Stephen King


The Green Mile






Roman


Einleitung

Ich leide bisweilen an Schlaflosigkeit - was Leser dieses Romans mit der Chronik der Abenteuer von Ralph Roberts nicht überraschen wird -, und so versuche ich, für die schlaflosen Nächte eine Geschichte parat zu haben. Ich erzähle sie mir selbst, während ich in der Dunkelheit liege, schreibe sie im Geiste, als würde ich sie auf der Schreibmaschine oder mit der Textverarbeitung des Computers tippen. Oftmals kehre ich zum Anfang zurück, verändere Formulierungen, füge Gedanken hinzu, streiche Absätze, entwickle den Dialog, in jeder schlaflosen Nacht fange ich wieder von vorne an und komme ein wenig weiter, bevor ich einschlafe. Nach der fünften oder sechsten Nacht habe ich für gewöhnlich ganze Brocken von Prosa in der Erinnerung gespeichert. Dies klingt vermutlich ein bisschen verrückt, aber es ist tröstlich und als Zeitvertreib allemal besser als Schafe zählen. Diese Geschichten nutzen sich schließlich ab wie ein Buch, das man immer wieder liest (>Wirf es weg und kauf ein neues, Stephen<, sagte meine Mutter manchmal mit einem gereizten Blick auf einen geliebten Comic oder ein Taschenbuch. >Das ist ja ganz zerfleddert< Dann wird es Zeit, eine neue Geschichte zu suchen, und während meiner Schlaflosigkeit hoffe ich, dass mir bald eine neue einfällt, denn schlaflose Stunden sind lang.

1992 oder 1993 arbeitete ich an einer Gutenachtgeschichte, die ich >Wenn du deinen Augen nicht trauen kannst< taufte. Sie handelte von einem Mann in der Todeszelle - von einem riesigen Schwarzen - der ein Interesse an Taschenspielertricks entwickelt, während der Tag seiner Hinrichtung naht. Die Geschichte musste in der ersten Person erzählt werden, von einem alten Kalfakter, der einen Karren mit Büchern durch den Zellentrakt rollte und außerdem Zigaretten, billige Modeartikel und Kinkerlitzchen wie Haarwasser und Flugzeuge aus Wachspapier verkaufte. Am Ende der Geschichte, kurz vor seiner Hinrichtung, sollte der riesige Gefangene, Luke Coffey, sich selbst verschwinden lassen.

Es war eine gute Idee, aber die Story gelang mir einfach nicht. Ich versuchte hunderte Varianten, doch es klappte immer noch nicht. Ich gab dem Erzähler eine zahme Maus, die auf seinem Karren mitfuhr, und dachte, dies würde helfen, tat's aber nicht. Der beste Teil war der Anfang: >Dies geschah 1932, als das Staatsgefängnis noch in Evans Notch war. Lind der elektrische Stuhl natürlich -den die Insassen Old Sparky nannten<. Das klappte anscheinend; nichts sonst passte zusammen. Schließlich ließ ich Luke Coffey zugunsten einer Geschichte über einen Planeten fallen, auf dem die Leute aus einem bestimmten Grund zu Kannibalen werden, wenn es regnet. Und ich mag diese Story immer noch, also Hände weg, verstanden?

Dann, ungefähr anderthalb Jahre später, kam mir die Idee mit den Todeszellen wieder in den Sinn, aber mit einem anderen Blickwinkel - was wäre, dachte ich, wenn der riesige Bursche irgendein Heiler wäre. Statt eines angehenden Zauberers ein Simpel, der für Morde verurteilt wurde, die er nicht begangen, sondern hatte ungeschehen machen wollen?

Die Geschichte war zu gut, um zur Schlafenszeit vergeudet zu werden, befand ich, obwohl sie im Dunkeln begonnen hatte, und so ließ ich den ersten Absatz wieder aufleben und arbeitete im Geiste das erste Kapitel aus, bevor ich mit dem Schreiben begann. Der Erzähler wurde ein Wärter im Todestrakt anstatt eines Kalfakters, aus Luke Coffey wurde John Coffey (mit einer Verbeugung vor William Faulkner, dessen Christusgestalt Joe Christmas ist), und die Maus wurde ... nun, Mr. Jingles. Es war eine gute Geschichte, das wusste ich von Anfang an, aber sie war ungeheuer schwer zu schreiben. Andere Dinge beschäftigten mich und gingen mir anscheinend leichter von der Hand - das Drehbuch für die Fernseh-Miniserie „The Shining“ zählte dazu -, und ich ließ erst einmal die Finger von The Green Mile. Ich hatte das Gefühl, eine Welt fast ohne Vorgabe zu starten, denn ich wusste fast nichts vom Leben in einem Todestrakt im Grenzgebiet des Südens während der Weltwirtschaftskrise. Recherchen können das natürlich beheben, doch ich dachte, dass die Recherche vielleicht meinen anfälligen Sinn fürs Wundersame, den ich in meiner Geschichte gefunden hatte, zerstören könnte. Irgendwie wusste ich von Anfang an, dass ich keine Realität beschreiben wollte, sondern den Mythos. So machte ich weiter, sammelte Wörter und hoffte auf einen Zündfunken, auf eine Erleuchtung, auf irgendein Wunder.

Das Wunder kam in Form eines Fax von Ralph Vicinanza, meinem Agenten für Auslandsrechte, der mit einem britischen Verleger über die Fortsetzungsromane gesprochen hatte, die vor einem Jahrhundert von Charles Dickens verfasst worden waren. Ralph fragte mich - in der geringschätzigen Art von jemand, der nicht erwartet, dass aus der Idee etwas wird -, ob ich vielleicht Interesse hätte, mich an dieser Form zu versuchen. Mann, ich sprang sofort darauf an. Mir wurde gleich klar, wenn ich dem Projekt zustimmte, musste ich The Green Mile auch zu Ende schreiben. Ich fühlte mich wie ein römischer Legionär, der die Brücke über den Rubikon in Brand steckt, als ich Ralph anrief und ihn bat, den Vertrag abzuschließen. Das tat er, und den Rest kennen Sie. John Coffey, Paul Edgecombe, Brutal Howell, Percy Wetmore ... sie übernahmen und gaben der Geschichte Leben.

Es war toll.

The Green Mile erfuhr eine Art zauberische Akzeptanz, die ich nie erwartet hätte. Es hätte leicht eine

kommerzielle Katastrophe werden können. Aber die Reaktion der Leser war wundervoll, und diesmal

ließen sich sogar die meisten Kritiker hinreißen. Ich glaube, ich verdanke die gute Aufnahme des

Buchs den scharfsinnigen Vorschlägen meiner Frau und viel von seinem kommerziellen Erfolg der

harten Arbeit der Verlagsmitarbeiter von Dutton Signet.

Das Erlebnis aber, Fortsetzungsromane zu verfassen, habe ich allein gehabt. Ich schrieb wie ein

Wahnsinniger, versuchte den verrückten Veröffentlichungsplan einzuhalten und gleichzeitig das Buch

so anzulegen, dass jede Fortsetzung einen eigenen kleinen Höhepunkt hat wobei ich hoffte, dass alles

passte. Mir war klar, dass man mich hängen würde, wenn es nicht passte. Manchmal fragte ich mich,

ob Charles Dickens sich auch so fühlte und hoffte, dass die in der Handlung aufgeworfenen Fragen

sich selbst beantworteten. Wahrscheinlich ja. Zu seinem Glück bedachte Gott den guten Charles ein

bisschen mehr, als er die Talente verteilte.

Ich erinnere mich, dass ich bisweilen dachte, es wimmelte in den Fortsetzungen von den

ungeheuerlichsten Anachronismen, aber es stellte sich heraus, dass es bemerkenswert wenige gab.

Sogar der kleine >heiße Comic< mit Popeye und Olive Oil traf genau ins Schwarze: nach der

Veröffentlichung von Band 6 schickte mir jemand einen Sonderdruck von solch einem Comic, der um

1927 herum verlegt worden war. In einem denkwürdigen Bild treibt es Wimpy mit Olive und isst dabei

einen Hamburger. Teufel, es geht nichts über die menschliche Phantasie, oder?

Nach der erfolgreichen Veröffentlichung von The Green Mile gab es viele Diskussionen darüber, wie -

oder ob - der Stoff als vollständiger Roman herausgegeben werden sollte. Die Veröffentlichung in

Fortsetzungen war eine wunde Stelle für mich und ebenso für einige Leser, denn der Preis war sehr

hoch für ein Paperback; ungefähr neunzehn Dollar für alle sechs Fortsetzungen. Aus diesem Grund

war ein Verkauf aller sechs Bände im Schuber anscheinend nie die ideale Lösung. Dieser Band, ein

Taschenbuch zu einem günstigeren Preis, ist anscheinend die beste Lösung. So ist hier The Green Mile

in einem Band und fast so, wie es in Fortsetzungen veröffentlicht wurde (ich habe die Szene geändert,

in der Percy Wetmore, in eine Zwangsjacke gesteckt, eine Hand hebt, um sich den Schweiß vom

Gesicht zu wischen).

Irgendwann möchte ich den Roman völlig überarbeiten, zu einem Band umschreiben, den es in

diesem Format nicht geben kann, und neu veröffentlichen. Bis dahin muss dies hier reichen. Es freut

mich, dass so viele Leser Freude daran hatten. Und Sie wissen ja, The Green Mile erwies sich

schließlich doch noch als ziemlich spannende Gutenachtgeschichte.

Stephen King

Bangor, Maine

6. Februar 1997

* * *

VORWORT: EIN BRIEF

27. Oktober 1995 Liebe treue Leser,

das Leben ist eine launische Sache. Die Geschichte, die in diesem kleinen Buch beginnt, gibt es in dieser Form wegen der zufälligen Bemerkung eines Immobilienmaklers, den ich nie kennen gelernt habe.

Es geschah vor einem Jahr auf Long Island. Ralph Vicinanza, ein alter Freund und Geschäftspartner (er verkauft hauptsächlich die Veröffentlichungsrechte für Bücher und Kurzgeschichten ins Ausland), hatte dort gerade ein Haus gemietet. Der Immobilienmakler bemerkte, dass das Haus >wie etwas aus einer Geschichte von Charles Dickens< aussah.

Ralph erinnerte sich an die Bemerkung, als er seinen ersten Gast im Haus begrüßte, den britischen Verleger Malcolm Edwards. Er erzählte Edwards davon, und sie plauderten über Dickens. Edwards erwähnte, dass Dickens viele seiner Romane in Fortsetzungen veröffentlicht hatte, entweder als Beilage in Zeitschriften oder als eigene Ausgaben, so genannte >Chapbooks< (ich weiß nicht, woher diese Bezeichnung für ein Buch kommt, das kleiner als ein durchschnittliches ist, aber der vertrauliche und freundschaftliche Klang des Wortes hat mir stets gefallen). An einigen der Romane, fügte Edwards hinzu, wurde noch geschrieben und korrigiert, während die ersten Folgen bereits veröffentlicht wurden; Charles Dickens war ein Romanautor, der offenbar keine Angst vor Terminschwierigkeiten hatte.

Dickens' in Fortsetzungen veröffentlichte Romane waren enorm beliebt; sogar so beliebt, dass einer davon eine Tragödie in Baltimore heraufbeschwor. Eine große Gruppe von Dickens-Fans drängte sich im Hafen auf einem Pier und wartete auf die Ankunft eines englischen Schiffes mit Exemplaren der letzten Fortsetzung von The Old Curiosity Shop an Bord. Wie es heißt, stürzten in dem Gedränge einige der Möchtegern-Leser ins Wasser und ertranken.

Ich bezweifle, dass weder Malcolm noch Ralph jemanden ertrinken sehen wollen, aber sie waren neugierig, was geschehen würde, wenn heutzutage wieder die Veröffentlichung eines Romans in Fortsetzungen versucht werden würde. Keinem von beiden war auf Anhieb bewusst, dass es das schon mindestens zweimal gegeben hatte (es gibt wirklich nichts Neues unter der Sonne). Tom Wolfe veröffentlichte die erste Fassung seines Romans Fegefeuer der Eitelkeiten in Fortsetzungen im Rolling Stone Magazine, und Michael McDowell (TheAmulet, Gilded Needles, The Elementhals und das Drehbuch Beetlejuice) veröffentlichte einen Roman mit dem Titel Blackwater in Fortsetzungen im Taschenbuch. Dieser Roman -eine Horrorstory über eine Südstaatler-Familie mit der unangenehmen Eigenart, sich in Alligatoren zu verwandeln - war nicht McDowells bester, aber er wurde trotzdem ein guter Erfolg für Avon Books.

Die beiden Männer spekulierten weiter, was geschehen würde, wenn ein Autor von Unterhaltungsliteratur heutzutage versuchte, einen Roman in Chapbooks zu veröffentlichen - in kleinen Taschenbüchern, die vielleicht für ein Pfund oder zwei in Großbritannien oder für vielleicht drei Dollar in Amerika verkauft werden würden (wo die meisten Taschenbücher jetzt 6,99 Dollar oder 7,99 Dollar kosten). Jemand wie Stephen King könnte solch einem Experiment vielleicht einen interessanten Start geben, meinte Malcolm, und dann unterhielten sie sich über andere Themen. Ralph vergaß die Idee mehr oder weniger, aber sie fiel ihm im Herbst 1995 wieder ein, als er von der Frankfurter Buchmesse zurückkehrte, einer Art internationaler Handels-Show, bei der jeder Tag für ausländische Agenten wie Ralph ein Showdown ist. Er brachte mir das Thema Fortsetzung/Chapbook zusammen mit einer Reihe von anderen Ideen an, von denen die meisten automatisch abgelehnt wurden.

Die Idee mit dem Chapbook wurde jedoch nicht automatisch abgelehnt; im Gegensatz zum angebotenen Interview in der japanischen Ausgabe des Playboy oder der Tournee durch die baltischen Republiken, für die alle Spesen vergütet werden sollten, beflügelte sie meine Phantasie. Ich bezweifle, dass ich ein moderner Dickens bin - wenn es so jemanden gibt dann ist das vermutlich John Irving oder Salman Rushdie -, aber ich habe stets Geschichten geliebt die in Episoden erzählt werden. Es ist eine Form, auf die ich zum ersten mal in der Saturday Evening Post stieß, und sie gefiel mir, weil das Ende jeder Episode Leser und Schriftsteller zu fast gleichen Partnern machte - man konnte eine ganze Woche lang versuchen, die nächste Windung der Schlange herauszufinden. Außerdem, so kam es mir vor, las und erlebte man diese Geschichten intensiver, weil sie rationiert waren. Man konnte sie nicht verschlingen, selbst wenn man das wollte (und wenn die Story gut war, tat man es dennoch).

Das Beste von allem: Bei mir zu Hause lasen wir Geschichten oft laut vor - an einem Abend mein Bruder David, am nächsten ich, am übernächsten meine Mutter, dann wieder mein Bruder. Es war eine seltene Möglichkeit, ein geschriebenes Werk zu genießen wie die Filme und Fernsehprogramme (Rawhide, Bonanza, Route 66), die wir uns gemeinsam ansahen; sie waren ein Familienereignis.

Erst Jahre später wurde mir klar, dass Dickens' Romane in seiner Zeit auf sehr ähnliche Art und Weise erfreut hatten. Der Unterschied war nur, dass sie über Jahre hinweg am Kamin bei dem Schicksal von Pip und Oliver und David Copperfield mit leiden mussten oder sich freuen konnten - nicht nur ein paar Monate lang (selbst die längsten Serien in der Post hatten selten mehr als acht Fortsetzungen). Es gefiel mir noch etwas anderes an der Idee, ein Aspekt, den wohl nur der Verfasser von Spannungsromanen und Gruselgeschichten voll zu schätzen weiß: Bei einer Geschichte, die in Fortsetzungen veröffentlicht wird, gewinnt der Schriftsteller eine Überlegenheit über den Leser, die er sonst nicht genießen kann: Einfach gesagt, treue Leser, Sie können nicht vorausblättern und sehen, wie die Sache ausgeht.

Ich erinnere mich noch daran, wie ich einmal in unser Wohnzimmer spazierte, als ich zwölf war, und meine Mutter in ihrem geliebten Schaukelstuhl saß. Verstohlen blinzelte sie auf das Ende eines Agatha Christie Taschenbuchs, während ihr Finger das Buch erst bis Seite fünfzig oder so aufgeschlagen hielt. Ich war entsetzt, und das sagte ich ihr (ich war zwölf Jahre alt, wohlgemerkt, ein Alter, in dem Jungs verschwommen zu erkennen beginnen, dass sie alles wissen). Ich erklärte ihr, wenn man das Ende eines Krimis liest, bevor man tatsächlich dort anlangt, ist das so, als esse man die Marmelade eines Berliners und werfe dann den Berliner selbst weg. Sie lachte ihr wundervolles ungeniertes Lachen und sagte, das möge vielleicht so sein, aber manchmal könne sie einfach nicht der Versuchung widerstehen. Der Versuchung erliegen, das war eine Sache, die ich verstehen konnte: das passierte mir auch oft, sogar mit zwölf. Aber jetzt gibt es endlich ein amüsantes Mittel gegen die Versuchung. Bis die letzte Episode im Buchhandel eintrifft, weiß keiner, wie The Green Mae ausgeht, und das schließt mich vielleicht ein. Ralph Vicinanza konnte es unmöglich wissen, aber er erwähnte die Idee, einen Roman in Fortsetzungen zu veröffentlichen, bei mir in einem psychologisch perfekten Augenblick. Ich hatte mit einer Romanidee gespielt, mit einem Thema, bei dem mir klar war, dass ich es früher oder später anpacken musste: der elektrische Stuhl. >Old Sparky< hat mich fasziniert, seit ich meinen ersten James-Cagney-Film sah, und die ersten Geschichten über Todeszellen, die ich las (in einem Buch von Warden Lewis E. Lawes mit dem Titel Twenty Thousand Years in Sing Sing), regten die dunklere Seite meiner Phantasie an. Ich fragte mich, wie es sein mag, wenn man diese letzten vierzig Yards zum elektrischen Stuhl geht und weiß, dass man dort stirbt. Und, was das anbetrifft, wie mag es sein, wenn man der Mann ist, der den zum Tode Verurteilten festschnallt oder den Hebel betätigt? Was würde solch ein Job einem nehmen? Oder, noch gruseliger, was würde er einem vielleicht geben?

Ich hatte diese Grundideen im Laufe der vergangenen zwanzig oder dreißig Jahre bei einer Reihe verschiedener Rahmenhandlungen versucht, stets tastend, versuchsweise. Ich hatte einen erfolgreichen Roman geschrieben, der im Gefängnis spielt (Rita Hayword and Shawshank Redemptiori), und war zu dem Schluss gelangt, dass dieses Thema vermutlich ideal für mich war, als diese Idee zur Sprache kam. Es gab vieles, was mir daran gefiel, aber vor allem faszinierte mich die Stimme des Erzählers: leise, ehrlich, vielleicht ein bisschen naiv - er ist ein Stephen King-Erzähler, wie ich mir keinen besseren vorstellen kann. So machte ich mich an die Arbeit, aber auf vorsichtige Weise und mit Unterbrechungen. Das meiste des zweiten Kapitels wurde während eines durch Regen bedingten unfreiwilligen Aufenthaltes im Fenway Park geschrieben!

Als Ralph anrief, hatte ich ein gefülltes Notizbuch mit gekritzelten Seiten von The Green Mile, und ich erkannte, dass ich einen Roman aufbaute, während ich meine Zeit mit dem Überarbeiten eines bereits fertigen Buchs (Desperation - Sie werden es bald sehen, treue Leser) hätte verbringen sollen. Zu diesem Zeitpunkt war ich mit The Green Mile so weit, dass ich nur die Wahl hatte, es wegzulegen (und vermutlich nie wieder aufzunehmen) oder auf alles andere zu verzichten und weiterzumachen. Ralph schlug eine mögliche dritte Alternative vor, eine Geschichte, die auf die gleiche Art und Weise geschrieben werden konnte, wie sie gelesen wurde - in Fortsetzungen. Und mir gefiel auch der riskante Aspekt: verknall dich in den Job, schaffe es nicht, ihn termingerecht durchzuziehen, und auf einmal wollen dich ungefähr eine Million Leser skalpieren. Keiner weiß das besser als ich, abgesehen von meiner Sekretärin Juliann Eugley. Wir erhalten jede Woche Dutzende wütender Briefe, in denen das nächste Buch des Dark-Tower-Zyklus gefordert wird (Geduld, Fans von Roland; noch ein Jahr oder so, und Euer Warten wird ein Ende haben, das verspreche ich). Einer dieser Briefe enthielt ein Polaroidfoto, das einen Teddybär in Ketten zeigt, und dazu ist die Botschaft aus den ausgeschnittenen Buchstaben von Schlagzeilen aus Zeitungen und Zeitschriften aufgeklebt: BRING DAS NÄCHSTE DARK-TOWER-BUCH SOFORT HERAUS, ODER DER BÄR STIRBT.

Ich habe das Bild in meinem Büro aufgehängt, um mich an zweierlei zu erinnern: an meine Verantwortung und daran, wie wunderbar es ist, dass Leute sich tatsächlich ein wenig um die Geschöpfe meiner Phantasie sorgen.

Jedenfalls habe ich mich entschieden, The Green Mile in einer Serie kleiner Taschenbücher herauszubringen, in der Art und Weise des 19. Jahrhunderts, und ich hoffe, Sie werden mir schreiben und mir sagen, ob Ihnen (a) die Story gefällt und ob Sie (b) die selten genutzte, aber ziemlich amüsante Art der Veröffentlichung in Fortsetzungen mögen. Es war zweifellos ein Ansporn beim Schreiben der Geschichte, obwohl sie in diesem Augenblick (an einem regnerischen Abend im Oktober 1995) weit entfernt von der Fertigstellung ist, auch nicht in einem Rohentwurf, und das Ende ungewiss bleibt. Dies ist ein Teil der Spannung bei der ganzen Sache, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt mit Vollgas durch dichten Nebel fahre.

Vor allem möchte ich sagen, wenn Sie nur halb soviel Spaß beim Lesen haben, wie ich beim Schreiben hatte, können wir beide zufrieden sein. Genießen Sie es - und warum lesen Sie es nicht vor, abwechselnd mit Freunden? Das wird auf jeden Fall die Zeit verkürzen, bis die nächste Fortsetzung an Ihrem Kiosk oder bei Ihrem Buchhändler zu haben ist Unterdessen - passen Sie auf sich auf, und seien Sie gut zueinander. Stephen King

* * *


Teil 1 Der Tod der jungen Mädchen

Dies geschah 1932, als das Staatsgefängnis noch in Cold Mountain war. Und als der elektrische Stuhl ebenfalls dort war.

Die Insassen machten natürlich Witze über den Stuhl, wie Leute immer über Dinge scherzen, die ihnen Angst einjagen, denen sie jedoch nicht entkommen können. Sie nannten ihn Old Sparky oder Big Juicy. Sie rissen Witze über die Stromrechnung und über Direktor Moores, der in diesem Herbst zum Thanksgiving Day das Abendessen selbst kochen musste, weil seine Frau Melinda zu krank dazu war.

Aber für diejenigen, die auf diesem Stuhl Platz nehmen mussten, war es mit dem Humor schnell vorbei. Während meiner Zeit in Cold Mountain hatte ich die Aufsicht bei achtundsiebzig Hinrichtungen (eine Zahl, die sich mir unauslöschlich eingeprägt hat; ich werde mich auf meinem Sterbebett noch daran erinnern), und ich denke, dass den meisten dieser Männer erst richtig klar wurde, was geschehen würde, wenn ihre Knöchel an das robuste Eichenholz von Old Sparkys Beinen geschnallt wurden.

Dann kam die Erkenntnis (man sah in ihren Augen kaltes Entsetzen), dass ihre Beine die Karriere beendet hatten. Das Blut rann noch in ihnen, die Muskeln waren noch kräftig, aber sie waren erledigt. Sie würden nie wieder über Land spazieren oder mit einem Mädchen auf einer Fete tanzen. Old Sparkys Gäste erkannten ihren Tod von den Knöcheln an aufwärts. Eine große schwarze Kapuze aus Seide wurde ihnen über den Kopf gestülpt, nachdem sie ihre letzten, meistens zusammenhanglosen Worte gesagt hatten. Die Kapuze sollte angeblich für sie sein, aber ich habe immer gedacht, dass sie für uns war, damit wir nicht das schreckliche Entsetzen in ihren Augen sahen, wenn sie erkannten, dass sie mit gebeugten Knien sterben würden.

Es gab keinen Todestrakt in Cold Mountain, nur Block E, der abseits von den anderen vier Blocks stand, nur ungefähr ein Viertel so groß und aus Backstein statt aus Holz und mit einem schrecklich kahlen Eisendach, das wie ein Augapfel im Delirium in die Sommersonne starrte. In Block E gab es sechs Zellen, drei auf jeder Seite eines breiten Mittelgangs, und jede Zelle war fast zweimal so groß wie die Zellen in den anderen vier Blocks. Es waren Einzelzellen. Großer Komfort für ein Gefängnis (besonders in den dreißiger Jahren), aber die Insassen hätten gern mit Zellen in einem der anderen Blocks getauscht, glauben Sie mir.

Während meiner Jahre als Wärter in Block E gab es niemals eine Zeit, in der alle sechs Zellen gleichzeitig belegt waren - man muss Gott auch für kleine Gefälligkeiten dankbar sein. Höchstens vier Zellen waren belegt mit Schwarzen und Weißen (in Cold Mountain gab es keine Rassentrennung bei den wandelnden Toten), und das war ein kleines Stück Hölle.

In einer Zelle war eine Frau, Beverly McCall. Sie war schwarz wie Pik-As und schön wie die Sünde, für die man nie genug Nerven hat, um sie zu begehen. Sie hatte es sechs Jahre lang hingenommen, von ihrem Mann geschlagen zu werden, aber keinen einzigen Tag ertragen, dass er fremdging. An dem Abend, an dem sie herausfand, dass er sie betrog, wartete sie auf den unglückseligen Lester McCall, bei seinen Kumpeln (und vermutlich bei einer Geliebten, mit der er äußerst kurzfristig ein Verhältnis angefangen hatte) als der Scharfe Les bekannt, oben auf der Treppe zur Wohnung über einem Friseurladen. Sie wartete, bis er seinen Mantel halb ausgezogen hatte, und verteilte dann eine betrügerischen Gedärme auf seinen zweifarbigen Schuhen. Dazu benutzte sie eines seiner eigenen Rasiermesser.

Zwei Nächte, bevor sie auf Old Sparky Platz nehmen musste, rief sie mich zu ihrer Zelle und sagte, sie wäre in einem Traum von ihrem afrikanischen Geistergott besucht worden. Er riet ihr, den Sklavennamen aufzugeben und unter ihrem Namen in Freiheit zu sterben: Matuomi. Das war ihre Bitte, dass auf dem Totenschein der Name Beverly Matuomi stehen sollte. Ich nehme an, ihr Geistergott gab ihr keinerlei Vornamen oder einen, an den sie sich nicht erinnern konnte. Jedenfalls sagte ich ja, okay, prima. In den Jahren als Gefängniswärter lernt man unter anderem, dass man dem zum Tode Verdammten nie etwas abschlagen soll, wenn es nicht unbedingt nötig ist. Im Fall von Beverly Matuomi war es ohnehin gleichgültig. Der Gouverneur rief am nächsten Nachmittag gegen drei Uhr an und wandelte die Todesstrafe in >lebenslänglich< in der Frauenhaftanstalt Grassy Valley Penal Facility um - wir sagten damals, alles Penal und kein Penis. Es freute mich, als ich Bevs runden Hintern nach links zum Ausgang statt nach rechts zum Stuhl gehen sah, das kann ich Ihnen sagen. Fünfunddreißig Jahre oder so später - es mussten mindestens fünfunddreißig sein - sah ich diesen Namen in der Zeitung unter dem Foto einer schmalgesichtigen schwarzen Lady mit weißem Haar und einer Brille mit Rheinkieseln an der Fassung. Es war Beverly. Sie hatte die letzten zehn Jahre ihres Lebens als freie Frau verbracht und die Bücherei der Kleinstadt Raines Falls ziemlich auf eigene Faust vor der Schließung gerettet, hieß es im Nachruf.

