenbeleuchtung abhob.

Barnard flog die hundert Meter zum Schiff hinüber. Er landete mit den Füßen voran auf der Hülle und ließ sich hineinhelfen. Sobald er drinnen war, schloss sich die Schleusentür für eine lange Minute, dann öffnete sie sich wieder.

»Du bist dran, mein Schatz.«

»Wir sehen uns dann drinnen«, erwiderte Amber, als sich ihre behandschuhten Hände berührten. Sie konnten einander durch die dicken Handschuhe hindurch nicht fühlen, aber darauf kam es gar nicht an. Amber folgte dem Beispiel Barnards und schwebte durch die offenstehende Luke hinaus. Eine Minute darauf verschwand sie ebenfalls in der Schleuse Eins.

»Nun, altes Streitroß, ich schätze, das ist der Abschied«, sagte Thorpe, während er seine Anweisungen in den Autopiloten programmierte. Die Worte waren Teil eines Dialogs aus einem alten Film, den er einmal gesehen hatte. Aus irgendeinem Grund kamen sie ihm passend vor.

Thorpe bewegte sich durch die Backbordluke und richtete sich sorgfältig auf das Habitatmodul des Schiffes aus. Nachdem er sich von der Außenhülle des kleinen Flugapparats abgestoßen hatte, schwebte er über den Abgrund und landete mit dem Kopf voran, wobei er sich mit ausgestreckten Armen abfing, um die Energie zu absorbieren. Dann packte er den Griff und schwang die Füße herum, um sich zügig in die offene Schleuse gleiten zu lassen.

»Willkommen zu Hause«, sagte Dieter Schmidt.

»Danke.«

Schmidt streckte die Hand nach den Kontrollen aus, aber Thorpe hielt ihn auf. »Warten Sie eine Sekunde. Ich will mir das ansehen.«

Die beiden Männer beobachteten den Hüpfer noch für einen Moment. Plötzlich erwachte sein Triebwerk zum Leben, und er begann sich von der Admiral Farragut zu entfernen.

»Wo haben sie ihn hingeschickt?«

»Ich hab ihm nur einen kurzen Zehn-Meter-pro-Sekunde-Stoß gegeben, um ihn von der Flotte wegzubekommen. Okay, lassen Sie uns reingehen.«

Die Außentür schloss sich. Thorpe hörte auf einmal das Rauschen von Luft, während sein Anzug um ihn herum zusammenfiel. Er löste den Helm, sobald die Schleusenanzeigen Grün anzeigten. Die Innentür öffnete sich langsam nach außen, dahinter erschien eine helmlose Amber Hastings, die in der Vorkammer wartete. Bevor er sich bewegen konnte, war sie bereits bei ihm und warf ihm ungeschickt die Arme um den Hals. Sie küssten sich eidenschaftlich, bis ihnen die Luft ausging.

»Das hatte ich schon seit fünf langen Tagen vor«, flüsterte Amber. »Willkommen zu Hause, Liebster!«

»Ja, willkommen. Lust, zusammen zu duschen?«

Sie rümpfte die Nase. »Je früher, desto besser!«


Die kleine Flotte hing bewegungslos in eintausend Kilometern Höhe über dem Kern im Raum. Aus dieser Entfernung nahm Donnerschlag dreißig Winkelgrade ein, was ihm die sechzigfache Größe des Vollmonds von der Erde aus betrachtet gab. Die Beobachtungsposition war mit Vorbedacht ausgesucht worden. Sie lag weit genug weg, dass das menschliche Auge den ganzen Kern mit einem Blick erfassen konnte, andererseits auch nah genug, dass die Messinstrumente der Flotte alles minutiös würden aufzeichnen können. Die Entfernung war außerdem so groß, dass die Schiffe durch die Explosion nicht gefährdet werden würden.

»X minus zehn Minuten, Countdown läuft.«

Die Ankündigung des Flaggschiffs hallte durch die Messe der Admiral Farragut, wo sich die meisten Expeditionsteilnehmer versammelt hatten. Amber war neben Thorpe in eine Ecke gezwängt, während die anderen sich vor dem Holoschirm drängten. Kapitän Olafson, Ingenieur Stormgaard und die beiden Barnards hatten es vorgezogen, vom Kontrollraum aus zu beobachten. Niemand, so schien es, wollte die Explosion für sich alleine miterleben.

