Zuckungen eines geköpften Hähnchens, aber es war besser, auf Nummer Sicher zu gehen. Man will ja

nicht, dass er sich auf der Bahre plötzlich aufsetzt und wie am Spieß brüllt, wenn man ihn durch den

Tunnel trägt.

Van Hay schaltete auf Stufe drei, und der Chief ruckte wieder vorwärts und wiegte sich unter dem

Stromstoß ein wenig hin und her. Der Doc lauschte von neuem, und dann nickte er. Es war vorüber.

Wir hatten wieder einmal erfolgreich zerstört, was wir nicht erschaffen können.

Einige der Leute im Publikum begannen wieder leise zu murmeln; die meisten saßen mit gesenktem

Kopf da und schauten auf den Boden. Wie betäubt Oder beschämt

Harry und Dean kamen mit der Bahre. Es war eigentlich Percys Aufgabe, ein Ende der Bahre zu

übernehmen, aber das wusste er nicht und keiner hatte sich die Mühe gemacht, es ihm mitzuteilen.

Der Chief, noch immer mit der schwarzen Seidenkapuze über dem Kopf, wurde von Brutal und mir auf

die Bahre geladen, und wir trugen ihn, so schnell wir konnten, durch die Tür, die zum Tunnel führte,

ohne richtig zu rennen. Rauch - zuviel davon - stieg aus dem Loch oben in der Kapuze auf, und es

stank entsetzlich.

»O Mann!« rief Percy mit bebender Stimme. »Was ist das für ein Gestank?«

»Geh aus dem Weg!« schrie Brutal und drängte sich an ihm vorbei, um zu der Wand zu gelangen, an

der ein Feuerlöscher hing.

Es war einer dieser alten chemischen, die man noch aufpumpen musste. Dean streifte unterdessen die

Kappe ab. Es war nicht so schlimm, wie es hätte sein können.

Bitterbucks linker Zopf schwelte wie feuchtes Laub.

»Lass das Ding hängen!« sagte ich zu Brutal. Ich wollte keine Ladung chemischen Schleims von dem

Gesicht des Toten wischen, bevor wir ihn in den Fleischwagen verfrachteten. Ich klatschte dem Chief

auf den Kopf (Percy starrte mich dabei die ganze Zeit entgeistert an), bis der Schwelbrand gelöscht

war und kein Rauch mehr aufstieg. Dann trugen wir die Leiche die zwölf Holzstufen zum Tunnel hinab.

Dort war es kalt und feucht wie in einem Verlies, und wir hörten das monotone Geräusch von

tropfendem Wasser. Hängelampen mit krummen Schirmen - die Lampenschirme wurden in der

Gefängniswerkstatt angefertigt -beleuchteten eine Backsteinröhre, die dreißig Fuß unter dem Highway

verlief. Die Decke war gewölbt und nass. Jedes Mal, wenn ich durch den Tunnel ging, fühlte ich mich

wie eine Gestalt aus einer Geschichte von Edgar Allan Poe.

Im Tunnel wartete ein Karren. Wir luden Bitterbucks Leiche darauf, und ich überprüfte sie ein letztes

Mal, um mich zu vergewissern, dass der Zopf nicht mehr brannte.

Er war ziemlich verkohlt, und mit Bedauern sah ich, dass die niedliche kleine Schleife an dieser Seite

des Kopfes nur noch schwarzer Brei war.

Percy gab dem Toten eine Ohrfeige. Bei dem Klatschen zuckten wir alle zusammen. Percy schaute uns

mit einem spöttischen, arroganten Lächeln an, und seine Augen glitzerten. Dann blickte er wieder auf

Bitterbuck. »Adios, Chief«, sagte er. »Ich hoffe, die Hölle ist heiß genug für dich.«

»Lass das sein«, fuhr Brutal ihn an, und seine Stimme klang hohl und pathetisch durch den

tropfenden Tunnel. »Er hat für seine Schuld bezahlt Sein Konto ist ausgeglichen. Lass die Finger von

ihm.«

»Ah, blas dich nicht auf«, erwiderte Percy, aber er wich unsicher zurück, als sich Brutal auf ihn zu

bewegte und sein Schatten groß hinter ihm aufragte wie der des Affen in Poes Erzählung über die Rue

Morgue. Aber statt sich Percy zu greifen, schnappte sich Brutal den Karren und schob Arien Bitterbuck

langsam zum fernen Ende des Tunnels, wo die letzte Fahrt auf ihn wartete; der Wagen parkte auf

dem Standstreifen neben dem Highway.

Die Hartgummireifen des Karrens wimmerten auf dem Boden; sein Schatten geisterte über die gewölbte Backsteinwand, wurde verzerrt und verschwamm. Dean und Harry zogen das Laken über das Gesicht des Chiefs, das bereits den wächsernen, unmenschlichen Ausdruck aller toten Gesichter angenommen hatte, der Gesichter der Unschuldigen und Schuldigen gleichermaßen.

6

Als ich achtzehn war, starb mein Onkel Paul - nach dem ich benannt worden bin - an einem Herzanfall. Meine Eltern nahmen mich mit nach Chicago zu seiner Beerdigung und zum Besuch von Verwandten der Familie väterlicherseits, von denen ich viele noch nie gesehen hatte. Wir waren fast einen Monat unterwegs. Einerseits war das ein schöner Ausflug, ein nötiger und aufregender, andererseits ein schrecklicher. Wissen Sie, ich hatte mich in die junge Frau verknallt, die zwei Wochen nach meinem neunzehnten Geburtstag meine Ehefrau werden sollte. Eines Nachts, als meine Sehnsucht nach ihr wie ein außer Kontrolle geratenes Feuer in meinem Herzen und meinem Kopf brannte (o ja, ganz recht, auch in meinen Lenden), schrieb ich ihr einen Brief, der einfach nicht enden wollte - ich schüttete ihr mein ganzes Herz darin aus und schaute nie zurück, was ich geschrieben hatte, weil ich befürchtete, aus Feigheit aufzuhören. Ich hörte nicht auf, und als mir eine innere Stimme ziemlich ungehalten sagte, dass es verrückt sei, solch einen Brief abzuschicken, ignorierte ich sie wie ein Kind, das nicht an die Konsequenzen seines Handelns denkt Ich habe mich oft gefragt, ob Janice diesen Brief aufbewahrt hat, aber ich konnte nie genug Mut sammeln, um diese Frage an sie zu richten. Ich weiß nur mit Sicherheit, dass ich den Brief nicht fand, als ich nach der Beerdigung in ihren Sachen stöberte, und natürlich, dass diese Tatsache allein nichts bedeuten muss. Ich nehme an, ich fragte nie, weil ich befürchtete, dass diese flammende Epistel ihr weniger bedeutete als mir. Der Brief war vier Seiten lang. Ich dachte, ich würde in meinem Leben nie etwas Längeres schreiben, und nun sehen Sie sich das hier an. All dies, und immer noch kein Ende in Sicht Wenn ich gewusst hätte, dass die Geschichte so lang wird, hätte ich sie bestimmt niemals angefangen. Mir war nicht klar, wie viele Türen das Schreiben aufschließt - als ob der alte Füllfederhalter meines Daddys in Wirklichkeit überhaupt kein Füller ist, sondern eine sonderbare Art Dietrich. Die Maus ist vermutlich das beste Beispiel, um klarzumachen, wovon ich rede - Steamboat Willy, Mr. Jingles, die Maus auf der Green Mile.

Bis ich mit dem Schreiben anfing, war mir nicht klar, wie wichtig er (ja, er) war. Zum Beispiel die Art, wie Mr. Jingles nach Delacroix zu suchen schien, bevor er eintraf - ich bezweifle, dass mir das je in den Sinn kam, jedenfalls nicht bewusst, bis ich mit dem Schreiben und der Erinnerung begann. Ich nehme an, ich will damit sagen, dass ich nicht weiß, wie weit ich zurückgreifen muss, um Ihnen von John Coffey zu erzählen, oder wie lange ich ihn dort in seiner Zelle lassen muss, einen Mann, der so riesig war, dass seine Füße nicht nur über das Ende der Pritsche ragten, sondern bis auf den Boden hinabhingen. Ich will, dass Sie ihn nicht vergessen, in Ordnung? Ich möchte, dass Sie ihn dort sehen, wie er zur Decke seiner Zelle starrt, lautlos weint oder die Hände vors Gesicht schlägt. Ich möchte, dass Sie ihn hören, seine Seufzer, die wie Schluchzen klingen, sein gelegentliches Stöhnen. Dies waren nicht die Laute der Qual und Verzweiflung, die wir manchmal in Block E hörten, wilde Schreie mit Spuren von Reue darin.

Wie seine feuchten Augen unterschieden sie sich auf eine unergründliche Art von dem Schmerz, den wir gewohnt waren. In gewisser Weise - ich weiß, wie verrückt dies klingen wird, natürlich weiß ich das, aber es hat keinen Sinn, etwas so Langes wie das hier zu schreiben, wenn man nicht mit ganzem Herzen dabei ist -, also in gewisser Weise war es, als trauerte er um die ganze Welt, ein zu großes Gefühl, um es jemals ganz auszulöschen. Manchmal setzte ich mich zu ihm, sprach mit ihm, wie ich es auch mit all den anderen tat - das Reden war der größte und wichtigste Teil unserer Arbeit, wie ich wahrscheinlich schon erwähnt habe -, und versuchte, ihn zu trösten. Ich bezweifle, dass mir das jemals gelang, und ein Teil meines Herzens war froh darüber, dass er litt, und fand, dass er das verdiente. Ich spielte sogar manchmal mit dem Gedanken, den Gouverneur anzurufen (oder Percy damit zu beauftragen - Teufel, der Gouverneur war sein verdammter Onkel, nicht meiner) und um einen Aufschub der Hinrichtung zu bitten. Wir sollten ihn noch nicht rösten, hätte ich gesagt Es ist noch zu schmerzlich für ihn, quält ihn noch zu sehr, rumort in seinen Gedärmen, als würde ein schöner spitzer Stock darin herumgedreht Geben Sie ihm noch neunzig Tage, Euer Ehren, Sir. Lassen Sie ihn weiterhin sich selbst antun, was wir ihm nicht antun können.

Es ist dieser John Coffey, den ich Ihnen in Erinnerung halten muss, während ich fortfahre und zu Ende bringe, was ich angefangen habe - dieser John Coffey, der auf seiner Pritsche lag, der aus gutem Grund Angst vor der Dunkelheit hatte, denn wäre es nicht denkbar, dass in der Finsternis zwei Gestalten mit blonden Locken auf ihn warteten - keine kleinen Mädchen mehr, sondern rachsüchtige Harpyien? Dieser John Coffey, aus dessen Augen immer Tränen rannen wie Blut aus einer Wunde, die niemals heilen kann.

z

Der Chief wurde also gegrillt, und der Präsident ging - jedenfalls bis Block C, die Heimat der meisten der hundertfünfzig Lebenslänglichen von Cold Mountain. Das Leben des Präsidenten sollte noch zwölf Jahre dauern.

Er wurde 1944 in der Gefängniswäscherei ertränkt Nicht in der Gefängniswäscherei von Cold Mountain; Cold Mountain schloss 1933. Ich bezweifle aber, dass es für die Insassen einen Unterschied machte - Mauern sind Mauern, wie die Wärter sagen, und Old Sparky war vermutlich in seiner neuen kleinen Todeskammer genauso tödlich, wie er es in Cold Mountain gewesen war. Zurück zu dem Präsidenten. Jemand drückte ihn mit dem Gesicht voran in einen Bottich mit Flüssigkeit für die chemische Reinigung und hielt ihn fest Als die Wärter ihn wieder herauszogen, war sein Gesicht fast völlig verschwunden. Sie mussten ihn anhand seiner Fingerabdrücke identifizieren. Alles in allem wäre er vielleicht besser mit Old Sparky dran gewesen ..., aber dann hätte er nicht die zusätzlichen zwölf Jahre gehabt nicht wahr? Ich bezweifle jedoch, dass er sich darüber in der letzten Minute seines Lebens viele Gedanken gemacht hat als seine Lunge zu lernen versuchte, wie man Hexlite und Reinigungslauge atmet.