Beverly hatte auch in der Sonntagsschule gelehrt und war in diesem Nest in der tiefsten Provinz sehr beliebt gewesen. BIBLIOTHEKARIN STARB AN HERZVERSAGEN, lautete die Überschrift, und darunter in kleiner Schrift, fast als nachträglicher Einfall: Verbüßte über zwei Jahrzehnte Gefängnisstrafe wegen Mordes.

Nur die Augen, groß und glänzend hinter der Brille mit den Rheinkieseln an der Fassung, waren dieselben. Es waren die Augen einer Frau, die noch mit über siebzig Jahren nicht zögern würde, sich ein Rasiermesser aus dem blauen Topf mit Desinfektionslauge zu schnappen, wenn der Drang übermächtig wurde. Man erkennt Mörder, selbst wenn sie als alte Bibliothekarinnen in verschlafenen Kleinstädten enden. Jedenfalls erkennt man welche, wenn man so viele Mörder gehütet hat wie ich. Nur einmal habe ich das Wesen meines Jobs in Frage gestellt. Ich nehme an, deshalb schreibe ich dies. Der breite Gang durch die Mitte des E-Blocks war mit Linoleum von der Farbe müder alter Limonen ausgelegt, und so wurde das, was in anderen Gefängnissen Letzte Meile hieß, in Cold Mountain Green Mile genannt. Ich glaube, sie maß von Süden nach Norden, vom Anfang bis zum Ende, sechzig lange Schritte. Am Anfang war der Gefängnistrakt, am Ende war eine T-förmige Kreuzung. Ein Abbiegen nach links bedeutete Leben - wenn man das, was im Sonnenverdorrten Hof lief, als Leben bezeichnen konnte -, und viele bogen ab; viele lebten jahrelang so, ohne sichtliche Auswirkungen auf die Gesundheit. Diebe und Brandstifter und Sexualverbrecher, alle redeten ihre Sprache und spazierten auf ihre Weise und machten ihre kleinen Händel.

Ein Abbiegen nach rechts war jedoch etwas anderes. Zuerst kam man in mein Büro (wo der Teppich ebenfalls grün war; ich wollte es immer ändern, kam aber nicht dazu) und trat vor meinen Schreibtisch, der links vom Sternenbanner und rechts von der Staatsflagge flankiert war. Auf der hinteren Seite waren zwei Türen. Eine führte in die kleine Toilette, die ich und die Wärter von Block E (manchmal sogar Direktor Moores) benutzten; die andere Tür führte zu einer Art Lagerschuppen. Dort endete man, wenn man die Grüne Meile ging.

Es war eine kleine Tür - ich musste den Kopf einziehen, wenn ich hindurchging, und John Coffey musste sich sogar setzen und rutschen. Man gelangte auf einen kleinen Treppenabsatz, und drei Betonstufen führten hinab auf einen Plankenboden. Es war ein elender Raum ohne Heizung und mit Eisendach, genau wie das Dach des Blocks, an den der Raum angebaut war. Im Winter war es darin so kalt, dass man seinen Atem sehen konnte, und im Sommer war es stickig und heiß. Bei der Hinrichtung von Elmer Manfred - im Juli oder August 1930 war das, glaube ich - wurden neun Zeugen ohnmächtig. Auf der linken Seite des Lagerschuppens war wieder Leben. Werkzeuge (alle in Halterungen, mit Ketten gesichert, als wären es Gewehre statt Spaten und Hacken), Textilien, Säcke mit Samen für die Frühjahrsaussaat in den Gefängnisgärten, Kartons mit Toilettenpapier, Paletten mit Rohlingen für die Gefängnisschlosserei und sogar Säcke mit Kalk zum Markieren des Baseball- und Football-Spielfeldes - die Sträflinge spielten auf der so genannten Weide, und in Cold Mountain freute man sich sehr auf Nachmittage im Herbst, an denen gespielt wurde. Rechts war, wieder einmal - der Tod. Old Sparky persönlich stand auf einer Plankenplattform in der Südostecke des Lagerraums, mit stämmigen Eichenbeinen, breiten Eichenarmen, die den Angstschweiß von Hunderten Leuten in den letzten paar Minuten ihres Lebens aufgesogen hatten, und mit der Metallmütze, die für gewöhnlich keck hinten auf dem Stuhl hing wie das Käppi eines Roboter-Kids in einem Comic Strip von Buck Rogers. Ein Kabel führte von der Mütze fort durch ein Loch mit einer Dichtungsmanschette in der Wand hinter dem Stuhl. Auf einer Seite stand ein feuerverzinkter Eimer. Wenn man hineinschaute, sah man einen runden Schwamm, der genau in die Metallmütze passte. Vor Hinrichtungen wurde er in Salzlake getränkt, damit er besser die Stromladung leiten konnte, die durch den Draht jagte, durch den Schwamm und in das Gehirn des zum Tode Verdammten.

2

1932 war das Jahr von John Coffey. Die Einzelheiten standen in den Zeitungen, und jeder, der sich dafür interessierte, konnte sie lesen - jeder, der mehr Energie hat als ein sehr alter Mann, der dem Ende seines Lebens in einem Pflegeheim in Georgia entgegendöst

Ich erinnere mich, dass es ein heißer Herbst war, wirklich ein sehr heißer. Der Oktober war fast wie August, und die Frau des Direktors, Melinda, war im Krankenhaus in Indianola. Es war der Herbst, in dem ich die schlimmste Blaseninfektion meines Lebens hatte, nicht schlimm genug, um mich ins Krankenhaus zu bringen, aber fast schlimm genug, um mir bei jedem Pinkeln den Tod zu wünschen. Es war der Herbst von Delacroix, dem kleinen, fast kahlköpfigen Franzosen mit der Maus, der Mann, der im Sommer kam und diesen raffinierten Trick mit der Holzrolle machte. Doch hauptsächlich war es der Herbst, in dem John Coffey in den Block E kam, zum Tode verurteilt wegen der Sexualmorde an den Detterick-Zwillingen.

Bei jeder Schicht waren vier oder fünf Wärter im Block, aber viele davon waren Springer. Dean Stanton, Harry Terwilliger und Brutus Howell (die Männer nannten ihn >Brutal<, aber das war ein Scherz, denn er konnte trotz seiner enormen Körpergröße keiner Fliege etwas zuleide tun, wenn es nicht sein musste) sind inzwischen verstorben, und ebenfalls Percy Wetmore, der wirklich brutal und obendrein blöde war. Percy hatte nichts im Block E zu suchen, wo ein bösartiges Naturell nutzlos und manchmal gefährlich war, aber er war ein angeheirateter Verwandter des Gouverneurs, und so blieb er.

Es war Percy Wetmore, der Coffey in den Block führte, mit dem vermutlich traditionellen Ruf: >Eine wandelnde Leiche! Hier ist eine wandelnde Leiche!<

Es war immer noch so heiß wie die Angeln der Tür zur Hölle, Oktober oder nicht. Die Tür zum Gefängnishof wurde geöffnet und ließ eine Flut von Licht und den größten Mann herein, den ich je gesehen hatte, abgesehen von den Basketballtypen im Fernsehen. Er trug Ketten an den Armen und um seine fassartige Brust, Eisenketten an den Knöcheln, verbunden mit einer Kette, die klirrte wie hinabfallende Münzen, als er über den grünen Gang zwischen den Zellen ging. Percy Wetmore war an einer Seite, der dünne, kleine Harry Terwilliger an der anderen, und sie wirkten wie Kinder, die einen gefangenen Bär begleiteten. Sogar Brutus Howell sah im Vergleich zu Coffey wie ein Kind aus, und Brutal war über einsachtzig und stämmig, ein Football-Halbstürmer, der sich als Profispieler versucht hatte, bis er gefeuert worden und nach Cold Mountain zurückgekehrt war.

John Coffey war ein Schwarzer wie die meisten der Männer, die für eine Weile in Block E blieben, bevor sie in Old Sparkys Schoß starben. Er war fast zwei Meter groß, nicht geschmeidig wie die Bas­ketballtypen im Fernsehen, aber breitschultrig und mit Muskeln bepackt. Sie verpassten ihm die größte blaue Gefängniskluft, die sie im Lager finden konnten. Dennoch hatten die Hosenbeine über seinen narbigen Knöcheln Hochwasser. Das Hemd war offen auf seiner fassartigen Brust, und die Ärmel waren zu kurz. Er hielt seine Mütze in einer riesigen Hand, was vielleicht gut war; auf seinem kahlen, mahagonifarbenen Ball von Kopf hätte sie ausgesehen wie die Art Mütze, die ein Orgel spielender Mönch trägt, nur blau statt rot.

Er sah aus, als könnte er die Ketten so leicht sprengen wie Sie das Band um ein Weihnachtsgeschenk, aber wenn Sie in sein Gesicht sahen, wussten Sie, dass er so etwas nicht tun würde. Er war nicht blöde - obwohl Percy das dachte und ihn bald Blödmann nannte - sondern er wirkte wie jemand, der sich verirrt hat. Er schaute sich verunsichert um, als wollte er ergründen, wo er war. Vielleicht sogar, wer er war. Mein erster Gedanke war, dass er wie ein schwarzer Samson aussah, nachdem Dalila ihn geschoren hatte, bis sein Schädel so glatt war wie ihre kleine treulose Hand, und ihm damit allen Spaß genommen hatte.

»Wandelnde Leiche!« trompetete Percy und zerrte an der Handschelle dieses menschlichen Bären, als glaubte er tatsächlich, er könnte ihn bewegen, wenn sich Coffey entschied, keinen weiteren Schritt aus eigenem Antrieb zu machen. Harry sagte nichts, aber er wirkte peinlich berührt. »Wandelnde Leiche!«

»Das reicht«, sagte ich. Ich war in Coffeys zukünftiger Zelle und saß auf seiner Pritsche. Ich hatte natürlich gewusst dass er kam, und war dort, um ihn zu begrüßen und die Verantwortung für ihn zu übernehmen, aber ich hatte keine Ahnung gehabt wie groß er war. Percy bedachte mich mit einem Blick, der sagte, wir alle wissen, dass du ein Arschloch bist (mit Ausnahme des Blödmanns natürlich, der nur weiß, wie man kleine Mädchen vergewaltigt und ermordet), aber er sagte nichts. Die drei blieben außerhalb der Zellentür stehen, die offen stand. Ich nickte Harry zu, der sagte: »Bist du sicher, dass du dort drinnen mit ihm Zusammensein willst, Boss?« Ich hatte Harry Terwilliger noch nicht oft so nervös gehört - er hatte während des Gefangenenaufstands vor sechs oder sieben Jahren an meiner Seite gestanden und war nicht zurückgewichen, auch nicht, als Gerüchte die Runde machten, dass einige der Krawallbrüder Waffen hatten -, aber in diesem Augenblick klang er nervös.

»Werde ich irgendwelche Probleme mit dir haben, großer Junge?« fragte ich, blieb auf der Pritsche sitzen und bemühte mich, nicht so erbärmlich auszusehen oder zu klingen, wie ich mich fühlte - diese schon erwähnte Blaseninfektion war noch nicht so schlimm, wie sie schließlich wurde, aber ich fühlte mich auch nicht wie am Strand, das kann ich Ihnen sagen.

Coffey schüttelte langsam den Kopf - einmal nach links, einmal nach rechts, und dann richtete er ihn wieder auf die Mitte aus. Als mich sein Blick erst einmal gefunden hatte, ließ er mich nicht mehr los. Harry hielt ein Klemmbrett mit Coffeys Formularen darauf. »Gib es ihm«, sagte ich zu Harry. »Gib es ihm in die Hand.«

Harry tat es. Der große Trottel nahm es wie ein Schlafwandler.

»Jetzt bring es zu mir, großer Junge«, sagte ich, und Coffey gehorchte. Seine Ketten klirrten. Er musste sich ducken, um die Zelle betreten zu können.

Ich blickte an ihm hinauf und hinab, um seine Größe als Fakt zu registrieren, nicht als optische Illusion. Es stimmte: zwei Meter, einen Zentimeter mehr oder weniger.

Sein Gewicht war mit einhundertdreißig Kilo angegeben, aber ich denke, das war nur schlecht

geschätzt; er musste über drei Zentner schwer sein. In der Rubrik >Narben und besondere

Kennzeichen< war in der krakeligen Schrift von Magnusson, dem alten Kalfakter in der Registratur,

das Wort zahlreiche eingetragen.

Ich blickte auf. Coffey war ein Stück zur Seite geschlurft, und Harry stand auf dem Gang vor der Zelle

mit Delacroix - er war der einzige andere Gefangene in Block E, als Coffey eintraf. Del war ein

schmächtiger Typ mit fast kahlem Kopf und der besorgten Miene eines Buchhalters, der weiß, dass

seine Veruntreuungen bald entdeckt werden. Eine zahme Maus saß auf seiner Schulter.

Percy Wetmore lehnte am Türpfosten der Zelle, die soeben John Coffeys Zelle geworden war. Percy

hatte seinen Hickory-Schlagstock aus dem speziell angefertigten Holster genommen, in dem er ihn

trug, und schlug damit in die linke Handfläche, als wäre der Schlagstock ein Spielzeug, mit dem er

sich jetzt gern beschäftigen würde. Und auf einmal konnte ich es nicht ertragen, Percy dort

herumstehen zu sehen.

Vielleicht lag es an der für diese Jahreszeit ungewöhnlichen Hitze, vielleicht an der Blaseninfektion, die

meinen Unterleib erhitzte und das Jucken meiner Flanellunterwäsche fast unerträglich machte.

Vielleicht lag es auch an dem Wissen, dass der Staat mir einen Schwarzen zum Hinrichten geschickt

hatte, der einem Idioten gleichkam, und Percy ihn offenbar zuerst ein bisschen mit dem Schlagstock

bearbeiten wollte. Vermutlich kam alles zusammen. Was auch immer es war, ich vergaß für eine Weile

seine politischen Verbindungen. »Percy«, sagte ich. »Drüben im Krankenrevier ziehen sie um.«

»Bill Dodge hat die Aufsicht über die Operation Umzug.«

»Das weiß ich«, sagte ich. »Geh und hilf ihm.«

»Das ist nicht mein Job«, sagte Percy. »Dieser blöde Lulatsch ist mein Job.« Er verabscheute große

Leute. Er war nicht schmächtig wie Harry Terwilliger, aber klein. Ein Zwerghahn, der Typ, der Leute

provoziert, besonders wenn die Chancen alle bei ihm lagen. Und eitel mit seinem Haar. Er konnte

kaum die Hände davon lassen.

»Dann ist dein Job erledigt«, sagte ich. »Geh rüber ins Krankenrevier.«

Er schob trotzig die Unterlippe vor. Bill Dodge und seine Männer transportierten Kartons und

Bettwäsche und sogar die Betten; das ganze Krankenrevier zog in ein neues Fachwerkgebäude an der

Westseite des Gefängnisses um. Heiße Arbeit, schweres Heben. Percy Wetmore wollte sich davor

drücken.

»Die haben genug Leute«, sagte er.

»Dann geh rüber und schau ihnen bei der Arbeit zu«, sagte ich mit erhobener Stimme.

Ich sah, dass Harry zusammenzuckte, und ignorierte es. Wenn der Gouverneur Direktor Moores

anwies, mich zu feuern, weil ich an dem falschen Gefieder gerupft hatte, mit wem würde Hal Moores

dann meine Stelle besetzen? Mit Percy? Das war ein Witz. »Es ist mir wirklich egal, was du tust, Percy,

solange du für eine Weile von hier verschwindest«

Einen Augenblick lang dachte ich, er würde stur sein und wirklich Schwierigkeiten machen, während

Coffey die ganze Zeit dastand wie die größte stehen gebliebene Uhr der Welt. Dann rammte Percy

seinen Schlagstock zurück in sein handgefertigtes Holster - verdammt blödes Ding für einen eitlen

Fatzke - und stolzierte den Gang hinauf.

Ich erinnere mich nicht, welcher Wärter an diesem Tag Dienst am Wachpult hatte - einer der Springer,

nehme ich an -, aber Percy musste seine Miene missfallen haben, denn er grollte, als er vorbeiging:

»Hör mit dem blöden Grinsen auf, oder ich wische dir Scheißer das Grinsen aus dem Gesicht.«

Es rasselten Schlüssel, eine Tür ging auf, es fiel für einen kurzen Moment Sonnenschein vom Hof auf

den Gang, und dann war Percy Wetmore verschwunden, wenigstens für den Augenblick. Delacroix

Maus flitzte von einer Schulter des kleinen Franzosen zur anderen hin und her, und ihre Barthaare

zuckten.

»Ruhig, Mr. Jingles«, sagte Delacroix, und die Maus verharrte auf seiner linken Schulter, als hätte sie

ihn verstanden. »Sei ganz still und ganz ruhig.« Mit Delacroix' Akzent klang ruhig wie rühig.

»Du legst dich hin, Del«, sagte ich schroff. »Ruh dich aus. Dies geht auch dich nichts an.«

Er gehorchte. Er hatte eine junge Frau vergewaltigt und getötet und dann ihre Leiche hinter dem

Apartmenthaus abgelegt, in dem sie gewohnt hatte, sie mit Benzin übergossen und in Brand gesteckt,

um den Beweis seines Verbrechens zu vernichten, wie er es sich in seinem wirren Kopf ausgedacht

hatte. Das Feuer hatte auf das Haus übergegriffen, es in Brand gesetzt, und sechs weitere Leute

waren bei dem Feuer umgekommen, darunter zwei Kinder.

Es war das einzige Verbrechen, das er begangen hatte, und jetzt war er nur ein sanftmütiger Mann

mit besorgtem Gesicht, einer kahlen Birne und ringsum langem Haar, das bis über seinen Hemdkragen

fiel.

Er würde bald auf Old Sparky Platz nehmen, aber was auch immer ihn zu dieser schrecklichen Sache

getrieben hatte, war bereits aus ihm heraus, und jetzt legte er sich auf seine Pritsche und ließ seinen

kleinen Gefährten fiepend über seine Hände laufen.

In gewisser Weise war das das Schlimmste: Old Sparky verbrannte nie, was in ihnen war, und das

Gift, das man ihnen heutzutage injiziert, brachte es nicht zum Schlafen. Es entkommt, springt zu

jemand anderem, so dass wir nur Hüllen töten, die ohnehin nicht mehr wirklich leben.

Ich wandte meine Aufmerksamkeit dem Riesen zu.

»Wenn ich dir von Harry diese Ketten abnehmen lasse, wirst du dann artig sein?«

Er nickte. Das Nicken war ruckartig wie sein Kopfschütteln: Kopf runter, Kopf rauf und in die

Ausgangsstellung. Er sah mich mit seinem sonderbaren Blick an. Es lag eine Art Frieden in seinen

Augen, aber kein Frieden, der mir das Gefühl gab, dass ich ihm trauen konnte. Ich krümmte einen

Finger und winkte Harry zu mir, der zu Coffey ging und die Ketten aufschloss. Harry zeigte jetzt keine

Furcht, auch nicht, als er sich zwischen Coffeys baumstammartige Beine kniete, um die Fußeisen

aufzuschließen, und das beruhigte mich etwas. Es war Percy, der Harry nervös gemacht hatte, und ich

vertraute Harrys Instinkten. Ich vertraute den Instinkten all meiner Männer von Block E mit Ausnahme

von Percy.

Ich halte Neuen im Block eine kleine Ansprache, aber bei Coffey zögerte ich, denn er wirkte so

anormal, und nicht nur wegen seiner Größe.

Als Harry zurücktrat (Coffey war die ganze Zeit während der Entkettung reglos geblieben, so ruhig wie

ein Percheronpferd), schaute ich zu meinem neuen Schutzbefohlenen auf, tippte mit dem Daumen auf

das Klemmbrett und fragte: »Kannst du reden, großer Junge?«

»Jawohl, Sir, Boss, ich kann reden«, sagte er. Seine Stimme war ein tiefes, stilles Grollen. Es erinnerte

mich an einen frisch gestarteten Traktormotor. Er hatte keinen richtigen Südstaatlerakzent, aber seine

Sprechweise war die eines Südstaatlers, was ich später bemerkte. Als wäre er vom Süden, nicht aus

dem Süden. Er klang nicht ungebildet, aber auch nicht gebildet. In seiner Sprache wie in so vielen

anderen Dingen war er ein Geheimnis. Vor allem seine Augen beunruhigten mich - es war eine Art

friedliche Abwesenheit darin, als sei er weit, weit fort.

»Dein Name ist John Coffey?«

»Jawohl, Sir, Boss, wie Kaffee, nur anders geschrieben.«

»Du kannst also buchstabieren? Lesen und schreiben?«

»Nur meinen Namen, Boss«, sagte er ernst.

Ich seufzte und gab ihm dann eine Kurzversion meiner einstudierten Ansprache. Ich war bereits zu

dem Schluss gelangt dass er keine Probleme machen würde. In diesem Punkt hatte ich recht und

unrecht. »Mein Name ist Paul Edgecombe«, sagte ich. »Ich bin der Oberwärter in Block E - der Chef

der Wärter. Wenn du etwas von mir willst, nenn meinen Namen und frag nach mir. Wenn ich nicht da

bin, wende dich an diesen anderen Mann - er heißt Harry Terwilliger. Oder du fragst nach Mr. Stanton

oder Mr. Howell. Hast du das verstanden?«

Coffey nickte.

»Erwarte nur nicht, dass du bekommst, was du willst, es sei denn, wir entscheiden, dass du es

brauchst - dies ist kein Hotel. Kannst du mir immer noch folgen?«

Er nickte abermals.

»Dies ist ein ruhiger Ort, großer Junge - nicht wie der Rest des Gefängnisses. Hier sind nur du und

Delacroix dort drüben. Du wirst nicht arbeiten; du wirst hauptsächlich herumsitzen. So hast du Zeit,

um über die Dinge nachzudenken.«

Zuviel Zeit für die meisten, aber das sagte ich nicht »Abends lassen wir das Radio laufen, wenn alles

in Ordnung ist. Magst du Radio hören?«

Er nickte, jedoch zweifelnd, als sei er sich nicht sicher, was Radio ist. Ich fand später heraus, dass das

in gewisser Weise stimmte. Coffey wusste Dinge, wenn er damit konfrontiert wurde, doch

zwischendurch vergaß er sie. Er kannte die Hauptpersonen von „Unser Sonntagsmädchen“, hatte aber

nur eine äußerst verschwommene Erinnerung an den Inhalt der bisherigen Folgen der Serie.

»Wenn du dich ordentlich aufführst und die Mahlzeiten nimmst wie sie dir aufgetischt werden, wirst

du nie die Zelle dort unten am fernen Ende sehen und auch nicht in eine Zwangsjacke gesteckt

werden. Du wirst zwei Stunden am Nachmittag Hofgang haben, von vier bis sechs Uhr, mit Ausnahme

der Samstage, wenn der Rest der Häftlinge die Footballspiele austrägt. Besuch kannst du an

Sonntagnachmittagen haben, sofern du jemanden hast, der dich besuchen will. Hast du jemanden,

der dich besucht, Coffey?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe niemand, Boss«, sagte er.

»Nun, dann dein Anwalt«

»Ich glaube, den sehe ich nie wieder«, sagte er. »Der wurde mir geliehen.«

»Ein Pflichtverteidiger?«

Er nickte.

»Ich schätze, der wird den Weg hier herauf in die Berge nicht finden.«

Ich schaute ihn genauer an, um zu sehen, ob er einen kleinen Scherz versuchte, aber das war

anscheinend nicht der Fall. Und ich hatte wirklich auch nichts anderes erwartet.

Mit Berufungen war es nichts bei jemandem wie John Coffey, nicht zu dieser Zeit; die Anwälte hatten

ihren Tag im Gericht - oder zwei oder drei -, und dann wurden die Mandanten von der Welt

vergessen, bis in der Zeitung stand, dass ein gewisser Typ ein wenig Elektrizität gegen Mitternacht

verbraucht hatte. Aber ein Mann mit Frau, Kindern oder Freunden, der sich auf die Besuche an den

Sonntagnachmittagen freut war leichter zu disziplinieren, wenn es in diesem Punkt ein Problem gab.

Bei Coffey gab es anscheinend kein Problem, und das war gut. Denn er war so verdammt groß.

Ich rutschte auf der Pritsche hin und her, und dann sagte ich mir, dass ich mich vielleicht behaglicher

in meinen unteren Regionen fühlen würde, wenn ich aufstand, und so tat ich es.

Coffey wich respektvoll vor mir zurück und verschränkte die Hände.

»Deine Zeit hier kann leicht oder hart sein, großer Junge, es liegt ganz an dir. Ich bin hier, um dir zu

sagen, dass du es für uns alle ebenso gut leicht machen könntest, denn letzten Endes kommt es auf

das gleiche hinaus. Wir werden dich so behandeln, wie du es verdienst. Hast du noch irgendwelche

Fragen?«

»Lasst ihr ein Licht an, wenn es Zeit zu schlafen ist?« fragte er prompt, als hätte er nur auf die

Gelegenheit gewartet

Ich blinzelte ihn an. Neuankömmlinge in Block E hatten mir viele komische Fragen gestellt - einer

hatte sich nach der Größe der Brust meiner Frau erkundigt -, aber so etwas hatte noch keiner wissen

wollen.

Coffey lächelte ein wenig verlegen, als ob er wüsste, dass wir ihn für blöde halten würden, aber nichts

dafür konnte. »Weil ich manchmal ein bisschen Angst im Dunkeln habe«, sagte er. »Es ist ein fremder

Ort«

Ich schaute ihn an, diesen Riesen, und fühlte mich sonderbar gerührt. Sie rühren einen, wissen Sie;

man sieht sie nicht wenn das Schlechte in ihnen durchbricht die Dämonen, die ihre Greueltaten

begehen.

»Ja, es ist die ganze Nacht ziemlich hell hier«, sagte ich. »Die Hälfte der Lampen längs der Meile ist

von neun Uhr abends bis fünf Uhr morgens an.« Dann wurde mir klar, dass er keine Ahnung hatte,

wovon ich redete - er konnte die Grüne Meile nicht vom Mississippi-Schlamm unterscheiden -, und so

klärte ich ihn auf. »Im Korridor.«

Er nickte erleichtert. Ich bin mir nicht sicher, ob er wusste, was ein Korridor war, aber er konnte die

Zweihundert-Watt-Birnen in ihren Drahtkäfigen sehen.

Dann tat ich etwas, was ich noch nie bei einem Gefangenen getan hatte - ich reichte ihm die Hand.

