Boden.
»O Mann«, sagte Brutal, »in weniger als einer Stunde von Billy the Kid zu Willie dem Träumer. Ich
frage mich, wie viele dieser Morphiumpillen Dean in die Cola geworfen hat.«
»Genügend«, sagte ich. Meine Stimme zitterte ein bisschen. Ich weiß nicht, ob Brutal es hörte, aber
ich bemerkte es. »Los, wir tun es.«
»Willst du nicht warten, bis Wild Bill ohnmächtig. wird?«
»Er ist ohnmächtig, Brutal. Er ist nur zu betäubt, um die Augen zu schließen.«
»Du bist der Boss.« Er schaute sich nach Harry um, aber der war bereits zur Stelle. Dean saß
kerzengerade am Wachpult und mischte die Karten so hart und schnell, dass es an ein Wunder
grenzte, dass sie nicht Feuer fingen, und bei jedem Schnellmischgang warf er einen Blick nach links zu
meinem Büro. Hielt ein Auge auf Percy.
»Ist es soweit?« fragte Harry. Sein langes Pferdegesicht war sehr bleich über seinem Uniformrock,
aber er wirkte entschlossen.
»Ja«, sagte ich, »wenn wir es durchziehen wollen, ist es an der Zeit.«
Harry bekreuzigte sich und küsste seinen Daumen. Dann ging er zu der Gummizelle, schloss sie auf
und kam mit einer Zwangsjacke zurück. Er gab sie Brutal. Wir drei gingen über die Green Mile. Coffey
stand an der Zellentür, schaute uns nach und sagte kein Wort. Als wir zum Wachpult gelangten, hielt
Brutal die Zwangsjacke hinter seinem Rücken, der breit genug war, um sie leicht zu verbergen.
»Viel Glück«, sagte Dean.
Er war so bleich wie Harry und wirkte ebenso entschlossen.
Percy saß hinter meinem Schreibtisch. Er saß auf meinem Schreibtischstuhl und war stirnrunzelnd in
das Buch vertieft, das er in den vergangenen paar Nächten mit sich herumgeschleppt hatte - nicht
Argosy oder Stag, sondern Pflege von geistig Behinderten in Institutionen. Bei seinem
schuldbewussten, beunruhigten Blick bei unserem Eintreten hätte man denken können, dass wir ihn
bei der Lektüre von „Die letzten Tage von Sodom und Gomorrha“ ertappt hatten.
»Was ist?« fragte er und klappte das Buch hastig zu. »Was wollt ihr?«
»Mit dir reden, Percy«, sagte ich. »Das ist alles.« Aber er las an unseren Mienen viel mehr ab als den
Wunsch eines Gesprächs, und er war blitzschnell auf den Beinen und hetzte - er rannte nicht ganz,
aber fast - zur offenen Tür des Lagerraums. Er dachte, wir wären gekommen, um ihn doch noch zu
verprügeln.
Harry flitzte um ihn herum, schnitt ihm den Weg ab und blockierte die Tür, die Arme vor der Brust
verschränkt.
»Hey!« Percy wandte sich an mich. Er hatte Angst, bemühte sich jedoch, sie nicht zu zeigen. »Was
soll das?«
»Frag nicht, Percy«, sagte ich. Ich hatte gedacht, ich wäre okay - jedenfalls wieder normal -, wenn wir
diese verrückte Sache tatsächlich durchführten, doch das war nicht der Fall. Ich konnte nicht glauben,
was ich tat. Es war wie ein Alptraum. Ich erwartete, dass meine Frau mich wachrüttelte und mir
sagte, dass ich im Schlaf gestöhnt hatte. »Es wird leichter sein, wenn du es einfach geschehen lässt«
»Was hat Howell hinter seinem Rücken?« fragte Percy mit rauher Stimme, und er drehte sich, um
einen besseren Blick auf Brutal zu bekommen. »Nichts«, sagte Brutal. »Nun ... dies hier ... «
Er zog die Zwangsjacke hinter seinem Rücken hervor und schüttelte sie an seiner Hüfte, wie ein
Matador das rote Tuch schwenkt, um den Stier zum Angreifen zu reizen.
Percy starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an, und dann sprang er vorwärts. Er wollte
davonrennen, aber Harry packte seine Arme, und Percy brachte nur einen kurzen Sprung zuwege.
»Lass mich los!« schrie Percy und wollte sich aus Harrys Griff losreißen. Das gelang ihm nicht. Harry
war fast fünfzig Kilo schwerer und hatte die Muskeln eines Mannes, der seine Freizeit mit Pflügen und
Hacken verbrachte, aber Percy schaffte es, Harry halb durch den Raum zu zerren und den
unangenehmen grünen Teppich aufzurauen, den ich immer hatte ersetzen wollen. Einen Moment lang
dachte ich, er bekäme sogar einen Arm frei - Panik kann eine höllische Motivation sein.
»Beruhige dich, Percy«, sagte ich. »Es wird leichter, wenn ... «
»Komm mir nicht so, du Blödmann!« brüllte Percy, ruckte mit den Schultern und versuchte, seine
Arme loszureißen. »Lasst mich in Ruhe! Ihr alle! Ich kenne Leute! Gruße Leute! Wenn ihr nicht
aufhört, müsst ihr bis nach South Carolina gehen, nur um eine Mahlzeit in einer Armenküche zu
bekommen!«
Er sprang wieder vorwärts und stieß mit den Oberschenkel gegen meinen Schreibtisch. Das Buch, in
dem er gelesen hatte, Pflege von geistig Behinderten in Institutionen, machte einen Satz, und das
kleinere Heft, das er darin versteckt hatte, fiel heraus. Kein Wunder, dass Percy schuldbewusst
gewirkt hatte, als wir hereingekommen waren. Es war nicht Die letzten Tage von Sodom und
Gomorrah, aber es war das Heft, das wir manchmal Sträflingen gaben, die sich besonders geil
fühlten und sich gut genug benommen hatten, um eine Belohnung zu verdienen. Ich glaube,
ich habe es erwähnt - das kleine Comic-Heft, in dem Olive Oyl es mit jedem außer mit Sweet
Pea, dem Jungen, treibt.
Ich fand es traurig, dass Percy in meinem Büro gewesen war, um sich einen so blassen Porno
einzuverleiben, und Harry - das, was ich von ihm über Percys Schulter hinweg sehen konnte -
wirkte leicht angewidert, aber Brutal brach in Gelächter aus, und das nahm Percy die
Kampfeslust, wenigstens vorübergehend.
»Oh, Percy-Boy«, sagte Brutal. »Was würde deine Mama sagen? Oder - noch besser, was würde
der Gouverneur sagen?«
Percy war dunkelrot geworden. »Halt die Schnauze. Und lass meine Mutter aus dem Spiel.«
Brutal warf mir die Zwangsjacke zu und neigte sich dicht vor Percys Gesicht »Klar,
Percy-Boy. Streck nur die Arme aus wie ein braver Junge.«
Percys Lippen zuckten, und seine Augen glänzten zu sehr. Mir wurde klar, dass er den Tränen
nahe war. »Das werde ich nicht tun«, sagte er mit bebender Stimme, »und ihr könnt mich nicht
dazu zwingen.« Dann hob er die Stimme und begann, um Hilfe zu schreien. Harry zuckte
zusammen, ich ebenfalls. Wenn wir je nahe daran waren, die ganze Sache fallenzulassen, dann
in diesem Augenblick. Wir hätten vielleicht aufgegeben doch Brutal zögerte keinen Augenblick. Er
trat hinter Percy, so dass er Schulter an Schulter mit Harry war, der immer noch Percys Hände
hinter ihm festnagelte. Brutal packte Percys Ohren und hielt sie fest
»Hör mit dem Brüllen auf«, sagte Brutal. »Sonst hast du ein Paar Teebeutellauscher, die einzigartig auf der Welt sind.«
Percy stellte das Brüllen ein, stand einfach zitternd da und schaute hinab auf den Umschlag des geschmacklosen Comic-Hefts, das Popeye und Olive zeigte, die es auf eine kreative Weise trieben, die ich noch nie ausprobiert hatte. »Oooh, Popeye« stand in der Sprechblase über Olivias Kopf. »Uck-uck-uck-uck!« stand in Popeyes Sprechblase. Er rauchte dabei immer noch seine Pfeife.
»Streck die Arme aus«, sagte Brutal, »und lass jetzt die Sperenzchen. Los.« »Das tue ich nicht«, sagte Percy. »Ich tue es nicht, und du kannst mich nicht dazu zwingen.« »Du irrst dich gewaltig, weißt du«, sagte Brutal. Dann drehte er an Percys Ohren, wie man vielleicht die Knöpfe an einem Ofen einstellt An einem Ofen, der nicht backte, wie man es wollte. Percy stieß einen schrillen Schrei des Schmerzes und der Überraschung aus, und ich hätte viel darum gegeben, ihn nicht hören zu müssen. Es waren nicht nur Schmerz und Überraschung, wissen Sie; es war Begreifen. Zum ersten Mal in seinem Leben begriff Percy, dass schreckliche Dinge nicht nur anderen Leuten widerfuhren, die nicht das Glück hatten, mit dem Gouverneur verwandt zu sein. Ich wollte Brutal Einhalt gebieten, aber das konnte ich natürlich nicht die Dinge waren viel zu weit gegangen. Ich konnte mich nur daran erinnern, dass Percy dem armen Delacroix Gott weiß wie viele Qualen zugefügt hatte, nur weil der kleine Franzose ihn ausgelacht hatte.
Die Erinnerung milderte nicht viel von meinem schlechten Gefühl. Vielleicht hätte sie das, wenn ich mehr von Percys Naturell gehabt hätte.
»Streck die Arme aus, Baby«, sagte Brutal, »oder ich ziehe dir die Ohren lang.« Harry hatte bereits den jungen Mr. Wetmore losgelassen. Percy schluchzte wie ein kleines Kind, und die Tränen rannen jetzt über seine Wangen. Er streckte die Arme aus wie ein Schlafwandler in einer Filmkomödie. Im Nu hatte ich seine Arme in den Ärmeln der Zwangsjacke. Ich hatte sie kaum über seine Schultern gezogen, da ließ Brutal Percys Ohren los und schnappte sich die Riemen, die von den Ärmeln der Zwangsjacke hingen. Er riss Percys Arme zusammen, so dass sie fest auf seiner Brust gekreuzt waren. Harry schnappte sich unterdessen die Riemen am Rücken. Nachdem Percy nachgegeben und die Arme ausgestreckt hatte, war die ganze Sache binnen weniger als zehn Sekunden erledigt
»Okay, Percy-Boy«, sagte Brutal. »Vorwärts marsch!«
Percy rührte sich nicht von der Stelle. Er schaute Brutal an, dann blickte er entsetzt mit tränenfeuchten Augen zu mir. Er sagte jetzt nichts von seinen Beziehungen oder dass wir bis nach South Carolina wandern mussten, um eine kostenlose Mahlzeit zu bekommen; das war längst vorbei. »Bitte«, krächzte er heiser und tränenreich, »sperr mich nicht mit ihm ein, Paul.« Jetzt verstand ich, warum er in Panik war, warum er sich so heftig gewehrt hatte. Er dachte, wir würden ihn zu Wild Bill Wharton in die Zelle stecken; dass seine Strafe für den trockenen Schwamm bei Delacroix' Hinrichtung eine trockene Vergewaltigung durch den Psychopathen sein würde. Bei diesem Gedanken empfand ich kein Mitleid mit Percy, sondern Abscheu, und ich wurde in meinem Entschluss bestärkt Er traute uns das zu, was er an unserer Stelle getan hätte. »Du kommst nicht zu Wharton«, sagte ich, »sondern in die Gummizelle. Du wirst drei oder vier Stunden darin verbringen, ganz allein im Dunkeln, und über das nachdenken, was du Del angetan hast. Es ist vermutlich zu spät für dich, irgendwelche Lektionen zu lernen, wie Leute behandelt werden sollen - Brutal denkt das jedenfalls -, aber ich bin Optimist. Und jetzt los.« Er setzte sich in Bewegung, murmelte vor sich hin, dass wir das bereuen würden, sehr bereuen, aber insgesamt wirkte er erleichtert und beruhigt.
Als wir ihn auf den Gang führten, schaute uns Dean mit weit aufgerissenen Augen so überrascht und voller taufrischer Unschuld an, dass ich hätte lachen können, wenn die Sache nicht so ernst gewesen wäre. Ich hatte schon bessere Schauspieler in Theatern in der tiefsten Provinz gesehen. »Sagt mal, meint ihr nicht, dass der Streich weit genug gegangen ist?« fragte Dean. »Du hältst die Klappe, wenn du weißt was gut für dich ist«, grollte Brutal. Das war der Text den wir beim Mittagessen abgesprochen hatten, und so klang es auch für mich, nach eingeübtem Text aber wenn Percys Angst und Verwirrung groß genug waren, dann konnten diese Worte Dean Stanton im Notfall den Job retten. Ich bezweifelte, dass der Notfall eintreten würde, aber möglich war alles. Jedes Mal, wenn mir Zweifel kamen, damals oder seither, dann denke ich einfach daran, was John Coffey mit Delacroix' sterbender Maus bewirkt hatte.
Wir führten Percy über die Green Mile. Er stolperte und keuchte, er werde aufs Gesicht fallen, wenn wir nicht langsamer gingen. Wharton lag auf seiner Pritsche, aber wir gingen zu schnell daran vorbei, und ich konnte nicht sehen, ob er wach war oder schlief. John Coffey stand an der Tür seiner Zelle und beobachtete. »Du bist ein böser Mann und verdienst es, in diese dunkle Gummizelle zu kommen«, sagte er zu Percy, aber ich glaube nicht, dass Percy ihn hörte.
Wir gingen in die Gummizelle. Percys Wangen waren rot und nass von Tränen, seine Äugen rollten in den Höhlen, und die Locken, die er ständig zu kämmen pflegte, hingen wirr vor seiner Stirn.
Harry nahm Percys Waffe mit einer Hand und seinen geliebten Hickory-Schlagstock mit der anderen.
»Bekommst du zurück, keine Sorge«, sagte Harry. Er klang ein bisschen verlegen.
»Ich wünsche, ich könnte das gleiche von deinem Job sagen«, erwiderte Percy. »Von all euren Jobs.
Das könnt ihr mir nicht antun! Das könnt ihr nicht!«
Er war offenbar bereit, in dieser Art noch eine Weile weiterzumachen, aber wir hatten keine Zeit, uns
sein Gelaber anzuhören. In meiner Tasche war eine Rolle Isolierband, der Vorfahr des Klebebands,
das die Leute heutzutage benutzen, in den Dreißigern. Percy sah, dass ich die Rolle
Isolierband aus der Tasche zog, und wich zurück. Brutal packte ihn von hinten und umarmte ihn, bis
ich Isolierband über Percys Mund geklebt hatte. Ich wand es um seinen ganzen Kopf herum, um
sicherzugehen. Er würde ein paar Haare weniger haben, wenn das Isolierband abgezogen wurde, und
seine Lippen würden dabei lädiert werden, aber das juckte mich nicht mehr.
Ich hasste Percy Wetmore.
Wir traten zurück, weg von ihm. Er stand in der Mitte der Gummizelle unter der eingefassten
Glühbirne, trug die Zwangsjacke, atmete durch geblähte Nasenflügel und stieß gedämpfte Laute wie
mmmph! mmmph! hinter dem Isolierband aus. Alles in allem sah er genauso verrückt aus wie jeder
andere Häftling, den wir je in diese Zelle gesperrt hatten.
»Je ruhiger du bist, desto eher kommst du raus«, sagte ich. »Denk daran, Percy.«
»Und wenn du dich einsam fühlst, denk an Olive Oyl«, riet Harry. »Llck-uck-uck-uck.«
Dann gingen wir hinaus. Ich zog die Tür zu, und Brutal schloss sie ab. Dean stand ein Stück entfernt
auf der Meile, gerade außerhalb von Coffeys Zelle. Er hatte bereits den Hauptschlüssel im oberen
Schloss der Zellentür. Wir vier schauten uns an, und keiner sagte etwas. Es war nicht nötig. Wir
hatten die Maschinerie in Gang gesetzt; wir konnten nur hoffen, dass der Zug den Kurs nahm, den wir
geplant hatten, anstatt irgendwo unterwegs aus den Schienen zu springen.
»Willst du immer noch die Spazierfahrt mitmachen, John?« fragte Brutal.
»Ja, Sir«, sagte Coffey. »Das will ich.«
»Gut«, sagte Dean. Er schloss das obere Schloss auf, zog den Schlüssel heraus und schob ihn in das
zweite Schloss.
»Müssen wir dich anketten, John?« fragte ich.
Coffey schien darüber nachzudenken. »Können Sie, wenn Sie wollen«, sagte er schließlich. »Muss
aber nicht sein.«
Ich nickte Brutal zu, der die Zellentür öffnete, und wandte mich dann Harry zu, der mehr oder weniger
Percys .45er auf Coffey gerichtet hielt, als der schwarze Riese aus seiner Zelle trat.
»Gib Dean die Waffe«, sagte ich.
Harry blinzelte, als hätte ihn jemand aus dem Dösen geweckt.
Er sah, dass er Percys .45er und den Schlagstock immer noch in den Händen hielt und übergab sie
Dean. Coffey ragte unterdessen auf dem Gang auf und rieb mit seinem kahlen Schädel fast über eine
der Deckenlampen, die mit einem Drahtkäfig umgeben waren. Als er dort stand, die Hände vor sich
gehalten, die Schultern gekrümmt dachte ich wieder wie bei seiner Ankunft, dass er wie ein riesiger
gefangener Bär wirkte.
»Schließ Percys Spielzeuge im Wachpult ein, bis wir zurückkommen«, sagte ich.
»Falls wir zurückkommen«, fügte Harry hinzu.
»Das werde ich tun«, sagte Dean zu mir und ignorierte Harry.
»Und wenn jemand auftaucht - vermutlich wird sich niemand blicken lassen, aber im Falle eines Falles
-, was sagst du dann?«
»Dass Coffey gegen Mitternacht durchdrehte«, sagte Dean. Er wirkte so konzentriert wie ein Student
bei einem Examen. »Wir mussten ihm die Zwangsjacke verpassen und ihn in die Gummizelle sperren.
Wenn dort Geräusche ertönen, wird jeder denken, dass sie von ihm stammen.« Er wies auf Coffey.
»Und was sagst du über uns?« fragte Brutal.
»Paul ist drüben in der Verwaltung, beschäftigt sich mit Dels Akte und geht die Zeugenliste durch«,
sagte Dean. »Das ist diesmal besonders wichtig, weil die Hinrichtung so katastrophal war. Er sagte, er
wird vermutlich den Rest der Schicht dort sein. Du und Harry und Percy, ihr seid drüben in der
Wäscherei und wascht eure Kleidung.«
Nun, >die Kleidung waschen< sagten die Eingeweihten. In einigen Nächten gab es Würfelspiele in der
Wäscherei; in anderen wurde Blackjack oder Poker gespielt. Was auch immer gezockt wurde, man
sagte, die Wärter, die daran teilnahmen, waschen ihre Kleidung<. Es gab für gewöhnlich
geschmuggelten oder schwarzgebrannten Alkohol bei diesen Zusammenkünften, und gelegentlich
machte ein Opiumpfeifchen die Runde. Es ist das gleiche in allen Gefängnissen, seit sie erfunden
wurden, nehme ich an. Wenn man sein Leben mit dem Verwahren von Dreckskerlen verbringt, lässt
es sich nicht ändern, dass man selbst ein bisschen dreckig wird. Auf jeden Fall war es
unwahrscheinlich, dass wir überprüft wurden. >Kleidung waschen< wurde in Cold Mountain mit
großer Diskretion behandelt.
»Besser geht es nicht«, sagte ich, zog Coffey herum und setzte ihn in Bewegung. »Und wenn alle
Stricke reißen, Dean, dann weißt du von nichts.«
»Das ist leicht zu sagen, aber ...«
In diesem Augenblick schoss ein dünner Arm zwischen den Gitterstäben von Whartons Zelle hervor
und packte Coffey am dicken Bizeps. Uns allen stockte der Atem. Wharton hätte im Tiefschlaf liegen
sollen, fast im Koma, doch da stand er, hin und her schwankend wie ein angeschlagener Boxer und
blöde grinsend.
Coffeys Reaktion war bemerkenswert. Er riss sich nicht los, sondern holte tief Luft durch die Zähne
wie jemand, der von etwas Kaltem und Unangenehmem berührt worden ist. Seine Augen weiteten
sich, und einen Moment wirkte er, als hätten er und der Blödmann in der Zelle sich nie gesehen, als
wären sie nie jeden Morgen zusammen aufgestanden, als hätten sie sich nie jeden Abend zur gleichen
Zeit zum Schlafen hingelegt. Coffey hatte lebendig ausgesehen - anwesend -, als er gewollt hatte,
dass ich in seine Zelle komme, damit er mich berühren konnte. Dass er mir helfen konnte, um die
Coffey-Sprache zu übernehmen. Er hatte wieder so gewirkt als er seine Hände nach der Maus
ausgestreckt hatte. Jetzt erhellte sich zum dritten Mal sein Gesicht, als wäre in seinem Gehirn plötzlich
ein Punktscheinwerfer eingeschaltet worden. Doch diesmal war das Licht anders. Diesmal war es
kälter, und zum ersten Mal fragte ich mich, was passieren würde, wenn John Coffey plötzlich Amok
lief. Wir hatten unsere Waffen, wir konnten auf ihn schießen, aber ihn tatsächlich kampfunfähig zu
schießen war vielleicht nicht leicht
Ich sah Brutal an, dass er ähnlich dachte, aber Wharton grinste weiterhin wie jemand, der high ist
»Wohin willst du?« fragte er. Es klang wie Woin willse?
Coffey stand still, schaute erst Wharton an, dann Whartons Hand, dann wieder Whartons Gesicht. Ich
konnte diesen Gesichtsausdruck nicht deuten. Ich meine, ich sah die Intelligenz darin, aber ich
wusste sie nicht auszulegen. Ich weiß nicht, ob es die Dinge geändert hätte, wenn ich in der Lage
gewesen wäre, den Gesichtsausdruck zu deuten. Vermutlich nicht. Was Wharton anbetraf, um den
machte ich mir überhaupt keine Sorge. Er würde sich später an nichts erinnern; er wirkte wie ein
Betrunkener mit einem Blackout
»Du bist ein böser Mann«, flüsterte Coffey, und ich konnte nicht erklären, was ich in seiner Stimme
hörte - Schmerz oder Ärger oder Furcht. Vielleicht alles zusammen. Coffey blickte wieder hinab auf die
Hand an seinem Arm, wie man vielleicht auf ein Insekt schaut, das einen wirklich schlimm stechen
kann, wenn es das vorhat.
»Richtig, Nigger«, sagte Wharton mit einem blöden, großspurigen Grinsen. »So böse du dir nur
denken kannst«
Ich war plötzlich überzeugt, dass etwas Schreckliches passieren würde, das unseren geplanten Verlauf
dieses frühen Morgens so völlig verändern würde, wie ein Erdbeben den Verlauf eines Flusses
verändern kann. Es würde geschehen, und nichts, was ich oder einer von uns tun würde, konnte es
verhindern.
Dann griff Brutal zu, pflückte Whartons Hand von John Coffeys Arm, und das Gefühl verschwand. Es
war, als wäre ein potentiell gefährlicher Stromkreis unterbrochen. Ich habe Ihnen gesagt, dass
während meiner Zeit in Block E das Telefon der Leitung zum Gouverneur niemals geklingelt hatte. Das
stimmte, aber ich glaube, wenn es jemals geklingelt hätte, dann wäre ich von der gleichen
Erleichterung erfüllt gewesen wie jetzt, als Brutal Whartons Hand von dem Riesen wegzog, der neben
mir aufragte. Coffeys Blick wurde sofort stumpft als ob das Scheinwerferlicht in seinem Kopf
abgeschaltet worden wäre.
»Leg dich hin, Billy«, sagte Brutal. »Ruh dich aus.« Das war für gewöhnlich meine Formulierung, aber
unter den gegebenen Umständen hatte ich nichts dagegen, dass Brutal sie übernahm.
»Das werde ich vielleicht tun«, stimmte Wharton zu. Er trat zurück, torkelte und wäre fast gestürzt in
letzter Sekunde bewahrte er das Gleichgewicht »Mann, oh, Mann. Alles dreht sich. Als wenn ich
besoffen wäre.«
Er wich zu seiner Pritsche zurück und blickte dabei mit den glasigen Augen auf Coffey. »Nigger sollten
ihren eigenen Elektrischen Stuhl haben«, lallte er. Dann stieß er mit den Kniekehlen gegen seine
Pritsche und plumpste darauf. Er schnarchte schon, bevor sein Kopf das dünne Gefängniskissen
berührte. Blaue Schatten waren unter seinen Augen, und die Zungenspitze hing aus dem Mund.
»Mein Gott, wie konnte er mit so viel Stoff noch aufstehen?« wisperte Dean.
»Es macht nichts, er ist jetzt weggetreten«, sagte ich. »Wenn er wieder zu sich kommt gib ihm noch
eine Pille, aufgelöst in einem Glas Wasser. Aber nur eine. Wir wollen ihn nicht umbringen.«
»Das sagst du«, sagte Brutal grollend und blickte verächtlich auf Wharton. »Aber man kann einen
Affen wie ihn ohnehin nicht mit Stoff umbringen. Die gedeihen damit«
»Er ist ein böser Mann«, sagte Coffey, diesmal mit leiserer Stimme, als sei er sich nicht ganz sicher,
was er sagte oder was es bedeutete.
»Stimmt«, sagte Brutal. »Gemein und bösartig.
Aber das ist jetzt kein Problem, denn wir tanzen nicht Tango mit ihm.« Wir gingen weiter, und wir vier
umgaben Coffey, wie Fans sich um ein Idol scharen, das soeben wankend auf die Beine gekommen
ist. »Sag mir eines, John - weißt du, wohin wir dich bringen?«
»Um zu helfen«, sagte er. »Ich nehme an ... zu einer Lady?« Er schaute Brutal hoffnungsvoll an.
Brutal nickte. »Das ist richtig. Aber woher weißt du das? Woher weißt du's?«
John Coffey dachte sorgfältig über die Frage nach. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich weiß es nicht«,
sagte er. »Ehrlich gesagt Boss, ich weiß überhaupt nicht viel. Habe nie viel gewusst.«
Und damit mussten wir uns zufrieden geben.
6
Ich hatte gewusst, dass die kleine Tür zwischen dem Büro und der Treppe hinab in den Lagerraum
nicht für Riesen wie Coffey gedacht war, aber es war mir nicht klar gewesen, wie gewaltig der
Größenunterschied war, bis er vor dieser Tür stand und sie nachdenklich anschaute.
Harry lachte, aber John sah anscheinend nichts Lustiges daran, vor der kleinen Tür zu stehen.
Natürlich verstand er den Humor nicht; er hätte ihn auch dann nicht verstanden, wenn er ein bisschen
klüger gewesen wäre. Er war dieser Riese den größten Teil seines Lebens, und diese Tür war einfach
ein wenig kleiner als die meisten.