Der Täter wurde niemals geschnappt. Da arbeitete ich natürlich schon lange nicht mehr im Gefängnis, aber Harry Terwilliger schrieb mir davon. >Sein Urteil wurde in >lebenslänglich< umgewandelt weil er weiß war<, schrieb Harry.

Aber am Ende erwischte es ihn ebenfalls. Ich betrachte es einfach als einen langen Aufschub der Hinrichtung, der schließlich abgelaufen war.

Als der Präsident fort war, gab es eine ruhige Zeit für uns in Block E. Harry und Dean wurden vorübergehend versetzt, und eine Weile .waren nur ich, Brutal und Percy auf der Green Mile. Was eigentlich hieß, nur ich und Brutal, denn Percy zog sich ziemlich zurück. Ich kann Ihnen sagen, dieser junge Mann war ein Genie darin, Ausreden zu finden, damit er bestimmte Dinge nicht zu tun brauchte. Und oft (aber nur, wenn Percy nicht da war) tauchten die anderen Jungs auf, um einen >guten Plausch< zu halten, wie Harry es nannte. Bei vielen dieser Anlässe zeigte sich auch die Maus. Wir fütterten sie, und sie saß da, aß so ernst wie Salomon und beobachtete uns mit ihren glänzenden kleinen, schwarzen Augen.

Es waren ein paar gute Wochen, ruhig und locker trotz Percys ständiger Meckerei und Stänkerei. Aber alles Gute endet mal, und an einem regnerischen Montag im späten Juli - habe ich Ihnen erzählt, wie verregnet und kühl dieser Sommer war? - saß ich auf der Pritsche in einer offenen Zelle und wartete auf Eduard Delacroix.

Er kam mit einem unerwarteten Paukenschlag.

Die Tür, die zum Hof führte, flog auf, eine Flut von Licht fiel herein, Ketten rasselten, und eine angst­erfüllte Stimme stammelte in einer Mischung aus Englisch und Cajun-Französisch (ein Dialekt, den die Wärter in Cold Mountain da bayou nannten), und Brutal brüllte: »Hey! Hör auf! Verdammt noch mal, lass das, Percy!«

Ich war auf der Pritsche, die für Delacroix bestimmt war, fast eingedöst, aber plötzlich war ich hellwach, und mein Puls begann zu rasen. Radau dieser Art hatte es in Block E fast nie gegeben, bevor Percy kam; er brachte ihn mit wie einen üblen Gestank.

»Los, los, du verdammte französische Schwuchtel!« keifte Percy und ignorierte Brutal völlig. Dann kam er und zerrte mit einem Arm einen Typen heran, der nicht viel größer als ein Kegel auf der Kegelbahn war. In der anderen Hand schwang Percy seinen Schlagstock. Seine Zähne waren gebleckt in einer Grimasse der Anstrengung, und sein Gesicht war hochrot. Dennoch sah er nicht ganz unglücklich aus.

Delacroix versuchte, mit ihm Schritt zu halten, aber er hatte eiserne Fußfesseln, und ganz gleich, wie schnell er schlurfte, Percy zerrte ihn schneller mit Ich sprang aus der Zelle und konnte Delacroix gerade noch rechtzeitig auffangen, als er stürzte, und so lernten Del und ich uns kennen. Percy umrundete ihn mit erhobenem Schlagstock, und ich hielt ihn mit einem Arm zurück.

Brutal keuchte heran und sah so schockiert und verblüfft über all das aus, wie ich mich fühlte.

»Lassen Sie nicht zu, dass er mich noch mehr schlagen, M`sieu«, stammelte Delacroix. »S`il vous

plait, s`il vous plait!«

»Lass mich los, weg da!« brüllte Percy und sprang vor. Er schlug Delacroix mit seinem Schlagstock auf

die Schultern. Delacroix hob schreiend die Arme, und der Stock sauste mit einem stetigen Klatschen

gegen die Ärmel seines blauen Gefängnishemdes. Ich sah ihn in dieser Nacht ohne Hemd, und der

Junge war von Weihnachten bis Ostern mit blauen Flecken und Beulen übersät. Bei diesem Anblick

fühlte ich mich schlecht.

Er war ein Mörder, und keiner liebte ihn, aber das war nicht die Art und Weise, wie die Dinge in Block

E liefen. Jedenfalls nicht, bis Percy kam.

»Halt!« schrie ich. »Hör auf! Was ist überhaupt los?« Ich versuchte, mich zwischen Delacroix und

Percy zu schieben, aber das funktionierte nicht gut Percy drosch weiterhin mit dem Schlagstock auf

Delacroix ein, mal links, mal rechts an mir vorbei Früher oder später würde er aus Versehen mich

treffen, und dann würde es auf dem Gang eine Schlägerei geben, ganz gleich, welche Beziehungen

Percy nach oben hatte. Ich würde mir nicht allein helfen können - und Brutal voraussichtlich

eingreifen. Wissen Sie, in gewisser Weise wünsche ich, es wäre so gekommen. Es hätte vielleicht

einige der Dinge geändert, die später geschahen. »Verdammter Schwuler! Ich werde dich lehren,

deine Pfoten von mir zu lassen, du mieser Arschgrabscher!«

Klatsch! Klatsch! Klatsch! Und jetzt blutete Delacroix aus einem Ohr und schrie. Ich gab den Versuch

auf, ihn abzuschirmen, packte ihn an der Schulter und schleuderte ihn in seine Zelle, wo er bäuchlings

auf der Pritsche landete. Percy flitzte um mich herum und verpasste ihm einen letzten harten Schlag

auf den Hintern - sozusagen als Nachschlag. Dann packte Brutal ihn - Percy, meine ich - an den

Schultern und zerrte ihn auf den Gang hinaus. Ich schloss schnell die Schiebetür der Zelle. Dann

wandte ich mich Percy zu, ohne zu wissen, ob mein Schock und meine Bestürzung oder die Wut

siegen würde. Percy war zu diesem Zeitpunkt ein paar Monate bei uns, lange genug für uns alle, um

zu dem Schluss zu gelangen, dass wir ihn nicht leiden konnten, aber eben hatte ich zum ersten Mal in

vollem Umfang erkannt, wie unbeherrscht er war.

Er stand da und starrte mich an, nicht ganz furchtlos - er war im Grunde ein Feigling, daran habe ich

nie gezweifelt -, aber immer noch zuversichtlich, dass ihn seine Beziehungen schützen würden. In

diesem Punkt hatte er recht Ich nehme an, es gibt trotz allem, was ich gesagt habe, Leute, die nicht

verstehen, warum das so war, aber diese Leute kennen die Bezeichnung Weltwirtschaftskrise nur aus

Geschichtsbüchern. Wenn Sie dort gewesen wären, dann wäre es mehr als ein schlichter Begriff in

einem Buch gewesen, und wenn Sie einen festen Job gehabt hätten, Bruder, dann hätten Sie fast alles

getan, um ihn zu behalten. Inzwischen war ein wenig Farbe aus Percys Gesicht gewichen, aber seine

Wangen waren immer noch gerötet, und seine Haare, normalerweise zurückgekämmt und

pomadisiert, waren ihm in die Stirn gefallen.

»Was, zum Teufel, hatte das alles zu bedeuten?« fragte ich. »In meinem Block wurde noch nie - noch

nie! - ein Gefangener geschlagen!«

»Der kleine schwule Bastard hat versucht, mir zwischen die Beine zu greifen, als ich ihn aus dem

Transporter gezogen habe«, sagte Percy. »Er hat die Prügel herausgefordert, und ich würde sie ihm

jederzeit wieder verpassen.«

Ich schaute ihn an, zu verblüfft, um Worte zu finden. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass selbst der

frechste Homosexuelle auf Gottes grüner Erde getan haben könnte, was Percy soeben behauptet

hatte.

Die Verlegung in ein vergittertes Apartment an der Green Mile brachte im allgemeinen nicht mal die

geilsten Gefangenen in sexy Stimmung. Ich schaute zu Delacroix, der geduckt auf der Pritsche kauerte

und immer noch die Arme schützend vors Gesicht hielt Seine Arme waren mit Handschellen gefesselt

und eine Kette verlief zwischen seinen Fußfesseln. Dann wandte ich mich Percy zu. »Verschwinde«,

sagte ich. »Ich werde später mit dir reden.«

»Wird das in deinem Bericht erwähnt?« fragte er trotzig. »Denn falls es so sein sollte, werde ich einen

eigenen Bericht schreiben.« Ich wollte keinen Bericht schreiben; ich wollte nur, dass er mir aus den

Augen ging. Das teilte ich ihm mit.

»Die Sache ist erledigt«, schloss ich. Ich sah, dass Brutal mich missbilligend ansah, ignorierte es

jedoch. »Los, verschwinde. Geh zur Verwaltung und sag, dass du Briefe lesen und in der Poststelle

helfen sollst.«

»Klar.« Er hatte seine Fassung wiedergewonnen oder die übergeschnappte Arroganz, die ihm als

Fassung diente. Er strich sich das Haar aus der Stirn - seine Hände waren weich und weiß und zierlich,

die Hände eines Teenie-Girls, hätten Sie gedacht - und näherte sich der Zelle. Delacroix sah ihn,

duckte sich ängstlich auf der Pritsche und brabbelte in einer Mischung aus Englisch und

undefinierbarem Französisch vor sich hin.

»Ich bin mit dir noch nicht fertig, Pierre«, sagte Percy, und dann zuckte er zusammen, als er Brutals

gewaltige Pranken auf seiner Schulter spürte.

»Doch, das bist du«, erwiderte Brutal. »Und jetzt verpiss dich. Du stinkst«

»Du machst mir keine Angst du nicht!« behauptete Percy. »Kein bisschen.« Er blickte zu mir. »Ihr

beide nicht« Aber er hatte Schiss. Das sahen wir deutlich in seinen Augen, und es machte ihn nur

noch gefährlicher. Ein Typ wie Percy weiß nicht mal selbst, was er von einer Minute zur anderen

machen wird.

Was er in genau diesem Augenblick machte, war ein bühnenreifer Abgang. Er stolzierte mit langen

arroganten Schritten über den Gang davon.

Bei Gott, er hatte der Welt gezeigt, was passierte, wenn ein schmächtiger, fast kahlköpfiger kleiner

Franzose versuchte, ihm an die Nüsse zu gehen, und er verließ das Schlachtfeld als Sieger.

Ich hielt meine kleine Begrüßungsansprache, wies darauf hin, dass wir an den meisten Abenden Radio

hören konnten - Make Believe Ballroom und Our Gal Sunday -, und versprach, dass wir ihn bestens

behandeln würden, wenn er sich uns gegenüber ebenso verhalten würde. Diese kleine Predigt war

nicht das, was Sie als einen meiner großen Erfolge bezeichnen können. Er heulte dabei die ganze Zeit,

kauerte geduckt und verängstigt ganz am Fußende der Pritsche, so weit von mir entfernt, wie er

konnte, ohne sich in die Wand zu verkriechen. Jedes Mal, wenn ich mich bewegte, zuckte er

zusammen, und ich bezweifle, dass er ein Wort von dem verstand, was ich sagte. Vermutlich war das

auch gleichgültig. Diese besondere Predigt ergab ohnehin nicht viel Sinn. Eine Viertelstunde später

war ich wieder am Wachpult, hinter dem der erschüttert wirkende Brutus Howell saß und an der

Spitze des Bleistifts lutschte, der für Eintragungen ins Besucherbuch benutzt wurde. »Hörst du mit

dem Lutschen auf, bevor du dich vergiftest, Mann?« fragte ich.