Selbst heute weiß ich nicht, warum. Vielleicht, weil er Angst vor der Dunkelheit gehabt hatte. Harry

Terwilliger blinzelte verwundert, das kann ich Ihnen sagen. Coffey ergriff meine Hand mit

überraschender Sanftheit. Meine Hand verschwand fast in seiner, und das war alles. Ich hatte eine

weitere Motte in meiner Todesflasche. Wir hatten die Prozedur hinter uns.

Ich verließ die Zelle. Harry zog die Schiebetür zu und schloss beide Schlösser ab. Coffey stand noch

einen Moment da, als wisse er nicht, was er tun sollte, dann setzte er sich auf seine Pritsche,

verschränkte die gewaltigen Hände zwischen den Knien und senkte den Kopf wie jemand, der trauert

oder betet. Dann sagte er etwas mit dieser sonderbaren Fast-Südstaatenstimme.

Ich hörte es ganz deutlich, und ich erschauerte, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt nicht viel über seine

Taten wusste - man braucht nicht zu wissen, was jemand getan hat um ihn zu beköstigen und zu

pflegen, bis es an der Zeit ist dass er für seine Schuld bezahlt.

»Ich kann nichts dafür, Boss«, sagte er. »Ich wollte es zurückhalten, aber es war zu spät«

3

»Du wirst Ärger mit Percy bekommen«, sagte Harry, als wir den Korridor entlang in mein Büro gingen.

Dean Stanton - sozusagen der dritte Mann in meinem Führungsstab; in Wirklichkeit haben wir solche

Rangfolge nicht, Percy Wetmore hätte sich mit seinen Beziehungen im Nu hineingedrängt - saß hinter

meinem Schreibtisch und brachte Akten auf den neuesten Stand, ein Job, für den ich anscheinend nie

Zeit hatte.

Er blickte kaum auf, als wir eintraten, rückte nur seine kleine Brille höher auf den Nasenrücken und

vertiefte sich wieder in seine Schreibarbeit.

»Ich habe mit diesem Scheißer Ärger gehabt seit dem Tag, an dem er herkam«, sagte ich, lockerte

vorsichtig die Hose von meinem Schritt und zuckte zusammen. »Hast du gehört, was er gerufen hat,

als er diesen großen Kerl brachte?«

»Das war nicht zu überhören«, sagte Harry. »Ich war dabei, weißt du.«

»Ich war auf dem Klo und hörte es ebenfalls«, sagte Dean. Er zog ein Blatt Papier zu sich heran, hielt

es gegen das Licht, so dass ich sehen konnte, dass außer Schreibmaschinenschrift ein Kaffeering

darauf war, und warf es in den Papierkorb. »Wandelnde Leiche. Der muss das in einem der Magazine

gelesen haben, die er so liebt.«

Und so war es vermutlich. Percy Wetmore war ein begeisterter Leser von Argosy, Stag und Men 's

Adventure. In jeder Ausgabe war anscheinend eine Gefängnisgeschichte, und Percy las sie begierig

wie jemand, der Forschungen betreibt. Als ob er herauszufinden versuchte, wie er sich aufführen

sollte. Er glaubte wohl die Anleitungen in diesen Magazinen zu finden.

Ich hatte ihn seit vier Monaten bei mir - er war kurz nach der Hinrichtung von Anthony Ray, dem Killer

mit der Axt, zu uns gekommen, und er hatte noch an keiner Hinrichtung teilgenommen, obwohl er

einer vom Schaltraum aus beigewohnt hatte.

»Er kennt wichtige Leute«, sagte Harry. »Er hat Beziehungen. Du wirst dich verantworten müssen,

weil du ihn aus dem Block geschickt hast, und es wird noch härter für dich, weil du von ihm erwartet

hast, dass er richtig arbeitet«

»Das habe ich nicht erwartet«, sagte ich, und das stimmte. Aber ich hatte es im stillen gehofft. Bill

Dodge war nicht der Typ, der jemand herumstehen und bei schwerer Arbeit zuschauen ließ. »Ich habe

im Augenblick mehr Interesse an dem großen Jungen. Werden wir Probleme mit ihm haben?«

Harry schüttelte entschieden den Kopf.

»Er war lammfromm im Gericht unten im Trapingus County«, sagte Dean. Er nahm die kleine randlose

Brille ab und begann die Gläser an seiner Weste zu polieren. »Natürlich trug er jede Menge Ketten,

aber er hätte Stunk machen können, wenn er das gewollt hätte, darauf kann ich wetten. Das ist ein

Reim, Sohn.«

»Ich weiß«, sagte ich, obwohl mir der Reim nicht aufgefallen war. Ich hasse es einfach, wenn Dean

Stanton den Überlegenen spielt.

»Der ist groß, wie?« sagte Dean.

»Das ist er«, pflichtete ich bei. »Riesig.«

»Vermutlich müssen wir Old Sparky auf die höchste Stufe einstellen, um Coffeys Arsch zu

braten.«

»Mach dir keine Sorgen um Old Sparky«, sagte ich geistesabwesend. »Er macht alle Großen klein.«

Dean massierte die Seiten seiner Nase, wo es feurig rote Flecken von seiner Brille gab, und nickte.

»Ja«, sagte er. »Da ist was Wahres dran.«

Ich fragte: »Weiß einer von euch, woher er kam, bevor er in ... Tefton auftauchte? Es war doch

Tefton, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Dean. »Tefton, unten im Trapingus County. Bevor er dort auftauchte und tat, was er tat,

hat ihn anscheinend keiner gekannt. Er trieb sich einfach herum, nehme ich an. Du wirst vielleicht

etwas mehr aus den Zeitungen in der Gefängnisbücherei finden, wenn es dich wirklich interessiert. Die

Bücherei zieht vermutlich nicht vor nächster Woche um.«

Er grinste. »Du könntest deinen kleinen Freund vielleicht eine Etage über dir meckern und stöhnen

hören.«

»Das sollte ich mir vielleicht mal ansehen«, sagte ich, und später am Nachmittag tat ich es.

Die Gefängnisbücherei war hinten in dem Gebäude, das die Autowerkstatt des Gefängnisses werden

sollte - das war jedenfalls der Plan. Weiteres Schmiergeld für jemand, dachte ich insgeheim, aber wir

hatten die Wirtschaftskrise, und ich behielt meine Meinung für mich - wie ich die Klappe über Percy

hätte halten sollen, aber manchmal kann man sich einfach nicht zurückhalten. Mit dem Mundwerk

handelt man sich meistens mehr Probleme ein als mit dem Schwanz. Die Autowerkstatt wurde

übrigens nie realisiert - im nächsten Frühjahr wurde das Gefängnis fast hundert Kilometer entfernt

nach Brighton verlegt. Wieder ein kleines Geschäft im Hinterzimmer, nehme ich an. Weiteres

Schmiergeld. Nichts für mich.

Die Verwaltung war in ein neues Gebäude an der Ostseite des Hofs verlegt worden. Das Krankenrevier

zog um (welcher Bauernlackel die Idee gehabt hatte, ein Krankenrevier in den zweiten Stock zu

verlegen, war nur ein weiteres der Geheimnisse des Lebens).

In der Bücherei gab es noch einen Teil des Inventars - nicht, dass es jemals viel gegeben hätte -, aber

sonst war sie ausgeräumt. Das alte Gebäude war eine heiße Holzbude, die sich zwischen den Blocks A

und B drängte. Deren Toiletten befanden sich hinten im Block, und in der ganzen Bücherei roch es

immer leicht nach Pisse, was vermutlich der einzige gute Grund für den Umzug war. Die Bücherei war

ein L-förmiger Bau und nicht viel größer als mein Büro. Ich hielt nach einem Ventilator Ausschau, aber

die waren alle schon abmontiert.

Es musste um die vierzig Grad Celsius gewesen sein, und ich spürte ein heißes Pochen in meinem

Unterleib, als ich mich setzte. Wie bei einem entzündeten Zahn. Ich weiß, das ist absurd, wenn man

die Region bedenkt von der wir hier reden, aber ich finde keinen anderen Vergleich. Es wurde viel

schlimmer während und nach dem Pinkeln, was ich getan hatte, bevor ich zur Bücherei gegangen war.

Nur ein anderer Typ war dort, ein dürrer alter Kalfakter namens Gibbons. Er döste in einer Ecke mit einem Wildwestroman auf dem Schoß und der Mütze über den Augen. Die Hitze störte ihn ebenso wenig wie das Ächzen und Poltern und die gelegentlichen Flüche aus dem Krankenrevier über der Bücherei (wo es mindestens zehn Grad heißer sein musste; ich hoffte, Percy Wetmore genoss es). Ich störte Gibbons ebenfalls nicht, sondern ging zur kurzen Seite des L, wo die Zeitungen und Zeitschriften aufbewahrt wurden. Ich befürchtete, dass sie schon mitsamt den Ventilatoren abtransportiert worden waren, aber das waren sie nicht, und die Sache mit den Detterick-Zwillingen war leicht zu finden; sie hatte vom Tag nach dem Verbrechen im Juni an bis zum Prozess im Juli auf den Titelseiten gestanden. Damals fanden die Prozesse viel früher statt.

Bald vergaß ich die Hitze und das Poltern von oben und Old Gibbons' Schnarchen. Der Gedanke an diese neunjährigen Mädchen - an ihr blondes lockiges Haar und ihr liebes Zwillingslächeln - im Zusammenhang mit dem riesigen finsteren Coffey war unangenehm, aber unmöglich zu ignorieren. Angesichts seiner Größe konnte man sich leicht vorstellen, dass er sie tatsächlich verschlungen hatte wie ein Riese in einem Märchen.

Was er getan hatte, war sogar noch schlimmer, und es war Glück für ihn gewesen, dass er nicht gleich dort am Flussufer gelyncht worden war. Das heißt, wenn man es als Glück bezeichnen konnte, über die Grüne Meile zu gehen und sich auf Old Sparkys Schoß zu setzen.

4

König Baumwolle war im Süden siebzig Jahre vor all diesen Ereignissen entthront worden und würde

nie wieder König sein, aber in jenen dreißiger Jahren lebte er wieder ein bisschen auf. Es gab keine

großen Baumwollplantagen mehr, aber vierzig oder fünfzig gedeihende Farmen im südlichen Teil

unseres Staates. Klaus Detterick besaß eine dieser Farmen. Nach dem Standard der 1950er Jahre

hätte man ihn nur eine Stufe über bettelarm betrachtet, doch in den Dreißigern galt er als

wohlhabend, weil er seine Rechnung beim Kaufmann an den meisten Monatsenden in bar bezahlte

und dem Bankdirektor in die Augen schauen konnte, wenn sie sich zufällig auf der Straße begegneten.

Das Farmhaus war sauber und geräumig. Zusätzlich zur Baumwolle gab es Hühner und ein paar Kühe.

Klaus Detterick und seine Frau hatten drei Kinder: Howard, der zwölf oder so war, und die Zwillinge

Cora und Käthe.

An einem warmen Abend Anfang Juni dieses Jahres baten die Mädchen ihre Eltern, auf der Veranda

an der Seite des Hauses schlafen zu dürfen, und sie erhielten die Erlaubnis. Dies war ein großes

Abenteuer für sie. Ihre Mutter gab ihnen kurz vor neun Uhr den Gutenachtkuss, als das letzte Licht am

Himmel erloschen war. Sie sah die Mädchen erst wieder, als sie in ihren Särgen lagen und der

Leichenbestatter den schlimmsten Schaden kaschiert hatte.

Landfamilien gingen in jenen Tagen früh zu Bett - >wenn es dunkel unter dem Tisch wird<, pflegte

meine Mutter zu sagen - und schliefen tief und fest. Gewiss taten das Klaus, Marjorie und Howie

Detterick in der Nacht, in der die Zwillinge verschwanden. Klaus wäre mit an Sicherheit grenzender

Wahrscheinlichkeit von Bowser, dem großen Halbblut-Collie der Familie, geweckt worden, wenn er

gebellt hätte, aber Bowser tat das nicht in dieser Nacht und niemals wieder.

Klaus stand beim ersten Tageslicht auf, um die Kühe zu melken. Die Veranda befand sich an der Seite

des Hauses, dem Stall abgewandt und Klaus kam nicht in den Sinn, nach den Mädchen zu schauen.

Dass Bowser sich nicht zu ihm gesellte, war nicht alarmierend. Der Hund fühlte sich erhaben über

Kühe und Hühner, und für gewöhnlich versteckte er sich in seiner Hundehütte hinter dem Stall, wenn

die Arbeiten erledigt wurden, es sei denn, er wurde gerufen, aber das mussten schon energische Rufe

sein.

Marjorie kam ungefähr eine Viertelstunde nach ihrem Mann nach unten, nachdem Klaus seine Stiefel

angezogen hatte und zum Stall gestampft war. Sie machte Kaffee und briet Speck. Der Geruch von

Speck und Kaffee lockte Howie aus seinem Zimmer unter dem Dach herunter, aber nicht die Mädchen

von der Veranda. Marjorie schickte Howie hinaus, um sie zu holen, während sie Eier in das Fett des

Specks schlug. Klaus würde die Mädchen nach dem Frühstück frische Eier aus dem Hühnerstall holen

lassen.

Doch an diesem Morgen wurde im Haus der Dettericks nicht gefrühstückt. Als Howie von der Veranda

zurückkehrte, war er bleich, und seine zuvor schläfrigen Augen waren weit aufgerissen.

»Sie sind weg«, sagte er.

Marjorie eilte auf die Veranda, zuerst ärgerlich, dann beunruhigt. Sie sagte später, sie habe, wenn sie überhaupt etwas dachte, angenommen, dass die Mädchen einen Spaziergang in der Morgendämmerung gemacht hätten, um Blumen zu pflücken. Das oder etwas ähnlich Dummes, was so junge Mädchen treiben. Ein Blick, und sie erkannte, warum Howie totenbleich war. Sie schrie nach Klaus - schrie gellend -, und Klaus eilte im Laufschritt zu ihr. Seine Arbeitsstiefel waren weiß, weil er bei dem schrecklichen Schrei einen halben Eimer Milch darüber verschüttet hatte. Er fand auf der Veranda etwas, bei dem die Beine der tapfersten Eltern weich geworden wären. Die Decken, in die sich die Mädchen gehüllt hatten, als die Nacht kälter geworden war, lagen in einer Ecke. Die Tür der Gitterwand um die Veranda war mit Gewalt aus der oberen Angel gerissen worden und hing schief in den Hof. Und auf den Brettern der Veranda und der Treppe jenseits der zerstörten Tür waren Blutflecken.

Marjorie flehte ihren Mann an, die Mädchen nicht allein zu suchen und nicht ihren Sohn mitzunehmen, wenn er doch losziehen wollte, aber sie hätte sich den Atem sparen können. Er nahm die Schrotflinte, die er in der Abstellkammer hoch oben außer Reichweite kleiner Hände aufbewahrte, und gab Howie den 22er, den er zu seinem Geburtstag im Juli hätte bekommen sollen. Dann zogen sie los, und keiner von beiden beachtete die schreiende, weinende Frau, die wissen wollte, was sie tun würden, wenn sie auf eine Bande von Landstreichern oder eine Horde bösartiger Nigger stießen, die von der Erziehungsanstalt drüben in Laduc geflüchtet sein mochte.

Ich denke, in diesem Punkt hatten die Männer recht das Blut auf der Veranda war nicht mehr flüssig, aber es war noch zäh und eher rot als kastanienbraun, wie es wird, wenn es ganz getrocknet ist. Die Entführung musste vor nicht allzu langer Zeit stattgefunden haben. Klaus musste sich gesagt haben, dass noch eine Chance für die Mädchen bestand, und er wollte sie nutzen. Keiner der beiden verstand etwas vom Spurenlesen - sie waren Sammler, keine Jäger, Männer, die in den Wäldern in der Saison mit auf die Jagd nach Rotwild gingen, weil man es von ihnen erwartete, nicht, weil sie es sich wünschten. Und rings um das Farmhaus gab es im Dreck Spuren, die sich alle in einem für sie undeutbaren Gewirr überlappten. Sie gingen um den Stall herum und sahen sofort, warum Bowser, ein schlechter Beißer, aber guter Beller, keinen Alarm geschlagen hatte. Er hing halb in und halb aus der Hundehütte, die aus übrig gebliebenen Stallbrettern gebaut worden war (es war sogar ein Schild mit der sorgfältig gemalten Aufschrift Bowser über der gewölbten Öffnung der Hundehütte - ich sah ein Foto davon in einer der Zeitungen), und sein Genick war gebrochen. Es bedurfte gewaltiger Kraft, um einem so großen Tier das anzutun, sagte der Ankläger später vor der Jury bei John Coffeys Prozess, und dann schaute er lange und bedeutungsvoll auf den riesigen Angeklagten, der hinter dem Tisch der Verteidigung saß, den Blick niedergeschlagen hatte und nagelneue Sträflingskleidung trug, die an sich schon wie eine Verdammung wirkte. Neben dem Hund fanden Klaus und Howie ein Stück Wurst. Die Theorie - eine vernünftige, daran habe ich keinen Zweifel - besagte, dass Coffey zuerst den Hund mit der Wurst geködert und ihm dann, als er zu fressen begonnen hatte, das Genick mit seinen mächtigen Pranken gebrochen hatte.

Jenseits des Stalls erstreckte sich Dettericks Nordweide, auf der an diesem Tag keine Kühe weiden würden. Sie war nass vom Morgentau, und darin waren Spuren zu sehen, die offenbar nach Nordwesten führten.

Selbst in seiner fast hysterischen Verfassung zögerte Klaus Detterick zuerst, der Spur zu folgen. Es war keine Furcht vor dem Mann oder den Männern, die seine Tochter entführt hatten, sondern die Besorgnis, dass er den Spuren in der falschen Richtung folgte, während vielleicht jede Sekunde zählte. Howie löste das Dilemma, indem er einen Fetzen gelben Baumwollstoff von einem Busch gleich hinter dem Rand des Hofes pflückte. Man zeigte Klaus denselben Fetzen, als er auf der Zeugenbank saß, und er begann zu heulen, als er ihn als ein Stück von der Pyjamahose seiner Tochter Käthe identifizierte. Zwanzig Schritte jenseits davon hing auf einem Wacholderstrauch ein grünes Stoffstück, das zu Coras Nachthemd passte, das sie getragen hatte, als sie ihrer Mutter den Gutenachtkuss gegeben hatte. Die Dettericks, Vater und Sohn, liefen los mit vorgereckten Waffen wie Soldaten, wenn sie umkämpftes Gebiet unter heftigem Beschuss durchqueren. Wenn mich irgend etwas an den Ereignissen dieses Tages erstaunt, dann die Tatsache, dass der Junge, der verzweifelt hinter seinem Vater her hetzte (und oftmals kaum Anschluss halten konnte), nicht stürzte und Klaus Detterick aus Versehen eine Kugel in den Rücken schoss.

Das Farmhaus war ans Telefonnetz angeschlossen - ein anderes Anzeichen für die Nachbarn, dass die Dettericks wohlhabend waren, wenigstens in bescheidenem Maße in miserablen Zeiten -, und Marjorie rief über die Vermittlung so viele der Nachbarn an, die ebenfalls Telefon hatten, wie sie nur konnte. Sie erzählte von der Katastrophe, die wie ein Blitz aus heiterem Himmel über sie gekommen war. Sie wusste, dass jeder Anruf größere Kreise ziehen würde, als ob Kiesel in einen stillen Teich geworfen wurden. Dann hob sie den Hörer ein letztes Mal ab und sprach die Worte, die fast ein Markenzeichen in den frühen Telefonsystemen waren, jedenfalls im ländlichen Süden: »Hallo, Vermittlung, sind Sie in der Leitung?«

Die Lady von der Vermittlung war es, aber einen Augenblick lang war sie sprachlos; die wackere Frau

war ganz aus dem Häuschen. Schließlich fand sie die Sprache wieder. »Ja, Ma'am, Mrs. Detterick, ich

bin es, o mein Gott, ich bete, dass Ihre kleinen Mädchen wohlauf sind ...«

»Ja, danke«, sagte Marjorie. »Aber sagen Sie Gott, dass er bitte lange genug wartet, damit Sie mich

mit dem Sheriff s Office in Tefton verbinden können, ja?«

Der Sheriff des Trapingus County war ein alter Knabe mit Säufernase, einem Bauch wie eine

Waschtonne und mit weißem Haar, das so dünn war, dass es wie der Flaum eines Pfeifenreinigers

aussah. Ich kannte ihn gut; er war oft in Cold Mountain gewesen, um zuzusehen, wie >seine Jungs<

ins Jenseits gingen. Zeugen der Hinrichtung saßen auf den gleichen Klappstühlen, auf denen Sie

vielleicht auch schon gesessen haben, bei Beerdigungen oder bei Kirchenfeiern oder Bingospielen auf

dem Land (wir mieteten sie in jenen Tagen bei einem Verleih), und jedes Mal, wenn Sheriff Homer

Cribus sich auf einen solchen Klappstuhl setzte, wartete ich auf ein Knacken, das ein

Zusammenkrachen ankündigen würde. Ich befürchtete und wartete zugleich darauf, dass der

Klappstuhl zusammenbrechen würde, aber dieser Tag kam niemals. Kurze Zeit danach - es kann nicht

länger als einen Sommer nach der Entführung der Detterick - Mädchen gewesen sein - erlitt der

Sheriff einen Herzanfall in seinem Büro, offenbar, während er ein siebzehnjähriges schwarzes

Mädchen namens Daphne Shurdeff vögelte.

Es gab viel Gerede darüber, denn er zeigte sich immer vor der Wahl mit seiner Frau und sechs Söhnen

- das war die Zeit, in der man >Baptist oder weg vom Fenster< war, wenn man für ein öffentliches

Amt kandidieren wollte. Aber die Leute lieben einen Scheinheiligen, wissen Sie - sie erkennen einen

der ihren darin und fühlen sich immer gut, wenn jemand mit Hose runter, Fimmel rauf erwischt wird

und sie es nicht selbst sind.

Er war außer scheinheilig auch unfähig und der Typ, der sich beim Streicheln der Katze irgendeiner

Lady fotografieren ließ, wenn ein anderer - zum Beispiel Deputy Rob McGee - seine Knochen riskiert

hatte, indem er auf den Baum geklettert war und die Pussycat der Lady heruntergeholt hatte.

McGee hörte sich Marjorie Dettericks gestammelte Worte vielleicht zwei Minuten lang an, und dann

unterbrach er sie mit vier oder fünf Fragen -schnell und knapp, wie ein trainierter Boxer kleine kurze

Geraden zum Gesicht tupft, die Art Treffer, die so fix und hart sind, dass Blut läuft, bevor der Gegner

etwas spürt.

Als sie die Fragen beantwortet hatte, sagte er: »Ich rufe Bobo Marchant. Der hat Hunde. Sie rühren

sich nicht von der Stelle, Mrs. Detterick. Wenn Ihr Mann und Dir Sohn zurückkehren, sollen sie sich

ebenfalls nicht vom Fleck rühren.«

Ihr Mann und ihr Sohn waren unterdessen der Spur des Entführers ungefähr drei Meilen nach

Nordwesten gefolgt, aber sie verloren die Fährte, als sie aus dem freien Gelände in den Kiefernwald

führte. Sie waren Farmer, keine Jäger, wie ich schon sagte, und inzwischen wussten sie, dass sie

hinter einem Tier her waren. Unterwegs hatten sie das gelbe Oberteil von Käthes Pyjama gefunden

und ein weiteres Stück von Coras Nachthemd. Beide Stücke waren blutgetränkt, und weder Klaus

noch Howie hatten es so eilig wie zu Beginn der Verfolgung; eine kalte Gewissheit musste in ihre

heißen Hoffnungen gesickert und hinabgesunken sein wie kaltes Wasser, weil es schwerer ist.

Sie warfen einen Blick in den Wald, hielten Ausschau nach Anzeichen auf die Mädchen, fanden keine,

warfen an einer anderen Stelle einen zweiten Blick in den Wald, ebenso ohne Resultat und dann einen

dritten. Diesmal fanden sie Blutspritzer auf den Nadeln einer Kiefer. Sie gingen ein Stück in die

Richtung, in die das Blut zu weisen schien, und begannen die Prozedur mit dem Blickewerfen von

neuem.

Es war inzwischen neun Uhr, und hinter sich hörten sie jetzt die Rufe von Männern und das Bellen von

Hunden.

Rob McGee hatte eine Posse in der Zeit zusammengestellt, die Sheriff Cribus gebraucht hätte, um eine

erste Tasse Kaffee mit Brandy zu trinken, und eine Viertelstunde später holten sie Klaus und Howie

Detterick ein, die verzweifelt den Waldrand absuchten. Bald zogen die Männer weiter, und Bobos

Hunde führten sie an. McGee ließ Klaus und Howie mitkommen - sie wären nicht umgekehrt, wenn er

es befohlen hätte, ganz gleich, wie sehr sie das Ergebnis der Suche fürchteten, und McGee musste

das erkannt haben -, aber er ließ sie ihre Waffen entladen. McGee behauptete, die anderen hätten das

ebenfalls getan, der Sicherheit wegen. Er sagte ihnen nicht (und keiner sonst klärte sie auf), dass die

Dettericks die einzigen waren, die ihre Munition dem Deputy hatten aushändigen müssen. Die

Dettericks waren aufgewühlt und hatten nur den Wunsch, den Alptraum hinter sich zu bringen, und so

taten sie, was von ihnen verlangt wurde.

Als Rob McGee die Dettericks dazu brachte, ihre Waffen zu entladen und die Patronen abzuliefern,

rettete er vermutlich John Coffeys elendes Leben.

Die kläffenden Hunde zogen sie durch vielleicht zwei Meilen Kiefernwald, immer weiter nach

Nordwesten.

Dann gelangten sie an das Ufer des Trapingus River, der an dieser Stelle breit ist und langsam

südostwärts durch niedrige, bewaldete Hügel fließt, wo Familien namens Cray und Robinette und

Duplissey immer noch eigene Mandolinen herstellten und oftmals aus verfaulten Zähnen spuckten,

während sie pflügten; es war tiefste Provinz, wo Männer am Sonntagmorgen Schlangen fingen und in

der Sonntagnacht Geschlechtsverkehr mit ihren Töchtern hatten. Ich kannte ihre Familien; die meisten

davon hatten Old Sparky von Zeit zu Zeit eine Mahlzeit geschickt.

Am anderen Ufer des Flusses konnten die Männer der Posse die Schienen einer Nebenlinie der Great

Southern Railroad sehen, auf denen sich die Junisonne spiegelte. Ungefähr anderthalb Meilen

flussabwärts zu ihrer Rechten führte eine Bockbrücke über den Fluss zum Kohlenrevier von West

Green.

Dort fanden sie einen großen zertrampelten Fleck im Gras zwischen niedrigen Büschen, und der Fleck

war so blutig, dass viele der Männer in den Wald zurückliefen und ihr Frühstück von sich gaben. Sie

fanden auch den Rest von Coras Nachthemd auf dieser blutigen Stelle, und Howie, der sich bis zu

diesem Zeitpunkt bewundernswert gehalten hatte, prallte zurück gegen seinen Vater und wurde fast

ohnmächtig.

Und hier hatten Bobo Marchants Hunde die erste und einzige Meinungsverschiedenheit an diesem

Tag. Es waren insgesamt sechs, zwei Bluthunde, zwei Schäferhunde und zwei terrierartige

Bastardhunde.