Coffey setzte sich hin, schob sich auf dem Hintern durch die Tür, stand auf und ging die Treppe
hinunter, an deren Fuß Brutal auf ihn wartete. Dort verharrte er und blickte durch den leeren Raum zu
der Plattform, auf der Old Sparky wartete, so stumm - und so unheimlich - wie der Thron im Schloss
eines toten Königs. Die Kappe hing keck von einem der schwarzen Pfosten und wirkte nicht wie eine
Königskrone, sondern wie die Kappe eines Hofnarren; ein Narr würde so etwas tragen oder schütteln,
damit sein hochgeborenes Publikum lauter über seine Witze lachte. Der Schatten des elektrischen
Stuhls kletterte verlängert und spinnenartig eine Wand hinauf wie eine Drohung. Und, ja, ich glaubte
immer noch, verbranntes Fleisch zu riechen. Der Geruch war schwach, aber ich fand, dass er mehr als
nur Einbildung war.
Harry duckte sich durch die Tür, dann ich. Mir gefiel nicht der starre Blick Johns aus weit
aufgerissenen Augen, auf Old Sparky gerichtet. Noch weniger gefiel mir, was ich auf seinen Armen
sah, als ich mich ihm näherte: Gänsehaut
»Na, komm schon, großer Junge«, sagte ich. Ich packte sein Handgelenk und versuchte, ihn in
Richtung Tür zu ziehen, die hinab in den Tunnel führte. Zuerst wollte er nicht gehen, und ich hätte
genauso gut versuchen können, mit bloßen Händen einen Felsen aus dem Boden zu reißen.
»Komm schon, John, wir müssen gehen, es sei denn, du willst nicht mit dem Vierspänner fahren und
der Lady einen Korb geben«, sagte Harry und lachte wieder nervös. Er ergriff Johns anderen Arm und
zog, aber John wollte immer noch nicht mitkommen. Und dann sagte er etwas mit leiser,
träumerischer Stimme. Er sprach nicht zu mir und zu keinem von uns, aber ich habe es nie vergessen.
»Sie sind noch dort drin. Etwas von ihnen ist noch dort drin. Ich höre sie schreien.«
Harrys nervöses Lachen verstummte, und sein Lächeln hing schief auf seinem Mund wie der aus einer
Angel gerissene Fensterladen an einem verlassenen Haus. Brutal schaute mich fast entsetzt an und
wich von John Coffey zurück. Zum zweiten Mal in weniger als fünf Minuten hatte ich das Gefühl, dass
sich das ganze Unternehmen am Rande des Zusammenbruchs befand. Diesmal war ich es, der
eingriff; als ein wenig später ein drittes Mal eine Katastrophe drohte, würde Harry handeln. Wir alle
bekamen in dieser Nacht unsere Chance, glauben Sie mir.
Ich schob mich zwischen John und seinen Blick auf den elektrischen Stuhl, stellte mich auf die
Zehenspitzen, um sicherzustellen, dass ich ihm die Sicht auf Old Sparky nahm.
Schnalzend schnipste ich zweimal direkt vor seinem Gesicht mit den Fingern. »Komm schon!« sagte
ich. »Geh! Du hast gesagt, dass du keine Ketten brauchst. Nun beweise es! Geh, großer Junge! Geh,
John Coffey! Dort hinüber! Durch diese Tür!«
Sein Blick wurde klar. »Ja, Boss.« Und Gott sei Dank setzte er sich in Bewegung.
»Schau auf die Tür, John Coffey, nur auf die Tür und auf nichts sonst«
»Ja, Boss.« John heftete den Blick gehorsam auf die Tür.
»Brutal«, sagte ich und wies hin.
Er eilte voraus, schüttelte seinen Schlüsselbund aus und fand den richtigen Schlüssel. John starrte
weiterhin auf die Tür zum Tunnel. Ich starrte auf John, aber aus dem Augenwinkel konnte ich sehen,
dass Harry nervöse Blicke zum heißen Stuhl warf, als hätte er ihn nie zuvor gesehen.
Etwas von ihnen ist noch dort drin ... Ich höre sie schreien.
Wenn das stimmte, dann musste Eduard Delacroix am längsten und lautesten von allen schreien, und
ich war froh, dass ich nicht hören konnte, was John Coffey hörte.
Brutal öffnete die Tür. Wir stiegen die Treppe hinab, Coffey an der Spitze. Am Fuß der Treppe schaute
er bedrückt durch den Tunnel mit seiner niedrigen Backsteindecke. Er würde am Ende des Tunnels
vom gebückten Gehen einen steifen Hals haben, es sei denn ...
Ich zog den Leichenkarren heran. Das Laken, mit dem wir Dels Leiche verhüllt hatten, war entfernt
(und vermutlich verbrannt) worden, und so war das schwarze Leder des Karrens zu sehen. »Leg dich
darauf«, forderte ich John auf. Er schaute mich zweifelnd an, und ich nickte aufmunternd. »Es wird
leichter für dich und nicht schwerer für uns.«
»Okay, Boss Edgecombe.« Er setzte sich auf den Karren, legte sich dann hin und schaute besorgt mit
seinen braunen Augen zu uns auf. Seine Füße mit den billigen Gefängnispantoffeln baumelten fast bis
zum Boden. Brutal drängte sich dazwischen und schob John Coffey durch den feuchten Tunnel, wie er
so viele andere geschoben hatte. Der einzige Unterschied bestand darin, dass der jetzige Passagier
noch atmete. Auf halbem Weg durch den Tunnel - unter dem Highway, und wir hätten die
gedämpften Geräusche von Wagenmotoren gehört, wenn es zu dieser Stunde Verkehr gegeben hätte
- begann John zu lächeln.
»Das ist lustig«, sagte er. Mir kam in den Sinn, dass er die nächste Fahrt mit dem Karren nicht lustig finden würde. Wenn er das nächste Mal mit dem Karren fuhr, würde er überhaupt nichts empfinden. Oder doch? Etwas von ihnen ist immer noch dort, hatte er gesagt er konnte sie schreien hören. Ich erschauerte, aber weil ich hinter den anderen ging, sahen sie es nicht »Ich hoffe, du hast an Sesam gedacht Boss«, sagte Brutal, als wir ans ferne Ende des Tunnels gelangten.
»Keine Sorge«, erwiderte ich. Sesam unterschied sich nicht von den anderen Schlüsseln, die ich in jenen Tagen bei mir hatte - und ich hatte einen Haufen Schlüssel, die vier Pfund schwer sein mussten
- aber es war der Hauptschlüssel aller Hauptschlüssel, der alles öffnete. Es gab in jenen Tagen einen Sesam für jeden der fünf Zellenblocks, und jeder war in der Obhut des Chefwärters des Blocks. Andere Wärter konnten den Schlüssel ausleihen, aber nur der Chefwärter brauchte nicht dafür zu unterschreiben.
Am Ende des Tunnels befand sich ein Stahltor. Es erinnerte mich immer an Bilder von alten Burgen, die ich gesehen hatte; an die alten Tage, an denen Ritter kühn waren und das Rittertum blühte. Aber Cold Mountain war weit von Camelot entfernt. Hinter diesem Tor führte eine Treppe hinauf zu einer unauffälligen Art Schott mit Schildern BETRETEN VERBOTEN, STAATSBESITZ und HOCHSPANNUNG auf der Außenseite.
Ich schloss das Tor auf, und Harry öffnete es weit. Wir stiegen hinauf, John Coffey wieder an der Spitze und mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf. Oben zwängte sich Harry an ihm vorbei (nicht ohne Schwierigkeiten, obwohl er der Schlankste von uns war) und schloss das Schott auf. Es war schwer. Er konnte es bewegen, aber nicht aufschieben.
»Das mache ich, Boss«, sagte John. Er drängte sich wieder nach vorn - presste dabei Harry mit der Hüfte gegen die Wand - und zog das Schott mit einer Hand auf. Man hätte denken können, es wäre Karton statt Stahl.
Der scharfe Wind von den Bergen, den wir jetzt die meiste Zeit bis März oder April haben würden, blies uns kalte Nachtluft ins Gesicht. Laub wirbelte durch die Luft, und John Coffey fing ein Blatt mit seiner freien Hand. Ich werde nie vergessen, wie er das Blatt anschaute oder wie er es unter seiner breiten, stattlichen Nase zerdrückte, um den Duft zu riechen. »Komm«, sagte Brutal. »Gehen wir, vorwärts marsch!«
Wir stiegen hinauf. John zog das Schott zu, und Brutal schloss es ab - für diese Tür war der Sesamschlüssel nicht nötig, er wurde nur zum Öffnen des Tors und des Schaltkastens daneben gebraucht.
»Hände an die Seiten, während du durchgehst, Großer«, murmelte Harry. »Berühr nicht den Draht. Er steht unter Strom, und du willst doch nicht verbrennen, oder?«
Dann waren wir im Freien, standen in einer kleinen Gruppe neben der Straße (ich kann mir vorstellen, dass wir wie drei Hügel um einen Berg wirkten) und schauten hinüber zu den Mauern und Lichtern und Wachtürmen der Strafvollzugsanstalt Cold Mountain. Ich konnte tatsächlich den verschwommenen Umriss eines Wärters, der in seine Hände blies, in einem der Türme sehen, aber nur einen Moment lang; die Fenster in den Türmen zur Straße hin waren klein und unscheinbar. Dennoch mussten wir sehr, sehr leise sein. Und wenn jetzt ein Wagen über die Straße kam, konnten wir große Probleme bekommen. »Los jetzt«, flüsterte ich. »Geh voran, Harry.«
Wir stahlen uns nordwärts in einer Schlangenlinie am Highway entlang, Harry als erster, dann John Coffey, Brutal und ich. Wir überquerten die erste Anhöhe und gingen auf der anderen Seite hinunter. Jetzt sahen wir vom Gefängnis nur noch den hellen Schein der Lichter in den Wipfeln der Bäume. Und Harry führte uns immer noch weiter.
»Wo hast du den Wagen geparkt?« flüsterte Brutal und stieß Dampf in einem weißen Wölkchen aus.
»In Baltimore?«
»Gleich da vorn«, erwiderte Harry, und er klang nervös und gereizt »Mach dir nicht gleich in die Hose,
Brutus.«
Aber Coffey wäre glücklich gewesen, bis zum Sonnenaufgang weiterzuwandern, vielleicht sogar bis
zum nächsten Sonnenuntergang. Er schaute in alle Richtungen, wenn eine Eule schrie - nicht
ängstlich, sondern erfreut, dessen bin ich mir ziemlich sicher. Mir kam in den Sinn, dass er sich zwar
im Dunkel der Zelle fürchtete, aber hier draußen überhaupt keine Angst vor der Dunkelheit hatte.
Er liebkoste die Nacht, rieb seine Sinne an ihr, wie ein Mann sein Gesicht an den Höhen und Tälern
einer Frauenbrust reiben mag.
»Wir biegen hier ab«, murmelte Harry.
Ein schmaler Abzweig der Straße, unbefestigt, von Unkraut überwuchert, bog nach rechts ab. Wir
folgten ihm und wanderten eine weitere Viertelmeile. Brutal fing wieder zu maulen an, als Harry
stehen blieb, zur linken Seite des Pfads ging und die abgebrochenen Kiefernzweige zu entfernen
begann, mit denen er den Wagen getarnt hatte. John und Brutal halfen ihm, und bevor ich mich an
der Arbeit beteiligen konnte, hatten sie die verbeulte Schnauze eines alten Farmall Trucks freigelegt,
und die Scheinwerfer starrten uns wie Insektenaugen an.
»Ich wollte so vorsichtig wie möglich sein, weißt du«, sagte Harry mit dünner, scheltender Stimme.
»Das mag für dich ein großer Spaß sein, Brutus Howell, aber ich komme aus einer sehr religiösen
Familie, habe Cousins, die so verdammt fromm sind, dass die Christen dagegen Heiden sind, und
wenn ich bei so etwas erwischt werde ...«
»Schon okay«, brummte Brutal. »Ich bin einfach nervös, das ist alles.«
»Ich auch«, sagte Harry steif. »Wenn jetzt die verdammte alte Kiste nur startet ...« Er ging um die
Motorhaube des Trucks herum und murmelte immer noch vor sich hin, und Brutal zwinkerte mir zu.
Für Coffey existierten wir nicht mehr. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und sog den Anblick der
Sterne auf, die am Himmel funkelten.
»Ich setze mich hinten zu ihm, wenn du willst«, bot Brutal an. Hinter uns winselte kurz der Anlasser
des Farmalls, und es klang, als versuche ein alter Hund sich an einem kalten Wintermorgen auf die
Füße zu quälen; dann sprang der Motor an. Harry gab einmal Gas und ließ ihn dann gemächlich
tuckern. »Nicht nötig, dass wir ihn beide bewachen«, fügte Brutal hinzu.
»Steig vorne ein«, sagte ich. »Du kannst auf der Rückfahrt mit ihm fahren. Wenn wir nicht in unserem
Gefangenentransporter landen, meine ich.«
»Sag so was nicht« Brutal schien wirklich entsetzt zu sein, als hätte er zum ersten Mal erkannt wie
ernst es für uns werden würde, wenn wir geschnappt wurden. »Mensch, Paul!«
»Geh und steig vorne ein«, sagte ich.
Er tat, was ich verlangte. Ich zog an John Coffeys Arm, bis ich ihn für eine Weile wieder auf die Erde
zurückholen konnte, und führte ihn zum Heck des Trucks, dessen Ladefläche seitlich von Pfosten
begrenzt wurde. Harry hatte ein Stück Segeltuchplane über die Pfosten geworfen. Das würde hilfreich
sein und etwas Sichtschutz geben, wenn wir Wagen überholten oder uns welche aus der anderen
Richtung passierten. Das offene Heck hatte er jedoch nicht verhüllen können.
»Hopplahopp, großer Junge«, sagte ich. »Machen wir jetzt unsere Spazierfahrt?« »Richtig.«
»Gut.« Er lächelte. Es war süß und lieb, dieses Lächeln, vielleicht um so mehr, weil es nicht durch viel
Denken kompliziert wurde. Er stieg hinten auf. Ich folgte ihm, ging auf der Ladefläche vor und klopfte
auf das Dach des Führerhauses. Harry legte den ersten Gang ein, und der Truck rollte rüttelnd und
schüttelnd aus der kleinen Laube, in der Harry ihn versteckt hatte.
John Coffey stand breitbeinig mitten auf der Ladefläche, blickte wieder zu den Sternen, lächelte breit
und nahm nicht die Äste und Zweige wahr, die ihn peitschten, als Harry den Truck zum Highway
lenkte. »Sieh mal, Boss«, sagte er leise und entzückt und wies in das Schwarz der Nacht hinauf. »Es
ist Cassie, die Lady in dem Schaukelstuhl!«
Er hatte recht. Ich konnte sie in der Sternenstraße zwischen den Wipfeln der Bäume sehen, an denen
wir vorbeifuhren. Aber es war nicht das Sternbild Kassiopeia, an das ich gedacht hatte, als er von der
Lady in dem Schaukelstuhl gesprochen hatte; ich dachte an Melinda Moores.
»Ich sehe sie, John«, sagte ich und zog an seinem Arm. »Aber du musst dich jetzt setzen, okay?« Er
setzte sich mit dem Rücken gegen das Führerhaus und nahm nicht den Blick vom Nachthimmel. Sein
Gesicht spiegelte völliges gedankenloses Glück wider. Die Green Mile blieb mit jeder Umdrehung der
alten Reifen des Farmalls weiter zurück, und fürs erste war John Coffeys scheinbar endloser
Tränenstrom versiegt.
z
Bis zu Hal Moores' Haus auf dem Chimney Ridge waren es fünfundzwanzig Meilen, und mit Harry Terwilligers langsamem und klapprigem Truck dauerte die Fahrt über eine Stunde. Es war eine unheimliche Fahrt, und obwohl es für mich jetzt den Anschein hat, dass ich jeden Moment immer noch in Erinnerung habe - jede Biegung, jedes Schlagloch, jeden kritischen Augenblick (zwei waren es), wenn uns Wagen aus der anderen Fahrtrichtung passierten -, bezweifle ich, dass ich auch nur annähernd beschreiben kann, wie ich mich fühlte, als ich auf dem Truck mit John Coffey saß, wir beide wie Indianer in die alten Decken gehüllt die Harry vorsorglich mitgebracht hatte. Es war hauptsächlich ein Gefühl der Verlorenheit - der tiefe und schreckliche Schmerz, den ein Kind empfindet, wenn es erkennt dass es sich verirrt hat wenn alles ringsum fremd ist und es nicht mehr weiß, wie es den Heimweg findet. Ich war da draußen in der Nacht mit einem Häftling - nicht nur mit irgendeinem, sondern mit einem, der wegen der Ermordung zweier kleiner Mädchen zum Tode verurteilt worden war. Dass ich ihn für unschuldig hielt würde nicht zählen, wenn wir geschnappt wurden; wir würden selbst ins Gefängnis wandern, und Dean Stanton vielleicht ebenfalls. Ich hatte wegen einer schlimmen Hinrichtung ein Leben der Arbeit und Überzeugung über den Haufen geworfen - und weil ich glaubte, der riesige Trottel, der neben mir saß, könnte vielleicht den inoperablen Gehirntumor einer Frau heilen. Als ich jedoch John zu den Sternen blicken sah, erkannte ich bestürzt, dass ich das nicht länger glaubte, wenn ich es jemals wirklich geglaubt harte; meine Blaseninfektion war jetzt längst vergessen und unbedeutend, wie solche harten und schmerzhaften Dinge stets in der Erinnerung verblassen, wenn sie Vergangenheit sind (meine Mutter sagte einmal, wenn eine Frau sich wirklich erinnern könnte, wie schlimm die Schmerzen bei der Geburt ihres ersten Babys gewesen waren, dann würde sie nie ein zweites haben). Und was Mr. Jingles anbetraf, war es nicht möglich und sogar wahrscheinlich, dass Percy die Maus gar nicht so schwer verletzt hatte, wie wir gedacht hatten? Oder dass John - der wirklich eine Art hypnotische Kraft hatte, wenigstens das bezweifelte ich nicht - uns irgendwie getäuscht hatte, so dass wir uns einbildeten, etwas gesehen zu haben, was überhaupt nicht geschehen war? Dann war da die Sache mit Hal Moores. An dem Tag, an dem ich ihn in seinem Büro überrascht hatte, war er ein zittriger, weinerlicher alter Mann gewesen. Aber ich bezweifelte, dass das die wahre Seite des Direktors war. Ich dachte, der wahre Gefängnisdirektor Moores war der Mann, der einst einem Häftling, der ihn zu erstechen versucht hatte, das Handgelenk gebrochen hatte; der Mann, der zynisch darauf hingewiesen hatte, dass Delacroix' Eier gebraten wurden, ganz gleich, wer die Hinrichtung leitete. Dachte ich tatsächlich, dass Hal Moores demütig zur Seite treten und uns einen verurteilten Kindermörder ins Haus bringen lassen würde, damit der seiner Frau die Hände auflegte? Meine Zweifel wuchsen während der Fahrt. Ich verstand einfach nicht, warum ich so etwas getan hatte oder warum ich die anderen zu dieser verrückten nächtlichen Reise überredet hatte, und ich glaubte nicht, dass wir eine Chance hatten, ungestraft davonzukommen - nicht die Chance eines Hundes im Himmel, wie die Alten zu sagen pflegten. Doch ich versuchte auch nicht, die Sache abzublasen, was ich vielleicht noch hätte tun können; die Dinge würden uns erst dann endgültig aus den Händen gleiten, wenn wir bei Moores' Haus auftauchten. Etwas - ich nehme an, es waren vielleicht nur die Wellen der Verzückung, die von dem Giganten neben mir ausgingen - hielt mich davon ab, auf das Dach des Führerhauses zu hämmern und Harry aufzufordern, zu wenden und zum Gefängnis zurückzufahren, solange wir das noch konnten. Das war meine Gemütsverfassung, als wir vom Highway auf die Landstraße 5 und von dort auf die Chimney Ridge Road abbogen. Eine Viertelstunde später sah ich den Umriss eines Daches die Sicht auf die Sterne verdecken, da wusste ich, dass wir am Ziel waren.
Harry schaltete vom zweiten Gang in den ersten zurück (ich glaube, er schaltete während der ganzen Fahrt nur ein einziges Mal in den höchsten Gang). Der Wagen ruckte und erbebte, als fürchte auch er sich vor dem, was vor uns lag.
Harry bog auf Moores' kiesbedeckten Zufahrtsweg und parkte den grummelnden Truck hinter dem schwarzen Buick des Direktors. Vor uns, ein wenig zu unserer Rechten, war das schmucke Haus in dem Stil, der Cape Cod genannt wird, wie ich annehme. Dieser Haustyp hätte in unserem Bergland vielleicht fehl am Platze wirken sollen, aber das war nicht der Fall.
Der Mond war aufgegangen, und sein Grinsen war an diesem Morgen ein bisschen breiter. In seinem Schein konnte ich den Vorgarten sehen, der stets so schön gepflegt war, aber jetzt vernachlässigt aussah. Hauptsächlich war es nur Laub, das nicht fortgeharkt worden war. Unter normalen Umständen wäre das Mellys Aufgabe gewesen, aber Melly war in diesem Herbst nicht in der Lage gewesen, mit einem Rechen zu hantieren, und sie würde das Laub nie wieder fallen sehen. Das war die Wahrheit, und ich war so verrückt gewesen, zu denken, dieser Idiot mit dem leeren Blick könnte es ändern. Vielleicht war es jedoch noch nicht zu spät, uns selbst zu retten.
Ich tat als wollte ich aufstehen, und die Decke rutschte von meinen Schultern. Ich könnte mich
vorneigen, an das Fenster auf der Fahrerseite klopfen und Harry sagen, dass wir höllisch schnell
verschwinden sollten, bevor ... John Coffey packte meinen Unterarm mit seiner gewaltigen Hand und
zog mich so mühelos hinunter, wie ich es mit einem Kleinkind getan hätte. »Sehen Sie, Boss«, sagte
er und wies hin. »Jemand ist auf.«
Ich schaute in die Richtung, in die er deutete, und mir rutschte etwas in die Hose, nicht das Herz,
aber der Magen. Hinter einem der hinteren Fenster schimmerte Licht Höchstwahrscheinlich in dem
Zimmer, in dem Melinda jetzt ihre Tage und Nächte verbrachte; sie war so wenig in der Lage, Treppen
zu steigen, wie die Blätter zusammenzuharken, die während des letzten Gewitters gefallen waren. Sie
hörten natürlich den Truck - Harry Terwilligers gottverdammten Farmall, dessen Motor brüllte und
durch einen Auspuff furzte, der nicht durch einen Auspufftopf gedämpft wurde. Hölle, das
Ehepaar Moores schlief in diesen Nächten vermutlich ohnehin nicht so gut.
Ein Licht weiter vorn im Haus ging an (in der Küche), dann im Wohnzimmer, dann im Flur, dann auf
der Veranda. Ich beobachtete diese vorwärts marschierenden Lichter, wie ein Mann, der vor einer
Betonmauer steht und seine letzte Zigarette raucht das Nahen des Erschießungskommandos
beobachten mag. Aber ich wollte mir selbst da noch nicht eingestehen, dass es zu spät war, bis das
abgehackte Tuckern des Motors verstummte, Türen klappten und Kies knirschte, als Harry und Brutal
ausstiegen. John stand auf und zog mich mit hoch. Im schwachen Licht wirkte sein Gesicht lebhaft
und eifrig. Warum auch nicht? Ich erinnere mich, dass ich das dachte. Warum sollte er nicht eifrig
aussehen? Er war ein Idiot. Brutal und Harry standen Schulter an Schulter hinter dem Truck - wie
Jungen in einem Gewitter, und ich sah, dass beide so ängstlich, verwirrt und nervös aussahen, wie ich
mich fühlte. Dadurch fühlte ich mich noch schlimmer.
John stieg vom Truck. Für ihn war das mehr ein Schritt als ein Sprung. Ich folgte ihm, steifbeinig und
unglücklich. Ich wäre auf den kalten Kies gefallen, wenn Coffey mich nicht am Arm gepackt hätte.
»Dies ist ein Fehler«, sagte Brutal. Seine Augen waren sehr groß und spiegelten Angst wider.
»Allmächtiger, Paul, was haben wir uns dabei gedacht?«
»Zu spät jetzt«, sagte ich. Ich stieß Coffey an der Hüfte an, und er ging gehorsam zu Harry und blieb
neben ihm stehen. Dann schnappte ich mir Brutal am Ellenbogen, als wären wir ein Paar, das sich
verabredet hatte, und wir gingen zur Veranda, auf der jetzt die Lampe brannte.
»Überlass mir das Reden. Verstanden?«
»Ja«, sagte Brutal. »Das ist im Augenblick das einzige, was ich verstehe.« Ich blickte über die
Schulter. »Harry, bleib mit ihm beim Truck bis ich dich rufe. Ich will nicht, dass Moores ihn sieht,
bevor ich fertig bin.« Ich würde jedoch niemals fertig werden. Das wusste ich jetzt.
Brutal und ich hatten gerade den Fuß der Veranda erreicht, als die Tür so hart aufgerissen wurde,
dass der Türklopfer aus Messing gegen die Platte schlug. Dort stand Hal Moores in blauer Pyjamahose
und einem TShirt. Sein graues Haar stand wirr vom Kopf ab. Er war ein Mann, der sich in seiner
Laufbahn Tausende Feinde gemacht hatte, und das wusste er. In seiner rechten Hand hielt er den
Revolver, der immer über dem Kamin hing und dessen abnorm langer Lauf jetzt nicht ganz auf den
Boden zeigte. Es war die Art Waffe, die als Ned Buntline Special bekannt ist. Sie hatte seinem
Großvater gehört, und jetzt (ich sah es, und mir rutschte wieder etwas in die Hose) war sie voll
gespannt.
»Wer, zur Hölle, ist das um halb drei am Morgen?« fragte er. Ich hörte keinerlei Furcht in seiner
Stimme. Und sein Zittern hatte aufgehört - jedenfalls vorübergehend. Die Hand mit der Waffe war
völlig ruhig. »Antwortet, oder ...« Er hob die Waffe an.
»Stop, Direktor!« Brutal hob die Hände mit den Handflächen nach vorn zu dem Mann mit der Waffe
hin. Ich hatte seine Stimme noch niemals so gehört wie in diesem Augenblick; es war, als ob das
Zittern von Moores' Händen irgendwie einen Weg in Brutus Howells Kehle gefunden hatte.
»Wir sind es! Paul und ich und ... Wir sind es!«
Er trat auf die erste Stufe der Verandatreppe, damit der Lichtschein auf sein Gesicht fallen konnte. Ich
folgte ihm. Hal Moores blickte zwischen uns hin und her, und seine wütende Entschlossenheit ging in
Verwirrung über. »Was macht ihr denn hier?« fragte er. »Es ist nicht nur mitten in der Nacht, sondern
ihr Jungs habt auch Dienst. Ich weiß das, ich habe den Dienstplan in meinem Arbeitszimmer
aufgehängt. Also was, im Namen Gottes ... O verdammt ist etwas passiert? Ein Aufruhr?« Er schaute
zwischen uns hin und her, und sein Blick wurde schärfer.
»Wer sonst noch ist dort bei diesem Lastwagen?«
Überlass mir das Reden. So hatte ich Brutal angewiesen, aber jetzt war der Zeitpunkt des Redens da,
und ich brachte kein Wort heraus. Auf dem Weg zur Arbeit an diesem Nachmittag hatte ich mir
sorgfältig zurechtgelegt, was ich hier sagen würde, und hatte gedacht, dass es nicht zu verrückt
klang. Nicht normal - nichts bei dieser Sache war normal -, aber vielleicht nahe genug an der
Normalität, dass er uns ins Haus ließ und uns eine Chance gab. Dass er John eine Chance gab. Aber
jetzt waren alle meine sorgfältig geübten Worte in der Verwirrung verloren gegangen.