»Allmächtiger«, sagte er und legte den Bleistift hin. »Ich will nie mehr so ein Theater erleben, wenn

ein Gefangener in unseren Block kommt«

»Mein Daddy pflegte zu sagen, aller guten Dinge sind drei«, gab ich zurück. »Ich nehme an, das trifft

auch auf die schlechten zu.«

»Nun, ich hoffe, dein Daddy hat in diesem Punkt Scheiße gelabert«, erwiderte Brutal, aber das hatte

mein Daddy natürlich nicht Es gab einen Windstoß, als John Coffey eingeliefert wurde, und einen

heftigen Sturm, als Wild Bill zu uns kam -komisch, aber es kommt anscheinend wirklich alles immer

dreimal. Die Geschichte, wie wir Wild Bill kennen lernten, als er zur Green Mile kam und versuchte,

einen Mord zu begehen, werde ich in Kürze erzählen; eine faire Warnung. »Was war das mit

Delacroix? Hat er Percy zwischen die Beine gefasst?« fragte ich.

Brutal schnaubte. »Er war an den Füßen gefesselt, und Percy hat ihn zu schnell herausgezogen, das

war alles. Delacroix stolperte und stürzte. Er streckte im Reflex die Arme vor, wie es jeder machen

würde, der fällt, und eine Hand streifte Percy vorne an der Hose. Es war ein Missgeschick.«

»Meinst du, Percy wusste das?« fragte ich. »Hat er das vielleicht als Vorwand benutzt, weil er

Delacroix ein bisschen verprügeln wollte? Weil er ihm zeigen wollte, wer hier das Sagen hat?«

Brutal nickte langsam. »Ja. Ich denke, so war es vermutlich.«

»Dann müssen wir ihn im Auge behalten«, sagte ich und fuhr mir mit der Hand durchs Haar. Als ob

der Job nicht schon hart genug war. »Gott, ich hasse das. Ich hasse ihn,«

»Ich auch. Und willst du noch etwas wissen, Paul? Ich verstehe ihn nicht Er hat Beziehungen, das

verstehe ich, aber warum nutzt er sie, um einen Job auf der verdammten Green Mile zu bekommen?

Überhaupt irgendwo im Strafvollzug? Warum nicht für einen Posten im Verwaltungsdienst oder so?

Gewiss hätten ihm seine Leute etwas Besseres zuschustern können, wenn er sie darum gebeten hätte.

Warum ist er also hier?«

Ich schüttelte den Kopf. Ich wusste es nicht. Es gab vieles, was ich zu diesem Zeitpunkt nicht wusste.

Ich nehme an, ich war naiv.

8

Danach wurden die Dinge wieder normal ... jedenfalls für eine Weile. Unten in der County-Hauptstadt bereitete sich der Staat vor, John Coffey den Prozess zu machen, und Sheriff Homer Cribus vom Trapingus County rümpfte die Nase über den Vorschlag, dass eine lynchwillige Menschenmenge der Gerechtigkeit schneller Genüge tun könnte. Nichts davon spielte für uns eine Rolle, in Block E schenkten wir Nachrichten nicht viel Aufmerksamkeit Das Leben auf der Green Aule war in gewisser Weise wie das in einem schalldichten Raum. Von Zeit zu Zeit hörte man ein Gemurmel, das vielleicht draußen in der Welt eine Explosion war, aber das war auch schon alles.

Sie wollten mit John Coffey nichts überstürzen, sondern sich ihrer Sache ganz sicher sein.

Percy piesackte Delacroix ein paar Mal, und schließlich zog ich Percy zur Seite und forderte ihn auf, in

mein Büro zu kommen. Es war nicht das erste Gespräch mit Percy über sein Verhalten, und es würde

nicht das letzte sein, aber es führte mir so klar wie nie vor Augen, was er war. Er hatte das Herz eines

grausamen Bengels, der nicht in den Zoo geht, um die Tiere zu betrachten, sondern um sie in ihren

Käfigen mit Steinen zu bewerten.

»Du lässt ihn jetzt in Ruhe, verstanden?« sagte ich. »Du hältst dich fern von ihm, es sei denn, ich

gebe eine besondere Anweisung.«

Percy kämmte sein Haar zurück und strich mit seinen zarten Händchen darüber. Dieser Junge liebte es

einfach, über sein Haar zu streicheln. »Ich habe ihm nichts getan«, antwortete er. »Ich habe ihn nur

gefragt, was für ein Gefühl es ist, zu wissen, dass man ein paar Babys verbrannt hat, das war alles.«

Percy schaute mich unschuldig mit großen Kulleraugen an.

»Du hörst damit auf, oder es gibt einen Bericht«, drohte ich.

Er lachte. »Schreib jeden Bericht, den du willst Dann schreibe ich auch einen, wie ich schon sagte. Mal

sehen, wer besser dabei abschneidet.«

Ich neigte mich vor, die Hände auf meinem Schreibtisch aufgestützt, und sprach in einem Tonfall, der

- wie ich hoffte - klang wie der eines Freundes, der einem etwas Vertrauliches mitteilt »Brutus Howell

kann dich nicht besonders leiden«, begann ich. »Und er ist dafür bekannt, dass er einen eigenen

Bericht anfertigt wenn er jemanden nicht leiden kann. Er ist kein Genie im Umgang mit einem

Füllfederhalter, und er kann es nicht lassen, an diesem Bleistift herumzulutschen, aber er schreibt

starke Berichte mit seinen Fäusten, wenn du verstehst, was ich meine.«

Percys selbstgefälliges Lächeln verschwand. »Was willst du damit sagen?«

»Ich will nichts sagen, ich habe es gesagt Lind wenn du einem von deinen ... Freunden ... von diesem

Gespräch erzählst, werde ich behaupten, dass du das Ganze erfunden hast.« Ich schaute ihn

unschuldig und ernst an. »Außerdem versuche ich, dein Freund zu sein, Percy. Wer gescheit ist hört

auf einen guten Rat, heißt es. Lind warum willst du dir überhaupt Ärger wegen Delacroix einhandeln?

Er ist es nicht wert.«

Und eine Zeitlang klappte es. Es herrschte Frieden. Ein paar Mal konnte ich Percy sogar mit Dean

oder Harry losschicken, wenn Delacroix mit dem Duschen an der Reihe war. Wir schalteten abends

das Radio ein, Delacroix begann sich in der spärlichen Routine von Block E etwas zu entspannen, und

es herrschte Frieden.

Dann hörte ich ihn eines Abends lachen.

Harry Terwilliger saß am Wachpult, und bald lachte er ebenfalls. Ich stand auf und ging zu Delacroix'

Zelle, um zu sehen, was er zu lachen hatte. »Schauen Sie mal, Capiteine!« sagte er, als er mich sah.«

Ich 'abe eine Maus dressieren!«

Es war Steamboat Willy. Er war in Delacroix' Zelle. Mehr noch: Er saß auf Delacroix' Schulter und

schaute mit seinen kleinen glänzenden Augen ruhig durch die Gitterstäbe zu uns. Sein Schwanz war

um die Pfoten geschlungen, und er wirkte völlig entspannt Und Delacroix? Freunde, man hätte nicht

gedacht, dass es derselbe Mann war, der noch vor einer Woche, geduckt und vor Angst schlotternd,

auf seiner Pritsche gehockt hatte. Er wirkte jetzt wie meine Tochter am Weihnachtsmorgen, wenn sie

die Treppe herunterkam und die Geschenke sah.

»Sehen Sie das an!« rief Delacroix. Die Maus saß auf seiner rechten Schulter. Delacroix streckte den

linken Arm aus. Die Maus hüpfte auf Delacroix' Kopf, benutzte sein Haar (das wenigstens hinten noch

dicht genug war), um daran hochzuklettern, und flitzte auf der anderen Seite den Arm hinunter.

Delacroix kicherte, als ihn der Schwanz der Maus am Hals kitzelte. Die Maus lief über den Arm bis zu

seinem Handgelenk, machte kehrt, flitzte wieder den Arm hinauf, blieb auf Delacroix' linker Schulter

sitzen und ringelte den Schwanz um die Pfoten. »Nicht zu glauben!« sagte Harry.

»Ich 'abe ihr beigebracht«, erklärte Delacroix stolz. Quatsch, dachte ich, aber ich hielt den Mund.

»Er heißt Air. Jingles.«

»Unsinn«, sagte Harry gutmütig. »Er heißt Steamboat Willy wie die Mickey Mouse in dem Comicfilm.

Boss Howell hat ihm diesen Namen gegeben.«

»Es ist Mr. Jingles«, beharrte Delacroix. Bei jedem anderen Thema wäre er kompromissbereit

gewesen, aber beim Namen der Maus blieb er unnachgiebig. »Er 'at mir in die Ohr geflüstert Chef,

kann ich eine Kistchen für ihn 'aben? Eine petite Kiste für meine Maus, damit Mr. Jingles 'ier mit mir

schlafen kann? Bitte, Capitaine.« Seine Stimme klang flehend und schmeichelnd, wie ich es schon

tausendmal gehört hatte. »Ich stelle ihn unter meine Bett, und sie niemals wird machen Ärgeeer,

niemals.«

»Dein Englisch wird viel besser, wenn du etwas haben willst«, sagte ich, um Zeit zu gewinnen.

»Oh, oh«, murmelte Harry und stieß mich mit dem Ellenbogen an. »Da kommt Ärgeeer.«

Aber Percy sah nicht nach Krawall aus, nicht an diesem Abend. Er streichelte sich nicht durchs Haar

und fummelte auch nicht an seinem Schlagstock herum, und der oberste Knopf seines Uniformhemds

war tatsächlich aufgeknöpft.

Zum ersten Mal sah ich ihn so, und es war erstaunlich, was eine so kleine Veränderung bewirken kann. Am meisten verblüffte mich jedoch seine Miene. Sie strahlte Ruhe aus. Keine heitere Ruhe, aber die Gelassenheit eines Mannes, der auf die Dinge warten kann, die er sich wünscht Das war eine gewaltige Veränderung für einen jungen Mann, dem ich erst vor ein paar Tagen mit Brutus Howells Fäusten drohen musste.

Delacroix sah die Veränderung jedoch nicht. Er presste sich ängstlich gegen die Wand seiner Zelle und zog die Knie bis vor die Brust. Seine Augen schienen zu wachsen, bis sie fast sein halbes Gesicht einnahmen. Die Maus kletterte auf seine Glatze und hockte sich hin. Ich weiß nicht ob Mr. Jingles sich daran erinnerte, dass er ebenfalls Grund hatte, Percy zu misstrauen, aber es sah ganz danach aus. Vielleicht roch er einfach die Furcht des kleinen Franzosen und reagierte darauf. »Aha«, sagte Percy. »Sieht aus, als hättest du einen Freund gefunden, Eddie.« Delacroix setzte zum Sprechen an - ich vermute mal, er wollte Percy trotzig erklären, was passieren würde, wenn Percy seinem neuen Freund etwas antun würde -, aber er brachte keinen Ton heraus. Seine Unterlippe zitterte ein bisschen, doch das war schon alles. Mr. Jingles, oben auf seiner Glatze, zitterte nicht Er saß vollkommen ruhig mit den Hinterfüßen in Delacroix' Haarkranz und den Vorderpfoten auf Delacroix' kahler Platte und sah Percy geradezu abschätzend an. Wie man einen alten Feind taxiert.