Die Bastardhunde wollten nach Nordwesten, am Trapingus River entlang flussaufwärts, und der Rest

wollte in die andere Richtung, nach Südosten. Alle verhedderten sich in ihren Leinen, und obwohl über

diesen Teil nichts in den Zeitungen stand, kann ich mir die wilden Flüche vorstellen, die Bobo auf sie

niederprasseln ließ, während er seine Hände benutzte - sie waren zweifellos seine große Stärke -, um

die Leinen zu entwirren. Ich habe ein paar Hundeführer gekannt in meinem Leben, und nach meiner

Erfahrung entsprechen sie Bemerkenswerterweise alle einem bestimmten Typus.

Bobo stoppte sie an kurzen Leinen und hielt ihnen das Stück von Cora Dettericks Nachthemd unter die

Nasen, um sie daran zu erinnern, was sie an einem Tag hier draußen taten, an dem es gegen Mittag

um die vierzig Grad Celsius heiß sein würde und die Mücken bereits in Schwärmen um die Köpfe der

Possebeteiligten schwirrten. Die Hunde schnüffelten noch einmal, stimmten mit Gebell ab, welche

Richtung sie wählen sollten, und dann zogen sie alle flussabwärts.

Zehn Minuten später blieben die Männer plötzlich stehen, denn sie hörten auf einmal mehr als nur das

Kläffen der Hunde. Es war mehr ein Heulen als ein Bellen, ein Geräusch, das kein Hund jemals von

sich gegeben hatte, nicht einmal in größter Not vor dem Sterben. Es waren Laute, die keiner der

Männer jemals von irgend etwas gehört hatte, aber es war ihnen allen sofort klar, dass sie von einem

Menschen stammten. Das sagten sie jedenfalls, und ich glaubte ihnen. Ich glaube, ich hätte es

ebenfalls erkannt. Ich habe Menschen auf ihrem Weg zu dem elektrischen Stuhl so schreien gehört.

Nicht viele - die meisten verschließen sich und gehen entweder still oder scherzen, als wäre es ein

Klassenausflug -, aber ich habe ein paar erlebt. Für gewöhnlich diejenigen, die glauben, dass die Hölle

ein realer Ort ist und wissen, dass sie am Ende der Grünen Meile auf sie wartet.

Bobo nahm seine Hunde wieder an die kurze Leine. Sie waren wertvoll, und er wollte sie nicht an den

Psychopathen verlieren, der heulend und sabbernd dort am Flussufer hockte. Die anderen Männer

luden ihre Waffen durch und packten sie fester. Dieses Heulen hatte sie alle erschauern lassen, und

der Schweiß unter ihren Achseln und auf dem Rücken fühlte sich an wie Eiswasser.

Wenn Männer so erschauern, brauchen sie einen Führer, um den Weg fortzusetzen, und Deputy

McGee übernahm diese Rolle. Er trat an die Spitze und ging forsch (ich wette, er fühlte sich in diesem

Augenblick jedoch ganz anders) zu einer Gruppe Erlen, die zur Rechten aus dem Wald ragte, und der

Rest folgte ihm nervös mit fünf Schritten Abstand. McGee verharrte nur einmal, und zwar, um dem

größten der Männer - Sam Hollis - einen Wink zu geben, nahe bei Klaus Detterick zu bleiben.

Auf der anderen Seite der Erlen gab es eine Lichtung bis zum Waldrand zur Rechten. Links war der

lange, sanft abfallende Hang des Flussufers. Alle stoppten auf der Stelle, wie vom Blitz getroffen. Ich

nehme an, sie hätten viel dafür gegeben, nicht sehen zu müssen, was da vor ihnen war, und keiner

von ihnen würde es jemals vergessen, es war die Art Alptraum, die jenseits der Vorgänge von gutem

und normalem Leben liegt -Abendgottesdienste, Spaziergänge auf dem Land, ehrliche Arbeit, Küsse

der Liebe im Bett. Jeder Mensch hat einen Totenschädel in sich, und ich sage Ihnen, dass ein

Totenkopf in den Leben aller Menschen ist. Sie sahen es an diesem Tag, diese Männer - sie sahen,

was manchmal hinter dem Lächeln grinst.

Auf dem Flussufer saß in einer verwaschenen, blutbefleckten Latzhose der größte Mann, den sie

jemals gesehen hatten - John Coffey. Seine gewaltigen Plattfüße waren nackt. Er trug ein verblichenes

rotes Kopftuch, wie es Frauen vom Land tragen, wenn sie zur Kirche gehen. Mücken schwirrten in

einer dunklen Wolke um ihn herum.

In jedem Arm hielt er die Leiche eines nackten Mädchens. Ihr blondes Haar, einst lockig und leicht

und seidig, klebte jetzt verfilzt und blutig an ihren Köpfen.

Der Mann, der sie hielt, heulte den Himmel an wie ein mondsüchtiges Kalb, Tränen rannen über seine

dunkelbraunen Wangen, und sein Gesicht war vor Schmerz und Trauer verzerrt. Er atmete stoßweise,

seine Brust hob sich, bis sich die Träger der Latzhose spannten, und dann stieß er die angestaute Luft

aus, um wieder lang gezogen zu heulen. Sehr oft liest man in der Zeitung: >Der Mörder zeigte keine

Reue<, aber das war hier nicht der Fall. Es zerriss John Coffey fast was er angerichtet hatte - aber er

würde leben. Die Mädchen nicht. Sie waren auf schwerwiegendere Art und Weise zerrissen worden.

Keiner wusste später zu sagen, wie lange sie dort standen und auf den heulenden Mann starrten, der

seinerseits über den Fluss hinweg zu einem Zug auf der anderen Seite schaute, der auf die Brücke zu

fuhr, die das Wasser überspannte. Es war, als ob sie eine Stunde lang oder ewig hinschauten und sich

der Zug trotzdem nicht weiterbewegte. Er schien auf der Stelle zu treten wie ein Kind bei einem

Wutanfall, und die Sonne verschwand nicht hinter einer Wolke, und der grauenvolle Anblick wurde

nicht vor ihren Augen ausgelöscht.

Er war dort vor ihnen, so real wie ein Hundebiss. Der schwarze Mann wiegte sich auf und ab, und

Cora und Käthe schaukelten mit ihm vor und zurück wie Puppen in den Armen eines Riesen, Die

Muskeln der blutbefleckten gewaltigen Arme des Mannes spannten sich, entspannten sich, spannten

sich, entspannten sich, spannten sich, entspannten sich.

Es war Klaus Detterick, der die makabre Idylle zerstörte.

Schreiend warf er sich auf das Monster, das seine Töchter vergewaltigt und ermordet hatte. Sam

Hollis kannte seinen Job und versuchte sein Bestes, doch er schaffte es nicht. Er war gut einen Kopf

größer als Klaus und mindestens siebzig Pfund schwerer, aber Klaus schüttelte scheinbar mühelos

seine Arme ab, mit denen er ihn festhalten wollte.

Klaus flog förmlich auf Coffey zu und versetzte ihm noch im Flug einen Tritt an den Kopf. Sein

Arbeitsstiefel, bedeckt mit verschütteter Milch, die in der Wärme bereits sauer geworden war, traf

Coffeys linke Schläfe, doch Coffey schien überhaupt nichts zu spüren. Er saß nur da, stieß ein

klagendes Heulen aus, wiegte sich vor und zurück und schaute über den Fluss. Ich stelle mir vor, dass

er fast wie ein Bild aus einem Bibeldruck wirkte, der getreue Anhänger des Kreuzes, der durch einen

Kiefernwald zum Gelobten Land schaut - wenn nicht die Leichen auf seinen Armen gewesen wären.

Vier Männer mussten den hysterischen Farmer von John Coffey zurückreißen, und er versetzte Coffey

ich weiß nicht wie viele harte Schläge, bis sie es schließlich geschafft hatten, ihn zu bändigen. Coffey

war es anscheinend gleichgültig, ob er angegriffen wurde oder nicht; er schaute einfach weiter über

den Fluss hinweg und wehklagte.

Detterick verlor alle Energie, als er schließlich von Coffey weggezerrt wurde, als ob eine sonderbare

elektrisierende Strömung durch den riesigen schwarzen Mann hindurchgelaufen wäre (ich neige dazu,

in elektrischen Metaphern zu denken; verzeihen Sie mir), und als Dettericks Kontakt mit dieser

Energiequelle schließlich unterbrochen wurde, erschlaffe er wie ein Mann, der einen Stromschlag

abbekommen hatte, sank am Flussufer auf die Knie, schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte.

Howie kniete sich neben ihn, und sie umarmten sich, Stirn an Stirn.

Zwei Männer passten eine Weile auf sie auf, während der Rest einen waffenstarrenden Ring um den

auf und ab schaukelnden, wehklagenden Schwarzen bildete. Er nahm anscheinend immer noch nicht

wahr, dass außer ihm jemand da war. McGee schritt näher zu ihm, trat unsicher von einem Fuß auf

den anderen und ging dann in die Hocke.

»Mister«, sagte er mit ruhiger Stimme, und Coffey verstummte sofort McGee schaute in Augen, die

vom Heulen blutunterlaufen waren. Diese Augen weinten und blickten dennoch irgendwie

teilnahmslos, distanziert und gelassen. Ich fand bei Coffeys Einlieferung, es waren die sonderbarsten

Augen, die ich jemals gesehen hatte, und McGee hatte damals vor mir dasselbe empfunden.

»Wie die Augen eines Tiers, das noch nie einen Menschen gesehen hat«, sagte er einem Reporter

kurz vor dem Prozess.

»Mister, hörst du mich?« fragte McGee.

Langsam nickte Coffey. Immer noch hielt er seine entsetzlichen Puppen auf den Armen. Ihr Kinn war

auf die Brust gesunken, so dass ihr Gesicht nicht zu sehen war, eine der wenigen Barmherzigkeiten,

die Gott an diesem Tag gewährte.

»Hast du einen Namen?« fragte McGee.

»John Coffey«, sagte er mit schwerer, tränenerstickter Stimme. »Coffey, wie Kaffee, nur anders

geschrieben.«

McGee nickte und wies dann auf den Latz von Coffeys Hose, der gewölbt war. Es sah aus, als ob

Coffey darin eine Waffe hatte - nicht, dass ein Mann von Coffeys Größe eine Feuerwaffe brauchte, um

einigen größeren Schaden anzurichten, wenn er sich entschied loszulegen. »Was ist da drin, John

Coffey? Vielleicht ein Ballermann? Eine Pistole?«

»Nein, Sir«, sagte Coffey mit seiner schweren Stimme, und mit diesen sonderbaren Augen - mit

Tränen gefüllt und mit schmerzlichem Ausdruck an der Oberfläche, distanziert und unheimlich

gelassen darunter, als ob der wahre John Coffey woanders wäre, zu einer anderen Landschaft

schaute, wo ermordete kleine Mädchen kein Grund zur Aufregung waren - blickte er Deputy McGee

ständig an. »Das ist nur ein kleines Mittagessen.«

»So, ein kleines Mittagessen, richtig?« fragte McGee, und Coffey nickte und sagte: »Jawohl, Sir«, und

aus seinen Augen rannen Tränen, und aus seiner Nase lief Rotz.

»Und wo bekommen Leute wie du ein kleines Mittagessen her, John Coffey?« McGee zwang sich,

ruhig zu sein, obwohl er jetzt die Mädchen riechen konnte und die Fliegen über die Stellen der Leichen

kriechen sah, die noch feucht waren. Der Anblick der Haare der toten Mädchen war am schlimmsten,

sagte er später, und das stand in keiner Zeitung; man hielt es für zu grässlich, um es zu

veröffentlichen.

Ich erfuhr es von dem Reporter, der die Geschichte geschrieben hatte. Ich besuchte ihn später, als

John Coffey eine Art Besessenheit für mich wurde. McGee sagte diesem Reporter, dass das blonde

Haar der Mädchen nicht mehr blond gewesen war. Es war kastanienbraun. Blut war aus dem Haar

ihre Wangen hinabgelaufen wie bei schlechtem Haarefärben, und man brauchte kein Arzt zu sein, um

zu sehen, dass ihre Schädel mit der Kraft dieser gewaltigen Arme aneinander geschlagen worden

waren. Vielleicht hatten die Mädchen geschrieen. Vielleicht hatte er sie zum Verstummen bringen

wollen. Wenn die Mädchen Glück gehabt hatten, war das vor den Vergewaltigungen geschehen.

Ein solcher Anblick macht es einem schwer, klar zu denken, sogar einem Mann, der so entschlossen

war, seine Pflicht zu tun, wie Deputy McGee. Unklares Denken konnte zu Fehlern und vielleicht zu

noch mehr Blutvergießen führen. McGee atmete tief durch und beruhigte sich. Er versuchte es

jedenfalls.

»Sir, ich erinnere mich nicht genau, woher ich das Essen habe, fällt mir nicht ein«, sagte John Coffey

mit tränenerstickter Stimme, »aber es ist ein kleines Mittagessen, das stimmt, Brötchen und ich

glaube eine Essiggurke.«

»Ich möchte mir das selbst ansehen, wenn es dir nichts ausmacht«, sagte McGee. »Beweg dich jetzt

nicht, John Coffey. Tu es nicht, Junge, denn es zielen genug Waffen auf dich, um dich von der Hüfte

an aufwärts verschwinden zu lassen, wenn du auch nur mit einem Finger zuckst« Coffey schaute über

den Fluss hinweg und ließ McGee reglos gewähren, als er vorsichtig in den Latz griff und etwas

hervorzog, das in Zeitungspapier gewickelt und mit einem Bindfaden verschnürt war. McGee entfernte

den Bindfaden und schlug das Zeitungspapier auf, obwohl er ziemlich überzeugt war, dass es genau

das enthielt, was Coffey gesagt hatte - ein kleines Mittagessen. Da waren ein Brötchen mit

Schinkenspeck und Tomatenscheiben und ein Marmeladenbrötchen. Ebenfalls eine Gurke, eingewickelt

in die Comicseite, deren Inhalt John Coffey niemals kapiert hätte. Keine Würstchen. Bowser hatte die

Würstchen von John Coffeys kleinem Mittagessen bekommen.

McGee reichte das Mittagessen über die Schulter zu einem der anderen Männer, ohne den Blick von

Coffey zu nehmen. Er war zu nahe bei dem schwarzen Riesen, um sich erlauben zu dürfen, auch nur

eine Sekunde in seiner Aufmerksamkeit nachzulassen. Das Mittagessen, wieder eingepackt und mit

dem Bindfaden verschnürt, landete schließlich bei Bobo Marchant, der es in seinem Rucksack

verstaute, in dem er Happen für seine Hunde aufbewahrte (und ein paar Köder zum Angeln, das hätte

mich jedenfalls nicht gewundert). Es wurde nicht als Beweismittel beim Prozess verwendet - die Justiz

in diesem Teil der Welt ist schnell, aber nicht so schnell, wie ein Schinkenspecktomaten-Brötchen

verdirbt -, aber es gab Fotos davon.

»Was ist hier passiert, John Coffey?« fragte McGee mit seiner tiefen, ernsten Stimme. »Willst du mir

das erzählen?«

Und Coffey sagte zu McGee und den anderen fast genau das gleiche, was er zu mir sagte; es waren

auch die letzten Worte, die der Verteidiger der Jury bei Coffeys Prozess sagte: »Ich konnte nichts

dafür«, sagte John Coffey mit den ermordeten, geschändeten nackten Mädchen auf seinen Armen.

Tränen rannen wieder über seine Wangen. »Ich versuchte es aufzuhalten, aber es war zu spät«

»Junge, du bist unter Mordverdacht verhaftet«, sagte McGee, und dann spuckte er John Coffey ins

Gesicht

Die Geschworenen zogen sich eine Dreiviertelstunde zurück. Gerade genug Zeit, um etwas zu Mittag

zu essen. Ich frage mich, ob sie Appetit hatten.

5

Ich denke, Sie wissen, dass ich all das nicht an einem heißen Oktobernachmittag in der bald nicht

mehr existierenden Gefängnisbücherei herausfand, aus alten Zeitungen in ein paar Orangenkartons,

aber ich erfuhr genug, um an diesem Abend keinen Schlaf zu finden. Als meine Frau um zwei Uhr

morgens aufstand und mich in der Küche sitzen sah, wo ich Buttermilch trank und eine Selbstgedrehte

Zigarette rauchte, fragte sie mich, was los wäre, und ich belog sie, eines der wenigen Male in unserer

langen Ehe. Ich sagte, ich hätte wieder mal Krach mit Percy Wetmore gehabt

Das stimmte natürlich, aber das war nicht der Grund, weshalb ich noch so spät auf war. Für

gewöhnlich konnte ich die Gedanken an Percy im Büro zurücklassen.

»Nun, vergiss diesen faulen Apfel und komm ins Bett«, sagte meine Frau. »Ich habe etwas, das dir

beim Einschlafen helfen wird, und du kannst soviel davon haben, wie du willst«

»Das klingt gut aber ich denke, wir lassen das besser«, sagte ich. »Mein Wasserwerk ist nicht in

Ordnung, und ich möchte dich nicht anstecken.«

Sie hob eine Augenbraue. »Wasserwerk? Ich nehme an, du hast dir das von einer Nutte geholt als du

beim letzten Mal in Baton Rouge warst« Ich war nie in Baton Rouge und habe folglich dort auch keine

Nutte angerührt, und wir beide wussten das.

»Es ist nur eine einfache Blaseninfektion«, sagte ich. »Meine Mutter pflegte zu sagen, Jungen holen

sich die beim Pinkeln, wenn der Nordwind bläst«

»Deine Mutter pflegte auch den ganzen Tag im Haus zu bleiben, wenn sie etwas Salz verschüttet hatte«, erwiderte meine Frau. »Dr. Sadler ...«

»Nein«, unterbrach ich mit erhobener Hand. »Er wird mir Sulfat verordnen, und bis zum Wochenende werden alle Ecken meines Büros voll gekotzt sein. Ich werde den Dingen ihren Lauf lassen, aber unterdessen halte ich es für besser, dass wir uns vom Spielplatz fernhalten.« Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn, gleich über meiner linken Augenbraue, was immer ein Kribbeln bei mir hervorruft, wie Janice nur zu gut weiß. »Armes Baby. Als ob dieser schreckliche Percy Wetmore nicht reicht Komm bald ins Bett«

Das tat ich, aber vorher trat ich auf die hintere Veranda hinaus, um mich zu erleichtern (und ich prüfte vorher mit angefeuchtetem Finger die Windrichtung; was uns unsere Eltern sagen, wenn wir klein sind, bleibt selten unbeachtet ganz gleich, wie albern es sein mag). Das Pinkeln im Freien ist eine der Freuden des Landlebens, die sich bei den Poeten nie ganz herumgesprochen hat, aber in dieser Nacht war es keine Freude; das Wasser, das aus mir rann, brannte wie ein Strahl von brennendem Petroleum. Aber ich dachte, es wäre an diesem Nachmittag noch ein bisschen schlimmer gewesen, und ich wusste, dass es vor zwei oder drei Tagen schlimmer gewesen war. Ich hoffte, dass ich auf dem Wege der Besserung war. Niemals war eine Hoffnung unbegründeter. Keiner hatte mir gesagt, dass manchmal ein Bazillus, der sich festgesetzt hat wo es warm und feucht ist einen Tag oder zwei ausruhen kann, bevor er wie der erstarkt Es hätte mich überrascht, wenn ich das gewusst hätte. Es hätte mich noch mehr überrascht, wenn ich erfahren hätte, dass es in fünfzehn oder zwanzig Jahren Pillen geben würde, mit denen diese Infektion in Rekordzeit aus dem Körper verbannt werden konnte. Und wenn diese Pillen auch ein wenig Magenbeschwerden oder Durchfall bewirken konnten, brauchte man davon nicht zu kotzen wie von Dr. Sadlers Sulfatpillen. Damals, 1932, konnte man nicht viel mehr tun, als abzuwarten und das Gefühl zu ignorieren, dass jemand einem Petroleum ins Wasserwerk ge­schüttet und dann mit einem Streichholz angezündet hatte.

Ich knöpfte die Hose zu, ging ins Schlafzimmer und schlief schließlich ein. Ich träumte von Mädchen mit scheuem Lächeln und Blut im Haar.

6

Am nächsten Morgen lag ein pinkfarbener Notizzettel auf meinem Schreibtisch. Ich sollte so schnell wie möglich zum Büro des Direktors kommen. Natürlich wusste ich, worum es ging - es gab ungeschriebene, aber sehr wichtige Regeln in dem Spiel, und ich hatte mich gestern eine Zeitlang nicht daran gehalten -, und so zögerte ich meinen Besuch beim Direktor so lange wie möglich hinaus. Wie den Besuch beim Doktor wegen meiner Probleme mit dem Wasserwerk, nehme ich an.

Ich war stets der Ansicht gewesen, dass der Spruch >Verschiebe nicht auf morgen, was du heute kannst besorgen< überbewertet wird.

Jedenfalls hetzte ich mich nicht ab, um Direktor Moores aufzusuchen. Statt dessen zog ich meinen Uniformrock aus, hängte ihn über die Rückenlehne meines Stuhls und schaltete den Ventilator an - es war wieder ein heißer Tag. Dann setzte ich mich hinter den Schreibtisch und ging Brutus Howells Bericht über die Nachtschicht durch. Es gab nichts Beunruhigendes.

Delacroix hatte nach dem Einschließen kurz geweint - das tat er in den meisten Nächten, und er weinte mehr um sich als um die Leute, die er lebend geröstet hatte, dessen bin ich mir ziemlich sicher -, und dann hatte er Mr. Jingles, die Maus, aus der Zigarrenkiste genommen, in der sie geschlafen hatte. Das hatte Del beruhigt, und er hatte den Rest der Nacht wie ein Baby geschlafen. Mr. Jingles hatte wahrscheinlich den längsten Teil der Nacht auf Delacroix' Bauch verbracht, den Schwanz über die Pfoten gelegt, die Augen offen. Es war, als hätte Gott entschieden, dass Delacroix einen Schutzengel brauchte, aber in Seiner Weisheit hatte er sich gesagt, dass es nur eine Maus sein konnte für so eine Ratte wie unseren mörderischen Freund aus Louisiana.

Natürlich stand nicht all das in Brutals Bericht, aber ich hatte selbst genug Nachtschichten gehabt, um zwischen den Zeilen lesen zu können. Da war eine kurze Notiz über Coffey. >Lag wach, meistens ruhig, heulte vielleicht etwas. Ich versuchte, ein Gespräch in Gang zu bringen, aber nach ein paar mürrischen Antworten von Coffey gab ich auf. Paul oder Harry haben vielleicht mehr Glück< »Ein Gespräch in Gang bringen< war ein Schwerpunkt unseres Jobs.

Ich wusste es zu diesem Zeitpunkt nicht, aber wenn ich es aus der Sicht dieses seltsamen Alters betrachte (ich denke, Alter muss seltsam für die Leute sein, die es durchmachen), verstehe ich, was es war und warum ich es damals nicht erkannte - es war zu groß, so entscheidend für unsere Arbeit, wie unser Atmen für unser Leben war. Es war nicht wichtig, dass die Springer gut darin waren, >ein Gespräch in Gang zu bringen^ aber es war lebenswichtig für mich und Harry und Brutal und Dean ..., und das war einer der Gründe, weshalb Percy Wetmore solch eine Katastrophe war. Die Insassen hassten ihn, die Wärter hassten ihn, jeder hasste ihn wahrscheinlich, mit Ausnahme von seinen politischen Verbindungen, Percy selbst und vielleicht (aber nur vielleicht) seiner Mutter. Er war wie eine Dosis Arsen in einem Hochzeitskuchen, und ich denke, ich wusste, dass er von Anfang an Unheil bedeutete. Er war wie ein Unglück, das eintreten würde. Was uns andere anging, so hätten wir über die Vorstellung gespottet, dass wir hauptsächlich nicht als Wärter fungierten, sondern als Psychiater der zum Tode Verdammten - ein Teil von mir will heute immer noch darüber spotten -, aber wir wussten, wie man ein Gespräch in Gang bringt, und ohne Gespräche hatten die Männer, die dem Tod ins Auge sahen, die Neigung, wahnsinnig zu werden.

Ich notierte am Fuß von Brutals Bericht, dass ich mit John Coffey reden sollte - es wenigstens ver­suchen sollte -, und widmete mich dann einer Notiz von Curtis Anderson, dem stellvertretenden Gefängnisdirektor. Anderson erwartete eine TDH - Anweisung für Edward Delacrois (Schreibfehler von Anderson, der Name lautete richtig Eduard Delacroix). TDH stand für Tag der Hinrichtung, und laut Notiz hatte Curtis Anderson aus glaubwürdiger Quelle erfahren, dass der kleine Franzose den Spaziergang kurz vor Halloween antreten würde - er schätzte, am 27 Oktober, und Curtis Andersons Schätzungen basierten meist auf zuverlässigen Informationen. Aber zuvor konnten wir einen Neuzugang namens William Wharton erwarten.

>Er ist das, was man Problemkind nennt<, hatte Curtis in seiner linkslastigen und irgendwie pingeligen Schrift geschrieben. >Verrückt/wild und stolz darauf. Er ist im vergangenen Jahr oder so durch den ganzen Staat gestreift, hat drei Leute bei einem Überfall umgelegt, darunter eine schwan­gere Frau, und eine vierte Person bei der Flucht erschossen. Einen Staatspolizisten. Fehlte nur noch eine Nonne und ein Blinder.< Ich lächelte ein bisschen über diese Anmerkung. > Wharton ist neunzehn Jahre alt und hat die Tätowierung Billy the Kid auf dem linken Oberarm. Sie werden ihm ein paar Mal einen auf die Nase geben müssen, aber seien Sie dabei vorsichtig. Diesem Mann ist einfach alles gleichgültige Den letzten Satz hatte er dick unterstrichen und hinzugefügt >Könnte auch ein Dauerkunde sein. Hat Berufung eingelegt, und da ist die Tatsache, dass er minderjährig ist< Ein verrückter Junge, der Berufung eingelegt hatte und bestimmt eine Weile bei uns blieb. Oh, das alles klang einfach prima. Plötzlich kam mir der Tag heißer denn je vor, und ich konnte den Besuch bei Direktor Moores nicht länger aufschieben.

Ich habe während meiner Jahre in Cold Mountain für drei Direktoren gearbeitet, und Hai Moores war der letzte und beste davon. Absolut ehrlich, geradeaus, auch wenn ihm selbst der beschränkte Humor Curtis Andersons fehlte, aber mit genug politischem Geschick, um seinen Job während dieser harten Jahre zu behalten - und mit genug Integrität, um sich nicht von seiner Pflicht abbringen zu lassen. Er würde nicht mehr aufsteigen, aber damit hatte er sich anscheinend abgefunden. Er war damals acht­oder neunundfünfzig und hatte ein tief zerfurchtes Bluthund-Gesicht, bei dessen Anblick sich Bobo Marchant vermutlich wie zu Hause gefühlt hätte. Er hatte weißes Haar, und seine Hände zitterten von irgendeiner Art Schüttellähmung, aber er war ein starker Mann.