Gedanken und Bilder wirbelten durch meinen Kopf wie Sand in einer Sandhose - der brennende Del,
die sterbende Maus, Toot, der auf Old Sparkys Schoß ruckte und schrie, dass er ein gerösteter
Truthahn sei. Ich glaube, dass es Gutes auf der Welt gibt, dass auf die eine oder andere Weise alles
von einem liebenden Gott kommt Aber ich glaube, es gibt ebenso eine andere Kraft, die genauso real
wie der Gott ist, zu dem ich mein ganzes Leben gebetet habe, und dass sie bewusst daran arbeitet, all
unsere anständigen Impulse zu ruinieren. Nicht Satan, ich meine nicht Satan (obwohl ich glaube, dass
der ebenfalls real ist), sondern eine Art Dämon der Zwietracht, ein zu Streichen aufgelegtes und
blödes Ding, das schadenfroh lacht, wenn sich ein alter Mann selbst in Brand steckt bei dem Versuch,
seine Pfeife anzuzünden, oder wenn ein geliebtes Baby das erste Weihnachtsspielzeug in den Mund
steckt und daran erstickt. Ich habe viele Jahre darüber nachgedacht, auf dem ganzen Weg von Gold
Mountain nach Georgia Pines, und ich glaube, diese Kraft war aktiv am Werk bei uns an diesem
Morgen, waberte überall wie Nebel herum und versuchte, John Coffey von Melinda Moores
fernzuhalten.
»Direktor ... Hal ... ich ...« Nichts, was ich versuchte, ergab irgendeinen Sinn. Er hob wieder die Waffe
und zielte zwischen mir und Brutal hindurch, ohne zuzuhören. Seine blutunterlaufenen Augen waren
jetzt weit aufgerissen. Und da kam Harry Terwilliger, mehr oder weniger gezogen von unserem
großen Jungen, der sein breites, dämliches, entzückendes Lächeln zeigte.
»Coffey«, keuchte Moores. »John Coffey.« Er holte Luft und brüllte mit einer Stimme, die quäkend,
jedoch fest klang: »Halt! Stehenbleiben, oder ich schieße!«
Irgendwo hinter ihm ertönte eine schwache und zittrige Frauenstimme: »Hal? Was machst du da
draußen? Mit wem sprichst du, du verdammter Arschficker?«
Er blickte kurz in ihre Richtung, und seine Miene spiegelte Bestürzung und Verzweiflung
wider. Er war nur kurz abgelenkt, wie ich schon sagte, aber es hätte lange genug für mich sein sollen,
um ihm die langläufige Waffe aus der Hand zu reißen. Aber ich konnte meine Hände nicht heben. Es
war, als wären schwere Gewichte daran gebunden. Mein Kopf schien voller atmosphärischer
Störungen zu sein wie ein Radio, das während eines Gewitters sendet Die einzigen Gefühle, an die ich
mich erinnere, waren Furcht und so etwas wie Mitleid mit Hal, dem die Worte seiner Frau peinlich
waren.
Harry und John Coffey erreichten den Fuß der Veranda. Moores wandte den Kopf vom Klang der
Stimme seiner Frau fort und hob wieder den Revolver. Er sagte später, dass er fest entschlossen
gewesen war, Coffey zu erschießen; er argwöhnte, dass wir alle Geiseln waren und der Kopf, der
hinter unserer Entführung steckte, beim Truck in der Dunkelheit lauerte. Er verstand nicht warum man
uns zu seinem Haus gebracht hatte, aber Rache war anscheinend die wahrscheinlichste Möglichkeit.
Bevor er schießen konnte, trat Harry Terwilliger vor Coffey und schirmte das meiste von seinem
Körper ab.
Coffey hatte ihn nicht dazu aufgefordert; Harry tat es aus eigenem Antrieb.
»Nein, Direktor Moores!« sagte er. »Es ist alles in Ordnung! Keiner ist bewaffnet, keinem wird etwas
passieren, wir sind hier, um zu helfen!«
»Helfen?« Moores' buschige Brauen zogen sich zusammen. Seine Augen glühten vor Zorn. Ich konnte
den Blick nicht von dem gespannten Hammer des Buntline nehmen. »Wobei helfen? Wem helfen?«
Wie als Antwort ertönte wieder die zitternde alte Frauenstimme, quengelig und bestimmt und ohne
jegliches Schamgefühl: »Komm her und fick mein Loch, du Hurensohn! Bring deine Arschloch-Freunde
mit! Sie sollen sich alle abwechseln!«
Ich schaute erschüttert zu Brutal. Ich hatte gewusst, dass sie fluchte - dass der Tumor sie irgendwie
dazu brachte -, aber das war mehr als Fluchen. Viel mehr.
»Was treibt ihr hier?« fragte Moores von neuem. Viel von seiner Entschlossenheit war verschwunden -
die zittrigen Rufe seiner Frau hatten das bewirkt »Ich verstehe das nicht. Ist das ein Ausbruch oder...«
John stellte Harry beiseite - er hob ihn einfach an und stellte ihn wieder ab - und stieg dann auf die
Veranda. Er blieb zwischen Brutal und mir stehen, so groß, dass er uns fast beiseite und in Mellys
Stechpalmen schubste. Moores' Blick folgte ihm, wie jemand hochschielt wenn er versucht, den Wipfel
eines hohen Baums zu sehen. Und plötzlich verstand ich.
Dieser Geist der Zwietracht, der meine Gedanken durcheinander gebracht hatte wie mächtige Hände,
die Sand oder Maiskörner verstreuen, war verschwunden. Ich glaubte auch zu verstehen, warum.
Harry hatte handeln können, während Brutal und ich nur hoffnungslos und unentschlossen vor
unserem Boss gestanden hatten. Harry war bei John gewesen ..., und welcher Geist es auch immer ist
der den anderen, dämonischen bekämpft, er war in dieser Nacht in John. Und als John Direktor
Moores entgegentrat, war es dieser andere Geist - etwas Weißes, so sehe ich das, etwas Weißes -,
der die Lage in den Griff bekam. Das andere Ding verzog sich nicht aber ich spürte, dass es sich
zurückzog wie ein Schatten in einem plötzlich starken Licht.
»Ich möchte helfen«, sagte John Coffey. Moores schaute zu ihm auf, fasziniert offenen Mundes. Ich
bezweifle, dass Hal es überhaupt mitbekam, als Coffey ihm den Buntline Special aus der Hand nahm
und mir übergab. Ich senkte vorsichtig den Hammer.
Später überprüfte ich die Trommel und stellte fest, dass sie die ganze Zeit leer gewesen war.
Manchmal frage ich mich, ob Hal das gewusst hat. Unterdessen murmelte John immer noch: »Ich bin
gekommen, um ihr zu helfen. Nur um zu helfen. Das ist alles, was ich möchte.«
»Hal!« schrie Melinda aus dem Schlafzimmer. Ihre Stimme klang jetzt etwas fester, aber auch
ängstlich, als hätte sich das Ding, das uns so verwirrt und entmutigt hatte, jetzt zu ihr zurückgezogen.
»Schick sie weg, wer immer sie sind! Wir brauchen keine Vertreter mitten in der Nacht! Kein
Elektrolux! Kein Hoover! Keine französischen Schlüpfer mit Schlitz zwischen den Beinen. Sie sollen
verschwinden. Sag ihnen, sie sollen sich verpissen, diese ... diese ...« Etwas zerklirrte - es kann ein
Wasserglas gewesen sein -, und dann begann sie zu schluchzen.
»Ich will nur helfen«, sagte John Coffey so leise, dass es kaum mehr als ein Flüstern war. Er ignorierte
das Schluchzen der Frau und ihre vulgäre Sprache gleichermaßen. »Nur helfen, Boss, das ist alles.«
»Das kannst du nicht«, sagte Moores. »Keiner kann das.« Es war ein Tonfall, den ich schon gehört
hatte, und nach einer Weile wurde mir klar, wie ich geklungen hatte, als ich in Coffeys Zelle
gegangen war, in jener Nacht, in der er meine Blaseninfektion geheilt hatte.
Hypnotisiert Kummer du dich um deine Angelegenheiten, und ich kümmere mich um meine, hatte ich
zu Delacroix gesagt..., aber es war Coffey gewesen, der sich um meine Angelegenheiten gekümmert
hatte, wie er sich jetzt um die von Hal Moores kümmerte.
»Wir denken, er kann das«, sagte Brutal. »Und wir haben unsere Jobs - plus vielleicht eine Weile im
Knast - nicht riskiert, nur um herzufahren und wieder zurückzukehren, ohne es wenigstens versucht
zu haben.«
Dazu war ich vor drei Minuten bereit gewesen. Brutal ebenfalls.
John Coffey nahm uns das Spiel aus den Händen. Er schob sich an Moores vorbei, der kraftlos eine
Hand hob, um ihn aufzuhalten (sie wischte über Coffeys Hüfte und sank hinab; ich bin überzeugt,
dass der Riese es nicht einmal spürte), ging ins Haus und schlurfte durch die Halle, vorbei am
Wohnzimmer, der Küche und zum Schlafzimmer jenseits davon, in dem diese schrille, nicht
wieder zu erkennende Stimme ertönte: »Bleib draußen! Wer auch immer du bist, bleib draußen! Ich
bin nicht angezogen, meine Titten sind frei, und über meine Möse streicht der Wind!«
John ignorierte sie, ging einfach unerschütterlich weiter, den Kopf gesenkt, damit er keine Lampen
rammte. Sein runder, brauner Schädel glänzte, und seine Hände schwangen an den Seiten. Nach
einem Moment folgten wir ihm, ich zuerst, Brutal und Hal Seite an Seite und Harry am Schluss. Eines
war mir sonnenklar: Es war alles nicht mehr in unseren Händen, sondern in denen von John.
8
Die Frau im hinteren Schlafzimmer, die im Bett saß, sich gegen das Kopfbrett lehnte und den Riesen, der in ihr vernebeltes Blickfeld getreten war, mit glasigen Augen anstarrte, sah überhaupt nicht aus wie die Melly Moores, die ich seit zwanzig Jahren kannte; sie sah auch nicht aus wie die Melly Moores, die Janice und ich kurz vor Delacroix' Hinrichtung besucht hatten. Die Frau, die im Bett saß, sah wie ein krankes Kind aus, das als Halloween-Hexe herausgeputzt war. Ihre totenbleiche Haut war ein hängender Teig von Runzeln. Sie war um das rechte Auge verzogen, als versuche sie zu zwinkern. Dieselbe Seite ihres Mundes verzog sich nach unten; ein alter gelber Eckzahn ragte über ihre blutleere Unterlippe. Das Haar lag wie ein wilder dünner Nebel um ihren Schädel. Das Zimmer stank nach dem Stoff, den unsere Körper mit Schicklichkeit ausscheiden, wenn die Dinge richtig verlaufen. Das Nachtgeschirr bei ihrem Bett war halbvoll mit gelblichem, schmierigem Zeug. Jetzt sind wir auch noch zu spät gekommen, dachte ich entsetzt. Es war nur eine Sache von Tagen gewesen, seit sie zu erkennen gewesen war - krank aber noch sie selbst. Seither musste sich das Ding in ihrem Kopf mit erschreckender Schnelligkeit vergrößert haben, um seine Position zu stärken. Ich bezweifelte, dass John Coffey ihr jetzt noch helfen konnte.
Bei Coffeys Eintreten spiegelte ihr Gesicht Furcht und Entsetzen wider - als ob irgend etwas in ihr einen Arzt erkannte, der an es herankommen und es herausholen konnte ... oder es mit Salz bestreuen konnte, wie man es mit einem Blutegel macht, damit sich seine Saugnäpfe lösen. Hören Sie mir genau zu: Ich sage nicht, dass Melly Moores besessen war, und mir ist bewusst, dass all meine Wahrnehmungen in dieser Nacht zweifelhaft sein müssen, weil ich so aufgeregt und durcheinander war. Aber ich habe auch nie völlig die Möglichkeit ausgeschlossen, dass sie von einem Dämon besessen war. Da war etwas in ihren Augen, sage ich Ihnen, das wie Furcht aussah. In diesem Punkt können Sie mir vertrauen, das ist eine Gefühlsregung, die ich zu oft gesehen habe, um mich zu irren.
Was auch immer es war, es verschwand schnell und wurde ersetzt durch einen Ausdruck von lebhaftem, irrationalem Interesse. Dieser entsetzliche Mund zitterte und zeigte etwas, das vielleicht ein Lächeln war.
»Oh, so groß!« rief sie. Sie klang wie ein kleines Mädchen, das gerade an einer schlimmen Halsentzündung erkrankt war. Sie zog ihre Hände - so schwammigweiß wie ihr Gesicht - unter der Bettdecke hervor und klatschte sie zusammen. »Lass die Hosen runter! Ich habe mein Leben lang von Nigger-Pimmeln gehört, aber noch nie einen gesehen!« Hinter mir stieß Moores ein leises Stöhnen voller Verzweiflung aus.
John Coffey schenkte alldem keine Aufmerksamkeit. Nachdem er einen Moment lang still dagestanden hatte, wie um sie aus der Nähe zu beobachten, ging er zum Bett, das von einer einzelnen Nachttischlampe erhellt war. Die Lampe warf einen hellen Lichtkreis auf die weiße Tagesdecke, die bis zur Halskrause ihres Nachthemds hochgezogen war. Jenseits des Bettes, im Schatten, sah ich die Chaiselongue, die eigentlich ins Wohnzimmer gehörte. Ein Teppich, ein Afghane, den Melly in glücklicheren Tagen selbst gewebt hatte, lag halb auf der Chaiselongue und halb auf dem Boden. Hier hatte Hal geschlafen - wenigstens gedöst -, als wir eingetroffen waren. Als John sich ihr näherte, veränderte sich Mellys Miene ein drittes Mal. Plötzlich sah ich wieder die Melly, deren Freundlichkeit mir im Laufe der Jahre so viel bedeutet hatte und Janice sogar noch mehr, nachdem die Kinder aus dem Nest ausgeflogen waren und sie sich einsam und nutzlos und traurig gefühlt hatte. Melly schaute immer noch interessiert, aber jetzt wirkte ihr Interesse gesund, und sie wusste, was sie sagte.
»Wer sind Sie?« fragte sie mit klarer Stimme. »Und warum haben Sie so viele Narben auf den Händen und Armen? Wer hat Sie so schlimm verletzt?«
»Ich erinnere mich kaum, woher all die Narben kommen, Ma'am«, sagte John Coffey in demütigem Tonfall und setzte sich neben ihr aufs Bett.
Melinda lächelte, so gut sie konnte - die nach unten verzogene rechte Seite ihres Mundes bebte, kam jedoch nicht ganz hoch. Sie berührte eine weiße Narbe auf seinem linken Handrücken, die wie ein Krummsäbel gebogen war. »Welch ein Segen das ist! Verstehen Sie, warum?« »Ich nehme an, wenn man nicht weiß, wer einen verletzt oder verfolgt hat, dann liegt man des Nachts nicht wach«, sagte John Coffey in seiner Beinahe-Südstaatenstimme.
Sie lachte darüber, und das Lachen klang silberhell in dem stinkenden Krankenzimmer. Hal war jetzt neben mir. Er atmete schnell, versuchte jedoch nicht zu stören. Als Melly lachte, stockte ihm für einen Moment der Atem, und er packte mich mit einer seiner großen Hände an der Schulter. Er drückte hart genug zu, um einen blauen Flecken zu hinterlassen - ich sah ihn am nächsten Tag -, aber in diesem Augenblick spürte ich es kaum. »Wie heißen Sie?« fragte Melinda. »John Coffey, Ma'am.« »Wie das Getränk?« »Ja, Ma'am, nur anders geschrieben.«
Sie legte sich zurück auf ihre Kissen, aufgerichtet, aber nicht ganz sitzend, und sah ihn an. Er saß neben ihr, schaute sie ebenfalls an, und der Lichtkreis der Lampe kreiste sie ein wie Schauspieler auf einer Bühne - der ungeschlachte schwarze Koloss im Gefängnisoverall und die kleine, sterbende weiße Frau. Sie starrte mit leuchtender Faszination in Johns Augen. »Ma'am?«
»Ja, John Coffey?« Die Worte waren gehaucht und wehten kaum zu uns durch die übel riechende Luft. Ich spürte, wie sich die Muskeln an meinen Armen und Beinen und am Rücken spannten. Irgendwo, weit entfernt, spürte ich, dass der Gefängnisdirektor meinen Arm drückte, und aus dem Augenwinkel sah ich, dass Harry und Brutal die Arme umeinander gelegt hatten wie kleine Jungen, die sich in der Nacht verirrt hatten. Etwas würde geschehen. Etwas Großes. Wir spürten es jeder auf seine Weise.
John Coffey neigte sich näher zu ihr. Die Bettfedern knarrten, das Bettzeug raschelte, und der kalt lächelnde Mond spähte durch die obere Scheibe des Schlafzimmerfensters. Coffey musterte mit blutunterlaufenen Augen Melinda Moores' eingefallenes Gesicht, das zu ihm aufblickte. »Ich sehe es«, sagte er. Er sprach nicht zu ihr - das glaube ich jedenfalls -, sondern zu sich selbst »Ich sehe es, und ich kann helfen. Halt still... Halt ganz still...«
Er neigte sich näher zu ihr und noch näher. Für einen Moment verharrte sein großes Gesicht dicht vor ihr. Er hob eine Hand mit gespreizten Fingern, wie um jemandem zu sagen, dass er warten sollte ... nur warten ..., und dann senkte er wieder sein Gesicht. Seine breiten, weichen Lippen pressten sich auf ihre und zwangen sie auf. Einen Moment lang konnte ich eines ihrer Augen sehen, das an Coffey vorbei emporstarrte. Das Auge spiegelte einen Ausdruck wider, der anscheinend Überraschung war. Dann verdeckte sein glatter, kahler Kopf die Sicht auf das Auge.
Es gab ein leises pfeifendes Geräusch, als er die Luft einsog, die tief in ihrer Lunge war. Das war alles für ein, zwei Sekunden, und dann bewegte sich der Boden unter uns und das ganze Haus um uns.
Ich bildete mir das nicht ein; sie alle spürten es, sie alle sagten es später. Es war eine Art
wellenartiges, dumpfes Grollen. Etwas Schweres krachte im Wohnzimmer zu Boden - die Standuhr,
wie sich nachher herausstellte. Hal Moores versuchte, sie reparieren zu lassen, doch sie ging nie
länger als eine Viertelstunde an einem Stück.
Näher bei uns knallte es, gefolgt von Klirren, als die Glasscheibe zerbarst, durch die der Mond gespäht
hatte. Ein Bild an der Wand - ein Segelschiff auf einem der sieben Meere - fiel vom Haken und
klatschte zu Boden, wobei das Glas zerklirrte.
Ich roch etwas Heißes und sah Rauch am Ende der weißen Tagesdecke aufsteigen, die auf Melindas
Bett lag. Ein Stück der Decke unten bei ihrem zitternden rechten Fuß wurde schwarz. Ich fühlte mich
wie in einem Traum. Ich riss mich von Moores' Hand los und trat zum Nachttisch. Darauf stand ein
Glas Wasser, umgeben von drei oder vier Pillenfläschchen, die bei der Erschütterung umgefallen
waren. Ich nahm das Glas und schüttete das Wasser auf die rauchende Stelle. Es zischte.
John Coffey küsste sie weiterhin auf diese tiefe und intime Weise, atmete ein, immer wieder. Eine
Hand hatte er immer noch erhoben und ausgestreckt, und mit der anderen stützte er auf dem Bett
sein enormes Gewicht. Die Finger waren gespreizt, und die Hand wirkte auf mich wie ein brauner
Seestern.
Plötzlich krümmte sich ihr Rücken. Eine ihrer Hände drosch durch die Luft, die Finger ballten und
lösten sich in einer Reihe von Krämpfen. Ihre Füße trommelten gegen das Bett. Dann schrie etwas.
Das war wiederum nicht meine Phantasie; die anderen Männer hörten es ebenso. Für Brutal klang es
wie das Heulen eines Wolfs oder Kojoten, der mit einem Bein in einer Falle gefangen ist. Für mich
klang es wie der Schrei eines Adlers, wie man ihn damals an stillen Morgen hören konnte, wenn sie
mit ausgebreiteten Schwingen durch dunstige Täler herabschwebten.
Draußen ließ eine Sturmbö das Haus zum zweiten Mal erzittern - und das war merkwürdig,
wissen Sie, denn bis dahin hatte es überhaupt keinen Sturm gegeben, nicht mal nennenswerten Wind.
John Coffey zog sich von ihr zurück, und ich sah, dass ihr Gesicht entspannt war. Die rechte Seite
ihres Mundes hing nicht mehr hinab. Die Augen hatten wieder die normale Form, und sie wirkte zehn
Jahre jünger. Er betrachtete sie sekundenlang hingerissen, und dann begann er zu husten. Er wandte
den Kopf zur Seite, damit er ihr nicht ins Gesicht hustete, verlor das Gleichgewicht (was leicht zu
verstehen war; so groß und schwer, wie er war, hatte er nur mit einer Backe auf der Bettkante
gesessen) und ging zu Boden. Es gab genug von ihm, um das Haus ein drittes Mal erbeben zu lassen.
Er landete auf den Knien und hustete mit gesenktem Kopf wie ein Mann im letzten Stadium von
Tuberkulose.
Ich dachte: Jetzt die Insekten. Er wird sie aushusten, und wie viele werden das diesmal sein!
Aber das tat er nicht. Er hustete nur weiter; es war ein würgendes Bellen, und er fand zwischen den
Hustenanfällen kaum Zeit für den nächsten Atemzug.
Seine schokoladenbraune Haut wurde grau. Alarmiert ging Brutal zu ihm, ließ sich neben ihm auf ein
Knie sinken und legte einen Arm um seinen breiten, zuckenden Rücken. Als ob Brutals Bewegung den
Bann gebrochen hätte, ging Moores zum Bett seiner Frau und setzte sich dorthin, wo Coffey gesessen
hatte. Er nahm die Anwesenheit des hustenden, würgenden Riesen anscheinend überhaupt nicht
wahr. Obwohl Coffey zu seinen Füßen kniete, hatte Moores nur Augen für seine Frau, die ihn mit
klaren Augen erstaunt anschaute. Sie anzuschauen war, wie in einen Spiegel zu sehen, der zuvor
verschmutzt und jetzt saubergewischt war.
»John!« rief Brutal. »Stoß es aus! Stoß es aus, wie du es schon mal getan hast!«
John bellte weiter diesen würgenden Husten. Seine Augen waren feucht, doch nicht von Tränen,
sondern von der Anstrengung. Speichel flog in feinem Spray von seinem Mund, aber sonst kam nichts
heraus.
Brutal schlug ihm ein paar Mal auf den Rücken und blickte dann über die Schulter zu mir. »Er erstickt!
Was auch immer er aus ihr herausgesaugt hat, er erstickt daran!«
Ich eilte zu ihm. Bevor ich zwei Schritte zurückgelegt hatte, rutschte John auf den Knien von mir fort
in die Ecke des Schlafzimmers, und er hustete immer noch entsetzlich und rang um jeden Atemzug. Er
lehnte die Stirn gegen die Tapete - wilde rote Rosen, die sich an einer Gartenmauer hochrankten -
und stieß einen grauenhaften, tiefen Laut aus, als versuche er, seine eigene Kehle zu erbrechen. Ich
erinnere mich, dass ich dachte, das wird die Insekten herausbringen, wenn irgend etwas das
überhaupt bewirken kann, doch es gab nichts zu sehen. Aber sein Hustenanfall beruhigte sich
anscheinend ein bisschen.
»Alles in Ordnung, Boss«, sagte er, immer noch mit der Stirn an der Tapete mit den wilden Rosen.
Seine Augen blieben geschlossen. Ich bin mir nicht sicher, woher er wusste, dass ich da war, aber er
wusste es eindeutig. »Ehrlich, es ist alles in Ordnung mit mir. Kümmern Sie sich um die Lady.«
Ich blickte ihn zweifelnd an und wandte mich dann zum Bett. Hal streichelte Melly über die Stirn, und
ich sah darüber etwas Erstaunliches:
Etwas von dem Haar - nicht sehr viel, aber etwas - war wieder schwarz geworden.
»Was ist geschehen?« fragte Melinda ihren Mann. Während ich sie anschaute, bekamen ihre Wangen
eine rötliche Farbe. Es war, als hätte sie ein Paar Rosen aus der Tapete gestohlen. »Wie komme ich
hierher? Wir wollten doch rauf zum Krankenhaus in Indianola, nicht wahr? Ein Arzt wollte
Röntgenstrahlen in meinen Kopf schießen und Bilder von meinem Gehirn machen.«
»Pst«, sagte Hal. »Pst, Liebste, das ist alles nicht mehr wichtig.«
»Aber ich verstehe das nicht!« Sie klang fast weinerlich. »Wir haben an einem Blumenstand an der
Straße angehalten, du hast mir einen Strauß Mohnblumen gekauft... und dann ... bin ich hier. Es ist
dunkel! Hast du zu Abend gegessen, Hal? Warum bin ich im Gästezimmer? Bin ich geröntgt worden?«
Ihr Blick schweifte über Harry hinweg, fast ohne ihn wahrzunehmen - das war der Schock, nehme ich
an -, und heftete sich auf mich. »Paul? Bin ich geröntgt worden?«
»Ja«, sagte ich. »Alles in Ordnung.«
»Haben sie keinen Tumor gefunden?«
»Nein, sie haben keinen gefunden«, sagte ich. »Sie sagen, die Kopfschmerzen werden jetzt
wahrscheinlich aufhören.«
Neben ihr brach Hal in Tränen aus.
Sie neigte sich vor und küsste seine Schläfe. Dann schweifte ihr Blick in die Ecke. »Wer ist dieser
Neger? Warum ist er in der Ecke?«
Ich wandte den Kopf und sah, dass John versuchte, auf die Füße zu kommen. Brutal half ihm, und
John schaffte es mit einem letzten Ruck. Er stand mit dem Gesicht zur Wand wie ein Kind, das böse
gewesen war. Er hustete immer noch krampfhaft, aber die Krämpfe schienen sich
abgeschwächt zu haben.
»John«, sagte ich. »Dreh dich um, großer Junge, und sieh dir diese Lady an.«
Er wandte sich langsam um. Sein Gesicht hatte immer noch die Farbe von Asche, und er wirkte zehn
Jahre älter, wie ein einst kräftiger Mann, der schließlich einen langen Kampf gegen die Schwindsucht
verloren hat. Johns Blick war auf seine Gefängnispantoffeln gesenkt, und er wirkte, als wünschte er
sich einen Hut, den er in den Händen drehen könnte.
»Wer sind Sie?« fragte Melinda. »Wie heißen Sie?«
»John Coffey, Ma'am«, antwortete er, worauf sie sofort erwiderte: »Aber anders geschrieben als das
Getränk«
Hal schreckte neben ihr zusammen. Sie spürte es und tätschelte beruhigend seine Hand, ohne den
Blick von dem schwarzen Mann zu nehmen.