»Glücklich?«, fragte Thorpe, indem er seinen Griff um Ambers Taille für einen Moment verstärkte.

Sie überlegte für einen Moment, dann nickte sie. »Und du?«

»Ich bin froh, dass es so gut wie vorbei ist. Noch zehn Minuten, und wir können unser Leben wieder planen.«

»Welche Pläne hast du, Tom, wenn das alles vorüber ist?«

Er sah sie lange an. »Ich dachte mir, ich frage dich, ob du mich heiraten willst.«

»Ist das dein Ernst?« Sie suchte in seinem Gesicht nach einem Anzeichen dafür, dass sein Angebot nur ein Beispiel seines verschrobenen Humors war.

Er erwiderte ruhig ihren Blick. »So ernst, wie man es nur meinen kann. Falls du mich überhaupt haben willst.«

»Du alter Trottel! Natürlich will ich dich. Die letzten sechs Monate über habe ich kaum an etwas anderes gedacht.«

»Na prima. Dann können wir ja den Kapitän die Zeremonie gleich nach der Zündung durchführen lassen.«

»Vielleicht will sie damit nicht behelligt werden.«

Er zuckte mit den Achseln. »Dann wechseln wir eben zur Gargantua über und lassen es deren Kapitän machen. Das wäre mir egal.«

»Was ist mit all deinen Freunden, und mit meinen?«

»Ich würde sagen, wir haben alle, die wir brauchen, hier vor der Nase.« Bis jetzt hatten sie sich mit leisem Flüstern unterhalten. Thorpe hob seine Stimme. »Wie steht’s mit euch, Leute? Lust auf eine Hochzeitsfeier heute Nachmittag?«

Allgemeines Hurrageschrei brach aus, gefolgt von Gratulationen. Dann brachte sie jemand zum Schweigen, als die zweite Durchsage vom Flaggschiff kam.

»X minus fünf Minuten, Countdown läuft!«

Auf dem Schirm rotierte Donnerschlag langsam weiter, unbeeindruckt von dem, was geschehen würde. Die Region um den Krater war nicht zu sehen, da sie vor einigen Stunden in die Nachtzone übergewechselt war. Die Explosion sollte in dem Moment stattfinden, wenn sich der Krater mit dem Geschwindigkeitsvektor des Kerns in einer Linie befand. Auf diese Weise würde die abgespaltene Masse, wie groß sie auch sein mochte, entlang der Flugbahn zurückgeschleudert werden und dem Rest des Kerns den größtmöglichen Vorwärtsschwung vermitteln.

»Nervös?«, fragte Amber.

»Weil’s ans Heiraten geht? Nee.«

»Ich rede von der Explosion.«

»Ach, die! Weniger nervös als aufgeregt. Es ist ein bisschen wie das Warten aufs Christkind, als man noch ein Kind war.«

»Oder wie sich auf sein erstes Rendezvous vorzubereiten«, fiel jemand ein.

»Oder die Abschlussprüfungen in der Schule«, fügte Amber hinzu.

»Ich bin seit meiner zweiten Heirat nicht mehr so nervös gewesen«, warf Leon Albright ein.

»Was war damit? Hat sie Sie versetzt?«

»Nein, viel schlimmer«, erwiderte der Geologe. »Wenn ich ihr nicht jeden Monat Alimente zahlen müsste, hätte ich mich niemals für diese verrückte Expedition gemeldet.«

Sein Scherz erntete mehr Gelächter, als er verdiente. Thorpe blickte zu John Malvan hinüber, der seinen Arm um Hilary Dorchester gelegt hatte.

»Tut’s Ihnen leid, dass Sie mitgekommen sind, John?«

»Mir nicht«, antwortete der Lunarier. »Ich habe das Revidieren gehasst. Ich denke, ich werde mich darum kümmern, ob man diesen kleinen Brocken, den wir dabei sind abzuspalten, nicht abbauen kann. Er müsste genau die richtige Größe haben, um ihn in eine Erdumlaufbahn zu bringen, finden Sie nicht?«

»Da könnten Sie durchaus Recht haben!«, stimmte Thorpe zu. »Ich werde mich erkundigen müssen, ob Mr. Smith an einem solchen Projekt immer noch interessiert ist.«

»X minus eine Minute!«

Die Spannung war plötzlich mit Händen greifbar. Amber ergriff Thorpes Hand. In der Messe tat niemand einen Mucks.

»Zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier …«

»Dass alles gutgeht!«, flüsterte sie und drückte kurz seine Hand.

»… drei … zwei … eins … Zündung!«

Die Nachtseite von Donnerschlag wurde unvermittelt taghell, als achtundzwanzig Fontänen von blendender Helligkeit aus der Kruste des Asteroiden brachen und in den tief schwarzen Himmel stiegen. Auf dem Bildschirm stand der Kern in Flammen. Einzelheiten, die bisher in der Dunkelheit verborgen gewesen waren, waren plötzlich wie herausgemeißelt, mit von violett-weißem Glanz umsäumten Umrissen und scharfrandigen Schatten.

Die Geiser aus Feuer tosten himmelwärts, stießen in den Raum, dehnten sich im Vakuum aus, bis sie zu einem einzigen brodelnden Feuersturm aus gleißendem Licht verschmolzen. Weit unter ihnen fluoreszierte die hauchdünne Koma, die das Licht der Explosion reflektierte.

In der Messe der Admiral Farragut herrschte langes Schweigen, gefolgt von einem Tumult, als alle gleichzeitig zu sprechen versuchten. Thorpe rief, sie sollten still sein. Es dauerte mehrere Sekunden, bis das Stimmengewirr verstummte. Endlich ertönte aus dem Schirm die Durchsage des Flaggschiffs.

»Die Kruste hat nicht gehalten! Wir haben zahlreiche Oberflächenbrüche … Die Oberflächensensoren melden ein heftiges Erdbeben, aber keine messbare Veränderung der Geschwindigkeit. Das Radar zeigt keine signifikante Abspaltung. Es ist zu keiner größeren Abtrennung gekommen …«

An Thorpes Seite blickte Amber entsetzt auf die vielen Dampfsäulen, die unkontrolliert in den Raum brodelten. Es war gar nicht leicht, diese Gewalt zu sehen und anzuerkennen, dass absolut nichts geschehen war. Sie beobachteten den Schirm lange Zeit schweigend.

»Wie konnten wir uns nur so schwer irren?«, fragte Amber schließlich. »Wir wussten doch, dass es bei einigen Schächten Probleme geben würde, aber doch nicht bei allen!«

»Du weißt nicht, ob sie alle geborsten sind«, erinnerte sie Thorpe.

»Aber jedenfalls ausreichend viele. Wir hätten irgendwo anders versuchen sollen, ein Stück herauszubrechen. Der Ground-Zero-Krater war schon zu stark geborsten.«

Er schüttelte den Kopf. »Das haben wir doch schon alles durchgekaut. Der GZK war der beste Ansatzpunkt.«

»Was fangen wir jetzt an, Tom?«

»Wir denken uns etwas Neues aus«, sagte er.

»Was denn Neues? Wir haben soeben achtundzwanzig Kilogramm Antimaterie verschwendet! Uns bleiben jetzt weniger als zehn Kilo.«

Als er sich in der Messe umsah, entdeckte Thorpe überall schockierte Gesichter. Er wusste, wie den anderen zumute war. Zu scheitern, das war, als habe man einen harten Schlag in den Magen bekommen. Der Misserfolg machte es schwierig, nachzudenken. Zum ersten Mal begann er sich zu fragen, ob die Menschheit wirklich verloren war. Bis jetzt hatte er diesen Gedanken unbarmherzig verdrängt. Er löste sich von Amber und stieß sich ab.

»Wo willst du hin?«, fragte sie, während sie sich große Tränen aus den Augen wischte.

»Ich werde mich betrinken. Kommst du mit?«

»Das ändert doch nichts.«

»Vielleicht nicht, aber ich werde mich danach besser fühlen.« Mit diesen Worten stieß er sich zur Luke der Messe ab. Kurz bevor er sie erreicht hatte, wandte er sich um und blickte auf den Holoschirm. Die Nachtseite von Donnerschlag kochte immer noch mit ungebrochener Gewalt, während ein Geiser aus Dampf in das schwarze Firmament emporstieg. Trotzdem setzte der Komet seinen Weg fort, unbeeindruckt vom Schlimmsten, was ihm die Menschheit antun konnte.


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