Im vergangenen Jahr, als ein Gefangener ihn im Hof mit einer Latte von einer Kiste angegriffen hatte, war Moores unerschütterlich gewesen und hatte sich behauptet Er hatte das Handgelenk des Scheißkerls gepackt und so hart verdreht, dass es sich angehört hatte wie das Knacken von trockenen Ästen in einem Feuer, als der Knochen brach. Der Scheißkerl hatte alle Angriffslust verloren, war in die Knie gegangen und hatte dort im Dreck kniend nach seiner Mutter geschrien. »Ich bin nicht deine Mutter«, hatte Moores mit seiner kultivierten Südstaatlerstimme gesagt, »aber wenn ich das wäre, würde ich meinen Rock anheben und auf dich pissen, aus dem Schoß, der dich geboren hat« Als ich sein Büro betrat, wollte er aufstehen, aber ich forderte ihn mit einer Geste auf sitzen zu bleiben. Ich nahm auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz und erkundigte mich nach dem Wohlergehen seiner Alten ..., doch in unserem Teil der Welt sagt man das anders. »Wie geht es Ihrem schönen Mädchen?« fragte ich, als ob Melinda erst siebzehn Lenze erlebt hätte statt zwei- oder dreiundsechzig. Meine Anteilnahme war echt - sie war eine Frau, die ich selbst hätte lieben und heiraten können, wenn uns das Leben zusammengeführt hätte -, aber es konnte auch nicht schaden, wenn ich ihn ein bisschen vom Hauptthema ablenkte. Er seufzte tief. »Nicht so gut, Paul. Überhaupt nicht so gut« »Wieder Kopfschmerzen?«

»Nur einmal in dieser Woche, doch es war schlimmer denn je. Sie lag vorgestern fast den ganzen Tag flach. Und jetzt hat sie diese Schwäche in der rechten Hand.«

Er hob die rechte Hand mit den Leberflecken. Wir beide sahen sie einen Moment lang zittern, bevor er sie sinken ließ. Ich kann Ihnen sagen, er hätte fast alles dafür gegeben, mir nicht sagen zu müssen, was er mir zu sagen hatte, und ich hätte fast alles dafür gegeben, es nicht hören zu müssen. Melindas Kopfschmerzen hatten im Frühjahr begonnen, und den ganzen Sommer hatten ihre Ärzte gesagt, dass es >durch nervöse Spannungen bedingte Migräneanfälle< seien, vielleicht verursacht durch den Stress wegen der bevorstehenden Pensionierung ihres Mannes. Doch beide konnten den Ruhestand kaum erwarten, und meine Frau hatte mir gesagt, dass Migräne kein Leiden des Alters, sondern der Jugend ist; wenn die daran Leidenden Melinda Moores' Alter erreichten, ging es ihnen für gewöhnlich besser, nicht schlechter. Und nun diese Schwäche der Hand. Es klang nicht nach nervöser Spannung für mich; es klang wie ein verdammter Schlaganfall.

»Dr. Haverstrom will sie ins Krankenhaus in Indianola einliefern«, sagte Moores. »Sie untersuchen lassen. Den Kopf röntgen lassen, meint er. Wer weiß, was sonst Sie fürchtet sich zu Tode.« Er schwieg kurz und fügte dann hinzu: »Ehrlich gesagt ich auch.«

»Ja, aber Sie sollten dafür sorgen, dass sie sich untersuchen lässt«, sagte ich. »Warten Sie nicht Wenn sich herausstellt dass es etwas ist was sie beim Röntgen sehen können, werden sie es vielleicht beheben können.«

»Ja«, stimmte er zu, und dann trafen sich kurz unsere Blicke - das einzige Mal während dieses Teils unseres Gesprächs, wie ich mich erinnere. Es war die Art von absolutem, realistischem Verständnis zwischen uns, das keine Worte brauchte. Es konnte ein Schlag sein, ja. Es konnte auch Krebs sein, und wenn das der Fall war, waren die Chancen, dass die Arzte in Indianola etwas tun konnten, gering bis Null. Dies war 1932, bedenken Sie das, und selbst so etwas relativ Einfaches wie eine Blaseninfektion bedeutete entweder die Einnahme von Sulfat und Übelkeit oder leiden und warten. »Ich danke Ihnen für Ihre Anteilnahme, Paul. Reden wir jetzt über Percy Wetmore.« Ich stöhnte und schloss die Augen.

»Ich wurde heute morgen aus der Hauptstadt angerufen«, sagte der Direktor mit ruhiger Stimme. »Es war ein ziemlich ärgerlicher Anruf, wie Sie sich sicher vorstellen können. Paul, der Gouverneur ist so beschäftigt, dass er fast nicht da ist, wenn Sie verstehen, was ich meine. Und seine Frau hat einen Bruder, der ein Kind hat Dieses Kind ist Percy Wetmore. Percy rief gestern Abend seinen Daddy an, und Percys Daddy rief Percys Tante an. Muss ich Ihnen den Rest erzählen?«

»Nein«, sagte ich. »Percy hat gepetzt Wie der Streber in der Schule dem Lehrer erzählt dass Jack und Jill auf der Toilette geknutscht haben.« »Ja«, stimmte Moores zu, »so ungefähr.«

»Wissen Sie, was zwischen Percy und Delacroix passierte, als Delacroix eingeliefert wurde?« fragte ich. »Percy und sein verdammter Hickory - Schlagstock?« »Ja, aber ...«

»Und Sie wissen, wie er manchmal damit auf die Gitterstäbe schlägt nur um die Gefangenen zu erschrecken? Er ist gemein und blöde, und ich weiß nicht ob ich ihn noch länger ertragen kann. Das ist die Wahrheit«

Wir kannten uns seit fünf Jahren. Das kann eine lange Zeit sein für Männer, die gut miteinander auskommen, besonders wenn ein Teil des Jobs der Tausch von Leben gegen Tod ist Ich will damit sagen, dass er mich verstand. Nicht, dass ich den Job hinschmeißen würde; nicht bei der Wirt­schaftskrise, die außerhalb der Gefängnismauern umging wie ein gefährlicher Verbrecher, den man nicht einsperren konnte wie unsere Schutzbefohlenen. Bessere Männer als ich standen arbeitslos auf der Straße.

Ich hatte Glück und wusste es - die Kinder waren erwachsen, und die Hypothek, dieser

zentnerschwere Marmorblock, der mich fast erdrückt hatte, war seit zwei Jahren von meiner Brust

Aber ein Mann muss essen, und seine Frau muss ebenfalls etwas zu essen haben. Außerdem schickten

wir unserer Tochter und dem Schwiegersohn zwanzig Bucks, wann immer wir es uns erlauben

konnten (und manchmal auch, wenn wir es uns nicht erlauben konnten, Janes Briefe jedoch

besonders verzweifelt klangen). Er war ein arbeitsloser High-School-Lehrer, und wenn einen das nicht

in jenen Tagen für Verzweiflung qualifizierte, dann hatte das Wort keine Bedeutung. Also nein, man

gab keinen Job mit regelmäßigem Lohnscheck auf, nicht wenn man kaltes Blut hatte.

Aber mein Blut war in diesem Herbst nicht kalt Die Temperaturen waren ungewöhnlich für die

Jahreszeit und die Infektion in mir hatte den Thermostat noch höher gestellt Wenn man in einer

solchen Situation ist kann einem sehr leicht die Faust ausrutschen, ohne dass man es will. Und wenn

einem die Faust bei einem Mann mit Beziehungen wie Percy Wetmore ausrutscht kann man ebenso

gut gleich betteln gehen, denn dann ist man erledigt und es gibt keine Rückkehr mehr in den Job.

»Halten Sie durch«, sagte Moores ruhig. »Ich habe Sie zu mir gebeten, um Ihnen das zu sagen. Ich

weiß aus guter Quelle - genauer gesagt, von der Person, die mich heute morgen anrief -, dass Percy

ein Gesuch in Briar eingereicht hat und dem Gesuch stattgegeben wird.«

»Briar«, sagte ich. Das war Briar Ridge, eines der beiden staatlichen Krankenhäuser.

»Was macht dieser Bengel? Eine Tournee bei staatlichen Einrichtungen?«

»Es ist ein Verwaltungsjob. Bessere Bezahlung und Schreibarbeiten, anstatt Krankenbetten bei dieser

Hitze herumzuschleppen.« Er grinste mich schief an. »Wissen Sie, Paul, Sie wären ihn vielleicht schon

los, wenn Sie ihn nicht mit Van Hay in den Schalterraum geschickt hätten, als der Chief ging.«

Einen Moment lang kamen mir seine Worte so merkwürdig vor, dass ich keine Ahnung hatte, worauf

er hinaus wollte. Vielleicht wollte ich keine Ahnung haben.

»Wohin sonst hätte ich ihn schicken können?« fragte ich. »Menschenskind, er wusste kaum, was er in

dem Block tat! Ihn zum Mitglied des aktiven Hinrichtungsteams zu machen ...« Ich sprach nicht zu

Ende. Konnte es nicht Die Möglichkeit, etwas zu vermasseln, war unendlich groß.

»Dennoch sollten Sie ihn für Delacroix einsetzen. Das heißt, wenn Sie ihn loswerden wollen.«

Ich schaute ihn an, und meine Kinnlade sackte hinab. Schließlich konnte ich sie wieder anheben, wo

sie hingehörte, damit ich reden konnte. »Was sagen Sie da? Dass er eine Hinrichtung aus nächster

Nähe erleben will, damit er riecht, wie die Eier des Typen braten?« Moores zuckte die Achseln. Seine

Augen, deren Ausdruck so weich gewesen war, als er über seine Frau gesprochen hatte, blickten jetzt

hart »Delacroix' Eier werden braten, ob Wetmore beim Team ist oder nicht«, sagte er. »Richtig?«

»Ja, aber er könnte die Hinrichtung vermasseln. Hai, er wird sie ganz sicher vermasseln. Und vor

dreißig Zeugen oder so - Reporter, die den weiten Weg von Louisiana gemacht haben.«

»Sie und Brutus Howell werden dafür sorgen, dass er das nicht tut«, sagte Moores. »Und wenn er es

trotzdem tut kommt es in seine Personalakte und wird immer noch darin stehen, wenn seine

politischen Verbindungen zum Teufel sind. Verstehen Sie?«

Ich verstand. Es bereitete mir Übelkeit und Schrecken, aber ich verstand.

»Er will vielleicht bleiben, um Coffeys Hinrichtung zu erleben, aber wenn wir Glück haben, bekommt er

alles, was er braucht, von Delacroix' Hinrichtung. Sorgen Sie nur dafür, dass er für diese eine

Hinrichtung eingesetzt wird.«

Ich hatte vorgehabt Percy wieder in den Schalterraum zu schicken, dann hinab in den Tunnel als

Bewacher der Bahre, mit der Delacroix zum Fleischwagen über die Straße gegenüber vom Gefängnis

gebracht werden würde, aber ich warf all diese Pläne über meine Schulter ab, ohne noch einmal

hinzublicken. Ich nickte. Ich hatte das Gefühl zu wissen, dass ich ein Risiko einging, aber es machte

mir nichts aus. Wenn ich dadurch Percy Wetmore loswerden würde, dann würde ich dem Teufel in die

Nase zwicken. Er konnte an dieser Hinrichtung teilnehmen, Van Hay anweisen, den Hebel zu

betätigen, und dann durch das Schaltergitter schauen; er konnte beobachten, wie der kleine Franzose

auf dem Blitz ritt, den er, Percy Wetmore, aus der Flasche gelassen hatte.

Sollte er seinen ekelhaften kleinen Kitzel haben, wenn ein vom Staat sanktionierter Mord das für ihn

war. Sollte er dann nach Briar Ridge gehen, wo er ein eigenes Büro mit Ventilator haben würde. Und

wenn sein angeheirateter Onkel bei der nächsten Wahl aus dem Amt abgewählt wurde und Percy

herausfinden musste, was Arbeit in der harten, alten Sonnenverdorrten Welt bedeutete, wo nicht all

die bösen Buben hinter Gittern eingesperrt waren und man manchmal selbst Schläge erhielt, war das

um so besser.

»In Ordnung«, sagte ich und stand auf. »Ich werde ihn bei Delacroix' Hinrichtung in der ersten Reihe

einsetzen. Und unterdessen werde ich ihn in Frieden lassen.«

»Gut«, sagte Moores und erhob sich ebenfalls. »Wie steht es übrigens mit Ihrem Problem?« Er wies

taktvoll in Richtung meines Unterleibs.

»Ist anscheinend ein wenig besser geworden.«

»Nun, das ist prima.« Er ging mit mir zur Tür. »Was ist übrigens mit Coffey? Wird er ein Problem

sein?«

»Ich denke, nein«, sagte ich. »Bis jetzt verhielt er sich ruhig wie ein toter Hahn. Er ist seltsam - son­derbare Äugen - aber ruhig. Wir beobachten ihn natürlich trotzdem. Machen Sie sich keine Sorgen.« »Sie wissen natürlich, was er getan hat« »Klar.«

Er führte mich bis ins Vorzimmer, in dem die alte Miss Hannah auf ihre Underwood-Schreibmaschine einhämmerte, wie sie es scheinbar seit dem Ende der letzten Eiszeit getan hatte, wie es mir vorkam. Ich war froh, dass ich gehen durfte. Alles in allem hatte ich das Gefühl, gut davongekommen zu sein. Und es war schön zu wissen, dass es also doch eine Chance gab, Percy zu überleben. »Schicken Sie Melinda eine ganze Kiste mit meinen besten Wünschen«, sagte ich. »Und kaufen Sie sich keine zusätzliche Kiste von Sorgen. Es stellt sich vielleicht heraus, dass es nur Migräne ist« »Aber sicher«, sagte er, und während seine Augen Angst widerspiegelten, lächelten seine Lippen. Die Kombination kam verdammt nahe an das Lächeln eines Ghouls heran. Ich kehrte zu Block E zurück, zu einem neuen Arbeitstag.

Es gab Papierkram zu lesen und zu schreiben, Böden mussten mit dem Mop aufgewischt werden, Mahlzeiten mussten serviert werden, ein Dienstplan für die kommende Woche musste aufgestellt werden, und es gab hundert Einzelheiten, um die ich mich kümmern musste. Aber hauptsächlich gab es Warten - im Gefängnis gibt es immer viel davon, so viel, dass es nie zu Ende geht Warten darauf, dass Eduard Delacroix über die Grüne Meile ging, warten auf William Wharton mit der großen Klappe und der Billy-the-Kid-Tätowierung; und vor allem warten darauf, dass Percy Wetmore aus meinem Leben verschwinden würde.

z

Delacroix' Maus war eines von Gottes Geheimnissen. Ich sah niemals eine Maus in Block E vor diesem Herbst und später ebenfalls keine mehr, als Delacroix an einem heißen, gewitterschwülen Abend im Oktober aus unserer Gesellschaft ausschied - auf eine so entsetzliche Art, dass ich mich kaum überwinden kann, mir alles in Erinnerung zu rufen.

Delacroix behauptete, dass er seine Maus dressiert hatte, deren Leben bei uns als Steamboat Willy begonnen hatte, aber ich denke, es war andersherum. Dean Stanton empfand es ebenso und auch Brutal. Beide waren an dem Abend dabei, als die Maus ihren ersten Auftritt hatte, und Brutal sagte: »Das Ding ist bereits halb zahm und zweimal so gescheit wie dieser Cajun, der sich für den Besitzer hält«

Dean und ich saßen in meinem Büro und gingen die Akten vom vergangenen Jahr durch, bereiteten Nachfassschreiben an Zeugen von fünf Hinrichtungen vor und Nachfassschreiben zu Nachfassschreiben bei weiteren sechs, die bis ins Jahr 1929 zurückreichten. Im Grunde wollten wir nur eines wissen: Waren sie zufrieden mit dem Service? Ich weiß, das klingt grotesk aber es war eine wichtige Überlegung. Als Steuerzahler waren sie unsere Kunden, aber sehr besondere. Leute, die sich die Zeit nehmen und sich die Mühe machen, um Mitternacht zuzuschauen, wie ein Mensch stirbt, haben einen besonderen, dringenden Grund dabei zu sein, und wenn die Hinrichtung eine angemessene Bestrafung ist, dann sollte dieses Bedürfnis befriedigt werden. Sie hatten einen Alptraum erlebt Der Zweck der Hinrichtung ist es, ihnen zu zeigen, dass der Alptraum vorüber war. Vielleicht funktioniert das sogar so. Manchmal.

»Hey!« rief Brutal außerhalb der Bürotür, wo er am Wachpult am Ende des Gangs saß. »Hey, ihr beiden! Kommt schnell her!«

Dean und ich tauschten einen besorgten Blick, denn wir dachten, etwas wäre dem Indianer aus Oklahoma passiert (sein Name war Arien Bitterbuck, aber wir nannten ihn >Chief< oder, in Harry Terwilliger Fall, Chief Ziegenkäse, denn so roch Bitterbuck nach Harrys Ansicht) oder dem Typen, den wir >President< nannten. Doch dann begann Brutal zu lachen, und wir eilten hin, um zu sehen, was los war. Lachen in Block E klang fast so fehl am Platze wie in einer Kirche.

Old TootToot, der Kalfakter, in jenen Tagen für den Essenswagen zuständig, hatte seinen Wagen mit den Leckereien vorbeigerollt, und Brutal hatte sich für eine lange Nacht eingedeckt -drei belegte Brötchen, zwei Limo und zwei Teilchen. Außerdem eine Portion Kartoffelsalat, die Toot zweifellos aus der Gefängnisküche geklaut hatte, zu der er eigentlich keinen Zugang haben durfte. Brutal hatte das Dienstbuch geöffnet vor sich liegen, und es kam einem Wunder gleich, dass er noch nichts darüber verkleckert hatte. Natürlich hatte er gerade erst mit dem Mampfen angefangen.

»Was ist los?« fragte Dean.

»Der Staat muss den Geldsack in diesem Jahr genug geöffnet haben, um einen neuen Knastwärter einzustellen«, sagte Brutal, immer noch lachend. »Seht euch das an.«

Brutal wies hin, und wir sahen die Maus. Ich begann ebenfalls zu lachen, und Dean lachte mit Man musste einfach lachen, denn diese Maus sah aus wie ein Wächter, der viertelstündliche Patrouillen machte, um zu überprüfen, ob alles in Ordnung war: ein winziger, pelziger Wärter, der sich vergewisserte, dass keiner versuchte, auszubrechen oder Selbstmord zu begehen. Er trottete ein Stück auf der Grünen Meile auf uns zu und drehte den Kopf hin und her, wie um die Zellen zu überprüfen. Dann huschte er ein paar Schrittchen weiter und peilte wieder zu den Zellen links und rechts. Dass wir unsere gegenwärtigen Insassen schnarchen hörten, trotz des Gelächters, machte es irgendwie sogar noch lustiger.

Es war eine völlig normale braune Maus, abgesehen davon, dass sie die Zellen zu überprüfen schien. Sie ging sogar in zwei der Zellen hinein, huschte gewandt zwischen den Gitterstäben hindurch, worum sie unsere Gefangenen, ehemalige und gegenwärtige, sicherlich beneidet hätten, wie ich mir vorstellen kann. Die Maus ging in keine der besetzten Zellen, nur in die leeren. Und schließlich hatte sie uns fast erreicht Ich erwartete, dass sie kehrtmachte, aber das tat sie nicht Sie zeigte überhaupt keine Furcht vor uns.

»Es ist nicht normal, dass sich eine Maus den Menschen so nähert«, sagte Dean Stanton ein wenig nervös. »Vielleicht hat die Maus Tollwut«

»O mein Gott«, sagte Brutal, während er einen Happen Cornedbeef-Brötchen kaute. »Der große Mäuse-Experte. Der Mausmann. Siehst du Schaum an der Schnauze, Mausmann?« »Ich kann die Schnauze überhaupt nicht sehen«, sagte Dean, und das brachte uns alle wieder zum Lachen. Ich konnte den Mund ebenfalls nicht sehen, aber ich sah die schwarzen kleinen Knopfaugen und konnte darin kein Anzeichen auf Wahnsinn oder Tollwut entdecken. Die Augen blickten interessiert und intelligent Ich habe Männer in den Tod geschickt - Männer mit angeblich unsterblichen Seelen -, die mich dümmer angeschaut haben als diese Maus.

Sie huschte die Grüne Meile hinauf bis dicht vor das Pult der Wache - das Pult war nichts Besonderes, wie Sie sich vielleicht vorstellen können, sondern nur so ein Pult, hinter dem Lehrer in der Grundschule sitzen. Lind dort verharrte sie und schlang den Schwanz um die Pfoten, so spröde, wie eine alte Lady ihren Rock ordnet

Mir verging plötzlich das Lachen, und ich spürte eisige Kälte bis in meine Knochen dringen. Ich möchte sagen, ich wusste nicht warum ich dieses Gefühl hatte - keiner rückt gern mit etwas heraus, bei dem er lächerlich klingt oder aussieht -, aber natürlich wusste ich es, und wenn ich Ihnen die Wahrheit über den Rest sagen kann, werde ich Ihnen wohl auch die Wahrheit über diese Sache preisgeben können.

Einen Moment lang stellte ich mir vor, diese Maus zu sein, überhaupt kein Gefängniswärter, sondern einfach ein zum Tode verurteilter Verbrecher dort auf der Grünen Meile, verurteilt und verdammt und dennoch zu einem Pult hinauf blickend, das für sie doch Meilen hoch sein musste (wie der Richtersitz Gottes eines Tages zweifellos auf uns wirken wird), und zu den lautstarken, blau uniformierten Giganten, die dahinter saßen.

Giganten, die ihresgleichen erschossen oder mit Besen erschlugen oder mit Fallen fingen, mit Fallen, die ihnen das Rückgrat brachen, während sie vorsichtig über das Wort SIEGER krochen, um an dem Käse auf der kleinen Kupferplatte zu knabbern.

Es stand kein Besen bei dem Pult der Wache, aber ein Eimer mit Mop und dem Aufwischlappen noch darum. Ich hatte den grünen Linoleumboden und alle sechs Zellen aufgewischt, bevor ich mich mit Dean an die Kartei gesetzt hatte. Ich sah, dass Dean sich den Mop schnappen und damit zuschlagen wollte. Ich legte eine Hand auf sein Handgelenk, als seine Finger gerade den Besenstiel berührten. »Lass das«, sagte ich.

Er zuckte mit den Schultern und zog seine Hand zurück Ich hatte das Gefühl, dass er sie ebenso wenig erschlagen wollte wie ich.

Brutal brach ein Stückchen vom Cornedbeef-Brötchen ab und hielt es lockend zwischen zwei Fingern über das Pult zu der Maus hin. Die Maus schien mit noch lebhafterem Interesse hinaufzuschauen, als wüsste sie genau, was es war. Vielleicht war es so; ich sah, wie ihre Barthaare zuckten, während sie schnüffelte.

»Ah, Brutal, nein!« rief Dean und schaute dann mich an. »Lass das nicht zu, Paul! Wenn er das ver­dammte Ding füttert, könnte er ebenso gut einen roten Teppich für alles auf vier Beinen ausrollen.« »Ich möchte nur sehen, was sie tun wird«, sagte Brutal. »Sozusagen im Interesse der Wissenschaft.« Er schaute mich an - ich war der Boss, selbst bei so kleinen Abweichungen von der Routine wie dieser. Ich überlegte und zuckte die Achseln, als wäre es mir gleichgültig. In Wirklichkeit wollte ich ebenfalls sehen, was die Maus tun würde.

Nun, sie fraß es natürlich. Es war schließlich die Zeit der Wirtschaftskrise. Aber die Art und Weise, wie sie fraß, faszinierte uns alle.

Sie näherte sich dem Stück Brötchen, schnüffelte auf dem Weg dorthin und setzte sich dann davor wie ein Hund, der Männchen macht, schnappte es sich und riss das Brot auseinander, um an das Fleisch zu gelangen. Sie machte es so bedächtig und wissend wie ein Mensch, der sich ein gutes Roastbeef­Abendessen in seinem Lieblingsrestaurant gönnt Ich sah niemals ein Tier so fressen, nicht einmal einen gut dressierten Haushund. Und während die Maus fraß, ließ sie uns die ganze Zeit nicht aus den Augen.

»Entweder eine clevere Maus oder eine höllisch hungrige«, sagte jemand hinter uns. Es war Bitterbuck. Er war aufgewacht und stand jetzt an den Gitterstäben der Zelle, nackt bis auf ausgebeulte Boxershorts. Er hielt eine selbstgedrehte Zigarette zwischen dem zweiten und dritten Knöchel seiner rechten Hand, und sein eisengraues Haar lag in Zöpfen über den Schultern, die einst vermutlich muskulös gewesen waren, jetzt jedoch zu verspecken begannen.

»Kennst du irgendwelche Indianerweisheiten über Mäuse, Chief?« fragte Brutal und beobachtete, wie die Maus fraß. »Wir sind alle ziemlich überrascht über die Art, wie sie das Stück Cornedbeef zwischen den Pfoten hält, es gelegentlich dreht oder darauf schaut, als wollte sie es bewundern und würdigen.« »Nö«, sagte Bitterbuck »Kannte mal einen Krieger, der behauptete, seine Handschuhe wären aus Mäusehaut, aber das kaufte ich ihm nicht ab.« Dann lachte er, als wäre die ganze Sache ein Scherz, und zog sich von den Gitterstäben zurück. Wir hörten die Pritsche knarren, als er sich wieder hinlegte. Das war anscheinend für die Maus das Signal zum Gehen. Sie fraß zu Ende, was sie zwischen den Pfoten hielt, schnüffelte an dem, was übrig geblieben war (hauptsächlich Brot mit Senf), schaute uns an, als wollte sie sich unsere Gesichter einprägen, damit sie sie wieder erkannte, wenn wir uns später begegneten Dann machte sie kehrt und huschte auf dem Weg davon, auf dem sie gekommen war, diesmal ohne zu verharren und die Zellen zu überprüfen. Die Eile erinnerte mich an das weiße Kaninchen in den Abenteuern von Alice im Wunderland, und ich lächelte. Sie verharrte nicht bei der Tür zur Gummizelle, sondern verschwand darunter. Die Gummizelle hatte weiche Wände - für Leute, deren Gehirn ein wenig weich geworden war. Wenn wir die Zelle nicht für den eigentlichen Zweck brauchten, bewahrten wir darin Reinigungsutensilien und ein paar Bücher auf (überwiegend Western von Clarence Mulford, aber auch ein Buch - das nur bei besonderen Anlässen verliehen wurde - mit einer illustrierten Geschichte, in der Popeye, Pluto und sogar Wimpy, der Hamburger, sich abwechselnd beharkten und Olive Oyl vernaschten). Es gab auch Utensilien für künstlerische Arbeiten darin, einschließlich der Buntstifte, die Delacroix später so gut benutzte. Nicht, dass das schon jetzt unser Problem gewesen wäre; dies war früher, halten Sie sich das vor Augen. In der Gummizelle war auch die Zwangsjacke, die niemand tragen wollte - weiß, aus doppelt genähtem Segeltuch und mit den Knöpfen und Schnallen und Riemen am Rücken.

Wir alle wussten, wie wir ein Problemkind im Nu in diese Jacke stecken konnten. Sie wurden nicht oft gewalttätig, unsere verlorenen Jungs, aber wenn sie das wurden, Bruder, dann wartete man nicht darauf, bis sich die Lage von selbst besserte.

Brutal griff in die Schublade des Pults und nahm das große, in Leder gebundene Buch mit dem golden aufgestempelten Wort BESUCHER darauf. Normalerweise blieb dieses Buch von einem Monat zum nächsten in der Schublade. Wenn ein Gefangener Besuch bekam - es sei denn, es war ein Anwalt oder Geistlicher -, dann ging er hinüber zu dem Raum neben der Kantine, der diesem Zweck diente. Die Arkade nannten wir diesen Raum, ich weiß nicht, warum.