»Ich habe von Ihnen geträumt«, sagte sie mit leiser, erstaunt klingender Stimme. »Ich träumte, Sie
wanderten in der Dunkelheit, und ich ebenfalls. Und wir fanden einander.«
John Coffey sagte nichts.
»Wir fanden einander in der Dunkelheit«, sagte sie. »Steh auf, Hal, du quetschst mich hier fest«
Hal erhob sich und beobachtete ungläubig, wie sie die Tagesdecke zur Seite schlug.
»Melly, du kannst nicht...«
»Sei nicht albern«, sagte sie und schwang die Beine aus dem Bett »Selbstverständlich kann ich.«
Sie strich ihr Nachthemd glatt, reckte sich und stand auf.
»Mein Gott«, wisperte Hal. »Lieber Gott im Himmel, sieh dir das an.«
Sie ging zu John Coffey. Brutal trat etwas zur Seite, von Ehrfurcht ergriffen. Sie humpelte beim ersten
Schritt, beim zweiten zog sie das rechte Bein nur etwas nach, und dann war selbst dieses leichte
Hinken verschwunden. Ich erinnerte mich, wie Brutal die bunte Spule an Delacroix gegeben und
gesagt hatte: »Wirf sie - ich will sehen, wie die Maus laufen kann.« Mr. Jingles hatte zu diesem
Zeitpunkt noch gehumpelt, aber in der nächsten Nacht in der Nacht, in der Del über die Green Mile
zum elektrischen Stuhl ging, war wieder alles mit ihm in Ordnung gewesen.
Melly umarmte John. Coffey stand einen Moment lang da, ließ sich umarmen, und dann hob er
langsam eine Hand und streichelte über ihren Kopf.
Das tat er mit unendlicher Sanftheit. Sein Gesicht war immer noch grau. Ich fand, er sah schrecklich
krank aus.
Sie trat von ihm fort, schaute zu ihm auf und sagte: »Danke.«
»Gern geschehen, Ma'am.«
Sie wandte sich Hal zu und ging zu ihm zurück Er legte den Arm um sie.
»Paul ...« Das war Harry. Er tippte auf seine Armbanduhr. Es ging auf drei Uhr zu. Um halb fünf
würde es hell werden. Wenn wir vorher Coffey nach Cold Mountain zurückbringen wollten, mussten
wir bald aufbrechen. Und ich wollte ihn zurückbringen. Teils natürlich, weil unsere Chancen,
ungestraft davonzukommen, schlechter wurden, je länger das hier dauerte. Aber ich wollte John auch
an einem Ort haben, wo ich legitim einen Arzt für ihn rufen konnte, wenn es nötig war.
Bei seinem Anblick war es vielleicht nötig.
Das Ehepaar Moores saß Arm in Arm auf der Bettkante. Ich spielte mit dem Gedanken, Hal auf ein
privates Wort ins Wohnzimmer zu bitten, doch dann wurde mir klar, dass ich ihn bitten konnte, bis die
Kühe heimkamen, und er trotzdem nicht von der Stelle weichen würde.
Er war vielleicht in der Lage, den Blick von ihr zu nehmen - jedenfalls für ein paar Sekunden -, wenn
die Sonne aufging, aber nicht jetzt.
»Hal«, sagte ich. »Wir müssen jetzt fahren.«
Er nickte, ohne mich anzusehen. Er war in die Betrachtung der Farbe ihrer Wangen, der natürlichen,
unverzerrten Linie ihrer Lippen und des neuen schwarzen Haars vertieft.
Ich klopfte ihm auf die Schulter, hart genug, um wenigstens für einen Moment seine Aufmerksamkeit
zu erhalten.
»Hal, wir waren niemals hier.«
»Was ... ?«
»Wir waren niemals hier«, wiederholte ich. »Wir werden später miteinander reden, aber im Augenblick
ist das alles, was Sie wissen müssen. Wir waren nie hier.«
»Ja, in Ordnung ....« Er zwang sich, mich kurz anzusehen, aber es kostete ihn Mühe, den Blick von
seiner Frau loszureißen. »Ihr habt ihn rausgebracht. Könnt ihr ihn auch wieder reinbringen?«
»Ich glaube ja. Vielleicht. Aber wir müssen fahren.«
»Woher wussten Sie, dass er das tun kann, Paul?« Dann schüttelte er den Kopf, als ihm klar wurde,
dass dies nicht der richtige Zeitpunkt zum Reden war. »Paul... danke.«
»Danken Sie nicht mir«, sagte ich. »Danken Sie John.«
Er schaute zu John Coffey und streckte ihm die Hand hin - genau wie ich es an dem Tag getan hatte,
an dem Harry und Percy ihn in den Block gebracht hatten. »Danke. Vielen Dank«
John sah auf die Hand. Brutal stieß ihm nicht sehr feinfühlig den Ellenbogen in die Seite. John zuckte
zusammen, ergriff die Hand und schüttelte sie. Auf und ab, wieder zur Mitte, loslassen, »Keine
Ursache«, sagte er mit heiserer Stimme. Die Stimme klang für mich wie vorhin die von Melly, als sie in
die Hände geklatscht und John aufgefordert hatte, die Hosen runterzulassen. »Keine Ursache«, sagte
John und schüttelte dem Mann die Hand, der beim normalen Ablauf der Dinge mit dieser Hand John
Coffeys Hinrichtungsbefehl unterzeichnen würde.
Harry tippte wieder demonstrativ auf seine Armbanduhr, diesmal noch drängender.
»Brutus?« sagte ich. »Bereit?«
»Hallo, Brutus«, sagte Melinda fröhlich, als bemerke sie ihn zum ersten Mal. »Schön, Sie zu sehen.
Möchten die Gentlemen einen Tee? Möchtest du Tee, Hal? Ich kann welchen machen.« Sie erhob sich
wieder. »Ich war krank aber jetzt fühle ich mich prima. Besser als seit Jahren.«
»Danke, Mrs. Moores, aber wir müssen jetzt gehen«, sagte Brutal.
»John muss ins Bett« Er lächelte, um zu zeigen, dass es ein Scherz war, aber sein Blick auf John war
so besorgt wie ich mich fühlte.
»Nun, wenn Sie wirklich gehen müssen ...«
»Ja, Ma'am. Komm, John Coffey.« Brutal zupfte an Johns Arm, und John ging.
»Einen Moment noch!« Melinda entzog sich Hals Hand und lief so leichtfüßig wie ein Mädchen zu
John. Sie legte die Arme um ihn und herzte ihn noch einmal. Dann griff sie an ihren Nacken und hakte
eine dünne Kette auf. An der Kette hing ein silbernes Medaillon. Sie hielt es John hin, der
verständnislos darauf schaute.
»Das ist der Heilige Christophorus«, sagte sie. »Ich möchte, dass Sie das Medaillon nehmen und
tragen, Mr. Coffey. Er wird Sie beschützen. Bitte, tragen Sie es. Für mich.«
John blickte unschlüssig zu mir, und ich schaute zu Hal, der erst die Hände ausbreitete und dann
nickte.
»Nimm es, John«, sagte ich. »Es ist ein Geschenk.« John nahm die Kette mit dem Medaillon, schlang
die Kette um seinen Stiernacken und steckte das Christophorus-Medaillon in die Tasche im Latz seines
Overalls. Das Husten hatte jetzt völlig aufgehört, aber ich fand, dass er grauer und kränker denn je
aussah. »Danke, Ma'am«, sagte er.
»Nein«, erwiderte sie. »Ich danke Ihnen, John Coffey.«
9
Ich fuhr auf der Rückfahrt mit Harry im Führerhaus, und ich war verdammt froh darüber. Die Heizung
war defekt, aber wir waren wenigstens nicht an der kalten Luft hinten auf dem Truck. Nach ungefähr
zehn Meilen entdeckte Harry eine kleine Ausweichstelle und lenkte den Truck darauf.
»Was ist los?« fragte ich. »Ist was kaputt?« Meiner Ansicht nach konnte nur dies das Problem sein;
jedes Teil von Motor und Getriebe des Farmalls klang am Rande der Erschöpfung oder als würde es
bald den Geist aufgeben.
»Nee«, sagte Harry entschuldigend. »Ich muss mal pinkeln, das ist alles.«
Es stellte sich heraus, dass wir das alle mussten - außer John. Als Brutal ihn fragte, ob er absteigen und uns beim Bewässern der Büsche helfen wollte, schüttelte er nur den Kopf, ohne aufzublicken. Er lehnte an der Rückseite des Führerhauses und hatte sich eine der Decken über die Schultern gehängt wie einen Umhang. Ich konnte nichts von seiner Miene sehen, aber ich hörte sein trockenes, rasselndes Atmen. Es klang wie der Wind, der durchs Stroh pfeift. Es gefiel mir nicht. Ich ging zwischen eine Gruppe Weiden, knöpfte die Hose auf und ließ das Wasser laufen. Es war noch nicht so lange her mit meiner Blaseninfektion, dass der Gedächtnisverlust meines Körpers voll eingesetzt hatte, und ich war einfach dankbar, dass ich pinkeln konnte, ohne schreien zu müssen. Ich stand dort, erleichterte meine Blase und schaute zum Mond empor. Ich nahm kaum wahr, dass Brutal neben mir stand und das gleiche tat, bis er mit leiser Stimme sagte: »Er wird nie auf Old Sparky sitzen.«
Ich schaute zu ihm, überrascht und ein wenig bestürzt über die Gewissheit in seiner Stimme. »Was meinst du damit?«
»Ich meine, er hat dieses Zeug geschluckt, anstatt es auszuspucken wie zuvor, was ja einen Grund gehabt haben muss. Es dauert vielleicht eine Woche - er ist ja groß und stark -, aber ich wette, es geht schneller. Einer von uns wird seinen Kontrollgang machen, und dann wird John tot wie ein Stein auf seiner Pritsche liegen.«
Ich hatte gedacht, ich hätte zu Ende gepinkelt, aber bei diesen Worten lief mir ein Schauer über den Rücken, und es spritzte noch etwas mehr heraus. Als ich meine Hose zuknöpfte, sagte ich mir, dass Brutals Worte einen perfekten Sinn ergaben. Und ich hoffte - alles in allem -, dass er recht hatte. John Coffey verdiente überhaupt nicht, sterben zu müssen, wenn ich mit meiner Theorie über die Detterick-Mädchen recht hatte, aber wenn er starb, dann wollte ich nicht, dass er durch meine Hand starb. Ich war mir nicht sicher, ob ich meine Hand heben konnte, wenn es soweit war. »Komm schon«, murmelte Harry aus der Dunkelheit. »Es wird spät. Lasst uns das hinter uns bringen.«
Als wir zum Truck zurückgingen, erkannte ich, dass wir John völlig allein zurückgelassen hatten -Blödheit auf dem Niveau von Percy Wetmore. Ich dachte, er würde fort sein; er hätte die Insekten ausgespuckt, als er unbewacht war, und hätte sich davongemacht wie Huck und Jim auf dem Big Muddy. Ich dachte, wir würden nur die Decke finden, die er sich um die Schultern gehängt hatte. Aber er war da, saß immer noch mit dem Rücken an das Führerhaus gelehnt und stützte die Unterarme auf die Knie. Als er unser Nahen hörte, blickte er auf und schenkte uns ein Lächeln. Das heißt, er versuchte es, die Andeutung war kurz auf seinem eingefallenen Gesicht zu sehen und verschwand dann.
»Wie geht es dir, Big John?« fragte Brutal, stieg hinten auf den Truck und nahm seine eigene Decke. »Prima, Boß«, sagte John matt »Prima.«
Brutal tätschelte Johns Knie. »Wir werden bald zurück sein. Und weißt du was? Dann sorge ich dafür, dass du einen großen Becher mit heißem Kaffee bekommst. Mit Zucker und Milch.« Und ob, dachte ich, als ich zur Beifahrerseite ging und einstieg. Wenn wir nicht festgenommen und selbst hinter Gitter gesteckt werden.
Aber ich hatte mit diesem Gedanken gelebt seit wir Percy in die Gummizelle gesperrt hatten, und deshalb beunruhigte er mich nicht genug, um mich wach zu halten. Ich döste ein und träumte vom Kalvarienberg. Donner im Westen und ein Geruch, der vielleicht von Wacholderbeeren stammte. Brutal, Harry, Dean und ich standen in Rüstungen und mit Helmen wie in einem Film von Cecil B. DeMille. Wir waren Zenturionen, nehme ich an. Da waren drei Kreuze, an denen Männer hingen. Percy Wetmore und Eduard Delacroix flankierten John Coffey. Ich schaute auf meine Hand und sah, dass ich einen blutigen Hammer hielt.
Wir müssen ihn von dort runterholen, Paul! schrie Brutal. Wir müssen ihn runterholen! Das konnten wir jedoch nicht, denn die Trittleiter war entfernt worden. Ich wollte das Brutal sagen, und dann weckte mich ein besonders starkes Rütteln des Trucks. Wir fuhren rückwärts zu der Stelle, wo Harry den Truck vor unserer Fahrt versteckt hatte, ein Tag, der schon so weit wie der Anbeginn der Zeit zurückzureichen schien.
Wir beide stiegen aus und gingen zum Heck. Brutal sprang bebende herunter, aber John Coffeys Knie gaben nach, und er stürzte fast. Wir drei fingen ihn auf, und er stand noch nicht wieder fest auf den Füßen, als er einen Hustenanfall bekam, den bisher schlimmsten. Er krümmte sich, und der stoßweise Husten wurde durch seine Hände gedämpft, die er vor den Mund presste.
Als ob er etwas zurückzuhalten versuchte. Ich dachte, dass er genau das tat. Jetzt, wenn ich nach all den Jahren an diese Nacht zurückdenke, kann ich nur den Kopf schütteln und mich verwundert fragen, wie wir so recht haben und uns gleichzeitig so sehr irren konnten. Als der Husten nachließ, tarnten wir die Schnauze des Trucks wieder mit den Kiefernzweigen und gingen auf dem Weg zurück, den wir gekommen waren. Der schlimmste Teil dieses ganzen unwirklichen Ausflugs - für mich jedenfalls - waren die letzten zweihundert Yard, auf denen wir am Highway entlang südwärts schlichen.
Ich konnte das erste schwache Licht am Himmel im Osten sehen (oder glaubte es jedenfalls), und ich
war überzeugt, dass irgendein Farmer, ein Frühaufsteher, der seine Kürbisse ernten wollte,
vorbeikommen und uns sehen würde. Und selbst wenn das nicht passierte, würden wir jemanden
rufen hören: »Stehen bleiben, keine Bewegung!« (in meiner Phantasie klang das nach Curtis
Anderson), wenn ich das Schott aufschloss, das zum Tunnel führte. Und dann würden zwei Dutzend
Wärter mit angelegten Karabinern aus dem Wald treten, und unser kleines Abenteuer würde vorüber
sein.
Als wir tatsächlich beim Schott waren, hämmerte mein Herz so heftig, dass ich bei jedem Pulsschlag
kleine weiße Pünktchen vor meinen Augen explodieren sah.
Meine Hände waren kalt und taub, und ich fummelte lange herum, um den Schlüssel ins Schloss zu
bekommen.
»O Gott, Scheinwerfer!« stöhnte Harry.
Ich blickte auf und sah helle Lichtbahnen auf der Straße. Mir fiel fast der Schlüsselbund aus der Hand;
ich schaffte es in letzter Sekunde, ihn festzuhalten.
»Gib sie mir«, sagte Brutal. »Ich mache das.«
»Nein, ich hab's schon.« Endlich rutschte der Schlüssel ins Schloss, und ich drehte ihn. Einen
Augenblick später waren wir drinnen. Wir duckten uns hinter die Stahltür und beobachteten, dass ein
Transporter der Firma Sunshine Bread am Gefängnis vorbeibrauste. Neben mir hörte ich John Coffeys
gequältes Atmen. Es klang wie ein Motor, dem das Öl fast ausgegangen ist. Er hatte auf dem Hinweg
das Tor des Tunnels mühelos geöffnet, aber diesmal baten wir ihn nicht um Hilfe; das kam nicht in
Frage. Brutal und ich bekamen die Tür auf, und Harry führte John die Treppe hinunter. Der große
Mann wankte, aber er gelangte hinunter. Brutal und ich folgten ihm, so schnell wir konnten, zogen
das Tor hinter uns zu und schlossen es ab.
»Mensch, ich glaube, wir haben es ...«, begann Brutal frohlockend, aber ich stoppte ihn, indem ich
ihm den Ellenbogen in die Rippen stieß.
»Sag es nicht«, warnte ich. »Denk es nicht mal, bis er sicher in seiner Zelle zurück ist«
»Und wir müssen an Percy denken«, sagte Harry. Wir sprachen gedämpft, doch unsere Stimmen
hallten dumpf von den Backsteinwänden des Tunnels wider. »Die Nacht ist noch nicht vorüber,
solange wir mit dem Problem Percy zu kämpfen haben.«
Wie sich herausstellte, war unsere Nacht noch längst nicht vorüber ..., und das Problem Percy
Wetmore war sowohl leichter als auch schwerer zu lösen, als wir dachten.
Coffeys Vermächtnis
1
Ich saß im Solarium von Georgia Pines, hielt den Füllfederhalter meines Vaters in der Hand und vergaß die Zeit, während ich mir die Nacht in Erinnerung rief, in der Harry, Brutal und ich John Coffey von der Green Mile zu Melinda Moores brachten, um ihr Leben zu retten. Ich schrieb, wie wir William Wharton betäubten, der sich für den zweiten Billy the Kid hielt; ich erzählte davon, wie wir Percy Wetmore in die Zwangsjacke steckten und in die Gummizelle am Ende der Green Mile sperrten. Ich berichtete von unserer sonderbaren nächtlichen Reise - furchterregend und amüsant zugleich - und von dem Wunder, das sich am Ende ereignete. Wir erlebten, wie John Coffey eine Frau zurückholte, nicht nur vom Rand des Grabs, sondern vom Grund, wie es sich für uns darstellte. Ich schrieb und nahm nur am Rande die Art des Lebens wahr, wie es sich in Georgia Pines abspielte. Alte Leute gingen hinab zum Abendessen und strömten dann zum Unterhaltungs-Center (ja, Sie dürfen lachen), um sich ihre abendliche Dosis TV-Sitcoms zu gönnen. Ich erinnere mich, dass meine Freundin Elaine mir ein Sandwich brachte. Ich dankte ihr und aß es, aber ich kann Ihnen nicht sagen, zu welcher Zeit sie es brachte und womit es belegt war. Das meiste von mir war wieder im Jahr 1932, als wir unsere belegten Brötchen für gewöhnlich vom Snackwagen des alten TootToot kauften, kalter Schweinebraten einen Nickel, Cornedbeef einen Dirne.
Ich erinnere mich, dass es ruhiger wurde, als die Relikte, die hier leben, sich auf eine weitere Nacht
mit leichtem, unruhigem Schlaf vorbereiteten; ich hörte Mickey - vielleicht nicht der beste Pfleger,
aber gewiss der freundlichste - >Red River Valley< mit seinem Tenor singen, während er herumging
und die abendlichen Medikamente verteilte: »From this valley they say you are going ... We will miss
your bright eyes and sweet smile ...«
Bei dem Lied musste ich wieder an Melinda denken und an das, was sie zu John gesagt hatte, als das
Wunder geschehen war. Ich habe von dir geträumt. Ich träumte, du bist durch die Dunkelheit
gewandert, und ich ebenfalls. Wir haben uns gefunden.
In Georgia Pines wurde es still. Mitternacht kam und ging vorüber, und ich schrieb immer noch. Ich
kam zu Harry, der uns daran erinnerte, dass wir zwar John zurück ins Gefängnis gebracht hatten,
ohne erwischt zu werden, dass aber immer noch Percy auf uns wartete. »Der Abend ist noch nicht
vorüber, solange wir noch nicht mit ihm fertig geworden sind«, sagte Harry.
Das war der Zeitpunkt, an dem der lange Tag, an dem ich mit dem Füller meines Vaters geschrieben
hatte, seinen Tribut forderte. Ich legte den Füller hin - nur für ein paar Sekunden, dachte ich, damit
ich wieder etwas Leben in meine steifen Finger bekommen konnte -, und dann legte ich die Stirn auf
meinen Arm und schloss die Augen. Als ich sie wieder öffnete und den Kopf hob, schaute mich die
Morgensonne durch die Fenster an. Ein Blick auf meine Uhr zeigte mir, dass es nach acht war. Ich
hatte mit dem Kopf auf den Armen wie ein alter Säufer an die sechs Stunden geschlafen. Ich stand
auf, verkniff das Gesicht und versuchte mich zu recken, um etwas Leben in den Rücken zu
bekommen. Ich spielte mit dem Gedanken, in die Küche zu gehen, mir etwas Toast zu holen und
meinen morgendlichen Spaziergang zu machen. Dann schaute ich auf die vollgekritzelten Seiten, die
auf dem Schreibtisch verstreut waren. Plötzlich entschied ich mich, den Spaziergang zu verschieben.
Ich hatte eine Aufgabe, ja, aber sie konnte warten, und ich fühlte mich an diesem Morgen nicht
danach, mit Brad Dolan Verstecken zu spielen.
Statt zu spazieren, wollte ich meine Geschichte beenden. Manchmal ist es besser, man zwingt sich,
ganz gleich, wie sehr Verstand und Körper protestieren mögen. Manchmal ist das die einzige
Möglichkeit etwas durchzuziehen. Und ich erinnere mich, dass ich an diesem Morgen verzweifelt
wünschte, John Coffeys hartnäckigen Geist loszuwerden.
»Okay«, sagte ich. »Noch eine Meile. Aber zuerst ...«
Ich ging hinab zur Toilette am Ende des Flurs im ersten Stock. Als ich auf dem Klo Wasser ließ, blickte
ich zufällig zum Rauchmelder an der Decke. Das brachte mich auf den Gedanken an Elaine und wie sie
Dolan gestern abgelenkt hatte, damit ich spazieren und meine kleine Aufgabe erledigen konnte. Ich
beendete das Pinkeln mit einem Grinsen.
Dann kehrte ich ins Solarium zurück und fühlte mich besser (und viel behaglicher in meinen unteren
Regionen). Jemand - zweifellos Elaine - hatte eine Kanne Tee neben meine Seiten gestellt.
Ich trank gierig zwei Tassen Tee, bevor ich mich hinsetzte. Dann nahm ich meinen Platz wieder ein,
schraubte den Füllfederhalter auf und begann wieder einmal zu schreiben.
Ich hatte mich gerade ganz in die Geschichte vertieft, als ein Schatten auf mich fiel. Ich blickte auf
und hatte ein flaues Gefühl im Magen. Brad Dolan stand zwischen mir und den Fenstern. Er grinste.
»Ich habe deinen morgendlichen Spaziergang vermisst, Paulie«, sagte er. »So dachte ich mir, geh mal
zu ihm und sieh nach, was los ist. Er wird doch nicht krank sein.«
»Du hast ein großes Herz«, sagte ich. Meine Stimme klang in Ordnung - bis jetzt jedenfalls -, aber
mein Herz klopfte schnell. Ich hatte Angst vor ihm, und das nicht erst jetzt. Er erinnerte mich an Percy
Wetmore, und vor dem hatte ich nie Angst..., aber als ich Percy kennen lernte, war ich jung gewesen.
Brads Lächeln wurde breiter, aber noch unangenehmer.
»Die Leute sagen mir, du warst die ganze Nacht hier, Paulie, und hast an deinem kleinen Aufsatz
geschrieben. Nun, das ist einfach nicht gut. Alte Furzer wie du brauchen ihren Schönheitsschlaf.«
»Percy ...«, begann ich, dann sah ich sein Stirnrunzeln und erkannte meinen Fehler. Ich atmete tief
durch und begann von neuem. »Brad, was hast du gegen mich?«
Er blickte einen Moment lang verwundert drein, vielleicht ein bisschen verstört. Dann grinste er
wieder. »Alter, es könnte sein, dass mir einfach deine Visage missfällt. Was schreibst du überhaupt?
Dein Testament, wem du deine Eier vermachst?«
Brad kam neugierig näher, verrenkte den Hals. Ich schlug die Hand auf die Seite, an der ich gearbeitet
hatte. Die restlichen Seiten raffte ich mit der freien Hand zusammen und verkrumpelte einige in
meiner Hast, sie unter den Arm und in Deckung zu bringen.
»Nun«, sagte Brad, als spreche er zu einem kleinen Kind, »das wird nicht klappen, du alter Sack.
Wenn Brad gucken möchte, dann guckt Brad. Darauf kannst du verdammt einen lassen.«
Seine Hand, jung und scheußlich stark, umschloss mein Handgelenk und drückte es. Schmerz grub
sich wie Zähne in meine Hand, und ich stöhnte.
»Lass mich los«, krächzte ich.
»Wenn du mir das zeigst«, erwiderte Brad, und er lächelte nicht mehr.
Sein Gesicht war jedoch heiter, die Art Heiterkeit, die man nur auf Gesichtern von Leuten sieht, denen
es Spaß macht, gemein zu sein. »Laß sehen, Paulie. Ich will wissen, was du schreibst« Er zog meine
Hand von der obersten Seite weg. Von unserem Ausflug mit John Coffey zurück durch den Tunnel
unter der Straße. »Ich will sehen, ob es etwas mit deinen Spaziergängen zu tun hat...«
»Lassen Sie diesen Mann in Frieden!«
Die Stimme klang wie ein Peitschenknall an einem trockenen, heißen Tag ..., und Brad Dolan zuckte
zusammen, als hätte die Peitsche seinen Hintern getroffen. Er ließ meine Hand los, die sofort auf
meine Seiten fiel, und wir blickten beide zur Tür.
Dort stand Elaine Connelly und sah frisch und kräftiger aus als seit Tagen. Sie trug Jeans, in denen
ihre schmalen Hüften und langen Beine gut zur Geltung kamen; ein blaues Band war in ihrem Haar.
Sie hielt ein Tablett mit ihren arthritischen Händen - Orangensaft, ein Rührei, Toast, noch mehr Tee.
Und ihre Augen glühten vor Zorn.
»Was soll das?« fragte Brad. »Er kann nicht hier oben essen.«
»Er kann, und er wird es«, sagte Elaine im gleichen trockenen Befehlston. Ich hatte sie noch nie so
gehört, aber ich freute mich jetzt darüber. Ich suchte nach Furcht in ihren Augen und sah kein
bisschen davon - nur Zorn. »Und Sie verschwinden von hier, bevor Sie vom Ärgernis einer Schabe zu
einem etwas größeren Ungeziefer werden - sagen wir mal, zur Rattus Americanus.«
Brad Dolan trat einen Schritt auf sie zu und wirkte unsicher und entsetzlich wütend zugleich. Ich hielt
das für eine gefährliche Kombination, aber Elaine zuckte mit keiner Wimper, als er sich näherte. »Ich
wette, ich weiß, wer diesen verdammten Rauchmelder ausgelöst hat«, sagte Dolan. »Das kann nur
eine gewisse alte Hexe mit Klauen als Händen gewesen sein. Und jetzt hau ab. Ich und Paulie haben
unseren kleinen Plausch noch nicht beendet«
»Sein Name ist Mr. Edgecombe«, sagte Elaine, »und wenn ich jemals höre, dass Sie ihn wieder Paulie
nennen, dann kann ich Ihnen versprechen, dass Ihre Tätigkeit hier in Georgia Pines enden wird, Mr.