Percy schaute mich an. »Ist das nicht die Maus, die ich gejagt habe? Die in der Gummizelle haust?« Ich nickte. Mir kam in den Sinn, dass Percy den neu benannten Mr. Jingles seit dieser letzten Jagd nicht mehr gesehen hatte und er keine Anstalten machte, ihn jetzt zu jagen. »Ja, das ist sie«, sagte ich. »Nur behauptet Delacroix, dass ihr Name Mr. Jingles ist nicht Steamboat Willy. Er sagt, die Maus habe ihm das ins Ohr geflüstert.«

»Tatsächlich?« erwiderte Percy. »Wunder gibt es immer wieder, nicht wahr?« Ich erwartete fast, dass er seinen Schlagstock ziehen und gegen die Gitterstäbe klopfen würde, nur um Delacroix zu zeigen, wer der Boss war, doch er stand nur mit den Händen auf den Hüften da und schaute in die Zelle. Aus keinem Grund, den ich hätte in Worte kleiden können, sagte ich: »Delacroix hat soeben nach einer kleinen Kaste gefragt, Percy. Er denkt, dass die Maus darin schlafen wird, nehme ich an. Dass er sie als Kuscheltier halten kann.« Ich bemühte mich um einen skeptischen Tonfall und spürte mehr, als dass ich es sah, wie Harry mich überrascht anblickte. »Wie denkst du darüber?« »Ich denke, die Maus wird ihm vermutlich eines Nachts, wenn er schläft, auf die Nase scheißen und abhauen«, antwortete Percy ruhig, »aber das ist das Problem des Franzosen. Ich habe gestern eine schöne Zigarrenkiste auf TootToots Karren gesehen. Ich weiß allerdings nicht, ob er sie weggeben würde. Vielleicht will er einen Nickel dafür, möglicherweise sogar einen Dirne.« Jetzt riskierte ich einen Blick zu Harry und sah, dass sein Mund offen stand. Dies war zwar noch nicht ganz die Verwandlung des Ebenezer Scrooge von einem Geizhals in einen noblen Spender an einem Weihnachtsmorgen, nachdem sich in der Nacht die Geister mit ihm beschäftigt hatten, aber es kam dem verdammt nahe.

Percy neigte sich näher zu Delacroix und steckte den Kopf zwischen die Gitterstäbe. Delacroix wich sogar noch weiter zurück. Ich schwöre bei Gott, dass er in die Wand gekrochen wäre, wenn er das gekonnt hätte.

»Hast du einen Nickel oder vielleicht einen Dime, um eine Zigarrenkiste zu bezahlen?« fragte er. »Ich 'abe vier Pennies«, sagte Delacroix. »Ich gebe für eine Zigarrenkiste, wenn es eine gute, s'il est bon.«

»Weißt du was?« fragte Percy. »Wenn dieser zahnlose alte Hurensohn dir die Zigarrenkiste für vier Pennies verkauft, dann klaue ich etwas Watte von der Krankenstation, um sie damit auszupolstern. Das wird ein richtiges Mäuse-Hilton, wenn es fertig ist« Er blickte mich an. »Ich soll einen Bericht über meine Eindrücke im Schaltraum bei Bitterbucks Hinrichtung schreiben«, sagte er. »Gibt es einen Füller in deinem Büro, Paul?«

»Klar«, erwiderte ich. »Formblätter ebenfalls. Im Schreibtisch in der linken oberen Schublade.« »Na prima«, sagte Percy und stolzierte davon.

Harry und ich tauschten einen Blick »Meinst du, dass er krank ist?« fragte Harry. »War er vielleicht bei seinem Arzt und hat erfahren, dass er nur noch drei Monate zu leben hat?«

Ich gestand, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, was da los war. Das stimmte zu diesem Zeit­punkt und noch eine Weile danach, aber dann fand ich es heraus. Und ein paar Jahre später hatte ich ein interessantes Gespräch beim Abendessen mit Hai Moores. Zu der Zeit konnten wir offen reden, denn der Direktor war pensioniert worden, und ich arbeitete in der Jugendstrafanstalt Es war eine dieser Mahlzeiten, bei denen man zuviel trinkt und zuwenig isst so dass die Zungen gelockert werden. Hai erzählte mir, dass Percy sich über mich und über die Arbeit auf der Green Mile im allgemeinen beschwert hatte. Das war kurz nach dem Tag, an dem Delacroix in den Block gekommen war und Brutal und ich Percy davon abgehalten hatten, den kleinen Franzosen halbtot zu prügeln. Am meisten hatte Percy gewurmt, dass ich ihn aufgefordert hatte, mir aus den Augen zu gehen.

Er war der Ansicht, dass ein Verwandter des Gouverneurs sich so etwas nicht zu bieten lassen brauchte.

Nun, Moores erzählte mir, er habe Percy so lange hingehalten wie möglich, und als ihm klar geworden sei, dass Percy seine Beziehungen spielen lassen wollte, damit ich einen Tadel erhielt oder wenigstens in einen anderen Teil des Gefängnisses versetzt wurde, hatte er, Moores, Percy in sein Büro gezogen und ihm gesagt, wenn er aufhörte, solchen Wind zu machen, würde er dafür sorgen, dass Percy bei Delacroix' Hinrichtung sozusagen die erste Geige spielen durfte. Er würde direkt neben dem elektrischen Stuhl stehen. Ich würde wie immer die Leitung haben, aber die Zeugen würden das nicht wissen; für sie würde es aussehen, als wäre Mr. Percy Wetmore der Leiter der Hinrichtung. Moores hatte nur versprochen, was wir bereits diskutiert hatten und was ich akzeptiert hatte, aber Percy wusste das nicht. Er hatte zugestimmt, seine Drohung, mich versetzen zu lassen, zu vergessen, und die Atmosphäre in Block E war angenehmer geworden. Er war sogar einverstanden gewesen, dass Delacroix Percys frühere Nemesis als Haustier halten durfte. Es ist erstaunlich, wie sich einige Leute ändern können, wenn sie den richtigen Ansporn bekommen: In Percys Fall brauchte Direktor Moores nur die Chance anzubieten, einem kleinen glatzköpfigen Franzosen das Leben zu nehmen.

9

TootToot fand, dass vier Pennies viel zuwenig für eine erstklassige Corona-Zigarrenkiste waren, und

damit hatte er vermutlich recht - Zigarrenkisten waren hochbegehrt und -bezahlt im Knast Man konnte

darin unzählige kleine Dinge aufbewahren, der Geruch war angenehm, und irgend etwas an ihnen

erinnerte unsere Runden daran, wie es war, frei zu sein. Weil Zigaretten im Gefängnis erlaubt waren,

Zigarren jedoch nicht nehme ich an.

Dean Stanton, der zu dieser Zeit wieder im Block war, spendierte einen Penny, und ich steuerte

ebenfalls einen bei. Als TootToot immer noch unzufrieden war, wurde er von Brutal bearbeitet. Zuerst

forderte er ihn auf, sich wegen seiner Geldgier zu schämen, und dann versprach er, dass er, Brutus

Howell, ihm persönlich sofort nach Delacroix' Hinrichtung die Zigarrenkiste zurückgeben würde. »Mag

sein oder nicht, dass sechs Pennies zuwenig sind, wenn du diese Zigarrenkiste verkaufst, darüber

könnten wir streiten«, meinte Brutal, »aber du musst zugeben, dass es ein stolzer Preis ist wenn du

sie verleihst Er wird in einem Monat allerhöchstem in sechs Wochen, über die Green Mile gehen. Und

diese Zigarrenkiste wird wieder auf deinem Karren stehen, bevor du sie überhaupt vermisst«

»Ein weichherziger Richter könnte ihm Aufschub gewähren, und dann wäre er immer noch hier und

könnte auf alte Bekannte pfeifen«, wandte TootToot ein, aber er wusste es besser, und Brutal wusste,

dass er es wusste. Der alte TootToot hatte diesen verdammten Karren mit Bibelzitaten praktisch seit

den Tagen des Pony Express durch Gold Mountain geschoben, und er hatte viele Informationsquellen

... bessere als unsere, dachte ich damals.

Er wusste, dass im Fall Delacroix kein Richter weichherzig sein würde. Seine einzige Hoffnung war der

Gouverneur, der im allgemeinen wenig milde bei Leuten war, die ein Dutzend seiner Wähler gebraten

hatten.

»Und selbst wenn er keinen Aufschub bekommt, wird diese Maus bis Oktober in die Zigarrenkiste

scheißen, vielleicht sogar bis zum Thanksgiving«, wandte Toot ein, aber Brutal merkte, dass Toots

Widerstand erlahmte. »Wer wird denn eine Zigarrenkiste kaufen, die von einer Maus als Scheißhaus

benutzt wurde?«

»O Mann!« rief Brutal. »Das ist das Blödeste, was ich jemals von dir gehört habe, Toot. Ich meine,

das ist die Höhe. Erstens wird Delacroix die Kiste so sauber halten, dass man daraus essen könnte -

bei seiner Liebe für diese Maus wird er die Kiste sauberlecken, wenn es nötig ist«

»Nun übertreib mal nicht«, sagte TootToot und rümpfte die Nase.

»Zweitens«, fuhr Brutal fort, »ist Mäusescheiße ohnehin keine große Sache. Das sind nur kleine harte

Köttel, die wie Schrotkügelchen aussehen. Die kannst du einfach rausschütteln. Überhaupt kein

Problem.«

TootToot erkannte, dass weiterer Protest sinnlos war; er war erfahren genug, um zu wissen, wann er

einer scharfen Brise trotzen konnte und wann es besser war, sich einem Hurrikan zu beugen. Dies war

nicht gerade ein Hurrikan, aber wir Blaujacken mochten die Maus, es gefiel uns, dass Delacroix die

Maus hatte, und das war zumindest ein Sturm. So bekam Delacroix die Zigarrenkiste, und Percy hielt

sein Wort - zwei Tage später war der Boden der Kiste mit weicher Baumwollwatte aus der

Krankenstation gepolstert Percy überreichte sie persönlich, und ich konnte die Furcht in Delacroix'

Augen sehen, als er durch die Gitterstäbe griff, um sie entgegenzunehmen.

Er befürchtete, Percy würde seine Hand schnappen und ihm die Finger brechen. Ich war ebenfalls besorgt, aber nichts geschah. Das war der Moment, an dem ich Percy fast ein bisschen mochte, aber selbst da konnte ich nicht den Ausdruck kalter Belustigung in seinen Augen übersehen. Delacroix hatte ein Haustier; Percy hatte ebenfalls eins. Delacroix würde seines behalten, verhätscheln und lieben -solange er konnte.

Percy würde geduldig warten (jedenfalls so geduldig, wie ein solcher Typ das konnte) und seines dann lebendig verbrennen.

»Das Mäuse-Hilton ist eröffnet«, sagte Harry. »Die einzige Frage ist, wird der kleine Kerl es benutzen?« Die Frage wurde beantwortet, als Delacroix Mr. Jingles auf eine Hand nahm und ihn behutsam in die Zigarrenkiste setzte. Die Maus kuschelte sich in die weiße Watte, und fortan fühlte sie sich darin heimisch, bis ... Nun, ich werde zur rechten Zeit zum Ende der Mr.-Jingles-Geschichte kommen.

TootToots Befürchtungen, dass sich die Zigarrenkiste mit Mäusekot füllen würde, erwiesen sich als völlig unbegründet. Ich sah niemals auch nur einen einzigen Köttel darin, und Delacroix sagte das gleiche - nicht einmal in seiner Zelle war einer. Viel später, ungefähr zu dem Zeitpunkt an dem Brutal mir das Loch im Dachbalken zeigte und wir die gefärbten Holzsplitter fanden, entfernte ich einen Stuhl aus der Ostecke der Gummizelle und fand dort einen kleinen Haufen Mäusekot Die Maus war anscheinend immer zum selben Platz gegangen, um ihr Geschäft zu verrichten, so weit von der Zelle fort wie möglich. Hier ist noch etwas: Ich sah die Maus niemals pinkeln. Und für gewöhnlich können Mäuse den Wasserhahn kaum für zwei Minuten abstellen, besonders wenn sie fressen. Ich sage es Ihnen, das verdammte Ding war eines von Gottes Geheimnissen.