»Was, zum Teufel, machst du da?« fragte Dean Stanton und spähte über die Gläser seiner Brille hinweg, als Brutal das Buch aufklappte und nach Besuchern von Männern blätterte, die jetzt tot waren.

»Ich erfülle Vorschrift neunzehn«, sagte Brutal und fand die aktuelle Seite. Er nahm einen Bleistift, beleckte die Spitze - eine eklige Angewohnheit, die er einfach nicht aufgeben konnte - und schickte sich zum Schreiben an.

Vorschrift 19 besagte: Jeder Besucher von Block E hat einen gelben Ausweis der Verwaltung vorzuzeigen und ist ohne Ausnahme im Besucherbuch zu vermerken.< »Er ist übergeschnappt«, sagte Dean zu mir.

»Er zeigte uns den Ausweis nicht, aber ich werde das diesmal durchgehen lassen«, sagte Brutal. Er leckte noch einmal an der Bleistiftspitze und schrieb dann 21:49 Uhr in die Spalte BEGINN DER BESUCHSZEIT

»Klar, warum nicht, die großen Bosse machen vielleicht bei Mäusen Ausnahmen«, sagte ich. »Natürlich tun sie das«, stimmte Brutal zu. Er drehte den Kopf, schaute auf die Wanduhr hinter dem Pult und schrieb dann 22:01 Uhr in die Spalte ENDE DER BESUCHSZEIT. Die längere Spalte zwischen den Uhrzeiten war für NAME DES BESUCHERS bestimmt Nach einer Weile angestrengten Nachdenkens - vermutlich, um zu überlegen, wie es geschrieben wurde, denn ich bin überzeugt, dass der Gedanke schon in seinem Kopf war - schrieb Brutus Howell sorgfältig Steamboat Willy, wie die meisten Leute in jenen Tagen Mickey Mouse nannten. Das lag an dem ersten Tonfilm-Comic, in dem sie die Augen ver­drehte, mit den Hüften wackelte und an der Schnur der Pfeife im Ruderhaus des Dampfschiffs zog. »So«, sagte Brutal, klappte das Buch zu und legte es in die Schublade zurück.

»Alles ordnungsgemäß erledigt«

Ich lachte, aber Dean, der sogar ernst blieb, wenn er einen Scherz erkannte, runzelte die Stirn und

polierte heftig seine Brillengläser.

»Du wirst Ärger bekommen, wenn jemand das sieht.« Dean zögerte und fügte hinzu: »Der falsche

Jemand.« Er zögerte wieder, schaute sich kurzsichtig um, als erwarte er fast, dass den Wänden Ohren

gewachsen waren, bevor er zu Ende sprach: »Jemand wie das Arschloch Percy Wetmore.«

»Hm«, sagte Brutal. »Der Tag, an dem Percy Wetmore hier an diesem Pult sitzt wird der Tag meiner

Kündigung sein.«

»Du wirst nicht zu kündigen brauchen«, sagte Dean. »Sie werden dich feuern, weil du Blödsinn ins

Besucherbuch geschrieben hast - wenn Percy das Richtige in die richtigen Ohren flüstert Du weißt,

dass er das kann.«

Brutal blickte finster drein, sagte jedoch nichts. Ich nahm an, dass er später ausradieren würde, was

er geschrieben hatte. Und wenn nicht, dann würde ich es tun.

Am nächsten Abend, nachdem wir Bitterbuck und dann President hinüber zu Block D zum Duschen

gebracht hatten - die Häftlinge dort waren zuvor eingeschlossen worden -, fragte mich Brutal, ob wir

nicht mal nach Mickey Mouse dort in der Gummizelle schauen sollten.

»Ich nehme an, das sollten wir tun«, erwiderte ich. Wir hatten am vergangenen Abend viel über diese

Maus gelacht aber ich wusste, wenn Brutal und ich sie dort in der Gummizelle fanden - besonders

wenn sie eine der gepolsterten Wände angeknabbert hatte -, würden wir sie totschlagen. Es war

besser, den Kundschafter zu töten, ganz gleich, wie amüsant er sein mochte, als mit all den vielen

Pilgern leben zu müssen, die ihm folgten. Und, ich sollte es Ihnen nicht sagen, aber keiner von uns

war sehr zimperlich bei einem kleinen Mäuse-Mord. Schließlich wurden wir vom Staat dafür bezahlt

Ratten zu töten.

Aber wir fanden Steamboat Willy alias Mickey Mouse, später bekannt als Mr. Jingles, nicht in dieser

Nacht weder in den weichen Wänden nistend noch hinter irgendwelchem Gerumpel, das wir in den

Gang hinaus schleppten. Es war eine Menge Gerumpel, mehr, als ich erwartet hatte, denn wir hatten

die Gummizelle lange nicht benutzt

Das würde sich mit der Ankunft von William Wharton ändern, aber das wussten wir zu diesem

Zeitpunkt natürlich noch nicht Glück für uns.

»Wo ist sie geblieben?« fragte Brutal schließlich und wischte sich mit einem blauen Halstuch den

Schweiß vom Nacken. »Kein Loch, keine Spalte, natürlich das da, aber ...« Er wies auf den

Wasserabfluss im Boden. Unterhalb des Gitters, durch das die Maus nicht hindurch konnte, war ein

Drahtnetz, durch das nicht einmal eine Fliege hätte schlüpfen können. »Wie ist die Maus

reingekommen? Wie ist sie rausgekommen?«

»Keine Ahnung«, sagte ich.

»Steamboat Willy ist hier gewesen, nicht wahr? Ich meine, wir drei haben sie gesehen.«

»Ja, sie verschwand unter der Tür. Sie musste sich hineinzwängen, aber sie schaffte es.«

»Menschenskind«, sagte Brutal. »Es ist gut, dass die Sträflinge sich nicht so klein machen können,

nicht wahr?«

»Da hast du recht«, sagte ich und ließ meinen Blick ein letztes Mal auf der Suche nach einem Loch,

einer Spalte oder sonst was über die gepolsterten Wände schweifen. »Komm, lass uns gehen.«

Steamboat Willy tauchte drei Nächte später wieder auf, als Harry Terwilliger am Pult Wachdienst

hatte. Percy war ebenfalls da, und er jagte die Maus über die Grüne Meile zurück mit dem gleichen

Besen, den Dean ebenfalls hatte benutzen wollen. Die Maus entkam Percy mit Leichtigkeit Sie

schlüpfte durch den Spalt unter der Tür der Gummizelle und hängte Percy und seinen Besen um eine

Handbreite ab.

Percy fluchte lauthals, schloss die Tür auf und gab all diesen Scheiß von neuem von sich. Es war lustig

und unheimlich zugleich, sagte Harry. Percy schwor, dass er die gottverdammte Maus schnappen und

ihr den kleinen Kopf abreißen würde, aber das gelang ihm natürlich nicht Verschwitzt und zerzaust

kehrte er eine halbe Stunde später zurück, wischte sich Haarsträhnen aus der Stirn, stopfte den Saum

seines Hemds hinten in die Uniformhose und erklärte Harry (der bei dem Radau ruhig hinter dem Pult

sitzen geblieben war und gelesen hatte), dass er einen Streifen Isolierband zwischen Tür und Boden

kleben werde; das würde das Schädlings-Problem lösen.

»Was immer Sie für das Beste halten, Percy«, sagte Harry und blätterte eine Seite der

Pferdeschmonzette um, die er las. Er sagte sich, Percy würde vergessen, den Spalt unter der Tür mit

Isolierband zu blockieren, und damit hatte er recht.

8

Spät in diesem Winter, lange nachdem diese Ereignisse vorüber waren, kam Brutal eines Nachts zu mir, als nur wir beide Dienst hatten, Block E vorübergehend leer war und all die anderen Wärter vorübergehend versetzt worden waren. Percy war nach Briar Ridge gegangen. »Komm her«, sagte Brutal mit sonderbar gepresster Stimme, woraufhin ich ihn scharf ansah. Ich war soeben aus einer kalten Nacht mit Graupelschauern gekommen und wischte die Schultern meines Mantels ab, bevor ich ihn aufhängte. »Ist was nicht in Ordnung?« fragte ich.

»Nein«, sagte er, »aber ich habe herausgefunden, wo Mr. Jingles rein und raus kam. Als er das erste Mal kam, meine ich, bevor Delacroix ihn übernahm. Willst du es sehen?« Natürlich wollte ich das. Ich folgte ihm über die Grüne Meile zur Gummizelle. Alles Zeug, das wir dort aufbewahrt hatten, war jetzt draußen auf dem Gang. Brutal hatte offenbar die Flaute im Verkehr mit Kunden genutzt, um etwas aufzuräumen. Die Tür stand offen, und ich sah darin unseren Eimer mit dem Schrubber. Der Boden, mit dem gleichen limonengrünen Ton wie die Grüne Meile selbst, trocknete nach dem Aufwischen. In der Mitte der Zelle stand eine Trittleiter, die sonst im Lagerraum aufbewahrt wurde, der zugleich zufällig als letzter Stop der vom Staat zum Tode Verurteilten diente. Ein Sims ragte hinter der Leiter nahe bei der Decke hervor, die Art, auf der ein Handwerker sein Werkzeug oder ein Maler den Eimer mit Farbe abstellt. Darauf lag eine Taschenlampe. Brutal reichte sie mir.

»Steig dort rauf. Du bist kürzer als ich, so kommst du vielleicht nicht ganz heran, aber ich werde deine Beine halten.«

»Ich bin da unten kitzlig«, sagte ich und stieg die Leiter hinauf. »Besonders an den Knien.« »Ich werde daran denken.«

»Gut«, sagte ich, »denn eine gebrochene Hüfte ist ein zu hoher Preis, um festzustellen, woher eine einzelne Maus kommt« »Wie?«

»Schon gut.« Mein Kopf reichte fast bis an die mit einem Gehäuse umgebene Birne in der Mitte der Decke, und ich spürte, dass die Leiter ein wenig unter meinem Gewicht wackelte. Ich konnte den Winterwind draußen heulen hören. »Halt mich nur ja fest«

»Ich habe dich, keine Sorge.« Er hielt meine Knöchel mit festem Griff, und ich stieg noch eine Stufe höher. Jetzt war mein Kopf nicht mehr weit von der Decke entfernt, und ich konnte die Spinnweben in dem Winkel sehen, wo die Dachbalken zusammenstießen. Ich leuchtete mit der Taschenlampe, konnte jedoch nichts entdecken, was das Risiko rechtfertigte, hier oben zu sein. »Nein«, sagte Brutal. »Du schaust zu weit weg, Boss. Sieh nach links, wo diese Balken zusammen­kommen. Siehst du sie? Von einem ist ein bisschen Farbe abgeblättert« »Ich sehe es.« »Leuchte auf die Verbindungsstelle.« Ich tat es und sah fast sofort, was er mir zeigen wollte. Die Balken waren mit Holzdübeln zusammengefügt mit einem halben Dutzend, und ein Dübel fehlte. Dort war jetzt ein schwarzes, rundes Loch von der Größe eines Fünfundzwanzig-Cent-Stücks. Ich schaute darauf und blickte dann zweifelnd über die Schulter zu Brutal. »Es war eine kleine Maus«, sagte ich. »Aber eine so kleine? Mann, das bezweifle ich.«

»Aber dorthin ist sie gegangen«, sagte Brutal. »Davon bin ich felsenfest überzeugt« »Ich begreife nicht, wie du das glauben kannst«

»Neig dich näher hin - keine Angst, ich halte dich - und blase in das Loch.« Ich tat was er verlangte, hielt mich mit der linken Hand an einem der anderen Dachbalken fest und fühlte mich ein bisschen besser, als ich Halt hatte. Der Wind draußen heulte wieder; Luft drang durch dieses Loch und blies in mein Gesicht Ich konnte den scharfen Atem einer Winternacht im südlichen Grenzland riechen und etwas anderes ebenso. Der Geruch von Pfefferminz.

Lasst nicht zu, dass Mr. Jingles etwas passiert, glaubte ich Delacroix mit bebender Stimme sagen zu hören. Ja, ich konnte das hören, und ich konnte die Wärme von Mr. Jingles spüren, als der Franzose ihn mir übergab, nur eine Maus, kleiner als die meisten der Gattung zweifellos, aber eine Maus. Lass nicht zu, dass dein böser Kollege meiner Maus etwas antut, hatte er gesagt, und ich hatte es versprochen, wie ich ihnen vor dem Ende immer alles verspreche, wenn der Gang über die Grüne Meile keine vage Vorstellung oder Hypothese mehr ist sondern wirklich angetreten werden muss. Schickst du diesen Brief an meinen Bruder, den ich seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen habe? Ich verspreche es. Betest du fünfzehn Ave Maria für meine Seele? Ich verspreche es. Lässt du mich unter meinem Spitznamen begraben und ihn auf meinen Grabstein schreiben?

Ich verspreche es. Das war die Art und Weise, wie man sie gut auf den Weg brachte, wie man dafür sorgte, dass sie geistig gesund auf dem Stuhl am Ende der Grünen Meile saßen. Ich konnte natürlich nicht all diese Versprechen einhalten, aber ich hielt das Versprechen ein, das ich Delacroix gegeben hatte. Der Franzose selbst hatte bitter dafür zu büßen gehabt Wetrmore hatte der Maus nichts antun dürfen, kein zweites Mal, aber er hatte seine Wut an Delacroix ausgelassen und ihn oft traktiert Oh, ich wusste, was er verbrochen hatte, klar, aber keiner verdiente, was mit Eduard Delacroix geschah, als er in Old Sparkys grausame Umarmung fiel. Ein Geruch von Pfefferminz. Und noch etwas. Weiter hinten in diesem Loch.

Ich nahm mit der rechten Hand einen Federhalter aus meiner Brusttasche - mit der Linken hielt ich mich immer noch an dem Balken fest -, und ich machte mir keine Sorgen mehr, dass Brutal unabsichtlich meine empfindlichen Knie berühren und mich kitzeln konnte. Ich schraubte mit einer Hand die Kappe des Federhalters ab, stieß dann die Spitze in das Loch und pulte etwas heraus. Es war ein winziger Holzsplitter, der leuchtend gelb gefärbt war, und ich hörte wieder Delacroix' Stimme, so deutlich diesmal, dass sein Geist in dieser Zelle bei uns hätte sein können -in der Zelle, in der William Wharton so viel seiner Zeit verbringen sollte.

Hey, ihr Jungs! sagte die Stimme diesmal - die lachende, erstaunte Stimme eines Mannes, der vergessen hat, wenigstens für eine kleine Weile, wo er ist und was ihn erwartet Kommt und seht euch an, was Air. Jingles kann! Und dann zeigte er uns Kunststücke, die Mr. Jingles auf der Holzrolle machte.

»Allmächtiger«, flüsterte ich, und mir stockte der Atem.

»Du hast noch einen Splitter gefunden, nicht wahr?« fragte Brutal. »Ich habe drei oder vier ge­funden.«

Ich stieg hinab und leuchtete mit der Taschenlampe auf Brutals große Handfläche, die er mir hinstreckte. Darauf lagen einige Holzsplitter wie Mikadostäbchen für Kobolde. Zwei waren gelb wie der Splitter, den ich gefunden hatte. Einer war grün, einer rot Sie waren nicht mit Farbe, sondern mit Wachsbuntstiften gefärbt

»O Mann«, sagte ich mit leiser, bebender Stimme. »Es sind Stücke von dieser Holzrolle, nicht wahr? Aber warum? Warum hier oben?«

»Als Kind war ich nicht so groß wie jetzt«, sagte Brutal. »Ich wuchs am meisten zwischen fünfzehn und siebzehn. Bis dahin war ich ein Knirps. Und als ich zum ersten Mal zur Schule ging, fühlte ich mich so klein wie ... nun, so klein wie eine Maus, würdest du vermutlich sagen. Ich hatte schreckliche Angst Weißt du, was ich tat?«

Ich schüttelte den Kopf. Draußen raunte der Wind. In den Winkeln der Dachbalken erzitterten die Spinnweben wie unter einer Bö. Ich war nie an einem so unheimlichen Platz gewesen, und dort, als wir auf die Splitter der Rolle schauten, auf der die Maus Kunststückchen gezeigt hatte, begriff mein Verstand, was mein Herz verstanden hatte, seit John Coffey über die Grüne Meile gegangen war: Ich konnte diesen Job nicht länger ertragen. Wirtschaftskrise hin, Wirtschaftskrise her. Ich konnte nicht noch mehr Männer durch mein Büro und in den Tod gehen sehen. Auch nur einer mehr würde einer zuviel sein.

»Ich bat meine Mutter um eines ihrer Taschentücher«, sagte Brutal. »Wenn mir zum Heulen zumute war und ich mich klein fühlte, dann konnte ich daran schnüffeln und ihr Parfüm riechen, und ich fühlte mich nicht mehr so schlecht«

»Du denkst - was? Dass die Maus etwas von dieser farbigen Rolle abgebissen hat, als Erinnerung an Delacroix? Dass eine Maus ...«

Ich blickte auf. Für einen Moment glaubte ich, Tränen in seinen Augen zu sehen, aber ich nehme an, ich irrte mich. »Ich will nichts sagen, Paul. Aber ich fand sie hier oben, und ich roch Pfefferminz genau wie du - du weißt, dass du es gerochen hast Und ich kann dies nicht länger tun. Ich werde es nicht länger tun. Wenn ich noch einen Mann auf diesen Stuhl bringe, wird es mich umbringen. Ich werde am Montag ein Versetzungsgesuch zum Jugendgefängnis einreichen. Wenn ich vor der nächsten Hinrichtung versetzt werde, ist das prima. Wenn nicht, werde ich auf den Job pfeifen und wieder als Farmer arbeiten.«

»Was hat es denn jemals auf deiner Farm gegeben außer Steinen?« »Das macht nichts.«

»Ich weiß«, sagte ich. »Ich denke, ich werde mich dir anschließen.«

Er schaute mich genau an, vergewisserte sich, dass ich mich nicht über ihn lustig machte, und dann nickte er, als sei es eine abgemachte Sache.

Der Wind heulte wieder, diesmal so stark, dass die Dachbalken ächzten, und wir schauten beide mit einem unbehaglichen Gefühl zu den gepolsterten Wänden. Ich glaube, für einen Moment konnten wir William Wharton hören - nicht Billy the Kid, der nicht, er war für uns seit seinem ersten Tag im Block >Wild Bill< -, wie er schrie und lachte und uns sagte, wir würden verdammt froh sein, ihn loszuwerden, wir würden ihn niemals vergessen.

In diesen Dingen hatte er recht

Was Brutal und ich in dieser Nacht in der Gummizelle abgemacht hatten, kam genau so. Es war fast, als hätten wir einen feierlichen Eid auf diese winzigen Stücke von gefärbtem Holz geleistet Keiner von uns beiden nahm jemals an einer anderen Hinrichtung teil. John Coffeys Exekution war die letzte.

Teil 2

Die Maus im Todesblock

1

Das Pflegeheim, in dem ich die letzten T-Striche und I-Punkte setze, heißt Georgia Pines. Es ist ungefähr sechzig Meilen von Atlanta und so an die hundert Lichtjahre vom Leben der meisten Menschen entfernt - sagen wir mal, der meisten Menschen unter achtzig. Sie, die das hier lesen, sollten aufpassen, dass Sie später nicht an einem solchen Ort landen. Es ist kein grausamer Ort, jedenfalls meistens nicht Es gibt Kabelfernsehen, das Essen ist gut (obwohl man verdammt wenig kauen kann), aber auf seine Weise ist er ein Pulverfass, wie es der Block E im Staatsknast Cold Mountain war.

Es gibt dort sogar einen Typen, der mich ein wenig an Percy Wetmore erinnert, der den Job in der Green Mile bekam, weil er mit dem Gouverneur verwandt war. Ich bezweifle, dass dieser Knabe hier mit jemand Wichtigem verwandt ist obwohl er sich so aufführt Brad Dolan heißt er. Er kämmt sich ständig das Haar, wie Percy es tat und er hat immer etwas zu lesen in seiner Gesäßtasche. Während es bei Percy Magazine wie Argosy und Men's Adventure waren, hat Brad diese kleinen Taschenbücher mit den bezeichnenden Titeln wie Derbe Witze oder Schwarzer Humor. Er fragt ständig die Leute, warum Franzosen bei Rot über die Kreuzung gehen oder wie viele Polacken man braucht um eine Glühbirne einzuschrauben, oder wie viele Sargträger es bei einer Beerdigung in Harlem gibt. Wie Percy ist Brad ein Blödmann, der nur etwas lustig findet, wenn es boshaft ist Etwas, das Brad neulich sagte, kam mir wirklich gescheit vor, aber ich rechne ihm das nicht als \erdienst an; selbst eine stehen gebliebene Uhr geht zweimal am Tag richtig, wie das Sprichwort sagt »Du hast einfach Glück, dass du nicht diese Alzheimer Krankheit hast, Paulie«, sagte er. Ich hasse es, wenn er mich Paulie nennt aber das lässt er einfach nicht sein. Ich habe es aufgegeben, mir das zu verbitten.

Es gibt noch andere Redensarten - keine Sprichwörter -, die auf Brad Dolan passen: >Man kann ein Pferd zum Wasser führen, es jedoch nicht zum Saufen zwingen< ist eine dieser Redensarten. >Man kann ihn herausputzen, aber nicht mit ihm ausgehen< ist eine andere. Ja, Brad ist ein Schwachkopf wie Percy.

Als er die Bemerkung über Alzheimer machte, wischte er den Boden im Solarium auf, wo ich mir gerade die Seiten ansah, die ich schon geschrieben hatte. Es waren sehr viele, und ich denke, es werden jede Menge mehr, bis ich fertig bin. »Alzheimer, weißt du wirklich, was das ist?« fragte er. »Nein«, erwiderte ich, »aber du wirst es mir bestimmt sagen, Brad.«

»Das ist AIDS für alte Leute«, scherzte er, und dann brach er in Gelächter aus. Haha-haha-haha-haaah, wie er das immer bei seinen idiotischen Witzen macht

Ich lachte nicht denn seine Worte hatten irgendwo einen Nerv bei mir getroffen. Nicht dass ich Alzheimer habe, obwohl ich hier im schönen Georgia Pines viel davon sehe. Ich leide nur an den typischen Gedächtnisschwächen eines alten Knackers. Diese Probleme haben mehr mit wann als mit was zu tun. Beim Durchblättern dessen, was ich bis jetzt geschrieben habe, gewinne ich den Eindruck, dass ich mich an alles erinnere, was 1932 geschah; nur die Reihenfolge bringe ich manchmal durcheinander. Aber wenn ich aufpasse, kann ich wohl selbst das auf die Reihe bringen. John Coffey kam zu Block E und der Green Mile im Oktober 1932, zum Tode verurteilt, weil er die neunjährigen Detterick-Zwillinge ermordet hatte. Das ist mein Orientierungspunkt, und wenn ich den im Auge behalte, sollte ich prima zurechtkommen. William >Wild Bill< Wharton kam nach Coffey; Delacroix war vor ihm da. Ebenso die Maus, die von Brutus Howell - >Brutal< für seine Freunde -Steamboat Willy und von Delacroix schließlich Mr. Jingles genannt wurde.

Wie auch immer Sie sie nennen, die Maus kam zuerst, sogar vor Del - es war noch Sommer, als sie

auftauchte, und wir hatten zwei weitere Gefangene auf der Green Mile: den Chief, Arien Bitterbuck,

und den Präsidenten, Arthur Flanders.

Diese Maus. Diese gottverdammte Maus.

Delacroix liebte sie, aber Percy Wetmore mochte sie kein bisschen.

Percy hasste sie von Anfang an.

2

Die Maus kehrte ungefähr drei Tage später zurück, nachdem sie von Percy zum ersten Mal über die

Green Mile - der Korridor zum heißen Stuhl, benannt nach dem grünen Linoleumboden -gejagt worden

war. Dean Stanton und Bill Dodge unterhielten sich über Politik - was in jenen Tagen bedeutete, dass

sie über Roosevelt und Hoover sprachen - Herbert, nicht J. Edgar. Sie aßen Ritz-Kräcker aus einer

Schachtel, die Dean bei dem alten TootToot vor circa einer Stunde gekauft hatte. Percy stand auf der

Türschwelle vom Büro und übte schnelles Zücken seines geliebten Schlagstocks, während er zuhörte.

Er zog den Schlagstock aus diesem albernen handgearbeiteten Halfter, das er irgendwo aufgetrieben

hatte, wirbelte ihn um die Hand (oder versuchte es; meistens wäre der Knüppel hinuntergefallen,

wenn er ihn nicht mit einer Lederschlaufe am Handgelenk gesichert hätte) und schob ihn dann ins

Halfter zurück. Ich hatte in dieser Nacht frei, aber Dean berichtete mir am folgenden Abend alle

Einzelheiten.

Die Maus kam über die Green Mile wie zuvor. Sie huschte heran, stoppte und schien die leeren Zellen

zu überprüfen. Nach einer Weile sprang sie unverzagt weiter, als hätte sie die ganze Zeit gewusst,

dass es eine lange Suche werden würde, der sie aber gewachsen war.

Der Präsident war zu dieser Zeit wach und stand an der Zellentür. Dieser Typ schaffte es, sogar in

seinem Knastblau piekfein auszusehen.

Wir wussten allein durch sein Aussehen, dass er nicht für den elektrischen Stuhl bestimmt war, den

wir Old Sparky nannten, und wir hatten recht - keine Woche nach Percys zweiter Jagd auf diese Maus

wurde das Todesurteil für den Präsidenten in »lebenslänglich umgewandelt, und er gesellte sich zu

den normalen Knastbrüdern.

»Hey!« rief er. »Hier ist 'ne Maus! Was ist das eigentlich für 'ne Bruchbude?« Er lachte dabei, aber

Dean meinte, er klang auch empört, als hätte selbst eine Mordanklage nicht ganz gereicht, um die

Arroganz aus seiner Seele zu vertreiben.

Er war der Regionalleiter einer Immobilienfirma namens Mid-South Realty Associates gewesen und

hatte sich für clever genug gehalten, ungestraft seinen halb senilen \ater aus einem Fenster im dritten

Stock zu werfen und die Lebensversicherung - die doppelte Summe für Unfalltod - zu kassieren. In

diesem Punkt hatte er sich geirrt, aber vielleicht nicht sehr.

»Halt die Klappe, du Scheißer«, sagte Percy, aber das kam ziemlich automatisch. Sein Blick war auf

die Maus gerichtet Er hatte seinen Schlagstock ins Halfter zurückgeschoben und eins seiner Magazine

hervorgeholt, aber jetzt warf er es auf das Pult des Wachhabenden und zog den Schlagstock wieder

aus dem Leder.

Er klopfte mit dem Knüppel lässig gegen die Knöchel seiner linken Hand.

»Hurensohn«, sagte Bill Dodge. »Ich habe hier noch nie 'ne Maus gesehen.«

»Ah, die ist richtig nett«, gab Dean zurück »Und hat überhaupt keine Angst«

»Woher weißt du das?«

»Der Mausebengel war schon ein paar Mal in der Nacht hier. Percy hat ihn ebenfalls gesehen. Brutal

nennt ihn Steamboat Willy.«

Percy schnaubte bei diesen Worten, aber im Augenblick hielt er die Klappe. Er klopfte jetzt schneller

mit dem Schlagstock auf seinen linken Handrücken.