Dolan.«
»Für wen halten Sie sich?« fragte Brad. Er ragte über ihr auf, versuchte zu lächeln und schaffte es
nicht ganz.
»Ich bin die Großmutter des Mannes, der gegenwärtig Präsident des Repräsentantenhauses
von Georgia ist«, sagte Elaine ruhig. »Ein Mann, der seine Verwandten liebt, Mr. Dolan. Besonders
seine älteren Verwandten.«
Das gezwungene Lächeln verschwand von seinem Gesicht, wie etwas von einer Tafel verschwindet,
das mit einem nassen Schwamm weggewischt wird. Ich sah Unsicherheit, den Gedanken, dass sie
bluffte, die Furcht, dass es kein Bluff war, und eine logische Schlussfolgerung: Es würde leicht genug
sein, das zu überprüfen, das musste sie wissen, und folglich sagte sie die Wahrheit.
Plötzlich begann ich zu lachen, und obwohl es ein bisschen rostig klang, war es ein richtiges Lachen.
Ich erinnerte mich, wie oft Percy Wetmore uns in den schlechten alten Tagen mit seinen Beziehungen
gedroht hatte. Jetzt wurde zum ersten Mal in meinem langen, langen Leben wieder eine solche
Drohung ausgestoßen ..., aber diesmal zu meinen Gunsten.
Brad Dolan warf mir einen wütenden Blick zu und schaute dann wieder Elaine an.
»Es ist mein Ernst«, sagte Elaine. »Zuerst wollte ich Sie einfach gewähren lassen - ich bin alt und Sie
zu ignorieren schien am leichtesten. Aber wenn meine Freunde bedroht und misshandelt werden,
dann bleibe ich nicht untätig. Und jetzt verschwinden Sie. Ohne ein weiteres Wort«
Seine Lippen bewegten sich wie die eines Fischs - oh, wie gern hätte er dieses eine weitere Wort
gesagt (vielleicht eines, das sich auf Hexe oder Rotze reimte). Aber er sagte es nicht. Er schaute mich
noch einmal an, und dann schritt er an ihr vorbei und hinaus in die Halle.
Ich atmete mit einem langen, abgehackten Seufzen auf. Elaine stellte das Tablett vor mir ab und
setzte sich mir gegenüber. »Ist dein Enkel tatsächlich Präsident des Repräsentantenhauses?« fragte
ich.
»Das ist er tatsächlich.«
»Was machst du dann hier?«
»Als Präsident des Repräsentantenhauses ist er mächtig genug, um mit einer Schabe wie Brad Dolan
fertig zu werden, aber das macht ihn nicht reich«, sagte sie und lachte. »Außerdem gefällt es mir hier.
Ich liebe die Gesellschaft.«
»Ich betrachte das als Kompliment«, sagte ich, und so war es auch.
»Paul, ist mit dir alles in Ordnung? Du siehst so müde aus.« Elaine neigte sich über den Tisch und
strich mir das Haar aus der Stirn. Ihre Finger waren knorrig, doch die Berührung war kühl und
wunderbar. Ich schloss für einen Moment die Augen. Als ich sie wieder öffnete, hatte ich eine
Entscheidung gefällt.
»Alles in Ordnung«, sagte ich. »Und fast fertig. Elaine, würdest du etwas lesen?« Ich hielt ihr die
Seiten hin, die ich zusammengerafft hatte. Sie waren vermutlich nicht mehr in der richtigen
Reihenfolge - Dolan hatte mir einen riesigen Schrecken eingejagt -, aber sie waren nummeriert, und
Elaine konnte sie schnell sortieren.
Sie schaute mich nachdenklich an, ohne die Seiten zu nehmen. Jedenfalls noch nicht. »Bist du fertig?«
»Du wirst bis zum Nachmittag brauchen, um zu lesen, was fertig ist«, sagte ich. »Wenn du es
überhaupt entziffern kannst, heißt das.«
Jetzt nahm Elaine die Seiten und schaute sie an. »Du hast eine sehr schöne Handschrift, obwohl
diese Hand offensichtlich müde ist«, sagte sie. »Damit werde ich keine Schwierigkeiten haben.«
»Wenn du fertig gelesen hast, werde ich den Rest geschrieben haben«, sagte ich. »Du kannst den
Schluss in einer halben Stunde oder so lesen. Und dann ... wenn du immer noch willst ... möchte ich
dir etwas zeigen.«
»Hat es etwas mit dem Ort zu tun, an den du morgens und nachmittags gehst?«
Ich nickte.
Sie dachte eine scheinbar sehr lange Zeit darüber nach, nickte dann und erhob sich mit den Seiten in
der Hand.
»Ich gehe hinten raus«, sagte sie. »Die Sonne ist heute morgen sehr warm.«
»Und der Drachen ist besiegt«, sagte ich. »Diesmal von der Heldin.«
Elaine lächelte, neigte sich zu mir und küsste mich über der Augenbraue auf die empfindliche Stelle,
an der ich immer wohlig erschauere. »Hoffen wir es«, sagte sie, »aber nach meiner Erfahrung wird
man Drachen wie Brad Dolan nur schwer los.« Sie zögerte. »Viel Glück, Paul. Ich hoffe, du kannst
besiegen, was auch immer an dir genagt hat«
»Das hoffe ich auch«, sagte ich und dachte an John Coffey. Ich konnte nichts dafür, hatte John
gesagt. Ich habe es versucht, aber es war zu spät.
Ich aß das Rührei, trank den Orangensaft und schob den Toast für später beiseite. Dann nahm ich
meinen Füller und begann wieder zu schreiben, zum letzten Mal, wie ich hoffte.
Eine letzte Meile.
2
Als wir John in jener Nacht zurück zu Block E brachten, war sein Transport mit der Leichenbahre eine
Notwendigkeit, kein Luxus. Ich bezweifle sehr, dass er es aus eigener Kraft durch den Tunnel
geschafft hätte; geducktes Gehen erfordert mehr Energie als aufrechtes, und die Decke war für einen
Riesen wie John Coffey verdammt niedrig. Ich mochte nicht daran denken, dass er dort unten
zusammenbrach. Wie würden wir das auch noch erklären, zusätzlich zu der Erklärung, warum wir
Percy in das Irren-Sakko - so bezeichnete Brutal die Zwangsjacke - gesteckt und in die Gummizelle
eingeschlossen hatten?
Aber wir hatten die Bahre - Gott sei Dank -, und John Coffey lag darauf wie ein gestrandeter Wal, als
wir ihn zur Treppe des Lagerraums fuhren. Dort stieg er hinunter, schwankte und blieb dann einfach
mit gesenktem Kopf und schwer atmend stehend. Seine Haut war so grau, dass er aussah, als wäre er
in Mehl gewälzt worden. Ich dachte, er würde spätestens am Mittag im Krankenrevier sein ... das
heißt, wenn er bis dahin nicht tot war.
Brutal blickte mich grimmig und bestürzt an. Ich erwiderte den Blick »Wir können ihn nicht rauftragen,
aber wir können ihm helfen«, sagte ich. »Du packst ihn unter dem rechten Arm, ich packe ihn unter
dem linken.«
»Und ich?« fragte Harry.
»Geh hinter uns. Wenn er rückwärts kippt, schiebst du ihn vorwärts.«
»Und wenn das nicht klappt, duck dich dorthin, wo er deiner Schätzung nach hinfällt und mach die
Landung für ihn weicher«, sagte Brutal.
»O Mann«, sagte Harry, »du solltest als Clown zum Zirkus gehen, so lustig, wie du bist«
»Ich habe Sinn für Humor, das stimmt«, gab Brutal zu.
Letzten Endes schafften wir es, John die Treppe hinaufzubugsieren. Meine größte Sorge war, dass er
vielleicht ohnmächtig wurde, aber das war nicht der Fall. »Geh um mich rum und vergewissere dich,
dass der Lagerraum leer ist«, sagte ich keuchend zu Harry.
»Was soll ich sagen, wenn er nicht leer ist?« fragte Harry und zwängte sich an mir vorbei. »>Ich bin
der Avon-Berater<, und dann hierhin zurückflitzen?«
»Sei kein Klugscheißer«, brummte Brutal.
Harry öffnete die Tür einen Spalt und steckte den Kopf hindurch. Das kam mir wie eine Ewigkeit vor.
Schließlich zog er den Kopf zurück und sah fast fröhlich aus. »Die Luft ist rein. Und es ist still.«
»Hoffen wir, dass es so bleibt«, sagte Brutal. »Komm, John Coffey, fast daheim.«
John schaffte es aus eigener Kraft, den Lagerraum zu durchqueren, aber wir mussten ihm die drei
Stufen zu meinem Büro hinauf helfen und ihn dann durch die kleine Tür schieben.
Als er wieder auf die Füße kam, atmete er rasselnd, und seine Augen hatten einen glasigen Schimmer.
Außerdem - ich registrierte es mit Entsetzen - hatte sich der rechte Mundwinkel nach unten gezogen
und wirkte wie Melindas Mund, als wir in ihr Zimmer getreten waren und sie im Bett gesessen hatte,
gestützt von den Kissen. Dean hörte uns und kam vom Wachpult am Kopf der Green Mile.
»Gott sei Dank! Ich dachte schon, ihr kommt nie zurück. Ich war fast überzeugt, dass ihr geschnappt
worden seid oder der Direktor euch eine Kugel verpasst hat oder ...« Er verstummte, als sein Blick das
erste Mal auf John fiel. «Was ist denn mit dem los? Er sieht wie ein Sterbender aus!«
»Er stirbt nicht ... oder, John?« fragte Brutal. Seine Augen signalisierten Dean eine Warnung.
»Natürlich nicht«, sagte Dean hastig, »ich meinte, nicht wie ein Sterbender...«
Dean stieß ein nervöses kleines Lachen aus. »Aber, Himmel...«
»Laß es gut sein«, sagte ich. »Hilf uns, ihn in seine Zelle zu bringen.«
Wieder einmal waren wir Hügel um einen Berg namens John Coffey, aber jetzt war es ein Berg, der
ein paar Millionen Jahre an Erosion durchlitten hatte und ausgelaugt und traurig war. John Coffey
bewegte sich langsam und atmete schnaufend durch den Mund wie ein alter Mann, der zuviel
geraucht hat, aber immerhin bewegte er sich.
»Was ist mit Percy?« fragte ich. »Hat er Theater gemacht?«
»Zu Anfang«, sagte Dean. »Versuchte er durch das Isolierband zu brüllen, das du ihm über das Maul
geklebt hast. Es waren Flüche, glaube ich.«
»Gnade«, sagte Brutal. »Gut, dass unsere zarten Ohren woanders waren.«
»Seither nur dann und wann ein kaum hörbarer Tritt gegen die Tür.« Dean war so erleichtert, uns
wieder zu sehen, dass er brabbelte. Seine Brille war auf die Spitze der Nase gerutscht, die vor
Schweiß glänzte. Er rückte die Brille zurecht. Wir passierten Whartons Zelle. Dieser nichtsnutzige
junge Mann lag flach auf dem Rücken und schnarchte wie ein Sousaphon. Seine Augen waren diesmal
geschlossen. Dean sah meinen Blick und lachte.
»Keine Probleme von diesem Kerl! Hat sich nicht mehr geregt, seit er sich auf die Pritsche legte. Total
weg. Und was Percys gelegentliche Tritte gegen die Tür anbetrifft die haben mir nichts ausgemacht.
Ehrlich gesagt ich war froh darüber. Wenn er überhaupt keine Geräusche von sich gegeben hätte,
dann hätte ich mich gefragt ob er an dem Knebel erstickt sei. Aber das ist noch nicht der Clou. Wisst
ihr, was der Clou ist? Es war so ruhig wie am Aschermittwochmorgen in New Orleans! In der ganzen
Nacht hat sich kein Mensch blicken lassen.« Letzteres sagte er mit triumphierender Stimme. Er freute
sich diebisch. »Wir sind nicht erwischt worden! Es hat geklappt!«
Das erinnerte ihn daran, warum wir überhaupt die ganze Komödie aufgeführt hatten, und er
erkundigte sich nach Melinda.
»Es geht ihr prima«, sagte ich. Wir gelangten zu John Coffeys Zelle. Was Dean gesagt hatte, wirkte
gerade auf uns ein. Wir sind nicht erwischt worden. Es hat geklappt.
»War es wie ... du weißt schon ... wie mit der Maus?« fragte Dean. Er blickte kurz zu der leeren Zelle,
in der Delacroix mit Mr. Jingles gewohnt hatte, dann hinab zu der Gummizelle, von der aus die Maus
wahrscheinlich zum ersten Mal aufgetaucht war. Er senkte die Stimme, wie es Leute tun, wenn sie
eine große Kirche betreten, wo sogar die Stille zu flüstern scheint »War es ein ...« Er schluckte. »Sag's
schon, du weißt was ich meine ... War es ein Wunder?«
Wir drei tauschten kurze Blicke und bestätigten, was wir bereits wussten. »Er holte sie aus ihrem
verdammten Grab zurück«, sagte Harry. »Ja, es war ein Wunder, das war es.«
Brutal schloss die beiden Schlösser der Zelle auf und schob John sanft hinein. »Geh, großer Junge.
Ruh dich eine Weile aus. Du hast es verdient. Wir kümmern uns um Percy und ...«
»Er ist ein böser Mann«, sagte John mit leiser, mechanisch klingender Stimme.
»Das stimmt zweifellos, böse wie ein Hexer«, pflichtete ihm Brutal in beruhigendem Tonfall bei.
»Aber du brauchst dir deswegen keine Sorgen zu machen, wir lassen ihn nicht in deine Nähe.
Entspanne dich auf deiner Pritsche, und ich besorge dir im Nu eine Tasse Kaffee. Heiß und stark. Du
wirst dich wie neugeboren fühlen.« John ließ sich schwer auf die Pritsche sinken. Ich dachte, er würde
sich zurückfallen lassen und zur Wand rollen, wie er es für gewöhnlich tat, aber er blieb einfach dort
sitzen, hielt die Hände zwischen den Knien verschränkt, senkte den Kopf und atmete stoßweise durch
den Mund. Das Medaillon des Heiligen Christophorus, das Melinda ihm geschenkt hatte, war aus
seinem Hemd gerutscht und pendelte hin und her. Er wird dich beschützen, hatte sie ihm gesagt, aber
John Coffey sah kein bisschen beschützt aus. Er sah aus, als hätte er Melindas Stelle in diesem Grab
eingenommen, von dem Harry gesprochen hatte.
Aber ich konnte in diesem Augenblick nicht über John Coffey nachdenken.
Ich wandte mich an die anderen. »Dean, hol Percys Waffe und den Hickory-Stock«
»Okay.« Dean ging zum Wachpult, schloss die Schublade auf, nahm den Revolver und den
Schlagstock heraus und kehrte damit zurück.
»Bereit?« fragte ich. Meine Männer - gute Männer, und ich war nie stolzer auf sie als in dieser
Nacht - nickten. Harry und Dean wirkten nervös; Brutal war so unerschütterlich wie immer. »Okay. Ich
rede. Je weniger ihr sagt, desto besser wird es vermutlich sein, und um so schneller haben wir alles
hinter uns ... zum Besseren oder Schlechteren. Okay?«
Sie nickten abermals. Ich atmete tief durch und ging über die Green Mile zur Gummizelle.
Percy blickte blinzelnd auf, als das Licht auf ihn fiel. Er hockte am Boden und leckte an dem
Isolierband, das ich ihm über den Mund geklebt hatte. Der Teil, den ich um seinen Nacken gewunden
hatte, hatte sich gelöst (vermutlich durch den Schweiß und die Pomade in seinem Haar), und er hatte
es fast geschafft, den Rest auch noch zu lösen. Noch eine Stunde, und er hätte aus Leibeskräften um
Hilfe gebrüllt.
Er schob sich mit den Füßen auf dem Boden weiter zurück, als wir eintraten. Dann verharrte er, weil
ihm wohl klar geworden war, dass er nur in die Südostecke der Zelle krabbeln konnte. Er war boshaft,
und er kapierte nicht den Sinn unserer Arbeit in Block E, aber er war nicht ganz blöde.
Ich nahm seine Waffe und den Schlagstock von Dean entgegen und hielt die Dinge Percy hin.
»Willst du die zurückhaben?« fragte ich.
Er schaute mich misstrauisch an und nickte dann. »Brutal, Harry«, sagte ich. »Stellt ihn auf die Füße.«
Sie bückten sich, packten ihn unter den Segeltucharmen der Zwangsjacke und zogen ihn hoch. Ich
ging auf ihn zu, bis wir fast Nase an Nase standen. Ich roch seinen sauren Schweiß, mit dem er
übergössen schien. Einiger davon war ihm vermutlich bei seinen Anstrengungen ausgebrochen, sich
von dem Isolierband zu befreien oder gelegentlich gegen die Tür zu treten, aber ich glaube, der
meiste Schweiß war auf Angst zurückzuführen; die Furcht vor dem, was wir ihm vielleicht antaten,
wenn wir zurückkehrten.
Sie werden mir nichts tun, sie sind keine Killer, hatte sich Percy wohl gesagt..., und dann hatte er
vielleicht an Old Sparky gedacht, und es war ihm in den Sinn gekommen, dass wir in gewisser Weise
eben doch Killer waren. Ich selbst hatte siebenundsiebzig getötet, mehr, als jeder der Männer, die ich
jemals auf den heißen Stuhl geschnallt hatte, mehr als Sergeant York sich im Ersten Weltkrieg als
Verdienst anrechnen konnte. Percy zu ermorden würde nicht logisch sein, aber wir hatten uns bereits
unlogisch verhalten. Das hatte er sich vermutlich gesagt, als er dort mit den Armen hinter dem
Rücken gehockt und versucht hatte, mit der Zunge das Isolierband vom Mund zu lösen. Und
außerdem hatte Logik höchstwahrscheinlich wenig Macht über die Gedanken einer Person, die in einer
Gummizelle auf dem Boden hockt, so fest eingehüllt, wie eine Spinne jemals eine Fliege in ihrem Netz
gehabt hat. Wenn ich ihn jetzt nicht dort hatte, wo ich ihn haben wollte, würde ich ihn nie dorthin
bekommen.
»Ich nehme das Isolierband von deinem Mund, wenn du versprichst, dass du nicht rumbrüllst«, sagte
ich. »Ich will mit dir reden, nicht brüllen. Also, was ist? Wirst du ruhig sein?«
Ich sah Erleichterung in seinen Augen, als ihm klar wurde, dass er wirklich eine gute Chance hatte,
mit heiler Haut davonzukommen, wenn ich mit ihm reden wollte. Er nickte.
»Wenn du Krach schlägst, klebe ich dir das Isolierband wieder auf den Mund«, sagte ich. »Hast du
das verstanden?« Wieder ein Nicken, diesmal ziemlich ungeduldig.
Ich nahm das Ende des Isolierbandes, das er schon etwas gelöst hatte, und riss hart daran. Es gab
ein lautes Ratschen. Brutal zuckte zusammen. Percy jaulte vor Schmerzen.
»Laß mich aus dieser Irrenjacke raus, du Scheißer«, zischte er.
»In einer Minute«, erwiderte ich.
»Auf der Stelle! Sofort! So...«
Ich schlug ihm ins Gesicht. Es war geschehen, bevor ich überhaupt wusste, dass ich es tun würde ...,
aber ich hatte natürlich gewusst, dass es vieleicht dazu kommen würde. Sogar während des ersten
Gesprächs über Percy, das ich mit Direktor Hal Moores gehabt und bei dem Hal mir geraten hatte,
Percy die Leitung bei der Hinrichtung von Delacroix zu überlassen, hatte ich gewusst, dass es vielleicht
dazu kommen würde. Die Hand eines Menschen ist wie ein Tier, das nur halb gezähmt ist; meistens
ist es gutmütig, aber manchmal beißt es das erste, was es sieht.
Das Geräusch klang wie das Knacken eines Astes. Dean schnappte nach Luft. Percy starrte mich
schockiert an, und seine Augen waren weit aufgerissen und quollen fast aus den Höhlen. Sein Mund
klaffte auf und schloss sich, klaffte auf und schloss sich wie das Maul eines Fisches im Aquarium.
»Halt die Klappe und hör mir zu«, sagte ich.
»Du verdienst Strafe für das, was du Del angetan hast, und wir haben dir gegeben, was du verdienst.
Dies war die einzige Möglichkeit, wie wir es tun konnten. Wir alle außer Dean waren gleicher Meinung,
und er wird einverstanden sein, denn wir lassen es ihn bereuen, wenn er anderer Meinung ist. Ist das
so, Dean?«
»Ja«, flüsterte Dean. Er war milchblass. »So wird es wohl sein.«
»Und wir werden dich bereuen lassen, dass du jemals geboren worden bist«, fuhr ich fort »Wir
werden dafür sorgen, dass die Leute erfahren, wie du Delacroix' Hinrichtung sabotiert hast...«
»Sabotiert...!«
»... und wie durch deine Schuld Dean fast ums Leben gekommen wäre. Wir werden genug plaudern,
um dich aus fast jedem Job fernzuhalten, den dir dein Onkel beschaffen kann.«
Percy schüttelte heftig den Kopf. Er glaubte das nicht, konnte es vielleicht nicht kapieren. Meine fünf
Finger prangten auf seiner bleichen Wange wie das Schild eines Wahrsagers.
»Und außerdem werden wir dafür sorgen, dass du halbtot geschlagen wirst. Das brauchen wir nicht
selbst zu tun. Wir haben auch Beziehungen, Percy, bist du so blöde, dass dir das nicht klar ist? Sie
sitzen nicht in der Hauptstadt aber sie wissen, wie man gewisse Dinge regelt. Das sind Leute, die hier
Freunde haben, dort Brüder, da Väter. Sie würden mit Freude die Nase oder den Penis von einem
Scheißkerl wie dir amputieren. Sie würden es tun, damit jemand, den sie mögen, zusätzliche drei
Stunden Hofgang in jeder Woche bekommt«
Percy hörte auf, den Kopf zu schütteln. Jetzt starrte er nur. Tränen standen in seinen Augen, rannen
jedoch nicht heraus. Ich nehme an, es waren Tränen des Zorns und der Frustration. Oder vielleicht
hoffte ich nur, dass sie das waren.
»Okay ... nun sieh mal das Positive, Percy. Ich nehme an, deine Lippen brennen ein bisschen,
nachdem ich das Isolierband abgerissen habe, aber sonst ist nichts beschädigt - abgesehen von
deinem Stolz ..., und keiner außer den Leuten in dieser Zelle muss etwas davon erfahren. Wir werden
es nie erzählen, nicht wahr, Jungs?«
Sie nickten bekräftigend. »Natürlich nicht«, sagte Brutal. »Dinge der Green Mile bleiben auf der Green
Mile. So war es immer.«
»Du gehst nach Briar Ridge, und wir lassen dich bis dahin in Ruhe«, sagte ich. »Willst du es darauf
beruhen lassen, oder willst du die harte Tour?«
Es folgte ein langes, langes Schweigen, während er überlegte - ich konnte fast sehen, wie sich die
Rädchen in seinem Kopf drehten, während er die verschiedenen Möglichkeiten abwog. Und ich nehme
an, ein Problem muss den Rest seiner Überlegungen beeinflusst haben: Das Isolierband war von
seinem Mund fort, aber er trug immer noch die Zwangsjacke und musste vermutlich pinkeln wie ein
Rennpferd.
»Also gut«, sagte er. »Wir betrachten die Sache als erledigt. Nehmt mir jetzt diese Irrenjacke ab.
Meine Schultern sind wie abgestorben ...«
Brutal trat vor, schob mich mit der Schulter zur Seite und packte Percys Gesicht mit einer großen
Hand - die Finger gruben sich in Percys rechte Wange, und der Daumen drückte eine tiefe Delle in die
linke.
»In ein paar Sekunden«, sagte er. »Erst hörst du mir zu. Paul hier ist der große Boss, und so muss er
manchmal vornehm reden.«
Ich versuchte, mich an eine vornehme Formulierung zu erinnern, was ich vielleicht zu Percy gesagt
hatte, aber es fiel mir nicht viel ein. Dennoch hielt ich es für das Beste, den Mund zu halten. Percy
wirkte einigermaßen eingeschüchtert, und ich wollte das nicht verderben.
»Die Leute verstehen nicht immer, dass vornehm nicht dasselbe wie weich ist, und dann komme ich
ins Spiel. Ich bin nicht vornehm. Ich sage die Dinge frei heraus. Und so sage ich es frei heraus: Wenn
du dein Versprechen nicht einhältst, wird es höchstwahrscheinlich einen Arschfick geben. Wir werden
dich Finden - und wenn wir dich bis Russland suchen müssen, wir werden dich finden -, und wir ficken
dich nicht nur in den Arsch, sondern in jedes Loch, das du hast. Wir ficken dich, bis du dir wünschst,
tot zu sein, und dann reiben wir Essig in die Stellen, die bluten. Hast du mich verstanden?« Percy
nickte. Mit Brutals Hand, die sich in seine Wangen grub, sah Percy unheimlich wie der alte TootToot
aus.
Brutal ließ ihn los und trat zurück. Ich nickte Harry zu, der hinter Percy trat und die Gurte
aufschnallte. »Merk dir das, Percy«, sagte Harry. »Merk dir das, und lass das Vergangene ruhen.«
Alles war angemessen gruselig, drei Butzemänner in blauen Uniformen ..., aber ich empfand trotzdem
eine Art wissende Verzweiflung. Er hielt vielleicht einen Tag oder eine Woche lang den Mund und
überlegte verschiedene Aktionen, aber am Ende würden sich zwei Dinge verbünden: der Glaube an
seine Beziehungen und die Unfähigkeit, sich als Verlierer geschlagen zu geben. Wenn das geschah,
würde er sein Gift versprühen. Wir hatten vielleicht geholfen, Melly Moores' Leben zu retten, indem
wir John zu ihr gebracht hatten, und ich hätte das nicht anders gemacht (»nicht für allen Tee in
China«, wie wir in jenen Tagen zu sagen pflegten), aber letzten Endes würden wir zu Boden gehen,
und der Ringrichter würde uns auszählen. Außer Mord gab es keine Möglichkeit, wie wir Percy zur
Einhaltung des Handels zwingen konnten, wenn er erst von uns fort war und das zurückkehrte, was er
für seinen Mumm hielt.
Ich blickte Brutal von der Seite an und sah, dass ihm das ebenfalls klar war. Was mich nicht
überraschte. Mrs. Howells Sohn Brutus legte man nicht so schnell aufs Kreuz, das hatte man noch nie
gekonnt. Er hob kaum wahrnehmbar eine Schulter und ließ sie wieder sinken, aber das reichte.
Na und? sagte dieses Schulterzucken. Was zählt sonst, Paul? Wir haben getan, was wir tun mussten.
Wir haben unser Bestes gegeben.
Ja. Und das Ergebnis konnte sich ebenfalls sehen lassen. Harry schnallte den letzten Riemen der Zwangsjacke auf. Percy verzog angewidert und wütend das Gesicht streifte die Zwangsjacke ab und ließ sie auf den Boden fallen. Er schaute keinen von uns an, nicht direkt.