Ungefähr eine Woche nach Mr. Jingles' Einzug in die Zigarrenkiste rief Delacroix mich und Brutal zu seiner Zelle, weil er uns etwas zeigen wollte. Das wollte er so oft, dass es uns nervte - wenn Mr. Jingles sich auch nur auf den Rücken rollte und die Pfoten in die Luft streckte, war es für den kleinen Cajun das Niedlichste auf Gottes Erde -, aber diesmal sahen wir etwas wirklich Amüsantes. Delacroix war nach seiner Verurteilung fast völlig von der Welt vergessen worden, aber er hatte eine Verwandte - eine alte Tante, glaube ich -, die ihm einmal pro Woche schrieb. Sie hatte ihm auch eine große Tüte Pfefferminzbonbons geschickt, die Sorte, die damals unter dem Markennamen Canada Mints verkauft wurde. Die Pfefferminzbonbons sahen wie große pinkfarbene Pillen aus. Delacroix durfte natürlich nicht die ganze Tüte auf einmal haben - es waren fünf Pfund, und er hätte sie verschlungen, bis wir ihn mit Magenkrämpfen auf die Krankenstation hätten bringen müssen. Wie fast jeder Mörder auf der Green Mile hatte er überhaupt keinen Sinn für Mäßigung. Wir gaben ihm jeweils ein halbes Dutzend Pfefferminzbonbons auf einmal, und auch nur dann, wenn er daran dachte, darum zu bitten.

Mr. Jingles saß neben Delacroix auf der Pritsche, als wir dorthin kamen, hielt eines dieser pinkfarbenen Bonbons zwischen den Pfoten und mampfte es zufrieden. Delacroix war einfach über­wältigt vor Freude - er benahm sich wie ein Pianist, der seinem fünfjährigen Sohn beim noch zögerlichen Spielen seiner ersten klassischen Passagen zuschaute. Aber verstehen Sie mich nicht falsch; es war wirklich lustig, echt zum Schreien. Das Pfefferminzbonbon war halb so groß wie Mr. Jingles, und sein Bauch unter dem weißen Fell war bereits kugelrund aufgebläht. »Nimm es ihm weg, Eddie«, sagte Brutal halb lachend, halb entsetzt »Allmächtiger, der frisst bis er platzt Ich kann den Pfefferminzgeruch bis hier riechen. Wie viele hast du ihm gegeben?« »Das ist sein zweites«, antwortete Delacroix und schaute etwas nervös auf Mr. Jingles' Bauch. »Meinst du wirklich ... du weißt schon ..., dass er platzt?« »Schon möglich«, meinte Brutal.

Das war genug Autorität für Delacroix. Er griff nach dem Pfefferminzbonbon, von dem nur noch die Hälfte übrig war. Ich rechnete damit dass die Maus ihn beißen würde, aber Mr. Jingles überließ ihm sanftmütig den Rest des Bonbons. Ich blickte zu Brutal, und er schüttelte ein wenig den Kopf, als wollte er sagen, nein, er könne das auch nicht verstehen. Dann ließ sich Mr. Jingles in die Zigar­renkiste plumpsen und legte sich wie ein erschöpfter alter Mann auf die Seite. Wir alle drei mussten bei diesem Anblick lachen. Danach gewöhnten wir uns daran, dass die Maus neben Delacroix saß, ein Pfefferminzbonbon zwischen den Pfoten hielt und so manierlich speiste wie eine alte Lady bei einer nachmittäglichen Teegesellschaft Und Delacroix und Mr. Jingles waren eingehüllt in den Duft, den ich später in dem Loch im Dachbalken wahrnahm - in den halb bitteren, halb süßen Geruch von Pfefferminzbonbons.

Da gibt es noch eine Sache, die ich Ihnen über Mr. Jingles erzählen sollte, bevor ich mit der Ankunft von William Wharton weitermache, als wirklich ein Orkan über Block E hereinbrach. Ungefähr eine Woche nach der Sache mit den Pfefferminzbonbons - also exakt zu dem Zeitpunkt, an dem wir uns sagten, dass Delacroix seinen Liebling wohl nicht zu Tode füttern würde -rief uns der Franzose zu seiner Zelle. Ich war vorübergehend allein, Brutal war aus irgendeinem Grund zur Verwaltung gerufen worden, und nach den Vorschriften durfte ich mich unter solchen Umständen keinem Gefangenen nähern.

Aber weil ich an einem meiner guten Tage Delacroix beim Kugelstoßen zwanzig Meter weit geworfen hätte, entschied ich mich, gegen die Vorschriften zu verstoßen und mir anzuhören, was er wollte. »Gucken Sie das an, Boss Edgecombe«, sagte er. »Sie gleich sehen, was Mr. Jingles tun kann!« Er griff hinter die Zigarrenkiste und zog eine kleine hölzerne Rolle hervor,' eine Garnspule ohne Garn. »Woher hast du die?« fragte ich, obwohl ich es zu wissen glaubte. Es gab wirklich nur eine Person, von der er die Rolle bekommen haben konnte. »Von TootToot«, sagte er. »Schauen Sie zu, Boss.«

Ich schaute bereits zu und sah Mr. Jingles in seiner Zigarrenkiste, wie er sich aufstellte und sich mit den Vorderpfoten am Rand der Kiste stützte, die schwarzen Augen auf die Rolle gerichtet, die Delacroix zwischen Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand hielt Ich fühlte, dass es mir kalt den Rücken hinunterlief. Ich hatte noch nie gesehen, dass eine Maus etwas mit so viel Eifer - mit so viel Intelligenz - vorgeführt hatte, und ich habe es seither nie wieder erlebt Ich kann wirklich nicht glauben, dass Mr. Jingles ein übernatürlicher Besucher war, und wenn ich bei Ihnen diesen Eindruck erweckt habe, tut es mir leid, aber ich habe nie bezweifelt dass er ein Genie seiner Art War. Delacroix beugte sich vor und rollte die garnlose Spule über den Zellenboden. Sie rollte ganz leicht und gleichmäßig - wie zwei Räder, die durch eine Achse verbunden sind. Die Maus war wie der Blitz aus der Kiste heraus und flitzte hinter der Rolle her wie ein Hund hinter einem Stock. Ich stieß einen Laut der Überraschung aus, und Delacroix lächelte.

Die Spule rollte gegen die Wand und prallte zurück. Mr. Jingles umrundete sie und schob sie zurück zur Pritsche, wobei er von einem Ende der Rolle zum anderen wechselte, wenn es so aussah, als würde sie vom Kurs abweichen. Er schob die Rolle bis gegen Delacroix' Fuß. Dann blickte er auf, als wollte er sich vergewissern, dass Delacroix keine dringenderen Aufgaben mehr für ihn hatte (vielleicht das Lösen eines arithmetischen Problems oder die grammatische Analyse eines lateinischen Textes). Offensichtlich zufrieden nach dieser Runde, kehrte die Maus in die Zigarrenkiste zurück und machte es sich darin gemütlich.

»Du hast ihm das beigebracht«, stellte ich fest »Jawohl, Boss Edgecombe«, sagte Delacroix breit lächelnd. »Er 'olt die Rolle jedes Mal, Verdammt gerissen, nix wahr?« »Und die Spule?« fragte ich. »Woher wusstest du, dass du so etwas für ihn besorgen sollst?« »Er 'at mir in die Ohr geflüstert, dass er sie will«, antwortete Delacroix mit heiterer Gelassenheit »Genau wie geflüstert seine Name.«

Delacroix zeigte all den anderen Jungs Mr. Jingles' Trick ... allen außer Percy. Für Delacroix zählte nicht, dass Percy den "Vorschlag mit der Zigarrenkiste gemacht und die Watte für ihn besorgt hatte. Delacroix war wie einige Hunde; wenn man sie einmal tritt, vertrauen sie einem nie wieder, ganz gleich, wie nett man zu ihnen ist

Ich kann Delacroix noch jetzt hören, wie er ruft »Hey, ihr Leute! Kommen und sehen, was Mr. Jingles kann«. Und dann drängten sich Blau-Uniformierte vor der Zelle - Brutal, Harry, Dean und sogar Bill Dodge. Und alle waren verblüfft und staunten wie ich, als ich das zum ersten Mal gesehen hatte. Drei oder vier Tage nach der Uraufführung von Mr. Jingles' Trick mit der Spule stöberte Harry Terwilliger in dem Material für Kunst und Bastelarbeiten, das wir in einer Ecke der Gummizelle aufbewahrten. Er fand die Buntstifte und brachte sie mit einem Lächeln zu Delacroix, das fast ver­legen wirkte. »Ich dachte mir, du möchtest die Rolle vielleicht in verschiedenen Farben bemalen«, sagte er. »Dann wäre dein kleiner Freund wie eine Zirkusmaus oder so.« »Eine Zirkusmaus!« Delacroix sah völlig verzückt und glücklich aus. Ich nehme an, er war wirklich glücklich, vielleicht zum ersten Mal in seinem ganzen erbärmlichen Leben. »Das ist er ja auch! Eine Zirkusmaus! Wenn ich 'ier raus bin, wird er mich reich machen wie die Star von eine Zirkus. Dir werdet sehen!«

Percy Wetmore hätte Delacroix zweifellos darauf hingewiesen, dass er beim Verlassen von Cold Mountain in einem Ambulanzwagen liegen würde, dessen Blaulicht oder Sirene nicht eingeschaltet zu werden brauchte, aber Harry war feinfühliger. Er riet Delacroix nur, die Spule möglichst schnell bunt anzustreichen, weil er die Buntstifte nach dem Abendessen zurückbringen musste. Del färbte die Rolle schön bunt Als er fertig war, leuchtete ein Ende der Rolle gelb, das andere war grün, die Mitte war feuerrot Wir gewöhnten uns daran, dass Delacroix trompetete: »Maintenant, mesieurs et mesdames! Le cirque presentement le mous' amüsant et amazeant!« Er sprach zwar nicht genau so, aber es gibt Ihnen eine Vorstellung von seinem seltsamen Französisch. Dann stieß er diesen lang gezogenen kehligen Laut aus - ich nehme an, es sollte ein Trommelwirbel sein - und rollte die Spule. Mr. Jingles flitzte hinterher und rollte sie mit der Nase oder sogar den Pfoten zurück - und das war wirklich eine Show, für die man bezahlt hätte, um sie in einem Zirkus zu sehen, finde ich. Delacroix und der Auftritt seiner Maus mit der buntbemalten Spule war unser Hauptvergnügen zu der Zeit als John Coffey in unsere Obhut kam, und so blieben die Dinge für eine Weile. Dann meldete sich meine Blaseninfektion zurück, die eine Zeitlang Ruhe gegeben hatte, und William Wharton traf ein, und der Teufel war los.