»Sieh dir die Maus genau an«, sagte Dean. »Sie ist schon mal bis zum Pult gekommen. Ich will sehen,

ob sie es wieder macht«

Das tat sie, wobei sie einen weiten Bogen um den Präsidenten machte, als passe ihr der Geruch des

"Vatermörders nicht Die Maus überprüfte zwei der leeren Zellen, lief in einer sogar auf die kahle

Pritsche ohne Matratze und schnüffelte, bevor sie zur Green Mile zurückkehrte. Und Percy stand die

ganze Zeit da, klopfte und klopfte, sagte zur Abwechslung mal nichts, wollte, dass die Maus ihre

Rückkehr bereute. Wollte ihr eine Lektion erteilen.

»Gut dass ihr Jungs sie nicht auf Old Sparky grillen müsst«, meinte Bill hämisch. »Da hättet ihr

höllisch zu tun, sie an die Klammern anzuschließen und ihr die Kappe aufzusetzen.«

Percy schwieg immer noch, aber er packte den Schlagstock langsam fester und hielt ihn, wie ein

Zigarrenraucher eine gute Zigarre hält

Die Maus stoppte wie zuvor dicht vor dem Wachpult, und sie schaute zu Dean auf wie ein Gefangener vor der Richterbank

Ihr Blick schweifte kurz zu Bill hinauf, dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder Dean zu. Percy war anscheinend Luft für sie.

»Er ist ein tapferer kleiner Bastard, das muss man ihm lassen«, sagte Bill. Er hob die Stimme ein wenig. »Hey! Hey! Steamboat Willy!«

Die Maus zuckte leicht zusammen und spitzte die Ohren, aber sie ergriff nicht die Flucht und zeigte keinerlei Anzeichen, dass sie abhauen wollte.

»Seht euch das jetzt mal an«, sagte Dean, der sich daran erinnerte, wie Brutal die Maus mit einem Stück seines Cornedbeef-Brötchens gefuttert hatte. »Ich weiß nicht, ob er es wieder tun wird, aber...« Er brach ein Stückchen vom Ritz-Kräcker ab und warf es der Maus hin.

Sie schaute ein oder zwei Sekunden mit ihren scharfen schwarzen Augen auf den orangefarbenen Bissen, und ihre Schnurrbarthärchen zuckten, als sie daran schnüffelte. Dann nahm sie das Stückchen Kräcker zwischen die Pfoten, setzte sich auf und begann daran zu knabbern.

»Mann, das kann doch nicht wahr sein!« rief Bill. »Isst so manierlich wie ein Pfaffe am Samstagabend im Gemeindehaus!«

»Sieht für mich eher aus wie ein Nigger, der 'ne Wassermelone frisst«, bemerkte Percy, aber keiner der Wärter beachtete ihn. Ebenso wenig wie der Chief oder der Präsident, was das anbetraf. Die Maus verspeiste das Stück Kräcker, blieb aber auf dem eingezogenen Schwanz hocken, auf dem sie zu balancieren schien, und schaute zu den Riesen in Blau hinauf.

»Lass mich mal«, sagte Bill. Er brach ein weiteres Stück Kräcker ab, neigte sich über das Wachpult und ließ das Stück vorsichtig fallen. Die Maus schnüffelte, rührte es jedoch nicht an. »Muss satt sein«, sagte Bill.

»Quatsch«, wandte Dean ein. »Sie weiß, dass du ein Springer bist, das ist alles.« »Springer, ich? Na, das gefällt mir! Ich arbeite hier fast so oft wie Harry Terwilliger! Vielleicht sogar öfter!«

»Reg dich ab, Alter, reg dich ab«, erwiderte Dean grinsend. »Aber pass auf und guck, ob ich nicht recht habe.« Er warf ein anderes Stück Kräcker vor das Wachpult Und tatsächlich nahm die Maus es zwischen die Pfoten und begann wieder zu essen. Bill Dodges Spende ignorierte sie völlig. Aber bevor sie mehr als ein oder zwei kleine Appetithäppchen vertilgen konnte, warf Percy seinen Schlagstock wie einen Speer nach ihr.

Die Maus war ein kleines Ziel, und das musste man Percy lassen, es war ein verdammt guter Wurf, der >Willy< vielleicht enthauptet hätte, wenn seine Reflexe nicht so blitzschnell gewesen wären. Die Maus duckte sich - ja, genau wie ein Mensch es getan hätte - und ließ den Bissen Kräcker fallen. Der schwere Hickory-Schlagstock sauste über ihren Kopf und die Wirbelsäule, so dicht, dass das Fell vom Luftzug aufgeplustert wurde (das sagte Dean jedenfalls, und so gebe ich es weiter, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob ich es wirklich glaube), knallte dann auf das grüne Linoleum und prallte von dort aus gegen die Gitterstäbe einer leeren Zelle. Die Maus wartete nicht ab, um festzustellen, ob es ein Versehen gewesen war; anscheinend erinnerte sie sich an einen dringenden Termin irgendwo, machte kehrt und flitzte den Gang hinunter zu der Gummizelle.

Percy schrie frustriert auf - er wusste, wie nahe er an einem Volltreffer dran gewesen war - und raste hinter der Maus her. Bill Dodge wollte ihn am Arm festhalten, vielleicht instinktiv, aber Percy riss sich los und hetzte weiter. Trotzdem, sagte Dean, vermutlich rettete diese kurze Verzögerung Steamboat Willy das Leben, das immer noch akut gefährdet war. Percy wollte die Maus nicht nur killen, sondern zu Mus zerquetschen, und so rannte er in großen, komischen Sprüngen wie ein Hirsch hinterher und stampfte mit seinen schweren Arbeitsschuhen über den Gang.

Die Maus konnte Percys letzten beiden Sprüngen gerade noch ausweichen, indem sie im Zickzack lief. Mit einem letzten Zucken des langen pinkfarbenen Schwanzes tauchte sie unter der Tür hinweg und war - bye-bye, Fremder - verschwunden.

»Scheiße«, schrie Percy und schlug mit der flachen Hand gegen die Tür. Dann begann er seine Schlüssel zu sortieren, offenbar mit der Absicht, die Gummizelle aufzuschließen und die Jagd fort­zusetzen.

Dean schritt über den Gang zu ihm, absichtlich langsam, um seine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Ein Teil von ihm wollte Percy auslachen, berichtete er mir, aber ein anderer Teil wollte den Kerl packen, herumwirbeln, ihn gegen die Tür der Zelle nageln und die Scheiße aus ihm herausschlagen. Natürlich war das hauptsächlich auf sein Erschrecken zurückzuführen; unser Job in Block E bestand darin, Krawall auf ein Minimum zu beschränken, und Krawall war praktisch Percy Wetmores zweiter Vorname. Die Arbeit mit ihm glich in etwa dem Versuch, eine Bombe zu entschärfen, während jemand hinter einem steht und dann und wann die Teller eines Beckens gegeneinander schmettert Mit anderen Worten -entnervend. Dean erzählte, er konnte diese Genervtheit in Arien Bitterbucks Augen sehen - sogar in den Augen des Präsidenten, obwohl dieser Gentleman für gewöhnlich so kalt wie Eis war.

Und da war noch etwas. Im Unterbewusstsein akzeptierte Dean die Maus bereits als - nun, vielleicht nicht als Freund, aber als einen Teil des Lebens im Block. Das machte das, was Percy getan hatte und zu tun versuchte, zu etwas Unrechtem. Auch wenn es eine Maus war, der er etwas antun wollte. Und die Tatsache, dass Percy nie verstehen würde, warum sein Tun etwas Unrechtes war, zeigte beispielhaft, warum er nicht für die Arbeit taugte, die er glaubte bewältigen zu können. Als Dean das Ende des Korridors erreichte, hatte er sich wieder unter Kontrolle und wusste, wie er die Sache schaukeln wollte.

Percy konnte es nicht ertragen, sich vor anderen lächerlich zu machen, und wir alle wussten das. »Wieder ausgetrickst«, stellte Dean fest, grinste ein bisschen und sah Percy schadenfroh an. Percy bedachte ihn mit einem bösen Blick und wischte sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Pass auf, was du sagst, Brillenschlange. Ich bin gereizt. Mach es nicht noch schlimmer.« »Du willst wieder alles umräumen, wie?« fragte Dean, wobei er nur mit den Augen lachte. »Nun, wenn du diesmal alles aus der Zelle geräumt hast, würde es dir etwas ausmachen, den Boden aufzu­wischen?«

Percy schaute auf die Tür. Schaute auf seine Schlüssel. Dachte an ein weiteres langes, heißes, fruchtloses Herumwühlen in dem Raum mit den Gummiwänden, während alle herumstanden und zuschauten... auch der Chief und der Präsident.

»Ich verstehe, verdammt noch mal, nicht was so lustig ist«, sagte er. »Wir brauchen keine Mäuse im Block - wir haben bereits genug Ungeziefer hier, da können wir gut auf Mäuse verzichten.« »Wie du meinst, Percy«, antwortete Dean und hob beschwichtigend die Hände. Am nächsten Abend erzählte er mir, dass er einen Moment lang befürchtet hatte, Percy würde auf ihn losgehen. Bill Dodge schlenderte herbei und glättete die Wogen. »Den hast du fallen lassen«, sagte er und überreichte Percy den Schlagstock »Ein kleines bisschen tiefer, und du hättest dem kleinen Bastard das Genick zerschmettert«

Bei diesen Worten schwoll Percys Brust an. »Ja, das war kein schlechter Wurf«, meinte er und schob sorgfältig seinen Schädelbrecher in das alberne Halfter. »Ich war Werfer im High-School-Team. Durch meine guten Würfe wurden wir Baseballmeister.«

»Tatsächlich?« fragte Bill in respektvollem Tonfall (obwohl er Dean zuzwinkerte, als sich Percy abwandte), und das reichte, um die Lage zu entschärfen.

»Ja«, sagte Percy. »Ich habe sogar mal jemanden von den Profis in Knoxville niedergeworfen. Diese Stadtjungs wussten gar nicht, was sie getroffen hatte. Wäre ein perfektes Match gewesen, wenn der Läufer nicht so ein lahmes Arschloch gewesen wäre.«

Dean hätte es dabei belassen können, aber er hatte ein höheres Dienstalter als Percy, und eine Aufgabe, die einem Dienstälteren zusteht, ist es, den noch Unerfahrenen etwas beizubringen, und zu dieser Zeit - vor Coffey, vor Delacroix - dachte er immer noch, Percy wäre vielleicht lernfähig. So packte er Percy am Handgelenk »Du solltest mal überlegen, was du soeben getan hast«, sagte Dean. Er erklärte mir später, er wollte ernst, aber nicht missbilligend klingen. Jedenfalls nicht zu missbilligend.

Doch bei Percy klappte das nicht. Er mochte nicht lernen ..., aber das lernten wir erst mit der Zeit »Hey, Brillenschlange, ich weiß, was ich getan habe - ich habe versucht diese Maus zu erledigen! Bist du blind oder was?«

»Du hast aber auch Bill, mich und die anderen erschreckt«, erwiderte Dean und wies in die Richtung von Bitterbuck und Flanders.

»Na und?« fragte Percy und richtete sich auf. »Die sind hier nicht im Kindergarten, falls du das noch nicht bemerkt hast. Auch wenn ihr sie meistens so behandelt«

»Nun, ich mag es nicht so erschreckt zu werden«, grummelte Bill, »und ich arbeite hier, Wetmore, falls du es noch nicht gemerkt hast. Ich bin keiner deiner beschissenen Knastbrüder.« Percy schaute ihn aus schmalen Augen und mit einer Spur von Unsicherheit an. »Und wir erschrecken sie nicht mehr als nötig, weil sie unter starker Anspannung stehen«, ergänzte Dean. Er sprach immer noch leise. »Leute, die unter starker Anspannung stehen, können durchdrehen. Sich selbst etwas antun. Anderen etwas antun. Manchmal können auch Leute wie wir durch sie in Schwierigkeiten geraten.«

Um Percys Mund zuckte es. >in Schwierigkeiten geraten< war eine Vorstellung, die ihm nicht behagte. Schwierigkeiten machen< war in Ordnung, selbst in welche zu geraten war nicht in Ordnung. »Unser Job ist reden, nicht brüllen«, sagte Dean. »Wer Gefangene anbrüllt, hat die Kontrolle über sich verloren.«

Percy wusste, wer dieses >Gebot< aufgestellt hatte - ich. Der Boss. Es gab keine Liebe zwischen Percy Wetmore und Paul Edgecombe, und dies war noch im Sommer, vergessen Sie das nicht - lange bevor die wirklichen Festlichkeiten begannen. »Du wirst deine Sache besser machen, wenn du dies hier als Intensivstation eines Krankenhauses betrachtest. Da fährt man am besten, wenn man ruhig bleibt...« »Ich betrachte es als einen Eimer Pisse, in dem man Ratten ersäuft«, erwiderte Percy.

»Und jetzt lass mich in Ruhe.«

Er riss sich von Deans Hand los, trat zwischen Dean und Bill und stolzierte mit gesenktem Kopf über

den Gang davon. Er geriet etwas zu nahe an die Seite der Präsidentenzelle - so nahe, dass Flanders

ihn hätte schnappen und ihm vielleicht den Schädel mit seinem eigenen geliebten Schlagstock hätte

einschlagen können, wenn er dieser Typ gewesen wäre. Das war er natürlich nicht, aber der Chief war

es vielleicht. Wenn der Chief eine Gelegenheit bekommen hätte, dann hätte er Percy vermutlich den

Schädel eingeschlagen, nur um ihm eine Lektion zu erteilen.

Was Dean zu diesem Thema sagte, als er mir diese Geschichte am nächsten Abend erzählte, habe ich

seither nie vergessen, denn es erwies sich als eine Art Weissagung.

»Wetmore versteht nicht, dass er keinerlei Macht über sie hat«, sagte Dean. »Dass nichts, was er tun

kann, die Dinge für sie wirklich verschlechtert, weil sie nur einmal hingerichtet werden können.

Solange er das nicht rafft, ist er eine Gefahr für sich selbst und für jeden anderen hier.«

Percy ging in mein Büro und knallte die Tür hinter sich zu.

»Allmächtiger«, stöhnte Bill Dodge. »Der ist wie ein geschwollenes und entzündetes Ei vom Sack.«

»Das ist noch stark untertrieben«, sagte Dean.

»Ach, sieh die Sache doch mal positiv«, sagte Bill. Er forderte die Leute stets zum positiven Denken

auf; das ging einem so auf den Geist, dass man ihm jedes Mal am liebsten die Nase breitgeschlagen

hätte, wenn er damit anfing. »Deine Zaubermaus ist immerhin entkommen.«

»Ja, aber wir werden sie nicht mehr sehen«, sagte Dean. »Ich kann mir vorstellen, dass der

verdammte Percy Wetmore sie diesmal für immer verjagt hat«

3

Das war logisch, aber falsch. Schon am nächsten Abend kehrte die Maus zurück, genau am ersten der beiden freien Abende, die Percy zustanden, bevor er in die Nachtschicht wechselte. Steamboat Willy tauchte gegen sieben Uhr auf. Ich war dort und sah seine Rückkehr, und Dean war ebenfalls dabei. Auch Harry Terwilliger. Harry saß am Wachpult. Ich hatte eigentlich Tagschicht, war aber länger dort geblieben, um eine zusätzliche Stunde mit Chief Bitterbuck zu verbringen, dessen Hinrichtung nahte.

Bitterbuck war äußerlich stoisch, wie es der Tradition seines Stammes entsprach, aber ich sah die Furcht vor dem Ende in ihm wie eine giftige Blume wachsen. So sprachen wir miteinander. Man konnte mit ihnen tagsüber reden, aber das war nicht so gut, weil Rufe und Unterhaltungen (ganz zu schweigen von gelegentlichem Lärm bei Schlägereien) vom Hof herüberdrangen, das Stampfen der Maschinen in der Schlosserei und hin und wieder die Schreie eines Wärters zu hören waren - nimm diese Hacke, oder leg jene Harke weg, oder beweg deinen faulen Arsch, Harvey. Nach vier Uhr am Nachmittag wurde es ein wenig besser und nach sechs Uhr noch besser. Die Zeit von sechs bis acht Uhr war optimal. Danach spürte man, dass sich die düsteren Gedanken wieder in ihre Gehirne stahlen - man sah es in ihren Augen so deutlich wie den Schatten eines Nachmittagsbarts -, und dann gab man am besten auf. Sie hörten noch, was man sagte, aber es ergab keinen Sinn mehr für sie. Nach acht Uhr dachten sie an die schlaflose Nacht und ihre Schrecken, sie stellten sich vor, wie sich die Kappe anfühlen würde, wenn sie auf ihrem Kopf befestigt wurde, und wie die Luft in der schwarzen Kapuze riechen würde, die über ihr schweißnasses Gesicht gestreift wurde. Aber ich erwischte den Chief zu einer guten Zeit Er erzählte mir von seiner ersten Squaw und wie sie zusammen eine Hütte oben in Montana gebaut hatten. Das waren die glücklichsten Tage seines Lebens gewesen, sagte er. Das Wasser war so rein und so kalt, dass man jedes Mal, wenn man davon trank, das Gefühl hatte, sich in den Mund zu schneiden.

»Hey, Mr. Edgecombe«, sagte er. »Meinen Sie, wenn ein Mann ehrlich bereut, was er falsch gemacht hat, dass er vielleicht in die Zeit zurückkehren darf, die seine glücklichste war, um dort für immer zu leben? Könnte so der Himmel sein?«

»Genau das glaube ich«, antwortete ich, was eine Lüge war, die ich nicht im geringsten bereute. Ich hatte auf dem hübschen Knie meiner Mutter viele Dinge über die Ewigkeit gelernt, und ich glaube, was die Heilige Schrift über Mörder sagt - dass es kein ewiges Leben für sie gibt Ich denke, sie gehen schnurstracks zur Hölle, wo sie qualvoll verbrennen, bis Gott schließlich Gabriel mit einem Nicken auffordert, die Posaune des Jüngsten Gerichts zu blasen. Wenn er das tut schließen sie die Augen ... und sind vermutlich froh, dass sie es hinter sich haben. Aber ich gab nie eine Spur von diesem Glauben an Bitterbuck oder einen der anderen preis. Ich nehme an, dass sie es tief in ihrem Herzen wussten. Wo ist dein Bruder?

Sein Blut wird über dich kommen, sagte Gott zu Kain, und ich bezweifle, dass die Worte für dieses besondere Problemkind sehr überraschend waren. Ich wette, er hörte Abels Blut bei jedem seiner Schritte aus der Erde zu ihm wimmern.

Der Chief lächelte, als ich ihn verließ. Vielleicht dachte er an seine Hütte in Montana und an seine Squaw, die mit nackten Brüsten im Schein des Feuers lag. Er würde bald in ein wärmeres Feuer wandern, da gab es für mich keinen Zweifel.

Ich ging über den Gang zurück, und Dean erzählte mir von seiner Meinungsverschiedenheit mit Percy in der vergangenen Nacht. Ich glaube, Dean hatte auf mich gewartet, damit er mir davon berichten konnte, und ich hörte aufmerksam zu. Beim Thema Percy hörte ich immer aufmerksam zu, denn ich stimmte mit Dean hundertprozentig überein - ich fand, dass Percy der Typ war, der eine Menge Probleme machen konnte, sowohl uns allen als auch sich selbst.

Als Dean zu Ende erzählt hatte, kam TootToot mit seinem roten Imbisswagen vorbei, den er mit handgeschriebenen Bibelzitaten beklebt hatte (>VERGELTET ihr also Jehova, du törichtes und unweises Volk?<, Fünftes Buch Mose. >und wahrlich, nach eurem BLUT, nach euren Seelen, werde ich fordern<, Erstes Buch Mose, und ähnlich heitere, aufmunternde Gedanken). TootToot verkaufte uns einige belegte Brötchen und Popcorn. Während Dean nach Kleingeld in seiner Tasche suchte, sagte er, wir würden Steamboat Willy nicht mehr sehen, dieser verdammte Percy Wetmore hätte ihn für immer verjagt, da krächzte TootToot »Was ist denn das da?«

Wir schauten hin, und da kam die Maus der Stunde höchstpersönlich mitten auf der Green Mile entlang. Sie hopste ein Stück näher, verharrte, schaute sich mit den glänzenden, kleinen schwarzen Augen um und näherte sich dann wieder ein Stück »Hey, Maus!« rief der Chief, und die Maus verharrte und schaute ihn an, wobei ihre Barthaare zuckten. Ich sage Ihnen, es war, als hätte das verdammte Ding gewusst, dass es gerufen worden war. »Bist du eine Art Geister-Führer?« Bitterbuck warf der Maus ein Stückchen Käse von seinem Abendessen hin.

Es landete direkt vor der Maus, aber Stearnboat Willy würdigte es kaum eines Blickes, sondern setzte seinen Weg über die Green Mile fort und schaute in leere Zellen.

»Boss Edgecombe!« rief der Präsident »Meinen Sie, dieser kleine Bastard weiß, dass Wetmore nicht hier ist? Mir kommt es bei Gott so vor!«

Ich hatte das gleiche Gefühl..., aber ich wollte es nicht laut aussprechen.

Harry kam auf den Gang und zog seine Hose hoch wie immer, wenn er ein paar erfrischende Minuten auf dem Klo verbracht hatte. Er blieb stehen und starrte mit großen Augen auf die Maus. TootToot starrte ebenfalls, und das schiefe Grinsen machte die untere wabbelige und zahnlose Hälfte seines Gesichts auch nicht schöner.

Die Maus verharrte an der Stelle, die zu ihrem üblichen Rastplatz geworden war, schlang den Schwanz um die Pfoten und schaute uns an. Abermals wurde ich an den Anblick von Richtern erinnert, die hilflose Gefangene verurteilen ..., doch hatte es jemals einen so kleinen und furchtlosen Gefangenen gegeben? Sie war natürlich kein wirklicher Gefangener; sie konnte kommen und gehen, wie es ihr beliebte. Doch der Gedanke ließ mich nicht los, und es kam mir wieder in den Sinn, dass die meisten von uns sich so klein fühlen würden, wenn wir uns nach dem Tod Gottes Richtertisch nähern. Aber nur wenige von uns werden es schaffen, so furchtlos zu blicken. »Allmächtiger!« rief der alte TootToot »Da sitzt sie, groß wie Billy, der gebraten wird.« »Du hast das Beste ja noch nicht gesehen, Toot«, sagte Harry. »Schau dir das an.« Er griff in die Brusttasche und holte ein Stück getrockneten Apfel heraus, das in Wachspapier gewickelt war. Er brach ein Stück des nach Zimt duftenden Dörrobstes ab und warf es auf den Boden. Das Stück war trocken und hart, und ich dachte, es würde an der Maus vorbeihüpfen, doch sie streckte eine Pfote aus, so lässig, wie man nach einer Fliege ausholt, um die Zeit totzuschlagen, und schnappte es mühelos. Wir alle lachten bewundernd und überrascht Bei diesem lautstarken Ausbruch hätte die Maus erschrocken davonhuschen sollen, doch sie zuckte kaum. Sie nahm das Apfelstückchen zwischen die Pfoten, leckte ein paar Mal daran, ließ es dann fallen und schaute zu uns auf, wie um zu sagen: Nicht schlecht, aber was habt ihr sonst noch? TootToot öffnete seinen Karren, nahm ein Sandwich heraus, wickelte das Papier ab und zwackte ein Stück Mortadella ab. »Gib dir keine Mühe«, sagte Dean.

»Was soll das heißen?« fragte TootToot »Es gibt keine Maus auf der Welt die Mortadella verschmäht wenn sie drankommen kann. Hast du denn keine Ahnung von Mäusen?«

Aber ich wusste, dass Dean recht hatte, und ich sah Harry am Gesicht an, dass er es auch wusste. Es gab Springer, und es gab Stammpersonal. Irgendwie kannte die Maus den Unterschied. Irre, aber wahr. Der alte TootToot warf das Stück Mortadella hin, und wirklich, die Maus wollte nichts damit zu tun haben. Sie schnüffelte nur einmal daran und wich dann etwas zurück »Nicht zu glau­ben!« sagte TootTbot und es klang beleidigt. Ich streckte ihm die Hand hin. »Gib es mir.« »Was - dasselbe Sandwich?« »Dasselbe. Ich bezahle dafür.«

TootToot gab es mir. Ich hob die obere Scheibe Weißbrot hoch, riss ein anderes Stückchen Mortadella

ab und warf es über das Wachpult hinweg zu der Maus. Die Maus nahm es sofort zwischen die Pfoten

und begann zu mampfen. Die Mortadella war im Nu verzehrt »Das kann doch nicht wahr sein!« rief

TootToot »Teufel, Teufel! Gib mir das!«

Er nahm mir das Sandwich aus der Hand, riss ein viel größeres Stück Mortadella ab - kein Fitzelchen,

sondern diesmal fast die halbe Scheibe -und warf es so nahe zu der Maus, dass Steamboat Willy es

fast als Hut getragen hätte. Die Maus zog sich wieder zurück, schnüffelte (keine Maus hatte jemals

solch ein üppiges Mahl während der Wirtschaftskrise bekommen - jedenfalls nicht in unserem Staat)

und blickte dann zu uns auf.

»Los, friss das!« befahl TootToot und er klang beleidigter denn je. »Was ist mit dir los?«

Dean nahm das Sandwich und warf ein Stückchen Mortadella zu der Maus hin - inzwischen erinnerte

das an die merkwürdige Prozedur bei einer Kommunion. Die Maus nahm das Stück Mortadella sofort

und schlang es hinunter. Dann drehte sie sich um und marschierte den Gang hinunter zur Gummizelle,

wobei sie unterwegs anhielt um in zwei leere Zellen zu spähen und in einer dritten einen kurzen

Inspektionsbesuch zu machen. Mir kam wieder in den Sinn, dass sie jemanden suchte, und diesmal

verdrängte ich den Gedanken nicht so schnell.

»Das werde ich keinem erzählen«, beschloss Harry. Er klang halb scherzend, halb ernst »Erstens

würde das niemanden interessieren. Und zweitens würde es niemand glauben.«

»Sie hat nur von euch etwas angenommen!« sagte TootToot und schüttelte ungläubig den Kopf,

bückte sich mit seinen alten Knochen, hob auf, was die Maus verschmäht hatte, und schob es in

seinen zahnlosen Mund, um es hinunterzuschlingen. »Warum hat sie das getan?«

»Ich habe eine bessere Frage«, sagte Harry. »Woher wusste sie, dass Percy frei hat?«

»Das wusste sie nicht«, sagte ich. »Es war einfach Zufall, dass die Maus heute Abend aufgetaucht ist«

Es wurde im Laufe der Zeit immer schwieriger, das zu glauben, denn die Maus ließ sich nur blicken,

wenn Percy nicht da war, wenn er frei hatte, zu einer anderen Schicht eingeteilt war oder sich in

einem anderen Teil des Gefängnisses aufhielt Wir - Harry, Dean, Brutal und ich - sagten uns, dass sie

Percys Stimme oder seinen Geruch kennen musste. Wir vermieden zuviel Gerede über die Maus - über

ihn. Wir waren offensichtlich ohne ein Wort der Absprache übereingekommen, dass es etwas

Besonderes verderben würde ... und etwas Schönes wegen seiner Fremdheit und Zartheit Willy hatte

uns schließlich in einer Art ausgewählt die ich selbst jetzt noch nicht verstehe. Vielleicht lag Harry

richtig mit seinen Worten, es wäre nicht gut anderen Leuten davon zu erzählen, nicht nur, weil sie es

nicht glauben würden, sondern auch, weil es ihnen gleichgültig wäre.