»Gib mir meinen Revolver und meinen Schlagstock«, sagte er. Ich überreichte ihm die Dinge. Er stieß die Waffe ins Holster und schob den Schlagstock in das handgefertigte Futteral. »Percy, wenn du darüber nachdenkst...«
»Oh, das habe ich vor«, sagte er und schob sich an mir vorbei. »Ich werde sehr genau darüber nachdenken. Ich fange gleich damit an. Auf dem Heimweg. Einer von euch kann am Ende der Schicht die Stechuhr für mich drücken.« Er ging zur Tür der Gummizelle und wandte sich zu uns um. Er musterte uns mit ärgerlicher, verlegener Verachtung - eine tödliche Mischung für das Geheimnis, das wir Narren zu bewahren gehofft hatten. »Es sei denn natürlich, ihr wollt erklären, warum ich den Dienst früher beendet habe.«
Er verließ die Zelle und schritt die Green Mile hinauf, vergaß in seiner Aufregung, warum der mit grünem Linoleum ausgelegte Gang so breit war. Er hatte diesen Fehler schon einmal begangen und war davongekommen. Er würde nicht noch einmal davonkommen. Ich folgte ihm aus der Tür und überlegte eine Möglichkeit, wie ich ihn beruhigen konnte - ich wollte nicht, dass er Block E so verließ, verschwitzt und aufgelöst, mit dem roten Abdruck meiner Hand auf der Wange. Die anderen drei folgten mir.
Was dann geschah, spielte sich sehr schnell ab - es dauerte nicht länger als eine Minute, vielleicht sogar noch weniger. Dennoch erinnere ich mich bis zum heutigen Tage an alles - ich nehme an, weil ich Janice alles erzählte, als ich heimkam, und es sich deshalb einprägte. Was danach geschah - das Treffen mit Curtis Anderson im Morgengrauen, die gerichtliche Untersuchung, die Pressekonferenz, die Hal Moores einberief (da war er natürlich zurück), und schließlich der Untersuchungsausschuss in der Hauptstadt des Staates -, all diese Dinge verblassten im Laufe der Jahre wie so vieles in meiner Erinnerung. Aber ich erinnere mich perfekt an das, was dort auf der Green Mile passierte. Percy ging mit gesenktem Kopf auf der rechten Seite der Meile, und ich sage soviel: Kein normaler Gefangener hätte ihn erreichen können. Aber John Coffey war kein normaler Gefangener. John Coffey war ein Hüne, und er hatte die Reichweite eines Hünen. Ich sah seinen langen braunen Arm zwischen den Gitterstäben hervorschießen und schrie: »Vorsicht, Percy, pass auf« Percy wandte den Kopf, und seine linke Hand senkte sich auf den Schlagstock. Dann wurde er gepackt und gegen John Coffeys Zelle gerissen, und seine rechte Gesichtshälfte knallte gegen die Gitterstäbe. Er stieß einen ächzenden Laut aus und fuhr zu Coffey herum, wobei er den Hickory-Schlagstock hob. John war gewiss anfällig; sein Gesicht war so angestrengt zwischen zwei Gitterstäbe gepresst, dass es aussah, als versuche er seinen ganzen Kopf hindurchzuschieben. Das war natürlich unmöglich, aber so sah es aus. Mit der rechten Hand umklammerte er Percys Nacken und riss Percys Kopf nach vorne. Percy schlug mit dem Stock zwischen die Gitterstäbe und auf Johns Schläfe. Blut flöß, aber John schenkte ihm keine Beachtung. Er presste den Mund auf Percys Mund. Ich hörte ein Zischen - wie das Ausstoßen eines lange angehaltenen Atemzugs. Percy zuckte wie ein Fisch am Haken, versuchte zu entkommen, aber er hatte nie eine Chance; John umfasste mit der rechten Hand Percys Nacken und hielt ihn fest Ihre Gesichter schienen zu verschmelzen wie die Gesichter von Liebenden, die sich leidenschaftlich durch Gitterstäbe küssen.
Percy schrie - der Schrei klang gedämpft, wie er durch das Isolierband geklungen hatte - und wollte sich losreißen. Einen Moment lösten sich ihre Lippen ein wenig voneinander, und ich sah die schwarze, wirbelnde Woge, die aus John Coffey und in Percy Wetmore hineinflutete. Was nicht durch seinen zitternden Mund hineinging, schoss in seine Nasenlöcher. Dann spannte sich die Hand um seinen Nacken, und Percy wurde wieder auf Johns Mund gezogen; war fast darauf aufgespießt. Percys linke Hand öffnete sich. Sein geliebter Schlagstock fiel auf das grüne Linoleum. Er hob ihn nie wieder auf. Ich versuchte vorwärtszuspringen, ich nehme an, ich tat es auch, aber meine Bewegungen kamen mir selbst lahm und unbeholfen vor. Ich griff nach meiner Waffe, doch sie war durch einen Riemen am Nussbaumgriff gesichert, und ich bekam sie zuerst nicht aus dem Holster heraus. Unter mir schien der Boden zu erzittern wie im Schlafzimmer des kleinen Hauses von Direktor Moores. Ich bin mir dessen nicht völlig sicher, aber ich glaube, dass eine der Glühbirnen in dem Drahtgitter an der Decke zerbarst. Glassplitter regneten herab. Harry schrie überrascht auf. Schließlich schaffte ich es, den Sicherheitsriemen über dem Griff meines .38ers zu lösen, aber bevor ich die Waffe aus dem Holster gezogen hatte, stieß John Percy von sich und trat in seine Zelle zurück. John schnitt eine Grimasse, als hätte er etwas Schlechtes geschmeckt »Was hat er getan?« rief Brutal. »Was hat er getan, Paul?«
»Was auch immer er aus Melly herausgesaugt hat, das hat jetzt Percy«, sagte ich. Percy lehnte an den Gitterstäben von Delacroix' alter Zelle. Seine Augen waren weit aufgerissen und ausdruckslos -zwei Nullen. Ich näherte mich ihm vorsichtig, rechnete damit dass er hustete und würgte, wie John es getan hatte, als er mit Melinda fertig gewesen war, aber das tat er nicht.
Zuerst stand er einfach nur da. Ich schnippte mit den Fingern vor seinen Augen. »Percy! Hey, Percy! Wach auf!«
Nichts. Brutal trat zu mir und hielt beide Hände vor Percys ausdrucksloses Gesicht »Das klappt nicht«, sagte ich.
Brutal ignorierte mich und klatschte zweimal in die Hände, direkt vor Percys Nase. Und das klappte, oder es hatte den Anschein. Seine Augenlider flatterten, und er starrte in die Runde - benommen wie jemand, der einen Schlag auf den Kopf erhalten hat und um das Bewusstsein ringt. Er schaute von Brutal zu mir. Nach all diesen Jahren bin ich immer noch ziemlich überzeugt, dass er keinen von uns wahrnahm, aber damals dachte ich das. Ich dachte, er käme zu sich.
Er stieß sich von den Gitterstäben ab und schwankte ein bisschen. Brutal stützte ihn. »Langsam, Junge, alles in Ordnung?«
Percy gab keine Antwort. Er schob sich an Brutal vorbei und ging zum Wachpult. Er wankte nicht, aber er hatte Schlagseite nach links.
Brutal wollte nach ihm greifen. Ich schob seine Hand beiseite. »Laß ihn in Ruhe.« Hätte ich das auch gesagt wenn ich gewusst hätte, was als nächstes passieren würde? Diese Frage habe ich mir nach dem Herbst 1932 tausendmal gestellt und nie eine Antwort darauf gefunden.
Percy legte zwölf oder vierzehn Schritte zurück. Dann blieb er mit gesenktem Kopf stehen. Er war jetzt auf der Höhe von Wild Bill Whartons Zelle. Wharton stieß immer noch diese Sousaphon-Geräusche aus. Er verpennte die ganze Sache. Er verschlief seinen eigenen Tod, wenn ich es jetzt bedenke, womit er mehr Glück hatte als die meisten der Männer, die hier endeten. Gewiss hatte er mehr Glück, als er verdiente. Bevor wir wussten, was geschah, zog Percy seine Waffe, trat an die Gitterstäbe von Whartons Zelle und leerte die ganze Trommel in den schlafenden Mann. Alle sechs Kugeln. Peng-peng-peng, peng-peng-peng, so schnell er abdrücken konnte. Das Krachen war in dem geschlossenen Raum ohrenbetäubend; als ich Janice die Geschichte am nächsten Morgen erzählte, konnte ich kaum meine Stimme hören, denn es klingelte immer noch in meinen Ohren.
Wir rannten zu ihm, alle vier. Dean war als erster bei ihm - ich weiß nicht, wie er das schaffte, denn er war hinter Brutal und mir gewesen, als Coffey sich Percy geschnappt hatte - aber er schaffte es. Er packte Percys Handgelenk und wollte ihm die Waffe aus der Hand winden, aber das war nicht nötig. Percy ließ sie einfach los, und sie polterte auf den Boden. Seine Augen blickten uns an, als wären sie Schlittschuhe und wir das Eis. Es gab einen leise zischenden Laut, und es roch scharf nach Ammoniak, als sich Percys Blase entleerte, und dann einen intensiveren Gestank, als er die andere Seite seiner Hose ebenfalls füllte. Sein Blick heftete sich auf eine ferne Ecke des Korridors. Es waren Augen, die nie mehr etwas in unserer realen Welt sahen, soweit ich weiß. Damals beim Beginn der Geschichte schrieb ich, dass Percy zu der Zeit, als Brutal die bunten Splitter von Mr. Jingles' Holzspule fand, in Briar Ridge war, und das war nicht gelogen. Er bekam jedoch nie das Büro mit dem Ventilator in der Ecke; er bekam auch nie geisteskranke Patienten, die er schikanieren konnte. Aber ich kann mir vorstellen, dass er wenigstens eine Einzelzelle bekam. Er hatte schließlich Beziehungen. Wharton lag auf der Seite mit dem Rücken zur Zellenwand. Ich konnte kaum was sehen außer viel Blut, das den Bezug der Pritsche tränkte und auf den Zementboden tropfte, aber der Leichenbeschauer sagte, Percy hätte geschossen wie Annie Oakley. Als ich mir Deans Erzählung in Erinnerung rief, wie Percy seinen Schlagstock auf die Maus geworfen und sie nur knapp verfehlt hatte, war ich nicht sehr überrascht. Diesmal war die Distanz kürzer gewesen, und das Ziel hatte sich nicht bewegt. Eine Kugel in den Unterleib, eine in den Bauch, eine in die Brust und drei in den Kopf.
Brutal hustete und wedelte den Pulverrauch beiseite. Ich hustete ebenfalls, hatte es jedoch bisher nicht bemerkt.
»Das war's dann«, sagte Brutal. Seine Stimme klang ruhig, aber der Ausdruck von Panik in seinen Augen war nicht zu übersehen.
Ich schaute über den Gang und sah John Coffey am Ende seiner Pritsche hocken. Er hatte wieder die Hände zwischen den Knien verschränkt doch der Kopf war erhoben, und er wirkte kein bisschen krank. Er nickte mir leicht zu, und ich überraschte mich selbst - wie an dem Tag, an dem ich ihm die Hand gereicht hatte -, indem ich das Nicken erwiderte. »Was machen wir nun?« bibberte Harry. »O Gott, Paul, was machen wir?« »Wir können nichts machen«, sagte Brutal ruhig. »Wir sind dran. Oder, Paul?« Meine Gedanken arbeiteten sehr schnell. Ich schaute zu Harry und Dean, die mich wie verängstigte Kinder anstarrten. Ich blickte zu Percy, der mit herabhängenden Armen und gesenktem Kopf dastand. Dann sah ich meinen alten Freund Brutus Howell an. »Uns wird nichts passieren«, sagte ich. Percy fing doch noch zu husten an. Er krümmte sich, stützte die Hände auf die Knie und übergab sich fast. Sein Gesicht lief rot an. Ich öffnete den Mund, wollte den anderen sagen, dass sie zurücktreten sollten, doch ich bekam nie eine Chance. Percy stieß einen Laut aus, der eine Mischung zwischen einem Rülpsen und dem Quaken eines Ochsenfrosches war, öffnete den Mund und spuckte eine Wolke von schwarzem, wirbelndem Zeug aus. Die Wolke war so dicht, dass wir für einen Moment seinen Kopf nicht sehen konnten. Harry sagte mit schwacher, zittriger Stimme: »Gott schütze uns.«
Dann wurde die schwarze Wolke so blendend hell wie frischer Schnee in der Januarsonne. Einen
Augenblick später war die Wolke verschwunden. Percy richtete sich langsam auf und starrte mit
leerem Blick über die Green Mile.
»Wir haben das nicht gesehen«, sagte Brutal. »Nicht wahr, Paul?«
»Nein. Ich habe es nicht gesehen, und du hast es nicht gesehen. Hast du es gesehen, Harry?«
»Nein«, sagte Harry.
»Dean?«
»Was gesehen?« Dean nahm seine Brille ab und begann die Gläser zu polieren. Ich dachte, er würde
sie aus den zitternden Händen fallen lassen, aber er hielt sie fest.
»>Was gesehen?« Das ist gut. Das ist die Karte, auf die wir setzen. Hört jetzt dem Führer eurer
Pfadfindergruppe zu, Jungs, und merkt es euch gleich beim ersten Mal, denn die Zeit ist knapp. Es ist
eine einfache Geschichte. Lasst sie uns nicht komplizieren.«
3
Ich erzählte all dies Janice gegen elf Uhr an diesem Morgen - am nächsten Morgen, hätte ich fast
geschrieben, aber es war natürlich am selben Tag. Zweifellos der längste Tag in meinem ganzen
Leben. Ich erzählte es im großen und ganzen, wie ich es hier berichtet habe, und endete damit wie
William Wharton tot auf seiner Pritsche lag, durchlöchert mit Blei aus Percys Revolver.
Nein, das stimmt nicht. Ich endete tatsächlich mit dem Zeug, das aus Percy herauskam, die Insekten
oder was auch immer es war. Das war schwer zu erzählen, selbst bei der Ehefrau, aber ich berichtete
es.
Während ich erzählte, brachte sie mir Kaffee in halbgefüllten Tassen - meine Hände zitterten zuerst so
stark, dass ich keine ganz gefüllte Tasse hätte halten können, ohne was zu verschütten. Als ich die
Geschichte zu Ende gebracht hatte, hatte das Zittern etwas nachgelassen, und ich hatte das Gefühl,
dass ich sogar etwas zu mir nehmen konnte - vielleicht ein Ei oder eine Suppe.
»Uns rettete, dass wir nicht zu lügen brauchten, keiner von uns.«
»Lasst einfach ein paar Dinge aus«, sagte Janice und nickte. »Hauptsächlich Kleinigkeiten, zum
Beispiel, dass ihr einen verurteilten Mörder aus dem Gefängnis geholt habt und wie er eine sterbende
Frau geheilt hat und wie er diesen Percy Wermore wahnsinnig machte, indem er ihm - was? - einen
pürierten Gehirntumor einblies?«
»Ich weiß es nicht Jan«, sagte ich. »Ich weiß nur, wenn du weiterhin so redest, wirst du diese Suppe
entweder allein essen oder an den Hund verfüttern müssen.«
»Es tut mir leid. Aber ich habe recht, nicht wahr?«
»Ja«, sagte ich. »Abgesehen davon, dass wir nicht erwischt wurden, als wir ...« - Was war es? Man
konnte es nicht Gefangenenbefreiung nennen, und Urlaub vom Knast war es auch nicht -»... diesen
Ausflug aufs Land machten. Nicht einmal Percy kann davon erzählen, wenn er jemals zurückkommt«
»Wenn er zurückkommt«, echote sie. »Wie wahrscheinlich ist das?«
Ich schüttelte den Kopf, um anzuzeigen, dass ich keine Ahnung hatte. Aber natürlich hatte ich eine
Ahnung. Ich bezweifelte, dass er zurückkehrte, weder 1932 noch '42 oder '52. In diesem Punkt hatte
ich recht. Percy Wetmore blieb in Briar Ridge, bis die Anstalt 1944 niederbrannte. Siebzehn Insassen
kamen bei diesem Brand ums Leben, aber Percy war nicht darunter. Immer noch stumm und leer in
jeder Hinsicht - das Wort, das ich über diesen Zustand erfuhr, heißt katatonisch -, wurde er von einem
der Wärter hinausgeführt lange bevor das Feuer auf den Flügel übergriff, in dem er untergebracht
war. Er kam dann in eine andere Anstalt - ich erinnere mich nicht an den Namen, und ich nehme an,
er spielt ohnehin keine Rolle - und starb 1965. Soweit ich weiß, sprach er das letzte Mal, als er uns
sagte, wir könnten die Stechuhr für ihn drücken ..., es sei denn, wir wollten erklären, warum er den
Dienst früher beendet hatte.
Die Ironie war, dass wir nie viel erklären mussten.
Percy hatte den Verstand verloren und William Wharton erschossen. Das sagten wir aus, und jedes
Wort davon stimmte. Als Anderson, der stellvertretende Direktor, Brutal fragte, wie Percy vor der Tat
gewirkt hatte, antwortete Brutal mit einem Wort - »ruhig« -, und ich durchlitt einen schrecklichen
Moment, als ich das Gefühl hatte, in Gelächter auszubrechen. Weil das ebenfalls stimmte: Percy war
ruhig gewesen, denn die meiste Zeit seiner Schicht war sein Mund mit Isolierband verklebt gewesen,
und er hatte nicht viel mehr als mmmph, mmmph, mmmph herausgebracht.
Anderson hielt Percy bis acht Uhr da, und Percy war so stumm wie die Indianerstatue eines
Zigarrenanzünders in einem Tabakladen, aber viel unheimlicher. Dann traf Hal Moores ein, grimmig,
aber bereit wieder in den Sattel zu steigen.
Curtis Anderson ließ ihn genau das tun, und zwar mit einem Seufzer der Erleichterung, den wir fast
hören konnten. Den verzweifelten, angsterfüllten alten Mann gab es nicht mehr; Hal Moores war
wieder der entschlossene, energiegeladene Gefängnisdirektor, der zu Percy schritt, ihn mit den großen
Händen an den Schultern packte und hart durchrüttelte. »Sohn!« schrie er in Percys ausdrucksloses
Gesicht - ein Gesicht das bereits weich wurde wie Wachs, dachte ich -, »Sohn! Hörst du mich? Sag es
mir, wenn du mich hörst! Ich will wissen, was passiert ist!«
Von Percy kam natürlich nichts. Anderson wollte den Direktor zur Seite ziehen und mit ihm
besprechen, wie der Fall gehandhabt werden sollte - es war eine politisch heiße Kartoffel, wenn es
jemals eine gegeben hat -, aber Moores schüttelte ihn ab, wenigstens fürs erste, und zog mich über
die Green Mile mit. John Coffey lag mit dem Gesicht zur Wand auf der Pritsche, und seine Beine
baumelten wie stets über der Pritschenkante. Er wirkte schlafend und schlief vermutlich auch ..., aber
bei ihm stimmte der Anschein nicht immer, wie wir festgestellt hatten.
»Hat das, was in meinem Haus geschehen ist, irgend etwas mit den Ereignissen hier zu tun, als ihr
zurückgekehrt seid?« fragte Moores leise. »Ich decke Sie, so gut ich kann, Paul, selbst wenn es mich
den Posten kostet, aber ich muss es wissen.«
Ich schüttelte den Kopf. Auch ich sprach leise -es waren fast ein Dutzend Wärter am Ende des
Korridors. Jemand fotografierte Wharton in seiner Zelle. Curtis Anderson hatte sich umgewandt und
schaute zu, und im Augenblick beobachtete uns nur Brutal. »Nein, Sir. Wir brachten John zurück in die
Zelle, und er lag da, wie Sie ihn jetzt sehen, und ließen Percy aus der Gummizelle heraus, in der wir
ihn sicher verwahrt hatten. Ich dachte, er würde vor Zorn kochen, aber das war nicht der Fall. Er
fragte nur nach seiner Waffe und dem Schlagstock. Wortlos ging er dann über den Gang. Als er bei
Whartons Zelle war, zog er die Waffe und ballerte los.«
»Meinen Sie, dass der Aufenthalt in der Gummizelle ... Einfluss auf seinen Verstand hatte?«
»Nein, Sir.«
»Haben Sie ihn in eine Zwangsjacke gesteckt?«
»Nein, Sir. Das war nicht nötig.«
»Er war ruhig? Hat keine Gegenwehr geleistet?«
»Keine Gegenwehr.«
»Sogar als ihm bewusst wurde, dass ihr ihn in die Gummizelle sperren wolltet, war er ruhig und
wehrte sich nicht?«
»So ist es.« Ich verspürte den Drang, das auszuschmücken - Percy wenigstens ein paar Worte
zuzubilligen -, und bezwang ihn. Je einfacher, desto besser, und das wusste ich. »Es gab kein
Theater. Er ging einfach in eine der hinteren Ecken und setzte sich.«
»Sprach er über Wharton?«
»Nein, Sir.«
»Auch nicht über Coffey?«
»Auch nicht über Coffey.«
»Hatte Percy etwas gegen Wharton? Hat er den Mann gehasst?«
»Das kann sein«, sagte ich und senkte die Stimme noch mehr. »Percy war unvorsichtig, Hal. Einmal
packte ihn Wharton, zog ihn an die Gitterstäbe und setzte ihm ziemlich zu.«
»Nichts Schlimmeres? Er >setzte ihm nur zu< ... und das war alles?«
»Ja, aber es war trotzdem ziemlich schlimm für Percy. Wharton sagte, dass er lieber Percy als dessen
Schwester vögeln würde.«
»Hm.« Moores blickte zu John Coffey, als brauchte er eine ständige Bestätigung, dass Coffey eine
reale Person war, tatsächlich auf der Welt »Das erklärt nicht, was mit ihm passierte, aber es kommt
einer Erklärung nahe, warum Percy sich Wharton vornahm und nicht Coffey oder einen von Ihren
Männern. Und da wir gerade von Ihren Männern sprechen, Paul, werden sie alle die gleiche
Geschichte erzählen?«
»Jawohl, Sir«, sagte ich.
»Und das werden sie«, sagte ich zu Jan und löffelte die Suppe, die sie zum Tisch gebracht hatte.
»Dafür werde ich sorgen.«
»Du hast gelogen, wenn auch nur ein bisschen«,
sagte Janice. »Du hast Hal belogen.« Nun, das ist eine Frau, was? Immer sucht sie nach
Mottenlöchern in meinem besten Anzug und wird oftmals fündig.
»Nun, wenn du es so sehen willst. Aber ich habe ihm nichts gesagt, mit dem wir nicht leben können.
Hal ist aus dem Schneider. Er war schließlich überhaupt nicht da. Er war daheim und pflegte seine
Frau, bis Curtis ihn anrief.«
»Sagte er, wie es Melinda geht?«
»Nicht bei diesem Gespräch, dazu war keine Zeit, aber er sprach wieder mit mir, als Brutal und ich
gingen. Melly erinnert sich nicht an viel, aber es geht ihr prima. Sie ist wohlauf und geht herum. Redet
von den Blumenbeeten des nächsten Jahres.«
Meine Frau schaute mir eine Weile beim Essen zu.
Dann fragte sie: »Weiß Hal, dass es ein Wunder ist, Paul? Versteht er das?«
»Ja. Wir alle, die dabei waren, verstehen das.«
»Ein Teil von mir wünscht, ich wäre ebenfalls dabei gewesen«, sagte Janice, »aber ich glaube, in
Wirklichkeit bin ich froh, dass ich nicht dabei war. Wenn ich gesehen hätte, wie es Saulus auf der
Straße nach Damaskus wie Schuppen von den Augen fiel, wäre ich vermutlich an einem Herzanfall
gestorben.«
»Nie«, sagte ich und neigte meinen Suppenteller, um den letzten Löffel voll zu ergattern, »du hättest
ihm vermutlich eine Suppe gekocht. Die ist wirklich hervorragend, Schatz.«
»Gut« Aber sie dachte nicht wirklich an Suppe oder ans Kochen oder an Saulus' Bekehrung auf der
Straße nach Damaskus. Sie schaute aus dem Fenster zu den Hügeln, stützte das Kinn in die Hand, und
ihr Blick war verhangen wie unsere Hügel an einem Sommermorgen, wenn es heiß wird. Wie an
jenem Sommermorgen, an dem die Detterick-Mädchen gefunden wurden, dachte ich. Ich fragte mich,
warum sie nicht geschrieen hatten. Ihr Mörder hatte sie verletzt; es war Blut auf der Veranda und auf
der Treppe gewesen. Warum hatten sie nicht geschrieen?
»Du denkst, in Wirklichkeit hat John Coffey diesen Wharton umgebracht, nicht wahr?« fragte Janice
und wandte endlich den Blick vom Fenster. »Dass es kein Unfall oder so was war; du glaubst er
benutzte Percy Wetmore als Waffe gegen Wharton?«
»Ja.«
»Warum?«
»Ich weiß es nicht«
»Erzähl mir noch einmal, was geschah, als du Coffey von der Meile fortgebracht hast, ja? Nur diesen
Teil, als ihr zu den Moores gefahren seid.«
Und das tat ich. Ich erzählte ihr, dass mich der dünne Arm, der zwischen den Gitterstäben
hervorgeschossen war und John am Bizeps gepackt hatte, an eine Schlange erinnert hatte - an eine
der Mokassinschlangen, vor denen wir alle Angst gehabt hatten, als wir als Kinder im Fluss
geschwommen hatten - und dass Coffey Wharton als bösen Mann bezeichnet hatte. Das hatte er fast
geflüstert.
»Und Wharton sagte ...?«
Meine Frau blickte wieder aus dem Fenster, aber sie hörte zu.
»Wharton sagte: »Stimmt Nigger, so böse du dir nur denken kannst.«
»Und das war alles?«
»Ja. Ich hatte in diesem Augenblick das Gefühl, dass etwas passieren würde, aber nichts geschah.
Brutal zog Whartons Hand von John fort und befahl ihm, sich auf die Pritsche zu legen, und Wharton
tat es. Er sagte, dass Nigger ihren eigenen elektrischen Stuhl haben sollten, und das war alles. Wir
machten mit der Arbeit weiter.«
»John Coffey nannte ihn einen bösen Mann.«
»Ja. Das gleiche sagte er auch einmal über Percy. Ich kann mich nicht genau erinnern, wann, aber ich
weiß, dass er das sagte.«
»Aber Wharton hat John Coffey nie etwas persönlich getan, oder? Er hat ihn nie angegriffen wie
Percy, meine ich.«
»Stimmt. Ihre Zellen lagen weit auseinander -Whartons Zelle auf Höhe des Wachpults, Johns Zelle ein
Stück weiter auf der anderen Seite -, und sie konnten sich kaum sehen.«
»Erzähl mir noch einmal, wie Coffey aussah, als Wharton ihn schnappte.«
»Janice, das führt uns zu nichts.«
»Vielleicht nicht, vielleicht doch. Erzähl mir, wie er aussah.«
Ich seufzte. »Man könnte sagen: schockiert. Er schnappte nach Luft. Wie du es tun würdest, wenn du
dich am Strand sonnst und ich schleiche mich heran und tröpfle dir kaltes Wasser auf den Rücken.
Oder als ob er geschlagen worden wäre.«
»Ja, sicher«, sagte Janice. »Er erschrak, als er wie aus dem Nichts gepackt wurde.«
»Ja«, sagte ich. Und dann: »Nein.«
»Was denn nun? Ja oder nein?«
»Nein. Es war kein Erschrecken. Es war wie zu dem Zeitpunkt als er wollte, dass ich in seine
Zelle komme, damit er meine Blaseninfektion heilen konnte. Oder als er mir die Maus reichen wollte.