IQ

Die meisten Daten habe ich vergessen. Ich nehme an, ich könnte meine Enkelin Danielle bitten, einige davon aus Zeitungsarchiven herauszusuchen, aber was hätte das für einen Sinn? Die wichtigsten Daten stehen ohnehin nicht in den Zeitungen, zum Beispiel der Tag, an dem wir zu Delacroix' Zelle gingen und die Maus auf seiner Schulter sitzen sahen, oder der Tag, an dem William Wharton zum Block kam und beinahe Dean Stanton umbrachte. Vielleicht ist es besser, so weiterzumachen wie bisher. Letzten Endes interessiert das Datum nicht besonders, wenn man sich erinnert, was man erlebt hat, und es in die richtige Reihenfolge bringt

Ich weiß, dass sich die Dinge ein bisschen drängten. Als ich schließlich Delacroix' Hinrichtungspapiere mit dem Termin von Curtis Andersens Büro erhielt, stellte ich erstaunt fest, dass das Datum des Rendezvous unseres Cajuns mit Old Sparky etwas vorverlegt worden war, eine Sache, die fast beispiellos war, sogar in jenen Tagen, in denen man noch nicht Himmel und Hölle in Bewegung setzen musste, um jemanden hinzurichten. Es war ein Unterschied von zwei Tagen, glaube ich, vom siebenundzwanzigsten Oktober auf den fünfundzwanzigsten. Nageln Sie mich nicht auf den genauen Tag fest, aber ich weiß, dass ich nahe dran bin. Ich erinnere mich, dass ich dachte, TootToot würde seine Corona-Zigarrenkiste sogar früher zurückbekommen als erwartet

Wharton hingegen kam später als erwartet zu uns. Zum einen dauerte sein Prozess vier oder fünf Tage länger, als Andersons für gewöhnlich verlässliche Quellen gedacht hatten (bei Wild Billy konnte man sich auf nichts verlassen, wie wir bald feststellen würden, einschließlich unserer in Jahren bewährten und angeblich narrensicheren Methoden der Gefangenenbewachung). Dann, nachdem er für schuldig befunden worden war - immerhin etwas, das nach Plan verlief -, wurde er zu Untersuchungen ins Indianola General Hospital eingeliefert Er hatte während des Prozesses eine Reihe von angeblichen Anfällen gehabt, zweimal so ernst, dass er auf den Boden knallte, wo er zitternd und zuckend herumlag und um sich schlug. Whartons Pflichtanwalt behauptete, Wharton leide an Epilepsie und sei unzurechnungsfähig gewesen, als er die Verbrechen begangen habe; die Anklage behauptete, seine Anfälle seien simuliert, die Schauspielerei eines Feiglings, der verzweifelt sein Leben retten wollte. Nachdem die Jury die so genannten >epileptischen Anfälle< mit eigenen Augen gesehen hatte, entschied sie auf Schauspielerei. Der Richter war gleicher Meinung, ordnete jedoch nach dem Schuldspruch an, dass vor der Vollstreckung des Urteils eine Reihe von Untersuchungen durchgeführt werden sollten. Gott weiß, warum; vielleicht war der Richter nur neugierig.

Es war ein Wunder, dass Wharton nicht aus dem Krankenhaus flüchtete (und keinem von uns entging die Ironie, dass Direktor Moores' Frau Melinda zur selben Zeit im selben Krankenhaus war), aber er tat es nicht Ich nehme an, er war von Bewachern umstellt worden und hatte immer noch die Hoffnung, auf Grund seiner Epilepsie - wenn es sie gab - für unzurechnungsfähig erklärt zu werden. Das war nicht der Fall. Die Ärzte stellten fest, dass mit seinem Gehirn alles in Ordnung war - jedenfalls physiologisch -, und Billy >the Kid< Wharton wurde nach Cold Mountain überführt Das muss um den achtzehnten Oktober herum gewesen sein, denn ich erinnere mich, dass Wharton ungefähr zwei Wochen nach John Coffey und eine Woche vor Delacroix' Hinrichtung eintraf. Der Tag, an dem sich unser neuer Psychopath zu uns gesellte, war ein ereignisreicher für mich. Ich wachte um vier Uhr morgens auf, in meinem Unterleib hatte ich rasende Schmerzen, und mein Penis war heiß und geschwollen. Noch bevor ich die Füße aus dem Bett schwang, wusste ich, dass sich meine Blaseninfektion nicht gebessert hatte, wie ich gehofft hatte. Es war nur eine kurze Phase der Besserung gewesen, und die war vorüber.

Ich ging hinaus aufs Plumpsklo, um mein Geschäft zu erledigen - das war mindestens drei Jahre vor unserem ersten Wasserklosett -, und hatte gerade den Holzstapel an der Ecke des Hauses erreicht, als mir klar wurde, dass ich das Wasser nicht länger bei mir behalten konnte. Ich konnte nur noch meine Pyjamahose runterziehen, und dann floss der Urin bereits, und dieses Fließen wurde vom quälendsten Schmerz meines ganzen Lebens begleitet Ich hatte 1956 einen Gallenstein, und ich weiß, dass die Leute das für das Schlimmste halten, aber im Vergleich zu den unerträglichen Schmerzen durch die Blaseninfektion war der Gallenstein wie eine leichte Magenverstimmung. Meine Knie gaben nach, und ich fiel auf sie nieder, wobei die Naht meines Pyjamahosenbodens aufriss, als ich die Beine spreizte, um das Gleichgewicht zu wahren und nicht kopfüber in die Lache meiner eigenen Pisse zu fallen. Es wäre vielleicht trotzdem passiert, wenn ich mich nicht mit der linken Hand an einem der Scheite des Holzstapels gestützt hätte. All diese Einzelheiten hätten jedoch in Australien oder sogar auf einem anderen Planeten stattfinden können.

Ich nahm nur den Schmerz wahr, der mich förmlich entflammt hatte; mein Unterleib brannte, und mein Penis - den ich meistens vergessen hatte, wenn er mir nicht das größte körperliche Vergnügen bereitete, das ein Mann empfinden kann - fühlte sich jetzt an, als würde er schmelzen. Als ich hinabblickte, (rechnete ich damit, Blut herausspritzen zu sehen, aber es war anscheinend ein ganz normaler Strahl Urin.

Ich klammerte mich mit einer Hand an den (Holzstapel und presste die andere auf den Mund, um meine Frau nicht mit einem Schrei zu wecken, lieh hatte den Eindruck, eine Ewigkeit zu pinkeln, aber schließlich versiegte der Strahl. Unterdessen war der Schmerz tief in meinen Magen und meine Hoden gedrungen, und ich meinte, mit rostigen Zähnen zerfleischt zu werden. Eine lange Zeit - es mochte etwa eine Minute gewesen sein - war ich körperlich nicht in der Lage aufzustehen. Schließlich ließ der Schmerz ein wenig nach, und ich kämpfte mich auf die Füße. Ich schaute meinen Urin an, der bereits vom Boden aufgesogen wurde, und fragte mich, wie ein vernünftiger Gott eine Welt machen konnte, in der das Ausscheiden von einem bisschen Flüssigkeit solche schrecklichen Schmerzen hervorrief. Ich sagte mir, dass ich mich krank melden und doch zu Dr. Sadler gehen würde. Ich konnte den Geruch und die Nebenwirkungen - zum Beispiel Übelkeit - von Dr. Sadlers Sulfattabletten nicht ausstehen, aber alles würde besser sein, als neben einem Holzstapel zu knien und Schreie zu unterdrücken, während mein Penis meldete, dass er offenbar mit Petroleum überschüttet und angezündet worden war. Als ich dann in unserer Küche Aspirin schluckte und Janice leise im Schlafzimmer schnarchen hörte, fiel mir ein, dass an diesem Tag William Wharton in Block E eintreffen und Brutal nicht da sein würde. Brutal arbeitete laut Dienstplan in einem anderen Teil des Gefängnisses, half beim Umzug der Bücherei und übrig gebliebener Ausrüstung der Krankenstation in das neue Gebäude. Trotz meiner Schmerzen wollte ich Wharton nicht Dean und Harry überlassen. Sie waren gute Männer, aber in Curtis Andersens Bericht stand, dass William Wharton außergewöhnlich gefährlich war. DIESEM MANN IST ALLES EGAL, hatte er geschrieben und dick unterstrichen. Inzwischen hatte der Schmerz etwas nachgelassen, und ich konnte denken. Ich hielt es für die beste Idee, früh zum Gefängnis zu fahren. Ich konnte um sechs dort sein, zu der Zeit, in der Direktor Moores für gewöhnlich eintraf. Er konnte Brutus Howell für Whartons Empfang zum Block E zurückbeordern, und ich wollte danach meinen lange überfälligen Besuch beim Arzt machen. Cold Mountain lag praktisch auf meinem Weg. Auf der zwanzig Meilen langen Fahrt zum Gefängnis überfiel mich zweimal ein plötzlicher Harndrang. Beide Male konnte ich am Straßenrand stoppen und das Problem lösen, ohne dass es peinlich für mich wurde (zu dieser frühen Stunde herrschte kaum Verkehr auf dieser Landstraße). Keine dieser beiden Entleerungen war so schmerzhaft wie diejenige auf dem Weg zum Klo, die mich von den Beinen geholt hatte, aber beide Male musste ich mich an den Türgriff meines kleinen Ford Coupes klammern, um nicht auf die Knie zu gehen, und ich spürte, wie Schweiß über mein heißes Gesicht rann. Ich war krank, ja, widerlich krank.

Ich schaffte es jedoch, durch das Südtor in den Gefängniskomplex zu fahren und an meinem üblichen Platz zu parken, und dann machte ich mich sofort auf den Weg zum Direktor. Es ging auf sechs Uhr zu. Miss Hannahs Büro war verwaist - sie würde erst zu einer relativ zivilisierten Zeit, so gegen sieben, eintreffen -, aber in Moores' Büro brannte Licht; ich sah es durch die Milchglasscheibe. Ich klopfte flüchtig an und öffnete die Tür. Moores blickte auf, erschreckt, jemanden zu dieser ungewöhnlichen Stunde zu sehen, und ich hätte viel darum gegeben, ihn nicht in dieser Verfassung überrascht zu haben. Sein weißes Haar, normalerweise sorgfältig gekämmt, stand wirr ab, und er versuchte offenbar, Ordnung hineinzubringen, als ich eintrat Seine Augen waren gerötet, das Gesicht war geschwollen. Seine Schüttellähmung war schlimmer, als ich sie jemals gesehen hatte; er sah aus wie ein Mann, der soeben nach einer langen Wanderung durch eine schrecklich kalte Nacht zurückgekehrt war. »Hai, entschuldigen Sie, ich komme später ...«, begann ich.

»Nein«, unterbrach er mich. »Bitte, Paul, kommen Sie rein. Kommen Sie rein, und schließen Sie die Tür. Ich brauche jetzt jemanden. Wenn ich jemals in meinem ganzen Leben jemanden gebraucht habe, dann jetzt Kommen Sie rein, und schließen Sie die Tür.« Ich tat, was er verlangte, und vergaß zum ersten Mal nach dem Erwachen an diesem Morgen meine Schmerzen. »Meine Frau hat einen Gehirntumor«, begann Moores. »Die Arzte haben Röntgenaufnahmen davon gemacht Sie waren anscheinend sehr zufrieden damit. Einer von ihnen sagte, es seien die besten, die sie jemals gehabt hätten, jedenfalls bis jetzt; er sagte, sie werden sie in einer großen ärztlichen Fachzeitschrift in New England veröffentlichen. Der Tumor ist so groß wie eine Zitrone, sagten sie, und geht tief nach innen, wo sie nicht operieren können. Sie sagten, dass sie bis Weihnachten tot sein wird. Ich habe es ihr nicht erzählt. Ich weiß nicht wie ... Ich weiß es beim besten Willen nicht« Dann begann er zu weinen, und sein Schluchzen und Heulen erfüllte mich mit Mitleid und einer Art Entsetzen - wenn ein Mann, der sich stets so beherrscht wie Hai Moores, schließlich die Kontrolle über sich verliert, ist das ein schlimmer Anblick Ich stand einen Moment lang da, und dann ging ich zu ihm und legte einen Arm um seine Schulter. Er klammerte sich mit beiden Händen an mich wie ein Ertrinkender und begann noch hemmungsloser zu schluchzen. Später, als er sich wieder unter Kontrolle hatte, entschuldigte er sich. Er sah mir dabei nicht in die Augen.

Er wirkte wie ein Mann, der sich furchtbar schämt weil er sich so hat gehen lassen, vielleicht so sehr schämt dass er nie darüber hinwegkommt. Manche Leute können denjenigen sogar hassen, der sie in einer solchen Verfassung gesehen hat Ich sagte mir, dass Direktor Moores nicht zu diesen Leuten zählte, aber es kam mir nie in den Sinn, jetzt noch zu erledigen, was ich ursprünglich vorgehabt hatte, und als ich Moores' Büro verließ, ging ich hinüber zu Block E und nicht zurück zu meinem Wagen. Das Aspirin wirkte inzwischen, und der Schmerz in meinem Unterleib war gedämpft Ich nahm an, dass ich den Tag irgendwie überstehen würde. Ich würde Wharton in Empfang nehmen, am Nachmittag noch einmal mit Hai Moores sprechen und mich für morgen krank melden. Das Schlimmste hatte ich hinter mir, so dachte ich, und ich hatte nicht die geringste Ahnung, dass das größte Unheil dieses Tages noch nicht einmal begonnen hatte.