4

Dann nahte die Hinrichtung von Arien Bitterbuck, der in Wahrheit kein richtiger Häuptling, sondern

Ältester seines Stammes im Washita Reservat und außerdem ein Mitglied des Cherokee Council war.

Er hatte sturzbetrunken einen Mann getötet -genauer gesagt, waren sie beide betrunken gewesen.

Der Chief hatte dem Mann mit einem Zementblock den Schädel eingeschlagen. Es war um ein Paar

Stiefel gegangen. Daher wollten am siebzehnten Juli in jenem verregneten Sommer meine

Stammesältesten sein Leben beenden.

Die Besuchszeit für die meisten Gefangenen in Gold Mountain war so starr wie Stahlträger, aber das

galt nicht für unsere Jungs in Block E. So durfte Bitterbuck am sechzehnten in den langen Raum

gehen, der an die Cafeteria grenzte - die Arkade. Sie war genau in der Mitte mit Maschendraht und

darin eingeflochtenen Streifen von Stacheldraht geteilt. Hier würde der Chief von seiner zweiten

Squaw und denjenigen seiner Kinder besucht werden, die noch etwas von ihm wissen wollten. Es war

an der Zeit, Abschied zu nehmen.

Er wurde von Bill Dodge und zwei anderen Springern dorthin gebracht Wir übrigen hatten Arbeit vor

uns - eine Stunde mit mindestens zwei Proben. Drei, wenn wir es schaffen konnten.

Percy protestierte nicht, als er für die Bitterbuck-Hinrichtung zu Jack Van Hay in den Schaltraum

gesteckt wurde; er war zu unerfahren, um zu wissen, ob man ihm eine gute oder schlechte Stelle

zugewiesen hatte.

Er wusste nur, dass er durch ein rechteckiges Fenster mit Drahtgeflecht schauen konnte, und obwohl

es ihm sicher nichts ausmachte, auf die Rückseite des Stuhls statt auf die Vorderseite zu blicken,

würde er nahe genug sein, um die Funken fliegen zu sehen.

Gleich außerhalb dieses Fensters hing ein schwarzes Wandtelefon ohne Kurbel oder Wählscheibe.

Dieses Telefon konnte nur angewählt werden, und zwar ausschließlich von einem Ort aus: dem Büro

des Gouverneurs. Ich habe im Laufe der Jahre viele Knastfilme gesehen, in denen das amtliche

Telefon klingelt, wenn man gerade den Hebel betätigen will, um irgendeinen armen unschuldigen

Trottel zu rösten, aber unseres hat nie geklingelt während all meiner Jahre in Block E, kein einziges

Mal. In den Filmen ist die Rettung billig. Ebenso die Unschuld. Man zahlt einen Vierteldollar, und dafür

bekommt man sie. Wahres Leben kostet mehr, und meistens fallen die Antworten anders aus.

Wir hatten eine Schneiderpuppe unten im Tunnel für den Transport zu dem Fleischwagen, und wir

hatten den alten TootToot für die übrige Probe. Im Laufe der Jahre war TootToot das traditionelle

Double für den Todeskandidaten geworden, auf seine Weise altehrwürdig wie der Puter, zu dem man

sich Weihnachten an den Tisch setzt, ob man nun Puter mag oder nicht Die meisten anderen Wärter

mochten TootToot, amüsierten sich über seinen lustigen Akzent - ein bisschen französisch, aber mehr

kanadisch als cajun, weich geworden durch die Jahre der Einkerkerung im Süden. Sogar Brutal hatte

mächtig Spaß an Old Toot. Ich jedoch nicht. Ich fand, dass er auf seine Weise eine ältere und

blassere Version von Percy Wetmore war, ein Mann, der zu zimperlich war, um sein Fleisch selbst zu

töten und zu braten, der aber den Geruch eines Barbecues einfach liebte.

Wir waren für die Übung alle anwesend, wie wir es bei dem richtigen Ereignis sein würden. Brutus

Howell war für den >Innendienst< zuständig, wie wir es nannten. Er würde dem Todeskandidaten die

Kappe aufsetzen, die Telefonleitung des Gouverneurs überwachen, von seinem Platz an der Wand aus

den Arzt rufen, wenn er gebraucht werden sollte, und den Befehl zu Stufe zwei geben, wenn es soweit

war. Wenn alles gut verlief, würde sich keiner von uns Lorbeeren verdienen. Wenn es nicht gut ging,

würde Brutal von den Zeugen und ich vom Direktor zur Schnecke gemacht werden. Keiner von uns

beklagte sich darüber; es hätte nichts genutzt Die Welt dreht sich, das ist alles. Man kann sich

ergeben mit ihr drehen oder aufstehen, um zu protestieren und sich von ihr fortwirbeln lassen.

Dean, Harry Terwilliger und ich gingen für die erste Übung in die Zelle von Chief Bitterbuck, kurz

nachdem Bill und seine Helfer Bitterbuck aus dem Block und hinüber zur Arkade geführt hatten. Die

Zellentür stand offen, und der alte TootToot mit seinem weißen zerzausten Haar setzte sich auf die

Pritsche von Chief Bitterbuck. leicht, welchen ich meine. »Der Herr ist mein Hirte und so weiter.«

»Wer ist Bitterbucks Geistlicher?« fragte Harry. »Wir werden keinen Cherokee-Medizinmann hier

haben, der seinen Schwanz schüttelt, oder?«

»Eigentlich...«

»Ich bete, ich bete, ich bete immer noch zu Jesus«, fiel mir TootToot ins Wort

»Halt die Schnauze, du alter Blödmann«, sagte Dean.

»Ich bete!«

»Dann aber stumm.«

»Wo bleibt ihr, Jungs?« brüllte Brutal aus dem Vorratsraum. Der war ebenfalls für unsere Probe

geleert worden. Wir waren wieder in der Todeszone, okay, man konnte es fast riechen.

»Bepiss dich nicht!« brüllte Harry zurück »Sei nicht so gottverdammt ungeduldig!«

»Ich bete«, wiederholte TootToot und zeigte sein ekelhaftes Totenkopfgrinsen. »Ich bete um Geduld,

um ein bisschen gottverdammte Geduld.«

»Eigentlich ist Bitterbuck ein Christ - sagt er«, erklärte ich den anderen, »und er ist vollkommen

glücklich mit dem Baptistenknaben, der für Tillman Clark kam. Schuster heißt er. Ich mag ihn auch. Er

ist schnell, und er regt sie nicht so auf. Auf die Füße, Toot. Du hast für heute genug gebetet«

»Ich gehe«, sagte Toot »Gehe wieder, gehe wieder, jawohl, Sir, gehe auf der Green Mile.«

Obwohl er so klein war, musste er sich ein wenig ducken, um durch die Tür auf der fernen Seite des

Büros zu gehen. Wir anderen mussten den Kopf noch mehr einziehen. Dies war mit einem echten

Gefangenen ein riskanter Moment aber als ich zu

»Das Laken ist voller Flecken«, bemerkte TootToot »Er muss versucht haben, es loszuwerden, bevor

ihr Jungs ihm die Eier bratet« Lind er kicherte.

»Halt die Klappe, Toot«, sagte Dean. »Lass uns das ernsthaft durchspielen.«

»Okay.« TootToot setzte sofort eine todernste Miene auf. Aber seine Augen funkelten. Nie sah Old

TootToot lebendiger aus, als wenn er den Todgeweihten mimte.

Ich trat vor. »Arien Bitterbuck, als Beamter des Gerichts und des Staates ... blablabla ... habe ich den

Vollstreckungsbefehl von blablabla ... zur Hinrichtung um zwölf Uhr am ... blablabla. Treten Sie bitte

vor.«

Toot stand von der Pritsche auf. »Ich trete vor, trete vor, trete vor«, sagte er.

»Drehen Sie sich um«, forderte Dean, und als TootToot es tat, untersuchte Dean die schuppigen

Haare auf seinem Kopf

Oben auf dem Schädel würde der Chief morgen Abend rasiert werden, und Deans Überprüfung würde

dann sicherstellen, dass er keine Auffrischung der Rasur brauchte. Stoppeln könnten die

Stromzuführung behindern, was die Dinge erschwerte. Alles, was wir heute taten, sollte die Dinge

erleichtern.

»In Ordnung, Arien, gehen wir«, sagte ich zu TootToot, und wir gingen.

»Ich gehe über den Gang, über den Gang, über den Gang«, sagte Toot Ich flankierte ihn links. Dean

ging rechts von ihm. Harry war direkt hinter ihm. Am Ende des Gangs bogen wir rechts ab, fort vom

Leben auf dem Gefängnishof und hin zum Tod, wie er im Vorratsraum gestorben wurde. Wir betraten

mein Büro, und Toot sank auf die Knie, ohne auf eine Aufforderung zu warten. Er kannte das

Drehbuch vermutlich besser als jeder von uns. Gott wusste, dass TootToot länger dort gewesen war

als wir alle.

»Ich bete, ich bete, ich bete«, sagte TootToot und hielt die knorrigen Hände hoch. Sie wirkten wie in

diesem berühmten Kupferstich, Sie wissen vielleicht, welchen ich meine. »Der Herr ist mein Hirte und

so weiter.«

»Wer ist Bitterbucks Geistlicher?« fragte Harry. »Wir werden keinen Cherokee-Medizinmann hier

haben, der seinen Schwanz schüttelt, oder?«

»Eigentlich...«

»Ich bete, ich bete, ich bete immer noch zu Jesus«, fiel mir TootToot ins Wort

»Halt die Schnauze, du alter Blödmann«, sagte Dean.

»Ich bete!«

»Dann aber stumm.«

»Wo bleibt ihr, Jungs?« brüllte Brutal aus dem Vorratsraum. Der war ebenfalls für unsere Probe

geleert worden. Wir waren wieder in der Todeszone, okay, man konnte es fast riechen.

»Bepiss dich nicht!« brüllte Harry zurück »Sei nicht so gottverdammt ungeduldig!«

»Ich bete«, wiederholte TootToot und zeigte sein ekelhaftes Totenkopfgrinsen. »Ich bete um Geduld,

um ein bisschen gottverdammte Geduld.«

»Eigentlich ist Bitterbuck ein Christ - sagt er«, erklärte ich den anderen, »und er ist vollkommen

glücklich mit dem Baptistenknaben, der für Tillman Clark kam. Schuster heißt er. Ich mag ihn auch. Er

ist schnell, und er regt sie nicht so auf. Auf die Füße, Toot. Du hast für heute genug gebetet«

»Ich gehe«, sagte Toot »Gehe wieder, gehe wieder, jawohl, Sir, gehe auf der Green Mile.«

Obwohl er so klein war, musste er sich ein wenig ducken, um durch die Tür auf der fernen Seite des

Büros zu gehen. Wir anderen mussten den Kopf noch mehr einziehen. Dies war mit einem echten

Gefangenen ein riskanter Moment aber als ich zu der Plattform hinüberblickte, wo Old Sparky stand,

und sah, dass Brutal seine Waffe gezogen hatte, nickte ich zufrieden. Genau richtig.

TootToot ging die Treppe hinab und blieb stehen. Die Klappstühle, ungefähr vierzig, standen bereits

an Ort und Stelle. Bitterbuck würde in einem bestimmten Winkel zur Plattform gehen, der ihn in

sicherer Entfernung zu den Zuschauern halten würde, und ein halbes Dutzend Wärter würde

außerdem für Sicherheit sorgen. Bill Dodge würde die Leitung des Sicherheitstrupps übernehmen. Wir

hatten trotz des jeweils bevorstehenden derben Gewaltaktes noch nie einen Zeugen durch einen zum

Tode verdammten Gefangenen in Gefahr gebracht..., und dabei wollte ich es belassen.

»Bereit, Jungs?« fragte TootToot, als wir am Fuß der Treppe von meinem Büro wieder die

ursprüngliche Formation eingenommen hatten.

Ich nickte, und wir gingen zu der Plattform. Oftmals dachte ich an dieser Stelle, dass wir wie eine

Gruppe von Fahnenträgern wirkten, die ihre Fahnen vergessen hatten.

»Was soll ich eigentlich tun?« rief Percy hinter dem Maschendrahtfenster zwischen Hinrichtungs- und

Schaltraum.

»Schau zu und lerne«, rief ich zurück

»Und lass die Finger von deiner Wienerwurst«, murmelte Harry leise. TootToot hörte es jedoch und

kicherte.

Wir eskortierten ihn auf die Plattform, und Toot drehte sich von selbst um - die Aktion eines alten

Hasen. »Hinsetzen«, sagte er. »Hinsetzen, hinsetzen, setze mich auf Old Sparkys Schoß.«

Ich ließ mich vor seinem rechten Bein auf das rechte Knie nieder. Dean sank vor seinem linken Bein

auf das linke Knie. Dies war der Punkt, an dem wir am anfälligsten für einen Angriff waren, sollte der

Todeskandidat durchdrehen ..., was gelegentlich passierte. Wir beide drehten das gebeugte Knie

leicht nach innen, um unsere Weichteile zu schützen. Wir senkten unser Kinn, um unsere Kehle zu

schützen. Und wir beeilten uns natürlich, die Knöchel so schnell wie möglich festzubinden, um die

Gefahr auszuschalten. Der Chief würde für seinen letzten Spaziergang Slipper tragen, aber >es hätte

schlimmer sein können< ist kein großer Trost für einen Mann mit zertretenem Kehlkopf.

Oder für einen Mann, der sich am Boden krümmt und dessen Eier zu der Größe von Tennisbällen

anschwellen, während rund vierzig Zuschauer - viele davon Gentlemen der Presse - auf diesen

Klappstühlen sitzen und die ganze Chose beobachten.

Wir klammerten TootToots Knöchel fest Die Klammer auf Deans Seite war ein wenig größer, denn sie

führte den Saft Wenn sich Bitterbuck morgen hinsetzte, würde seine linke Wade rasiert sein. Indianer

haben im allgemeinen wenig Körperhaare, aber wir würden kein Risiko eingehen.

Während wir TootToots Knöchel befestigten, band Brutal sein rechtes Handgelenk fest Harry trat ruhig

vor und befestigte das linke Handgelenk Als sie fertig waren, nickte Harry Brutal zu, und Brutal rief zu

Van Hay: »Stufe eins!«

Ich hörte Percys Frage an Jack Van Hay, was das bedeutete (kaum zu glauben, wie wenig er wusste, wie wenig er während seiner Zeit in Block E aufgeschnappt hatte), und Van Hays gemurmelte Erklärung. Heute bedeutete Stufe eins nichts, doch wenn er Brutal das morgen sagen hörte, würde "Van Hay den Hebel betätigen, der den Generator hinter Block B anschaltete. Die Zeugen würden den Generator als stetiges leises Summen hören, und die Lichter im ganzen Gefängnis würden heller werden. In den anderen Zellentrakten würden Gefangene das bemerken und denken, es wäre geschehen, die Hinrichtung wäre vorüber, obwohl sie in Wirklichkeit erst begann. Brutal trat um den Stuhl herum, damit TootToot ihn sehen konnte. »Arien Bitterbuck, Sie sind zum Tod auf dem elektrischen Stuhl verurteilt worden, das Urteil wurde von einer Jury beschlossen und von einem Richter dieses Staates verkündet Gott erhalte die Bürger dieses Staates. Haben Sie etwas zu sagen, bevor das Urteil vollstreckt wird?«

»Ja«, antwortete TootToot mit glänzenden Augen und zahnlosem glücklichem Grinsen. »Ich möchte ein gebratenes Hähnchen mit Soße auf den Flügeln, ich möchte in deinen Hut scheißen, und ich möchte Mae West auf meinem Gesicht sitzen haben, weil ich ein geiler Mösenlecker bin.« Brutal bemühte sich, seine todernste Miene beizubehalten, aber das war unmöglich. Er warf den Kopf zurück und lachte los. Dean brach am Rand der Plattform zusammen, als hätte er einen Bauchschuss erlitten.

Er hielt den Kopf zwischen den Knien, heulte wie ein Kojote und presste eine Hand auf die Stirn, als wollte er das Gehirn dahinter an Ort und Stelle halten. Harry schlug mit dem Kopf gegen die Wand und stieß komische Laute aus, als stecke ein Bissen Essen in seiner Kehle fest Sogar Jack Van Hay, ein Mann, der nicht gerade durch seinen Sinn für Humor bestach, wieherte vor Lachen. Mir war natürlich ebenfalls zum Lachen zumute, aber ich konnte mich irgendwie beherrschen. Morgen Nacht würde es wirklich passieren, und ein Mann würde dort sterben, wo TootToot jetzt saß.

»Halt die Klappe, Brutal«, sagte ich. »Du auch, Dean. Harry. Und Toot, noch so eine Bemerkung, und es wird deine letzte sein. Dann lasse ich Van Hay auf Stufe zwei schalten.«

Toot grinste mich an, als wollte er sagen, das ist ein guter Witz, Boss Edgecombe, ein wirklich guter, doch das Grinsen ging in leichte Besorgnis über, als in ihm der Verdacht keimte, dass ich es ernst gemeint haben könnte. »Was ist los mit dir?« fragte er.

»Es ist nicht lustig«, erwiderte ich. »Das ist los, und wenn du zu blöd bist, um das zu kapieren, dann solltest du die Schnauze halten.« Doch es war lustig, in gewisser Weise, und ich nehme an, das war es, was mich wirklich wütend machte.

Ich schaute mich um und sah, dass Brutal mich anstarrte und immer noch ein bisschen grinste. »Scheiße«, sagte ich. »Ich werde zu alt für diesen Job.«

»Unsinn«, meinte Brutal, »du bist in der Blüte deiner Jahre, Paul.« Aber das war ich nicht, genauso wenig wie er, und wir beide wussten es. Das Wichtige war jedoch, dass der Lachanfall vorübergegangen war. Das war gut, denn ich wollte auf keinen Fall, dass sich morgen Nacht jemand an TootToots blöde Bemerkung erinnerte und loslachte. Sie glauben, es sei unmöglich, dass ein Wär­ter einen Lachanfall bekommt, während er einen zum Tode Verurteilten an den Zeugen vorbei zum elektrischen Stuhl führt, aber wenn Leute unter Stress stehen, kann alles passieren. Und über so etwas würde man noch nach zwanzig Jahren reden. »Wirst du still sein, Toot?« fragte ich.

»Ja«, antwortete er wie der Welt ältestes schmollendes Kind und wandte sein Gesicht zur Seite. Ich nickte Brutal zu, dass er mit der Übung weitermachen solle. Er nahm die Kapuze vom Messinghaken hinten am Stuhl, streifte sie über TootToots Kopf und zog sie unter dem Kinn fest, wodurch das Loch oben so weit wie möglich geöffnet wurde.

Dann neigte sich Brutal vor, nahm den nassen runden Schwamm aus dem Eimer, drückte mit einem Finger auf den Schwamm und leckte die Fingerspitze ab.

Danach legte er den Schwamm in den Eimer zurück Morgen würde er das nicht tun. Morgen würde er den feuchten Schwamm in die Kappe stecken, die oben auf der Rückenlehne des Stuhls hing. Heute nicht; es war nicht nötig, Toots alten Kopf nass zu machen. Die Kappe war aus Stahl, und die Halteriemen baumelten auf jeder Seite herab. Sie sah fast aus wie der Helm eines Landsers. Brutal setzte sie auf TootToots Kopf und rückte sie über dem Loch in der schwarzen Kapuze zurecht

»Ich bekomme die Kappe, die Kappe, die Kappe«, sagte Toot, und jetzt klang seine Stimme gepresst und gedämpft. Die Riemen hielten seine Kiefer fast geschlossen, und ich hatte den Verdacht, dass Brutal die Riemen etwas fester angezogen hatte, als es zum Zweck der Übung nötig gewesen wäre. Er trat zurück, blickte zu den leeren Sitzen und sagte: »Arien Bitterbuck, Elektrizität wird jetzt durch deinen Körper strömen, bis du tot bist, gemäß dem Gesetz des Staates. Möge Gott deiner Seele gnädig sein.«

Brutal wandte sich zu dem rechteckigen Drahtgeflechtfenster. »Stufe zwei!«

Der alte Toot, der vielleicht an seine frühere komische Einlage anknüpfen wollte, begann sich auf dem Stuhl aufzubäumen, wie es Old Sparkys echte Gäste fast nie taten. »Jetzt brate ich!« brüllte er.

»Ich brate, ich brate. Jaaaa! Ich bin ein gebratener Truthahn!«

Mir fiel auf, dass Harry und Dean ihn überhaupt nicht beachteten. Sie hatten sich von Old Sparky

abgewandt und spähten zu der Tür, die in mein Büro führte. »Nicht zu glauben!« sagte Harry. »Einer

der Zeugen ist einen Tag zu früh gekommen.«

Auf der Türschwelle saß die Maus - sie hatte den Schwanz um die Pfoten gerollt und beobachtete mit

glänzenden schwarzen Augen das Geschehen.

5

Die Hinrichtung verlief gut - wenn man jemals so etwas als >gut< bezeichnen kann (was ich stark bezweifle), dann war die Exekution von Arien Bitterbuck, Stammesältester der Washita Cherokee, eine gute. Er hatte seine Zöpfe nicht richtig hingekriegt - seine Hände hatten zu sehr gezittert -, und seine älteste Tochter, eine Frau Anfang Dreißig, hatte sie schön und gleichmäßig flechten dürfen. Sie wollte Federn in die Spitzen flechten, die Schwungfedern eines Falken, >seines< Vogels, aber das durfte ich nicht zulassen. Sie könnten Feuer fangen und brennen. Natürlich erzählte ich ihr das nicht, sondern erklärte ihr nur, dass es gegen die Vorschriften sei. Sie protestierte nicht, senkte nur den Kopf und hielt die Hände an die Schläfen, um ihre Enttäuschung und Missbilligung zu zeigen. Diese Frau benahm sich sehr würdevoll, und dadurch garantierte sie praktisch, dass ihr Vater das gleiche tun würde.

Der Chief verließ seine Zelle ohne Protest oder Zögern, als seine Zeit gekommen war. Manchmal mussten wir ihre Finger gewaltsam von den Gitterstäben lösen, an die sie sich klammerten - ich habe in meiner Zeit ein paar gebrochen und nie das gedämpfte Knacken vergessen -, aber der Chief war Gott sei Dank keiner dieser Typen. Er ging mit festen Schritten über die Green Mile zu meinem Büro und kniete sich dort hin, um mit Bruder Schuster zu beten, der mit seiner kleinen Blechkarre von der Heavenly Light Baptist Church heruntergekommen war. Schuster sprach für den Chief ein paar Psalme, und der Chief begann zu weinen, als der Psalm drankam, in dem jemand neben den stillen Wassern liegt Aber es war nicht schlecht, keine Hysterie, nichts in dieser Art Es kam mir so vor, als ob der Chief an stilles Wasser dachte, das so rein und kalt war, dass man das Gefühl hatte, sich in den Mund zu schneiden, wenn man davon trank.

Eigentlich mag ich es, sie ein wenig weinen zu sehen. Es beunruhigt mich, wenn sie das nicht tun. Viele kommen ohne Hilfe nicht mehr von den Knien hoch, aber der Chief hatte in dieser Hinsicht keine Probleme. Er schwankte erst ein bisschen wie berauscht und Dean wollte ihn stützen, doch Bitterbuck fand bereits aus eigener Kraft das Gleichgewicht wieder, und so gingen wir hinaus. Fast alle Klappstühle waren besetzt, und die Leute tuschelten leise miteinander, als warteten sie auf den Beginn einer Trauung oder Beerdigung. Zum ersten und einzigen Mal zögerte Bitterbuck. Ich weiß nicht ob ihn irgendeine bestimmte Person beunruhigte oder alle zusammen, aber ich hörte ihn leise seufzen, und der Arm, den ich hielt spannte sich. Aus dem Augenwinkel heraus sah ich, dass sich Harry Terwilliger näherte, um einen Rückzug des Chiefs zu verhindern, falls er sich plötzlich zu der harten Tour entscheiden sollte.

Ich verstärkte meinen Griff und tippte mit einem Finger auf die Innenseite seines Arms. »Ruhig, Chief«, sagte ich aus dem Mundwinkel, ohne die Lippen zu bewegen. »Das einzige, was die Leute von dir in Erinnerung behalten werden, ist die Art und Weise, wie du hinausgehst also zeig ihnen etwas Gutes - zeig ihnen, wie ein Washita das schafft«

Er blickte mich von der Seite an und nickte leicht Dann nahm er einen der Zöpfe, die seine Tochter geflochten hatte, und küsste ihn. Ich schaute zu Brutal, der protzig hinter dem Stuhl stand; er sah beeindruckend aus in seiner besten blauen Uniform - alle Knöpfe des Rocks waren poliert worden und glänzten, die Mütze saß in perfektem Winkel auf seiner großen Birne. Ich nickte ihm leicht zu, und er nickte zurück, während er vortrat um Bitterbuck auf die Plattform zu helfen, wenn er Hilfe brauchte. Es stellte sich heraus, dass keine nötig war.

Es dauerte weniger als eine Minute von dem Zeitpunkt an, als sich Bitterbuck auf den Stuhl setzte, bis zu dem Moment an dem Brutal leise »Stufe zwei!« über die Schulter rief. Die Beleuchtung wurde etwas gedämpfter, aber nur ein wenig; man hätte es übersehen, wenn man nicht genau hingeschaut hätte. Das bedeutete, dass Van Hay den Hebel betätigt hatte, den irgendein Witzbold mit dem Schildchen MABELS HAARTROCKNER versehen hatte.

Aus der metallenen Kappe klang ein leises Summen, und Bitterbuck ruckte nach vorne gegen die

Klammern und den Gurt um seine Brust Drüben an der Wand beobachtete ihn der Gefängnisarzt mit

ausdrucksloser Miene und zusammengepressten Lippen, die wie ein Strich wirkten. Es gab kein

Aufbäumen oder Fuchteln mit den Armen, wie der alte TootToot es bei der Übung gezeigt hatte, nur

dieses starke Vorwärtsdrängen, wie ein Mann mit den Hüften nach vorne drängt während er einen

starken Orgasmus hat Das blaue Hemd des Chiefs spannte sich an den Knöpfen, drohte sie

abzusprengen, und dazwischen war ein wenig Haut zu sehen.

Und es gab diesen Geruch. Nicht schlecht an sich, aber unangenehm in diesem Zusammenhang. Ich

habe nie in den Keller des Hauses meiner Enkelin gehen können, wenn sie mich zu ihr bringen,

obwohl dort ihr kleiner Junge seine Eisenbahn aufgebaut hat, die er seinem Ur-Opa gern zeigen

würde. Die Züge machen mir nichts aus, wie Sie bestimmt erraten - ich kann einfach den

Transformator nicht ertragen. Die Art, wie er summt. Und wie er riecht, wenn er warm wird. Selbst

nach all den Jahren erinnert mich dieser Geruch an Cold Mountain.

Van Hay gab ihm dreißig Sekunden und stellte dann den Saft ab. Der Arzt trat vor, setzte dem Chief

das Stethoskop auf die Brust und lauschte. Von den Zeugen kam jetzt kein Laut; es war still wie in

einem Mausoleum. Der Arzt richtete sich auf und schaute durch das Drahtgeflechtfenster.

»Desorganisiert«, stellte er fest und machte eine kreisende Bewegung mit einem Finger. Er hatte ein

paar zufällige Herzschläge aus Bitterbucks Brust gehört, vermutlich so bedeutungslos wie die letzten

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