Es war Überraschung, aber nicht weil er berührt wurde ... nicht genau jedenfalls ... oh, Jan, ich weiß
es nicht«
»In Ordnung, belassen wir es dabei«, sagte sie. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, warum er es
tat das ist alles. Er ist offenbar nicht gewalttätig von Natur aus. Was zu einer anderen Frage führt
Paul: Wie kannst du ihn hinrichten, wenn du mit diesen Mädchen recht hast? Wie kannst du ihn auf
den elektrischen Stuhl setzen, wenn ein anderer ...«
Ich ruckte auf meinem Stuhl hoch. Mein Ellenbogen stieß gegen den Suppenteller und warf ihn zu
Boden, wo er zerbrach. Mir war eine Idee gekommen. Es war zu diesem Zeitpunkt mehr Intuition als
Logik, aber die Idee hatte einen gewissen Reiz.
»Paul?« fragte Janice bestürzt »Was ist los?«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Ich weiß nichts mit Sicherheit aber ich werde es herausfinden, wenn
ich kann.«
4
Die Nachwirkung der Schießerei war wie ein Zirkus aus drei Manegen; in einer Manege der Gouverneur, in einer das Gefängnis und in der dritten der arme durchgeknallte Percy Wetmore. Und der Zirkusdirektor? Nun, die verschiedenen Gentlemen der Presse lösten sich bei diesem Job ab. Sie waren nicht so schlimm, wie sie das jetzt sind - sie erlaubten sich nicht, so schlimm zu sein -, aber selbst damals, vor Geraldo und Mike Wallace und den übrigen, konnten sie ziemlich wild loslegen, wenn sie wirklich mal zugeschnappt und den Bissen zwischen den Zähnen hatten. Das war diesmal der Fall, und solange die Show lief, machten sie eine gute Show daraus. Aber selbst der aufregendste Zirkus mit dem gruseligsten Monstrositätenkabinett, den lustigsten Clowns und den wildesten Tieren muss schließlich die Stadt verlassen. Unser Zirkus war nach dem Untersuchungsausschuss beendet, der nach etwas Besonderem und Beängstigendem klingt, sich jedoch als ziemlich zahm und oberflächlich erwies. Unter anderen Umständen hätte der Gouverneur zweifellos den Kopf von jemandem auf dem Silbertablett haben wollen, aber diesmal nicht. Sein angeheirateter Neffe - der Blutsverwandte seiner Frau - war irre geworden und hatte einen Mann umgelegt. Hatte einen Killer gekillt wenigstens dafür sei Gott Dank, aber trotzdem blieb die Tatsache, dass Percy den Mann getötet hatte, der schlafend in seiner Zelle gelegen hatte, und das war nicht ganz fair. Wenn man bedachte, dass Percy Wetmore total übergeschnappt blieb, konnte man verstehen, warum der Gouverneur den Zirkus aus der Stadt haben wollte, und zwar so schnell wie möglich.
Unser Ausflug in Harry Terwilligers Truck zu Direktor Moores' Haus kam nie heraus. Dass wir Percy in die Zwangsjacke gesteckt und während unserer Abwesenheit in die Gummizelle eingesperrt hatten, wurde nie aufgedeckt. Die Tatsache, dass William Wharton bis zu den Kiemen voller Betäubungsmittel war, als er von Percy erschossen wurde, kam ebenfalls niemals heraus. Warum auch? Die Behörden hatten keinen Grund zu der Annahme, dass in Whartons Körper irgend etwas außer einem halben Dutzend Kugeln war. Der Coroner entfernte das Blei, der Leichenbestatter legte ihn in eine Kiefernkiste, und das war das Ende des Mannes mit der Tätowierung Billy the Kid auf dem linken Unterarm. Sozusagen gute Entsorgung von schlechtem Abfall.
Alles in allem währte die Aufregung ungefähr zwei Wochen. Während dieser Zeit wagte ich nicht seitwärts zu furzen, geschweige denn, mir einen Tag frei zu nehmen, um Ermittlungen über die Idee anzustellen, die mir am Morgen nach Percys Ausrasten zu Hause am Küchentisch gekommen war. Ich wusste mit Sicherheit, dass der Zirkus die Stadt verlassen hatte, als ich an einem Tag im November zur Arbeit eintraf - es war der zwölfte, glaube ich, aber nageln Sie mich nicht fest. Das war der Tag, an dem ich das Papier, vor dem ich mich so gefürchtet hatte, auf meinem Schreibtisch fand - den Hinrichtungsbefehl für John Coffey. Curtis Anderson hatte ihn anstelle von Hal Moores unterzeichnet aber er war natürlich ebenso legal und hatte durch Hals Hände gehen müssen, um zu mir zu gelangen. Ich konnte mir vorstellen, wie Hal an seinem Schreibtisch in der Verwaltung saß, den Hinrichtungsbefehl in der Hand hielt und an seine Frau dachte, die für die Ärzte im Indianola General Hospital so etwas wie ein NeunTage-Wunder geworden war. Diese Ärzte hatten ihr sozusagen ihren eigenen Hinrichtungsbefehl ausgehändigt, aber John Coffey hatte ihn zerrissen. Jetzt aber war Coffey an der Reihe, über die Green Mile zu gehen, und wer von uns konnte es verhindern? Wer von uns würde es verhindern?
Das Datum auf dem Hinrichtungsbefehl war der 20. November. Drei Tage nach dem Erhalt - am fünfzehnten, nehme ich an - ließ ich mich von Janice telefonisch krank melden. Eine Tasse Kaffee später fuhr ich mit meinem schlecht anspringenden, sonst aber zuverlässigen Ford nach Norden. Janice hatte mich mit einem Kuss auf den Weg geschickt und mir viel Glück gewünscht; ich hatte mich bedankt, aber keine klare Vorstellung mehr gehabt, was viel Glück sein würde - ob ich fand, was ich suchte, oder ob ich es nicht fand. Ich wusste nur mit Sicherheit, dass mir während der Fahrt nicht nach Singen zumute war. Nicht an diesem Tag. Gegen drei Uhr am Nachmittag war ich ziemlich weit oben im Hügelland.
Ich traf beim Gericht des Purdom County ein, kurz bevor das Gebäude geschlossen wurde, schaute mir einige Akten an und erhielt einen Besuch vom Sheriff, der informiert worden war, dass ein Fremder die einheimischen Skelette beschnüffelte. Sheriff Catlett wollte wissen, was ich trieb. Ich sagte es ihm. Catlett dachte darüber nach und erzählte mir dann etwas Interessantes. Er erklärte, er würde leugnen, auch nur ein Wort gesagt zu haben, wenn ich es verbreiten würde, und es war ohnehin nicht schlüssig, aber es war immerhin etwas. Ich dachte auf dem ganzen Heimweg darüber nach und auch die meiste Zeit der Nacht. In dieser Nacht gab es auf meiner Seite des Bettes eine Menge Gedanken und ziemlich wenig Schlaf, das kann ich Ihnen sagen. Am nächsten Tag stand ich auf, als die Sonne erst ein Gerücht im Osten war, und fuhr hinab ins Trapingus County. Ich ging Homer Cribus, diesem großen Sack aus Bauch und Wasser, aus dem Weg und sprach statt dessen mit Deputy Sheriff Rob McGee. McGee wollte nicht hören, was ich ihm sagte. Er sträubte sich äußerst heftig dagegen. An einer Stelle war ich ziemlich überzeugt, dass er mir den Mund polieren würde, damit er es nicht hören musste, aber am Ende stimmte er zu, hinauszufahren und Klaus Detterick ein paar Fragen zu stellen. Ich nehme an, das tat er hauptsächlich, damit er sicher sein konnte, dass nicht ich die Fragen stellte. »Er ist erst neununddreißig, aber er sieht jetzt wie ein alter Mann aus«, sagte McGee, »und er braucht sich von keinem klugscheißerischen Gefängnisaufseher, der sich für einen Detektiv hält, aufregen zu lassen, jetzt, da sich sein Kummer gerade ein wenig gelegt hat. Sie bleiben hier in der Stadt. Ich will Sie nicht in Rufweite der Detterick-Farm haben, aber ich will Sie finden können, wenn ich mit Klaus geredet habe. Wenn Sie sich langweilen, können Sie dort unten in der Imbissstube ein Stück Kuchen essen, das wird Sie beruhigen.« Ich aß zwei Stücke Kuchen, und er machte mich tatsächlich träge. Als McGee in die Imbissstube kam und sich neben mich an die Theke setzte, versuchte ich in seinem Gesicht zu lesen, doch es gelang mir nicht »Nun?« fragte ich.
»Kommen Sie mit mir nach Hause, wir reden dort«, sagte er. »Hier ist es für meinen Geschmack zu öffentlich.«
Wir führten unser Gespräch auf Rob McGees Veranda. Wir waren beide warm angezogen und froren trotzdem, doch Mrs. McGee duldete nicht, dass in ihrem Haus geraucht wurde. Sie war eine Frau, die ihrer Zeit voraus war. McGee sprach eine Weile. Er tat es wie ein Mann, den es kein bisschen erfreute, was er aus seinem eigenen Mund hörte.
»Es beweist nichts, das ist Ihnen klar, nicht wahr?« fragte er, als er fertig war. Sein Tonfall war streitlustig, und er stieß seine selbstgedrehte Zigarette aggressiv in meine Richtung, während er sprach, aber sein Gesicht wirkte wie das eines Kranken. Nicht alles ist ein Beweis, was man in einem Gerichtssaal sieht und hört, das wussten wir beide. Ich kann mir vorstellen, dass Deputy McGee zum einzigen Mal in seinem Leben wünschte, so blöde wie sein Boss zu sein. »Ich weiß«, sagte ich.
»Und wenn Sie denken, Sie bekommen auf Grund dieser einen Sache einen neuen Prozess für ihn, dann sollten Sie besser noch mal darüber nachdenken, Senior. John Coffey ist ein Neger, und im Trapingus County sind wir nicht scharf darauf, Negern neue Prozesse zu geben.« »Das weiß ich auch.« »Was werden Sie also machen?«
Ich schnippte meine Zigarettenkippe über das Verandageländer auf die Straße. Es würde eine lange, kalte Heimfahrt werden, und je früher ich losfuhr, desto eher würde der Ausflug zu Ende sein. »Ich wünsche, ich wüsste das, Deputy McGee«, sagte ich, »aber ich habe keine Ahnung. Ich weiß heute Abend nur, dass es ein Fehler war, dieses zweite Stück Kuchen zu essen.« »Ich will Ihnen was sagen, Sie Schlauberger«, sagte McGee und sprach immer noch in aggressivem Tonfall. »Sie hätten die Büchse der Pandora gar nicht erst öffnen sollen.« »Ich war es nicht, der sie geöffnet hat«, erwiderte ich, und dann fuhr ich heim. Ich traf spät zu Hause ein - nach Mitternacht -, aber meine Frau wartete auf mich. Ich hatte damit gerechnet; dennoch tat es meinem Herzen gut, sie zu sehen, sie in die Arme zu nehmen und fest an mich zu drücken. »Hallo, Fremder«, sagte sie, und dann berührte sie mich unten. »Wieder alles in Ordnung mit diesem Burschen, nicht wahr? So gesund, wie er nur sein kann.« »Jawohl, Ma'am«, sagte ich und hob sie auf meine Arme. Ich brachte sie ins Schlafzimmer, und wir hatten Sex so süß wie Zucker oder wie Honig aus der Wabe, und als ich zum Höhepunkt kam, zu diesem köstlichen Gefühl, sich gehenzulassen, dachte ich an John Coffeys scheinbar endlos weinende Augen. Und an Melindas Worte -Ich habe geträumt, du bist in der Dunkelheit gewandert, und ich auch.
Ich lag immer noch auf meiner Frau, ihre Arme um meinen Nacken geschlungen, unsere Schenkel dicht zusammengepresst und ich begann zu weinen.
»Paul«, sagte sie schockiert und besorgt Ich bezweifle, dass sie mich mehr als zwei- oder dreimal in unserer ganzen Ehe weinen gesehen hatte. Ich war beim normalen Verlauf der Dinge nie weinerlich gewesen. »Paul, was ist los?«
»Ich weiß alles, was ich wissen muss«, sagte ich unter Tränen. »Ich weiß zu gottverdammt viel, wenn du die Wahrheit hören willst. Ich soll John Coffey in weniger als einer Woche auf dem elektrischen Stuhl hinrichten, aber es war William Wharton, der die Detterick-Mädchen ermordete. Es war Wild Bill.«
5
Am nächsten Tag saß dieselbe Gruppe von Wärtern, die nach der verpfuschten Hinrichtung von Delacroix in meiner Küche zu Mittag gegessen hatte, wieder beim Mittagessen zusammen. Diesmal war eine fünfte Person bei unserer Ratsversammlung: meine Frau. Es war Jan, die mich überredet hatte, es den anderen zu erzählen. Mein erster Impuls war gewesen, das nicht zu tun. War es nicht schon schlimm genug, dass wir es wussten?
»Du denkst nicht klar genug darüber«, hatte sie geantwortet »Vermutlich, weil du noch aufgeregt bist. Sie wissen bereits das Schlimmste, dass John wegen eines Verbrechens hingerichtet werden soll, das er nicht begangen hat. Dies macht es wenigstens ein bisschen besser.«
Ich war mir da nicht so sicher, aber ich fügte mich ihrem Urteilsvermögen. Ich rechnete mit einem Aufruhr, als ich Brutal, Dean und Harry erzählte, was ich wusste (ich konnte es nicht beweisen, aber ich wusste es), doch zuerst herrschte nur nachdenkliches Schweigen. Dann nahm Dean noch einen von Janice' Biskuits, bestrich ihn mit ungeheuerlich viel Butter und sagte: »Meinst du, dass John ihn gesehen hat? Hat er die Ermordung der Mädchen oder vielleicht sogar die Vergewaltigung gesehen?« »Ich glaube, wenn er das gesehen hätte, dann hätte er versucht es zu verhindern«, sagte ich. »Aber er kann Wharton gesehen haben, vielleicht als er davonrannte. Wenn er ihn gesehen hat dann hat er das später vergessen.«
»Klar«, sagte Dean. »Er ist was Besonderes, aber das macht ihn nicht gescheit. Er fand heraus, dass es Wharton gewesen war, als Wharton durch die Gitterstäbe der Zelle griff und ihn berührte.« Brutal nickte. »Deshalb wirkte John so überrascht ... so schockiert. Erinnert ihr euch, wie sich seine Augen weiteten?«
Ich nickte. »Er benutzte Percy wie eine Waffe gegen Wharton, hat Janice gesagt, und darüber habe ich nachgedacht. Warum würde John Coffey Wild Bill töten wollen? Percy vielleicht - Percy stampfte direkt vor Coffeys Zelle auf Delacroix' Maus, Percy verbrannte Delacroix bei lebendigem Leib, und John wusste es - aber Wharton? Wharton legte sich mit den meisten von uns auf die eine oder andere Weise an, aber er legte sich überhaupt nicht mit John an, soweit ich weiß, redete er kaum vier Dutzend Worte mit ihm während der ganzen Zeit, in der sie gemeinsam auf der Meile waren, und die Hälfte davon in dieser letzten Nacht. Warum würde er Whartons Tod wünschen? Er war aus dem Purdom County, und außer Weißen sieht man dort nur einen Neger, wenn er einem zufällig über den Weg läuft. Also, warum tat Coffey das? Was kann er gesehen oder empfunden haben, als Wharton ihn berührte, was so schlimm war, dass er das Gift, das er aus Mellys Körper gesogen hatte, aufsparte?« »Wobei er selbst beinahe draufgegangen wäre«, warf Brutal ein.
»Genau das. Und nur die Ermordung der Detterick-Zwillinge konnte ich mir als schlimm genug vorstellen, um Coffeys Tat zu erklären. Ich sagte mir selbst, dass die Idee verrückt ist, ein zu großer Zufall, dass es einfach nicht sein konnte. Dann fiel mir etwas ein, das Curtis Anderson in der ersten Aktennotiz geschrieben hatte, die ich über Wharton erhalten hatte - dass Wharton verrückt und wild ist und vor dem Überfall, bei dem er all diese Leute tötete, durch den ganzen Staat streifte. Er streifte durch den ganzen Staat. Das blieb bei mir haften. Dann die Art, wie er bei seiner Ankunft versuchte, Dean zu erwürgen. Das brachte mich auf den Gedanken ...«
»Der Hund«, sagte Dean. Er rieb sich über den Hals, um den Wharton die Kette geschlungen hatte. Ich bezweifle, dass ihm die Geste bewusst war. »Wie das Genick des Hundes gebrochen war.« »Jedenfalls fuhr ich ins Purdom County, um Whartons Gerichtsakten zu überprüfen - wir hatten hier nur die Berichte über die Morde, die ihn zur Green Mile brachten. Sozusagen über das Ende seiner Karriere. Ich wollte den Anfang wissen.« »Da war viel?« fragte Brutal
»Ja. Vandalismus, Diebstahl, Brandstiftung bei Heumieten, sogar Diebstahl von Sprengstoff - er und ein Freund klauten eine Dynamitstange und brachten sie bei einem Bach zur Explosion. Er geriet früh auf die falsche Bahn, als Zehnjähriger, aber was ich wissen wollte, war nicht da. Dann tauchte der Sheriff auf, um festzustellen, wer ich war und was ich wollte, und das erwies sich als Glücksfall. Ich log ihm was vor, erzählte ihm von einer Durchsuchung der Zelle, bei der Fotos unter Whartons Matratze gefunden wurden - Fotos von kleinen nackten Mädchen.
Ich sagte, ich wollte überprüfen, ob Wharton eine Vorgeschichte als Pädophiler hatte, weil ich von einer Reihe ungelöster Fälle in Tennessee gehört hätte. Ich vermied es sorgfältig, die Detterick-Zwillinge zu erwähnen. Sie kamen ihm wohl auch nicht in den Sinn.«
»Na klar«, sagte Harry. »Warum hätte er daran denken sollen? Dieser Fall ist schließlich gelöst« »Ich sagte, es hätte wohl keinen Sinn, die Sache weiter zu verfolgen, weil nichts in Whartons Akte stand. Ich meine, es stand viel in der Akte, aber nichts über solche Dinge. Da lachte der Sheriff -Catiett heißt er - und erklärte, dass nicht alles, was ein fauler Apfel wie Bill Wharton getan hätte, in den Gerichtsakten stünde, und was spielte das ohnehin für eine Rolle? Er war doch tot, oder? Ich sagte, ich wollte nur meine Neugier befriedigen, nichts sonst, und da entspannte er sich. Er brachte mich zurück zu seinem Büro, bot mir Platz an, gab mir eine Tasse Kaffee und Gebäck und erzählte mir, dass vor sechzehn Monaten, als Wharton kaum achtzehn gewesen war, ein Mann im westlichen Teil des Countys ihn in der Scheune mit seiner Tochter erwischt hatte. Es war keine Vergewaltigung; der Mann beschrieb es bei Catiett als >nicht viel mehr als Fummelei mit dem Stinkefinger<. Verzeihung, Schatz.«
»Schon gut«, sagte Janice. Sie sah jedoch blass aus. »Wie alt war das Mädchen?« fragte Brutal.
»Neun«, sagte ich. Er zuckte zusammen. »Der Mann hätte sich vielleicht auf die Suche nach Wharton gemacht, wenn er einige große Brüder oder Cousins als Helfer gehabt hätte, aber das war nicht der Fall. So ging er zu Catiett, machte jedoch klar, dass er Wharton nur warnen wollte. Keiner will so eine eklige Sache in der Öffentlichkeit breittreten, wenn es sich vermeiden lässt. Sheriff Catiett hatte sich schon eine Weile mit Whartons Missetaten herumgeschlagen - hatte Wharton mit fünfzehn für acht Monate oder so in eine Besserungsanstalt gebracht -, und er sagte sich, dass es reichte. Er nahm drei Deputys mit, sie gingen zu den Whartons, schoben Mrs. Wharton zur Seite, als sie heulte und jammerte, und dann warnten sie Mr. William >Billy the Kid< Wharton, was mit großen, pickelgesichtigen Bauernlümmeln passiert, die mit kleinen Mädchen auf den Heuboden gehen, die nicht alt genug sind, um etwas von ihrer Periode gehört, geschweige denn, sie bekommen zu haben. >Wir haben diesen Scheißer gut gewarnt, erzählte mir Catiett »Gewarnt, bis sein Schädel blutete, seine Schulter ausgerenkt war und sein Steißbein fast gebrochen war.<«
Brutal lachte unwillkürlich. »Das klingt nach Purdom County«, bemerkte er. »Ob es einem gefällt oder nicht.«
»Ungefähr drei Monate später brach Wharton aus und begann die Serie von Verbrechen, die mit dem Überfall endete«, sagte ich. »Damit und mit den Morden, die ihn zu uns brachten.« »Er hatte also einmal etwas mit einem minderjährigen Mädchen«, sagte Harry. Er nahm seine Brille ab, hauchte auf die Gläser und polierte sie. »Weit minderjährig. Einmal ist aber noch kein Verhaltensmuster, nicht wahr?«
»Wer so etwas tut, der macht es nicht nur einmal«, sagte meine Frau und presste die Lippen so fest zusammen, dass sie fast nicht mehr da waren.
Als nächstes erzählte ich von meinem Besuch im Trapingus County. Ich war weitaus offener bei Rob McGee gewesen - ich hatte wirklich keine Wahl gehabt.
Bis heute habe ich keine Ahnung, welche Geschichte er Mr. Detterick erzählte, aber der McGee, der sich in der Imbissstube neben mich setzte, wirkte um sieben Jahre gealtert. Mitte Mai, ungefähr einen Monat vor dem Überfall und den Morden, die Whartons kurze Karriere als Verbrecher beendeten, hatte Klaus Detterick seine Scheune anstreichen lassen (und zufällig Bowsers Hundehütte daneben). Er hatte nicht gewollt, dass sein Sohn auf einem hohen Gerüst herumkletterte, und der Junge war ohnehin in der Schule gewesen, und so hatte er einen Burschen angeheuert. Ein nett wirkender Kerl. Sehr still. Es war eine Arbeit von drei Tagen gewesen. Nein, der Typ hatte nicht im Haus geschlafen, Detterick war nicht so blöde gewesen, zu glauben, dass nett wirkende und ruhige Typen immer Sicherheit bedeuteten, besonders nicht in diesen mageren Zeiten, in denen sich so viel Gesindel auf den Straßen herumtrieb. Ein Mann mit Familie musste vorsichtig sein. Jedenfalls hatte der Mann kein Quartier gebraucht; er hatte Detterick erzählt, dass er sich ein Zimmer in der Stadt bei Eva Price genommen hatte. Es gab eine Lady namens Eva Price in Tefton, und sie vermietete Zimmer, aber sie hatte in diesem Mai keinen Mieter, auf den die Beschreibung von Dettericks Arbeiter passte, nur die üblichen Mieter mit karierten Anzügen und Derbyhüten, Mieter, die Musterkoffer schleppten -mit anderen Worten: Vertreter. McGee konnte mir das sagen, weil er auf dem Rückweg von der Detterick-Farm bei Mrs. Price vorbeifuhr und das überprüfte - das zeigt, wie verunsichert er war. »Aber es gibt kein Gesetz, das einem verbietet, im Wald zu schlafen, Mr. Edgecombe«, fügte McGee hinzu. »Ich habe das auch schon mal getan.« Der angeheuerte Mann schlief nicht in Dettericks Haus, aber er aß zweimal mit ihnen zu Abend. Er hat Howie kennen gelernt. Er hat die Mädchen, Cora und Käthe, kennen gelernt. Er hat ihr Geplapper gehört, und einiges davon drehte sich darum, wie sehr sie sich auf den Sommer freuten, denn wenn sie brav waren und das Wetter gut war, ließ ihre Mama sie manchmal auf der Veranda schlafen, wo sie Pionierfrauen spielen und so tun konnten, als durchquerten sie in Conestoga-Planwagen die Great Plains.
Ich kann ihn dort am Tisch sitzen sehen, wie er Brathähnchen mit Mrs. Dettericks Roggenbrot aß,
zuhörte und seine Wolfsaugen gut verschleierte, nickte, ein wenig lächelte und sich alles genau
merkte.
»Das klingt nicht nach dem Wilden, von dessen Ankunft auf der Meile du mir erzählt hast, Paul«,
sagte Janice zweifelnd. »Kein bisschen.«
»Sie haben ihn nicht im Krankenhaus in Indianola gesehen, Ma'am«, sagte Harry. »Wie er da mit
offenem Mund stand und sein nackter Hintern aus der Pyjamahose hing. Er ließ sich von uns
anziehen. Wir dachten, er ist entweder high oder blöde. Nicht wahr, Dean?«
Dean nickte.
»Am Tag, nachdem er die Scheune fertig angestrichen hatte und gegangen war, überfiel ein
maskierter Mann das Frachtbüro in Jarvis«, erzählte ich weiter. »Entkam mit siebzig Dollar. Er nahm
auch einen Silberdollar aus dem Jahr 1892 mit den der Mann vom Frachtbüro als Glücksbringer bei
sich trug. Dieser Silberdollar befand sich bei Wharton, als er festgenommen wurde, und Jarvis ist nur
dreißig Meilen von Tefton entfernt«
»Du meinst, dass dieser Räuber ... dieser Wilde ... einfach drei Ruhetage eingelegt hat, als er Klaus
Detterick beim Anstreichen seiner Scheune half«, sagte meine Frau. »Dass er mit ihnen zu Abend
gegessen hatte und wie ein höflicher Mann die Schüssel mit den Erbsen weiterreichte?«
»Das Unheimlichste an Männern wie ihm ist ihre Unberechenbarkeit«, sagte Brutal. »Er hat vielleicht
geplant, die Dettericks zu töten und ihr Haus nach Beute zu durchsuchen, und sich dann anders
entschieden, weil eine Wolke zum falschen Zeitpunkt die Sonne verdunkelte oder ihm sonst etwas
nicht passte. Vielleicht wollte er sich auch nur ein paar Tage ducken, um nicht aufzufallen. Aber
wahrscheinlicher ist, dass er bereits ein Auge auf die beiden Mädchen geworfen hatte und seine
Rückkehr plante. Meinst du nicht auch, Paul?«
Ich nickte. Natürlich meinte ich das. »Und dann ist da der Name, den er Detterick nannte.«
»Welchen Namen?« fragte Jan.
»Will Bonney.«
»Bonney? Ich weiß nicht...«
»Das war Billy the Kids richtiger Name.«
»Oh.« Dann weiteten sich ihre Augen. »Oh! So kannst du also John Coffey retten! Gott sei Dank Du
brauchst Mr. Detterick nur ein Foto von William Wharton zu zeigen ... Sein Kopfbild aus dem
Verbrecheralbum sollte reichen ...«
Brutal und ich tauschten unbehaglich einen Blick. Dean wirkte ein bisschen hoffnungsvoll, aber Harry
starrte auf seine Hände, als sei er auf einmal brennend an seinen Fingernägeln interessiert.