11

»Wir dachten, er wäre noch gedopt von den Untersuchungen«, sagte Dean am späten Nachmittag. Seine Stimme war leise und rauh, fast krächzend, und er hatte blaue Flecken am Hals. Ich sah ihm an, dass ihm das Sprechen Schmerzen bereitete, und ich wollte ihn auffordern, es Seinzulassen, doch manchmal schmerzt es mehr zu schweigen. Dies war vermutlich so ein Augenblick, und ich hielt den Mund. »Wir alle dachten, er wäre noch halb betäubt, nicht wahr?« krächzte Dean. Harry Terwilliger nickte. Sogar Percy, der sich abgesondert hatte und sich selbst auf seiner kleinen, verdrossenen Ein-Mann-Party genug war, nickte zustimmend. Brutal schaute zu mir, und für einen Moment trafen sich unsere Blicke. Wir dachten so ziemlich das gleiche, nämlich dass es nun mal passiert war. Man denkt, man hat alles im Griff, alles läuft prima, dann macht man einen Fehler, und ehe man sich versieht, fällt das ganze Kartenhaus in sich zusammen. Sie hatten gedacht, er wäre gedopt, eine durchaus vernünftige Annahme, aber keiner hatte gefragt, ob er nach den Untersuchungen tatsächlich noch unter Beruhigungsmitteln stand. Ich glaubte, noch etwas anderes in Brutals Augen zu sehen: Harry und Dean würden aus ihrem Fehler lernen. Besonders Dean, der dabei leicht hätte draufgehen können. Percy würde nicht lernen. Vielleicht konnte er das nicht. Percy konnte sich nur in eine Ecke hocken und schmollen, weil er wieder Mist gebaut hatte. Sieben Mann fuhren rauf nach Indianola, um Wild Bill Wharton abzuholen: Harry, Dean, Percy und zwei andere Wärter hinten im Transporter (ich habe ihre Namen vergessen, obwohl ich überzeugt bin, dass ich sie einst wusste) plus zwei, die vorne saßen.

Sie fuhren mit dem Wagen, den wir die Postkutsche nannten - ein Ford Truck, der mit Stahl verstärkt worden war und angeblich kugelsichere Scheiben hatte. Der Truck sah aus wie eine Kreuzung zwischen einem Milchtransporter und einem gepanzerten Wagen.

Harry Terwilliger war der Leiter der Expedition. Er überreichte dem County Sheriff (nicht Homer Cribus, sondern einem anderen gewählten Bauerntrampel, kann ich mir vorstellen) die Papiere und bekam im Austausch Mr. William Wharton überreicht - den Höllenhund extra ordinäre, wie Delacroix vielleicht gesagt hätte. Eine Gefängnisuniform von Cold Mountain war vorausgeschickt worden, aber der Sheriff und seine Männer hatten sich nicht die Mühe gemacht, Wharton hineinzustecken; das überließen sie unseren Jungs. Wharton trug einen Krankenhauspyjama aus Baumwolle und billige Pantoffeln, als sie ihn zum ersten Mal im zweiten Stock des Krankenhauses trafen, ein knochiger Mann, schmales, pickeliges Gesicht und langes blondes Haar. Sein Gesäß, ebenfalls schmal und mit Pickeln bedeckt, ragte hinten aus der Pyjamahose raus. Das war der Teil von ihm, den Harry und die anderen zuerst sahen, denn Wharton stand am Fenster und schaute auf den Parkplatz, als sie eintraten. Er drehte sich nicht um, sondern verharrte einfach in seiner Haltung, hielt mit einer Hand den Vorhang zurück, stumm wie eine Puppe, während sich Harry beim County Sheriff beschwerte, weil er und seine Männer zu faul gewesen seien, Wharton die blaue Gefängniskluft zu verpassen, und der County Sheriff ihm daraufhin einen Vertrag hielt - wozu jeder Staatsbeamte, den ich kennen gelernt habe, sich anscheinend verpflichtet fühlt -, was seine Aufgabe war und was nicht. Als Harry diesen Teil satt hatte (ich bezweifle, dass es lange dauerte), befahl er Wharton, sich umzudrehen. Wharton tat es. Dean erzählte uns mit seiner heiseren, halb erstickten Stimme, dass Wharton genauso wie die anderen tausend Hinterwäldler-Verbrecher aussah, mit denen wir im Laufe all der Jahre in Cold Mountain zusammengetroffen waren. Dieses Aussehen auf einen Nenner gebracht, ergibt einen Blödmann mit einer bösartigen Ader. Manchmal entdeckte man auch eine feige Ader in ihnen, wenn sie mit dem Rücken zur Wand standen, aber meistens zeichneten sie sich durch nichts als Kampflust und Boshaftigkeit und noch mehr Kampflust und Boshaftigkeit aus. Es gibt Leute, die etwas Tapferes in Typen wie Billy Wharton sehen, aber ich zähle nicht dazu. Auch eine Ratte kämpft, wenn sie in die Enge getrieben ist.

Das Gesicht dieses Mannes hatte anscheinend nicht mehr Persönlichkeit als sein pickeliger Hintern, wie Dean sagte. Das Gesicht wirkte schlaff, der Blick war leer, die Schultern hingen, seine Arme baumelten hinab. Er sah aus, als sei er mit Morphium voll gepumpt worden, in allen Fasern so zugedröhnt wie alle Rauschgiftsüchtigen, die sie gesehen hatten. An dieser Stelle nickte Percy verdrossen.

»Anziehen«, sagte Harry und wies auf die Gefängniskluft am Fußende des Bettes - sie war aus dem braunen Papier gewickelt, aber sonst nicht angerührt worden. Sie war noch so gefaltet, wie sie die Gefängniswäscherei verlassen hatte. Weiße Boxershorts lugten aus einem Ärmel hervor und weiße Socken aus dem anderen.

Wharton wirkte bereitwillig genug, um zu gehorchen, kam aber ohne Hilfe nicht weit Er schaffte es, die Boxershorts anzuziehen, doch bei der Hose versuchte er, beide Beine ins selbe Hosenbein zu schieben. Schließlich half Dean, schob die Füße hinein, wo sie hineingehörten, zog die Hose hoch, verschloss den Schlitz und schnallte den Gürtel zu. Wharton stand nur da und versuchte nicht mal zu helfen, als er sah, dass Dean ihm die Arbeit abnahm. Er starrte mit leerem Blick durch das Zimmer, ließ die Arme locker hinunterhängen, und keinem kam in den Sinn, dass er sich verstellte. Nicht in der Hoffnung zu entkommen (das glaube ich jedenfalls), sondern nur in der Hoffnung, ein Maximum an Problemen zu machen, wenn der richtige Zeitpunkt kam.

Die Papiere wurden unterzeichnet William Wharton, der mit seiner Festnahme Besitz des Countys geworden war, wurde jetzt Besitz des Staates. Er wurde die Treppe hinunter und durch die Küche geführt, umgeben von Blau-Uniformierten. Er ging schleppend, den Kopf gesenkt die Hände mit den langen Fingern in ständiger Bewegung. Als ihm das erste Mal die Mütze vom Kopf rutschte, setzte Dean sie ihm wieder auf. Beim zweiten Mal schob Dean sie einfach in seine eigene Gesäßtasche. Wharton hatte eine weitere Möglichkeit Probleme zu machen, als sie ihn im Transporter fesselten, doch er nutzte sie nicht.

Wenn er etwas dachte (und selbst jetzt bin ich mir nicht sicher, ob er dachte, und wenn, wie viel), dann musste er sich gesagt haben, dass es in dem Transporter zu eng und die Zahl der Bewacher zu groß für einen erfolgreichen Angriff war. So wurde er in Ketten gelegt, ein Paar zwischen den Knöcheln, ein anderes - zu langes, wie sich herausstellte - zwischen den Handgelenken. Die Fahrt nach Gold Mountain dauerte eine Stunde. Während der ganzen Zeit saß Wharton auf der linken Bank beim Führerhaus. Er hielt den Kopf gesenkt, und die gefesselten Hände baumelten zwischen den Knien. Dann und wann summte er ein bisschen vor sich hin, sagte Harry, und Percy regte sich auf und beschwerte sich, dass der Blödmann mit seiner vorstehenden Unterlippe Speichel verspritzte, immer ein Tröpfchen, bis eine kleine Lache zwischen seinen Füßen entstanden war. Wie ein Hund, der an einem heißen Sommertag von der Zungenspitze sabbert Sie fuhren durch das Südtor ins Gefängnis, an meinem Wagen vorbei, nehme ich an. Der Wärter öffnete das große Tor zwischen Parkplatz und Gefängnishof, und die Postkutsche fuhr hindurch. Auf dem Hof war nicht viel los. Es waren nur wenige Männer draußen, die meisten arbeiteten im Garten. Es müsste Kürbiszeit gewesen sein. Sie fuhren zu Block E und stoppten. Der Fahrer öffnete die Wagentür, lobte die gute Zusammenarbeit mit den Kollegen und erklärte, er würde die Postkutsche rüber zur Fahrbereitschaft fahren, um das Öl wechseln zu lassen. Die zusätzlichen Wärter fuhren mit ihm. Sie saßen hinten im Wagen und aßen Äpfel - die Türen des Wagens standen offen. Blieben Dean, Harry und Percy mit einem gefesselten Gefangenen. Das hätten genug Wärter sein sollen, und es wären auch genug gewesen, wenn sie sich nicht von dem dürren Hinterwäldler hätten einlullen lassen, der mit gesenktem Kopf und Fesseln an den Füßen und Handgelenken dastand. Sie führten ihn die circa zwölf Schritte zur Tür von Block E in der gleichen Formation, in der wir Gefangene über die Green Mile eskortierten. Harry ging links von dem Gefangenen, Dean rechts, und Percy folgte mit dem Schlagstock in der Hand hinter Wharton. Das mit dem Schlagstock hat mir keiner erzählt, aber ich wusste verdammt genau, dass Percy ihn in der Hand hatte. Percy war vernarrt in diesen Hickory-Knüppel. Was mich anbetrifft, so saß ich in Whartons Heim, in dem er wohnen würde, bis er in den brisantesten Raum verlegt werden würde - erste Zelle rechts, wenn man über den Gang in Richtung Gummizelle geht Ich hatte mein Klemmbrett in den Händen und wollte nur meine kleine Ansprache halten und dann höllisch schnell verschwinden. Mein Unterleib schmerzte wieder stärker, und ich wollte nur in mein Büro gehen und darauf warten, dass die Pein vorüberging. Dean trat vor, um die Tür aufzuschließen. Er wählte den richtigen Schlüssel vom Bund an seinem Gürtel und schob ihn ins Schloss. Wharton wurde lebendig, als Dean den Schlüssel im Schloss drehte und die Tür aufzog. Er stieß einen schrillen Schrei aus - eine Art Kriegsgeschrei -, bei dem Harry vorübergehend erstarrte und Percy Wetmore vermutlich für den Rest der Ereignisse die Nerven verlor. Ich hörte diesen Schrei durch die Tür, die einen Spaltbreit offen stand, und brachte ihn zuerst nicht mit etwas Menschlichem in Verbindung; ich dachte, ein Hund wäre irgendwie in den Hof gelangt und vielleicht von einem jähzornigen Wärter mit einer Hacke geschlagen worden. Wharton riss die Arme hoch, streifte die Kette, die zwischen seinen Handgelenken hing, über Deans Kopf und begann ihn damit zu würgen.