»Was ist los?« fragte Janice. »Warum blickt ihr so belämmert drein? Gewiss wird dieser McGee ...«
»Ich halte Rob McGee für einen aufrechten Mann, und ich glaube, er ist ein guter Gesetzeshüter«,
unterbrach ich sie, »aber er hat kein Gewicht im Trapingus County. Die Macht dort hat Sheriff Cribus,
und an dem Tag, an dem er den Detterick-Fall auf Grund dessen, was ich herausgefunden habe, neu
aufrollt, wird es in der Hölle schneien.«
»Aber ... wenn Wharton dort war ... wenn Detterick ihn auf dem Foto identifizieren kann und sie
wissen, dass er dort war...«
»Dass er im Mai dort war, heißt nicht, dass er im Juni zurückkehrte und die Mädchen ermordete«,
sagte Brutal. Er sprach mit ruhiger, freundlicher Stimme, wie man mit jemandem redet, dem man
sagt, dass es einen Todesfall in der Familie gegeben hat »Einerseits gibt es diesen Typen, der Klaus
Detterick geholfen hat die Scheune anzustreichen, und der dann weggegangen ist. Es stellt sich
heraus, dass er in der ganzen Gegend Verbrechen begangen hat aber in den drei Tagen im Mai, an
denen er in der Nähe von Tefton war, liegt nichts gegen ihn vor. Andererseits gibt es diesen großen
Schwarzen, diesen riesigen Neger, der am Flussufer gefunden wurde und die beiden toten und
nackten Mädchen auf den Armen hielt«
Brutal schüttelte den Kopf.
»Paul hat recht Jan. McGee mag seine Zweifel haben, aber er zählt nicht. Der einzige, der diesen Fall
neu aufrollen kann, ist Cribus, und Cribus will sich nicht verderben, was er für ein Happy-End
hält - >Es war ein Nigger«, denkt er, >und auf keinen Fall einer von uns.< Wunderbar. Ich fahre nach
Cold Mountain, genehmige mir ein Steak und ein Bier bei Ma's, schaue zu, wie Coffey brät, und dann
hat die Sache ein Ende.«
Janice hörte sich all dies mit zunehmend entsetzter Miene an und wandte sich dann an mich.
»Aber McGee glaubt es, nicht wahr, Paul? Das konnte ich dir am Gesicht ansehen. Deputy McGee
weiß, dass er den falschen Mann festgenommen hat. Wird er da nicht gegen den Sheriff
aufbegehren?«
»Dadurch kann er nur seinen Job verlieren«, sagte ich. »Ja, ich nehme an, dass er im Herzen weiß,
dass Wharton der Täter war. Aber er sagt sich, wenn er den Mund hält und mitspielt, bis Cribus
entweder in Pension geht oder sich zu Tode frisst, bekommt er den Posten. Und dann ändern sich die
Dinge. Ich kann mir vorstellen, dass er sich das sagt, um ruhig zu schlafen.
Und er unterscheidet sich in einem Punkt vermutlich nicht so sehr von Homer Cribus. Er wird sich
sagen: >Es ist schließlich nur ein Neger. Es ist ja nicht so, dass sie einen Weißen hinrichten.<«
»Dann musst du zu ihnen gehen«, sagte Janice, und ich fröstelte bei dem entschiedenen Tonfall, der
keinen Einwand gelten ließ. »Geh und sag ihnen, was du herausgefunden hast«
»Und was sollen wir ihnen sagen, wie wir es herausgefunden haben, Jan?« fragte Brutal wieder mit
dieser sanften Stimme. »Sollen wir ihnen sagen, dass Wharton sich John schnappte, während wir ihn
aus dem Gefängnis brachten, damit er ein Wunder an der Frau des Direktors bewirken konnte?«
»Nein ... natürlich nicht, aber ...« Sie sah, auf welch dünnem Eis sie sich bewegte, und suchte ein
anderes, das tragen würde. »Dann lügt«, sagte sie. Sie schaute Brutal trotzig an und wandte sich
wieder mir zu. Ihr Blick war heiß genug, um ein Loch in eine Zeitung zu brennen.
»Lügen?« fragte ich. »Wobei sollen wir lügen?«
»Bei dem, was du zuerst im Purdom County und dann unten im Trapingus herausgefunden hast. Sag
diesem fetten alten Sheriff Cribus, dass Wharton dir gestanden hat, dass er die Detterick-Mädchen
vergewaltigt und ermordet hat, dass er ein richtiges Geständnis abgelegt hat« Sie wandte den heißen
Blick kurz zu Brutal. »Sie können ihn unterstützen, Brutus. Sie können sagen, Sie waren dabei, als
Wharton gestand, Sie haben es ebenfalls gehört Ha, Percy hat es vermutlich auch gehört, und deshalb
drehte er durch. Er erschoss Wharton, weil er nicht den Gedanken ertragen konnte, was Wharton
diesen kleinen Mädchen angetan hatte. Da verlor er den Verstand. Einfach ... was ist los? Was, in
Gottes Namen, ist los?«
Nicht nur Brutal und ich, auch Harry und Dean starrten sie entsetzt an.
»Wir haben so etwas nicht gemeldet Ma'am«, sagte Harry. Er sprach, als redete er mit einem Kind.
»Als erstes würden die Leute fragen, warum wir das nicht gemeldet haben. Wir sollen alles melden,
was unsere Zellen-Babys über vorangegangene Verbrechen sagen. Ihre oder die anderer.«
»Nicht dass wir ihm geglaubt hätten«, warf Brutal ein. »Ein Mann wie Wild Bill Wharton lügt bei allem,
Janice. Bei Verbrechen, die er angeblich begangen hat bei hohen Tieren, die er gekannt hat bei
Frauen, mit denen er geschlafen hat bei sportlichen Rekorden auf der High School und sogar beim
Wetter.«
»Aber ... aber ...« Ihre Miene wirkte gequält. Ich wollte den Arm um Janice legen, doch sie schob ihn
heftig weg. »Aber er war dort! Er strich ihre verdammte Scheune an! ER ASS MIT IHNEN ZU ABEND!«
»Um so mehr Grund für ihn, sich mit den beiden Morden zu brüsten«, sagte Brutal. »Warum sollte er
nicht mit den Verbrechen prahlen? Was konnte ihm schon passieren? Man kann nicht zweimal gegrillt
werden.«
»Mal sehen, ob ich das alles richtig verstanden habe«, sagte Janice. »Wir hier am Tisch wissen, dass
John Coffey diese Mädchen nicht getötet hat, sondern versucht hat, ihr Leben zu retten. Deputy
McGee weiß all das natürlich nicht, aber er vermutet stark, dass der Mann, der für die Tat zum Tode
verurteilt worden ist, sie nicht begangen hat. Und trotzdem ... trotzdem ... könnt ihr nicht dafür
sorgen, dass er einen neuen Prozess bekommt, dass der Fall neu aufgerollt wird.«
»Genau«, sagte Dean. Er polierte heftig seine Brillengläser. »Genau so ist es.«
Janice senkte den Kopf und dachte nach. Brutal wollte etwas sagen, doch ich hob eine Hand und
brachte ihn zum Schweigen. Ich glaubte zwar nicht, dass Janice eine Lösung finden konnte, wie wir
John vor dem elektrischen Stuhl retten konnten, aber ich hielt es auch nicht für unmöglich. Sie war
eine schrecklich gescheite Lady, meine Frau, und ebenso schrecklich entschlossen. Das ist eine
Kombination, die manchmal Berge versetzt.
»Also gut«, sagte sie schließlich. »Dann müsst ihr ihn auf eigene Faust aus der Zelle herausholen.«
»Ma'am?« Harry starrte sie entgeistert an. Und verängstigt.
»Ihr könnt das. Dir habt es schon einmal gemacht, nicht wahr? Dir könnt das wiederholen.
Doch diesmal werdet ihr ihn nicht zurückbringen.«
»Wollen Sie es sein, die meinen Kindern erklärt, warum ihr Daddy im Knast sitzt, Mrs. Edgecombe?«
fragte Dean. »Angeklagt weil er einem Mörder bei der Flucht aus dem Gefängnis geholfen hat?«
»Es wird keine Anklage geben, Dean; wir werden einen Plan ausarbeiten. Es wird wie ein echter
Ausbruch aussehen.«
»Achten Sie darauf, dass es ein Plan ist den sich ein Typ ausgedacht hat der sich nicht mal erinnern
kann, wie man seine Schnürsenkel bindet«, sagte Harry. »Man muss ihm den Plan glauben.«
Sie schaute ihn unsicher an.
»Es würde zu nichts Gutem führen«, sagte Brutal. »Selbst wenn wir einen Weg finden, würde er zu
nichts Gutem führen.«
»Warum nicht?« Janice hörte sich an, als würde sie gleich weinen. »Warum nicht verdammte Hölle?«
»Weil er ein zwei Meter großer, kahlköpfiger Schwarzer ist der kaum genug Verstand hat, sich zu
ernähren«, sagte ich. »Was glaubst du, wie schnell er wieder eingefangen würde? In zwei Stunden? in
sechs?«
»Er ist zuvor zurechtgekommen, ohne viel Aufmerksamkeit zu erregen«, sagte Janice. Eine Träne rann
über ihre Wange. Sie wischte die Träne mit dem Handrücken fort.
Das stimmte. Ich hatte Briefe an einige Freunde und Verwandte tiefer im Süden geschrieben und
gefragt ob sie irgend etwas über einen Mann in den Zeitungen gelesen hatten, auf den John Coffeys
Beschreibung passte. Überhaupt nichts. Janice hatte sich ebenfalls erkundigt Bis jetzt wussten wir nur
von einem Fall, bei dem Coffey möglicherweise gesehen worden war, in der Stadt Muscle Shoals,
Alabama. Ein Tornado hatte dort eine Kirche während einer Chorprobe hinweggefegt - das war 1929
gewesen -, und ein großer Schwarzer hatte zwei Chormitglieder aus den Trümmern gezogen. Beide
waren von Umstehenden für tot gehalten worden, aber es stellte sich heraus, dass keiner von ihnen
auch nur ernsthaft verletzt war. Es war wie ein Wunder, hatte einer der Augenzeugen gesagt. Der
Schwarze, ein Herumtreiber, der vom Pastor angeheuert worden war, um einen Tag ein paar
Aufgaben zu erledigen, war in dem Trubel danach verschwunden.
»Sie haben recht, Janice, er ist herumgekommen«, sagte Brutal. »Aber Sie müssen bedenken, dass er
sich durchgemogelt hat, bevor er als Vergewaltiger und Mörder zweier kleiner Mädchen verurteilt
wurde.«
Janice gab keine Antwort. Sie saß fast eine volle Minute stumm da, und dann tat sie etwas, was mich
so sehr schockierte, wie sie von meiner Tränenflut schockiert gewesen sein musste. Sie wischte mit
einem weiten Schwung alles vom Tisch - Teller, Gläser, Tassen, Bestecke, die Schüssel mit
Kartoffelbrei, den Teller mit Schinken, die Milch, die Kanne mit dem kalten Tee. Alles vom Tisch und
auf den Boden - klirr-krach-schmetter.
»Scheiße«, stieß Dean hervor und ruckte so abrupt vom Tisch fort, dass er fast mit dem Stuhl
umgekippt wäre.
Janice ignorierte ihn. Sie starrte Brutal und mich an, hauptsächlich mich. »Wollt ihr ihn töten, ihr
Feiglinge?« fragte sie. »Wollt ihr den Mann töten, der Melinda Moores' Leben gerettet hat? Der
versucht hat das Leben dieser kleinen Mädchen zu retten? Nun, dann wird wenigstens ein Schwarzer
weniger auf der Welt sein, nicht wahr? Damit könnt ihr euch trösten. Ein Nigger weniger.«
Sie stand auf, schaute auf ihren Stuhl und trat ihn gegen die Wand. Er prallte ab und kippte in den
verstreuten Kartoffelbrei. Ich fasste Janice am Handgelenk an, doch sie riss sich los.
»Rühr mich nicht an!« sagte sie. »Nächste Woche um diese Zeit wirst du ein Mörder sein, nicht besser
als dieser Wharton, also rühr mich nicht an!«
Sie ging hinaus auf die hintere Veranda, zog ihre Schürze übers Gesicht und schluchzte hinein. Wir
vier schauten uns an. Nach einer Weile erhob ich mich und begann, die Küche zu säubern. Brutal half
mir, dann machten auch Harry und Dean mit. Als es in der Küche wieder mehr oder weniger tipptopp
aussah, gingen sie. Die ganze Zeit sagte keiner von uns ein Wort.
Es gab wirklich nichts mehr zu sagen.
6
In dieser Nacht hatte ich dienstfrei. Ich saß im Wohnzimmer unseres kleinen Hauses, rauchte
Zigaretten, hörte Radio und beobachtete, wie die Dunkelheit den Himmel verschluckte. Fernsehen ist
in Ordnung, ich habe nichts dagegen, aber ich mag nicht, wie es einen vom Rest der Welt weg zu
seinem eigenen glasigen Ich hin zieht. In dieser Hinsicht jedenfalls war es besser, Radio zu hören.
Janice kam herein, kniete sich neben die Lehne meines Sessels und ergriff meine Hand. Eine Zeitlang
sagte keiner von uns etwas, wir verharrten nur so und lauschten Kay Kaisers Kollege of Musical
Knowledge und beobachteten, wie sich die Sterne zeigten. Es war alles in Ordnung für mich.
»Es tut mir so leid, dass ich dich einen Feigling genannt habe«, sagte Janice. »Ich fühle mich
schlimmer deswegen als wegen allem, das ich in unserer ganzen Ehe zu dir gesagt habe.«
»Sogar als wir zum Campingplatz fuhren und du mich Old Stinky Sam genannt hast?« fragte ich, und
dann lachten wir und küssten uns, und es war wieder besser zwischen uns. Sie war so wunderbar,
meine Janice, und ich träume immer noch von ihr. Alt und des Lebens müde, wie ich bin, werde ich
davon träumen, dass sie in diesem einsamen, vergessenen Ort, wo die Dielen nach Pisse und altem
angebranntem Kohl stinken, in mein Zimmer tritt.
Ich träume von ihrer Jugend und Schönheit, von ihren blauen Augen und den feinen, stolzen Brüsten,
und ich kann kaum meine Hände über der Bettdecke halten. Sie sagt dann: Schatz, ich war nicht bei
diesem Busunfall. Du hast dich geirrt, das ist alles. Sogar jetzt träume ich das noch, und manchmal,
wenn ich aufwache und mir bewusst wird, dass es ein Traum war, heule ich. Ich, der als Junge kaum
jemals geheult hat.
»Weiß Hal davon?« fragte Janice schließlich.
»Dass John unschuldig ist? Ich wüsste nicht, wie er das wissen sollte.«
»Kann er helfen? Hat er Einfluss bei Cribus?«
»Kein bisschen, Schatz.«
Sie nickte, als ob sie das erwartet hätte. »Dann sag es ihm nicht. Wenn er nicht helfen kann, sag ihm
um Gottes willen nichts davon.«
»Ja, ich sage ihm nichts.«
Sie schaute mich ruhig an. »Und du wirst dich in dieser Nacht nicht krank melden. Keiner von euch
wird das tun. Das könnt ihr nicht tun.«
»Richtig, das können wir nicht. Wenn wir dabei sind, können wir es wenigstens schnell für ihn
machen. Soviel können wir tun. Es wird nicht wie bei Delacroix sein.« Einen Moment lang, einen
gnädig kurzen, sah ich die schwarze Seidenhaube von Dels Gesicht wegbrennen und die gekochten
Klümpchen von Gelee, die seine Augen gewesen waren.
»Es gibt keinen Ausweg für dich, oder?« Janice führte meine Hand zu ihrer samtweichen Wange und
rieb sie auf und ab. »Armer Paul. Armer guter Junge.«
Ich sagte nichts. Nie zuvor im Leben hatte ich so sehr gewünscht vor etwas davonzulaufen. Einfach
Jan mitzunehmen, wir beide mit einer einzigen gepackten Reisetasche zwischen uns, und irgendwohin
zu laufen.
»Mein armer guter Junge«, wiederholte sie. Und dann: »Rede mit ihm.«
»Mit wem? John?«
»Ja. Rede mit ihm. Finde heraus, was er will.«
Ich dachte darüber nach und nickte. Sie hatte recht. Wie meistens.
z
Zwei Tage später, am achtzehnten, brachten Bill Dodge, Hank Bitterman und noch jemand - ich
erinnere mich nicht, wer es war, irgendein Springer - John Coffey zum Block D zum Duschen, und
während er fort war, probten wir seine Hinrichtung.
Wir ließen John nicht von TootToot doubeln; wir alle wussten, ohne darüber zu reden, dass es eine
Obszönität gewesen wäre.
Ich war das Double.
»John Coffey«, sagte Brutal mit nicht ganz fester Stimme, als ich festgeschnallt auf Old Sparky saß.
»Du bist zum Tode auf dem elektrischen Stuhl verurteilt worden, und das Urteil ist von einer Jury von
deinesgleichen gefällt worden ...«
John Coffey - seinesgleichen? Welch ein Witz. Soweit ich wusste, gab es keinen wie ihn auf dem
Planeten. Dann dachte ich an das, was John gesagt hatte, als er am Fuß der Treppe von meinem Büro
stehen geblieben war und auf Old Sparky gestarrt hatte. Sie sind noch da, ich höre sie schreien.
»Lasst mich runter«, sagte ich mit belegter Stimme. »Schnallt mich los.«
Sie taten es, aber für einen Moment fühlte ich mich wie festgeklebt auf dem elektrischen Stuhl, als
wollte Old Sparky mich nicht gehen lassen.
Als wir zum Block zurückgingen, sagte Brutal so leise zu mir, dass sogar Dean und Harry, die die
letzten Klappstühle aufstellten, es nicht hören konnten: »Ich habe ein paar Dinge in meinem Leben
getan, auf die ich nicht stolz bin, aber dies ist das erste Mal, dass ich mich tatsächlich fühle, als
riskierte ich es, in die Hölle zu kommen.«
Ich sah ihn an, um mich zu vergewissern, dass er nicht scherzte.
Ich bezweifelte, dass er das tat »Wie meinst du das?«
»Ich meine, wir werden bald ein Geschenk Gottes töten«, sagte er. »Eines, das uns nie etwas angetan
hat und keinem sonst etwas tun wird. Ich will damit sagen, dass ich vor Gott, dem allmächtigen Vater,
enden werde und er eine Erklärung von mir verlangt, warum ich es getan habe. War das mein Job?
Mein Job?
8
Als John vom Duschen zurückgebracht wurde und die Springer weg waren, schloss ich seine Zelle auf, ging hinein und setzte mich auf die Pritsche zu ihm. Brutal war am Wachpult.
Er blickte auf und sah mich dort allein bei Coffey, sagte jedoch nichts. Er beschäftigte sich einfach
weiter mit seiner Schreibarbeit und leckte andauernd an der Spitze seines Bleistifts.
John schaute mich mit seinen sonderbaren Augen an - blutunterlaufen, entrückt den Tränen nahe -
und doch ruhig, als ob ein verweintes Leben nicht so schlimm war, wenn man sich erst daran gewöhnt
hatte. Er lächelte sogar ein wenig. Er roch nach Ivory-Seife, daran erinnere ich mich, und er war so
sauber und frisch wie ein Baby nach seinem abendlichen Bad.
»Hallo, Boss«, sagte er, und dann ergriff er mit beiden Händen meine Hände. Er tat es mit einer
perfekten Natürlichkeit.
»Hallo, John.« Da war ein kleiner Kloß in meiner Kehle, und ich versuchte, ihn hinunterzuschlucken.
»Ich nehme an, du weißt, dass es jetzt bald soweit ist. Noch zwei Tage.«
Er sagte nichts, saß nur da und hielt meine Hände in seinen. Im nachhinein denke ich, dass bereits
etwas mit mir geschah, aber ich war zu konzentriert auf meine Pflicht - geistig und gefühlsmäßig -, um
es zu bemerken.
»Möchtest du etwas Besonderes in dieser Nacht zum Abendessen, John? Wir können dir fast alles
besorgen. Wir können dir sogar ein Bier bringen, wenn du eins möchtest. Du musst es nur in einem
Kaffeebecher trinken, das ist alles.«
»Hat mir nie geschmeckt«, sagte er.
»Möchtest du dann etwas Besonderes essen?«
Er runzelte die Stirn unter dem gewaltigen Kahlkopf. Dann glätteten sich die Falten, und er lächelte.
»Hackbraten wäre gut«
»Also Hackbraten. Mit Soße und Püree.« Ich spürte ein Kribbeln, wie man es im Arm spürt, wenn man
darauf geschlafen hat doch dieses Kribbeln war an meinem ganzen Körper. In meinem Körper. »Was
möchtest du sonst noch?«
»Weiß nicht Boss. Was immer Sie haben. Eine Gumboschote vielleicht aber ich bin nicht wählerisch.«
»In Ordnung«, sagte ich, und ich dachte, er würde ebenfalls ein Stück von Mrs. Janice Edgecombes
Pfirsichtorte zum Nachtisch bekommen. »Wie steht es mit dem Priester? Mit jemand, mit dem du
übernächste Nacht ein kleines Gebet sprichst? Das tröstet einen, das habe ich oft erlebt. Ich könnte
Kontakt mit Reverend Schuster aufnehmen, das ist der Mann, der kam, als Del...«
»Ich will keinen Priester«, sagte John. »Sie waren gut zu mir, Boss. Sie können ein Gebet sprechen,
wenn Sie wollen. Das wäre in Ordnung. Ich könnte mich eine Weile mit Ihnen hinknien, nehme ich
an.«
»Ich? John, ich kann nicht...«
Er drückte meine Hände ein wenig fester, und dieses kribbelnde Gefühl wurde stärker. »Sie können«.,
sagte er. »Nicht wahr, Boss?«
»Ich nehme es an«, hörte ich mich sagen. Meine Stimme schien ein Echo zu entwickeln. »Ich nehme
an, ich kann es, wenn es sein muss.«
Das Gefühl war jetzt stark in mir, und es war wie zuvor, als er mein Wasserwerk von der
Blaseninfektion geheilt hatte, doch es war auch anders. Und nicht nur, weil ich diesmal nicht krank
war. Es war anders, weil er diesmal nicht wusste, dass er es tat. Plötzlich bekam ich schreckliche
Angst, erstickte fast an dem Verlangen, aus der Zelle herauszukommen. Lichter gingen in mir an, wo
nie zuvor welche gewesen waren.
Nicht nur in meinem Gehirn; in meinem ganzen Körper.
»Sie und Mr. Howell und die anderen Bosse waren gut zu mir«, sagte John Coffey. »Ich weiß, Sie
haben sich Sorgen gemacht aber damit sollten Sie jetzt aufhören. Denn ich will gehen, Boss.«
Ich wollte sprechen und konnte es nicht. Aber er konnte sprechen. Was er als nächstes sagte, war das
Längste, das ich je von ihm hörte.
»Ich bin den Schmerz leid, den ich höre und fühle, Boss. Ich habe es satt, auf der Straße zu sein,
einsam wie eine Wanderdrossel in der Nacht. Nie einen Freund zu haben, der mich begleitet oder mir
sagt woher wir kommen oder gehen oder warum. Ich habe es satt, dass Leute gemein zueinander
sind. Das ist ein Gefühl wie Glasscherben in meinem Kopf. Ich mag nicht mehr all die Zeiten erleben,
an denen ich helfen wollte und es nicht konnte. Ich bin es leid, in der Dunkelheit zu sein. Aber
hauptsächlich ist es der Schmerz. Er ist zu stark. Wenn ich ihn beenden könnte, würde ich das tun.
Aber ich kann es nicht«
Hör auf, wollte ich sagen. Hör auf, lass meine Hände los, ich werde sonst ertrinken. Ertrinken oder
explodieren.
»Sie werden nicht explodieren«, sagte er und lächelte ein wenig bei der Vorstellung ..., aber er ließ
meine Hände los.
Ich neigte mich vor und schnappte nach Luft. Zwischen meinen Knien konnte ich jeden Riss im Boden,
jede Furche, jedes Glänzen von Glimmererde sehen. Ich schaute auf zur Wand und sah Namen, die
dort 1924, 1926, 1931 hingeschrieben worden waren.
Diese Namen waren weggewaschen worden, die Männer, die sie geschrieben hatten, waren
sozusagen ebenfalls weggewaschen worden, aber ich nehme an, man kann nie etwas völlig
abwaschen, nicht in diesem dunklen Glas einer Welt, und jetzt sah ich sie wieder, ein Gewirr von
Namen übereinander, und während ich darauf schaute, war es, als hörte ich die Toten sprechen und
singen und um Gnade schreien.
Ich spürte meine Augäpfel in ihren Höhlen pulsieren, nahm meinen eigenen Herzschlag laut wahr,
hörte mein Blut durch all die Adern meines Körpers rauschen, als würden überallhin Briefe zugestellt.
Ich hörte einen Zug in der Ferne pfeifen - der 3-Uhr-50-Zug nach Priceford, glaube ich, aber ich war
mir nicht sicher, weil ich ihn nie zuvor gehört hatte. Nicht von Cold Mountain aus, meine ich, denn der
Zug kam nicht näher an das Staatsgefängnis heran als zehn Meilen im Osten. Ich konnte ihn nicht
vom Knast aus gehört haben, werden Sie sagen, und das hätte ich auch bis zum November 1932
geglaubt, aber an diesem Tag hörte ich ihn.
Irgendwo zerplatzte eine Glühbirne laut wie eine Bombe.
»Was hast du mit mir gemacht?« flüsterte ich. »Oh, John, was hast du mit mir gemacht?«
»Es tut mir leid, Boss«, sagte er auf seine ruhige Weise. »Ich habe an nichts gedacht. Es wird nicht
viel passieren, schätze ich. Sie werden sich bald wieder normal fühlen.«
Ich stand auf und ging zur Zellentür. Ich fühlte mich, als wandelte ich in einem Traum. Als ich bei der
Tür war, sagte Coffey: »Sie fragen sich, warum die Mädchen nicht geschrieen haben? Das ist das
einzige, über das Sie sich noch wundern, nicht wahr? Warum diese beiden kleinen Mädchen nicht
geschrieen haben, als sie noch auf der Veranda waren.«
Ich wandte mich um und schaute ihn an. Ich konnte jedes rötliche Äderchen in seinen Augen sehen,
jede Pore seines Gesichts ..., und ich spürte seinen Schmerz, den Schmerz, den er von anderen
aufsaugte wie ein Schwamm Wasser. Ich konnte auch die Dunkelheit sehen, von der er gesprochen
hatte. Sie war in allen Räumen der Welt wie er sie sah, und in diesem Moment empfand ich sowohl
Mitleid mit ihm als auch große Erleichterung.
Ja, es war schrecklich, was wir tun würden, nichts würde das jemals ändern ..., und dennoch würden
wir ihm einen Gefallen tun.
»Ich habe es erkannt als dieser böse Kerl mich packte«, sagte John. »Da wusste ich, dass er es getan
hat. Ich habe ihn an diesem Tag gesehen. Ich war zwischen den Bäumen und sah, wie er sie fallen
ließ und davonrannte. Aber...«
»Du hattest es vergessen«, sagte ich.
»Das stimmt Boss. Es fiel mir erst wieder ein, als er mich berührte.«
»Warum haben die Mädchen nicht geschrieen, John? Er hat sie verletzt sie bluteten, und ihre Eltern
waren gleich oben im Haus. Warum haben sie nicht geschrieen?«
John schaute mich gequält an. »Er sagte zu einem der Mädchen: >Wenn du nicht mucksmäuschenstill
bist, töte ich deine Schwester, nicht dich.< Das gleiche sagte er der anderen. "Verstehen Sie?«