Dean stieß einen erstickten Schrei aus und taumelte vorwärts, in das kalte elektrische Licht unserer

kleinen Welt Wharton folgte ihm gern, gab ihm sogar noch einen Stoß, und die ganze Zeit brüllte und

murmelte er, lachte sogar. Er hielt die Arme erhoben, die Fäuste an Deans Ohren, spannte die Kette

so fest, wie er konnte, und sägte damit hin und her. Harry sprang Wharton von hinten an, krallte eine

Hand in das fettige blonde Haar unseres Neuzugangs und schlug ihm die andere Faust seitlich ins

Gesicht, so hart er konnte. Er hatte ebenfalls einen Schlagstock und eine Pistole, doch in seiner

Aufregung dachte er nicht daran. Wir hatten auch zuvor schon mal Schwierigkeiten mit Gefangenen

gehabt, klar, aber keiner hatte einen von uns je so überrascht wie Wharton. Die Verschlagenheit

dieses Kerls ging über unsere Erfahrung hinaus. Ich hatte so etwas noch nie zuvor gesehen und habe

es auch nie wieder erlebt

Und er war stark. All diese schlaffe Lockerkeit war verschwunden. Harry sagte später, er habe das

Gefühl gehabt, gegen ein Bündel von Stahlfedern zu springen, die plötzlich irgendwie zum Leben

erwacht waren. Wharton, jetzt auf dem Gang und nahe beim Wachpult wirbelte nach links und

schleuderte Harry zurück. Harry prallte gegen das Pult und ging zu Boden.

»Jucheee, Jungs!« Wharton lachte. »Das ist 'ne Party, was?«

Immer noch schreiend und lachend, würgte Wharton weiterhin Dean mit der Kette. Warum nicht?

Wharton wusste, was auch Dean klar war: Man konnte ihn nur einmal braten.

»Schlag ihn, Percy, schlag ihn!« schrie Harry und kämpfte sich auf die Füße. Aber Percy stand nur da,

den Hickory-Schlagstock in der Hand, die Augen so weit aufgerissen wie sonst sein Maul. Da war die

Chance, auf die er gewartet hatte, hätte man sagen können, die einmalige Gelegenheit, diesen

Knüppel mal sinnvoll einzusetzen, und er war zu erschreckt und verwirrt, um es zu tun. Dies war kein

verängstigter kleiner Franzose oder apathischer schwarzer Riese, der mal aus der Haut gefahren war,

dies war ein wirbelnder Teufel.

Ich ließ mein Klemmbrett fallen, sprang aus der Zelle, die für Wharton bestimmt war, und zog meinen

38er. Zum zweiten Mal an diesem Tag vergaß ich die Infektion, die meinen Unterleib erhitzte.

Ich habe nicht bezweifelt, was die anderen von Whartons ausdruckslosem Gesicht und seinem leeren

Blick erzählten, aber das war nicht der Wharton, den ich sah. Was ich sah, war das verzerrte Gesicht

eines Tieres ... nicht das eines intelligenten, sondern eines Tieres, das von Verschlagenheit und

Bösartigkeit ... und Freude erfüllt war.

Ja. Er tat das, wozu er bestimmt war. Der Ort und die Umstände spielten keine Rolle. Das andere, was

ich sah, war Dean Stantons hochrotes, geschwollenes Gesicht. Er war dabei, vor meinen Äugen zu

sterben. Wharton sah die Waffe und drehte Dean darauf zu.

Wenn ich geschossen hätte, wäre Dean mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit

draufgegangen. Über Deans Schulter funkelte mich ein blaues Auge an: Schieß doch!

Teil 3 Coffeys Hände

Beim Zurückblättern der Seiten, die ich geschrieben habe, sehe ich, dass ich Georgia Pines, wo ich jetzt wohne, als Pflegeheim bezeichnet habe. Die Betreiber wären nicht sehr glücklich darüber. In den Broschüren, die in der Halle ausliegen und die an potentielle Kundschaft verschickt werden, ist es >ein hochmoderner Erholungskomplex für Senioren<. Es gibt sogar ein Entspannungs- und Unterhaltungs­Center - so steht es in der Broschüre. Für die Leute, die dort leben müssen (in den Broschüren werden wir nicht als >Insassen< bezeichnet, aber ich nenne uns manchmal so), ist es einfach der Fernsehraum.

Die Leute halten mich für unnahbar, weil ich tagsüber nicht oft in den Fernsehraum gehe, aber es sind die Programme, die ich nicht ertragen kann, nicht die Leute. Oprah, Ricki Lake, Carnie Wilson, Rolanda - die Welt fliegt uns um die Ohren, und all diese Leute interessieren sich nur dafür, wie Frauen in Miniröcken und Männer mit offen stehenden Hemden es miteinander treiben. Nun, zum Teufel, richte nicht, auf dass du nicht gerichtet wirst, sagt die Bibel, also genug der schlauen Reden, aber wenn ich meine Zeit mit abschleppreifem Blech verbringen wollte, würde ich zwei Meilen runter zum Happy Wheels Motor Court fahren. Besonders Freitag- und Samstagnacht fahren anscheinend sämtliche Polizeiwagen mit flackerndem Blaulicht und heulender Sirene dorthin. Meine besondere Freundin, Elaine Connelly, denkt genauso. Elaine ist achtzig, groß und schlank, sehr intelligent und kultiviert Ihre Haltung ist immer noch kerzengerade, und sie hat klare Augen.

Sie geht sehr langsam, weil mit ihren Hüften was nicht stimmt, und ich weiß, dass sie schrecklich

leidet unter der Arthritis in ihren Händen. Sie hat einen wunderbar langen Hals - fast einen

Schwanenhals - und langes schönes Haar, das auf ihre Schultern fällt, wenn sie es hinabläßt

Vor allem hält sie mich nicht für absonderlich oder unnahbar. Wir verbringen viel Zeit miteinander,

Elaine und ich. Wenn ich nicht in einem so grotesken Alter wäre, würde ich sie vermutlich als meine

Herzensdame bezeichnen. Aber eine besondere Freundin zu haben - einfach so - ist nicht schlecht und

in gewisser Weise sogar besser. Viele Probleme und Liebeskummer bei Beziehungskisten zwischen

Jungen und Mädchen sind bei uns einfach ausgebrannt Und obwohl ich weiß, dass keiner unter, sagen

wir mal, fünfzig dies glauben wird, muss ich sagen, dass manchmal die Glut besser ist als das offene

Feuer. Das ist seltsam, aber wahr. So schaue ich mir tagsüber kein Fernsehen an. Manchmal gehe ich

spazieren, manchmal lese ich; doch im vergangenen Monat habe ich meistens meine Erinnerungen

niedergeschrieben, umgeben von den Pflanzen im Solarium. Ich finde, in diesem Raum ist mehr

Sauerstoff, und das hilft dem alten Gedächtnis auf die Sprünge. Das bewirkt mehr als Geraldo Rivera,

sage ich Ihnen.

Aber wenn ich nicht schlafen kann, schleiche ich manchmal nach unten und schalte den Fernseher an.

Es gibt keinen Videorecorder oder so was in Georgia Pines - ich nehme an, diese Unterhaltung ist für

unser Unterhaltungscenter ein bisschen zu teuer -, aber wir haben die wichtigsten Kabelsender, und

das heißt, wir haben den American Movie Channel. Das ist der Kanal (nur für den Fall, dass Sie kein

Kabelfernsehen haben), auf dem die meisten Filme schwarzweiß sind und sich die Frauen nicht

ausziehen. Für einen alten Knacker wie mich ist das gewissermaßen beruhigend. In vielen Nächten bin

ich sofort auf dem hässlichen grünen Sofa vor dem Fernseher eingeschlafen, während Francis, das

sprechende Maultier, einmal mehr Donald O'Connors Bratpfanne aus dem Feuer zieht oder John

Wayne in Dodge aufräumt oder Jimmy Cagney jemanden als dreckige Ratte bezeichnet und dann

einen Ballermann zieht. Einige dieser Filme habe ich früher mit meiner Frau Janice gesehen (nicht nur

meine Herzensdame, sondern meine beste Freundin), und sie beruhigen mich. Die Kleidung der

Schauspieler, die Art, wie sie gehen und reden, und sogar die Filmmusik - all das beruhigt mich. Ich

nehme an, es erinnert mich an die Zeit, in der ich noch ein Mann war, der mitten im Leben steht, und

nicht ein von Motten zerfressenes Relikt, das in einem Altenheim verschimmelt, in dem viele der

Bewohner Windeln und Gummihosen tragen.

An dem, was ich an diesem Morgen sah, war jedoch nichts Beruhigendes. Überhaupt nichts.

Elaine leistet mir manchmal Gesellschaft bei AMCs so genannter Frühaufsteher-Matinee, die um vier

Uhr morgens anfängt Sie redet nicht viel darüber, aber ich weiß, dass ihre Arthritis furchtbar

schmerzhaft ist und die Medizin, die man ihr gibt nicht mehr viel hilft

Als sie an diesem Morgen wie ein Geist in ihrem weißen Frotteemorgenmantel hereinschwebte, saß ich

auf dem schäbigen Sofa, neigte mich über die dürren Stelzen, die mal Beine gewesen waren,

umklammerte meine Knie und versuchte, das Zittern zu unterdrücken, das meinen ganzen Körper

erfasst hatte. Ich fror, abgesehen von meinem Unterleib, der mit dem Geist der Blaseninfektion zu

brennen schien, die mir das Leben im Herbst 1932 so schwer gemacht hatte - im Herbst von John

Coffey, Percy Wetmore und Mr. Jingles, der dressierten Maus. Es war auch der Herbst von William

Wharton gewesen.

»Paul!« rief Elaine und eilte zu mir - jedenfalls so schnell es die rostigen Nägel und die Keramik in

ihren Hüften zuließen. »Paul, was ist los?«

»Das geht schon alles wieder in Ordnung«, versicherte ich, aber die Worte klangen nicht sehr

überzeugend - sie kamen undeutlich zwischen Zähnen hervor, die klappern wollten. »Gib mir nur

einen Moment Zeit, dann läuft's bei mir wieder wie geschmiert«

Sie setzte sich neben mich und legte einen Arm um meine Schultern. »Bestimmt«, sagte sie. »Aber

was ist passiert? Um Himmels willen, Paul, du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«

So ist es, dachte ich, und ich merkte erst, dass ich es tatsächlich ausgesprochen hatte, als Elaine mich

mit großen Augen anstarrte.

»Keinen echten«, sagte ich und tätschelte ihre Hand (sanft, so sanft!). »Aber einen Augenblick lang,

Elaine - o Gott!«

»Kam er aus der Zeit, als du Wärter in dem Gefängnis warst?« fragte sie. »Aus der Zeit, über die du

im Solarium geschrieben hast?«

Ich nickte. »Ich arbeitete dort, was man den Todesblock nennt...«

»Ich weiß ...«

»... den wir die Green Mile nannten. Wegen des grünen Linoleumbodens. Im Herbst '32 bekamen wir

diesen Typen - diesen Wilden - namens William Wharton. Hielt sich für Billy the Kid, hatte es sogar auf

seinen Arm tätowiert. Nur ein Kid, aber gefährlich. Ich kann mich noch erinnern, was Curtis Anderson

- der stellvertretende Direktor in jenen Tagen - über ihn geschrieben hatte. »Verrückt, wild und auch

noch stolz darauf. Wharton ist neunzehn Jahre alt, und es ist ihm einfach alles egal.< Letzteres hatte

Andersen zweimal unterstrichen.«

Die Hand, die sich um meine Schultern gelegt hatte, streichelte jetzt meinen Rücken.

Ich wurde ruhiger. In diesem Moment liebte ich Elaine Connelly, und ich hätte ihr ganzes Gesicht abküssen können, als ich ihr das gestand. Vielleicht hätte ich es tun sollen. Es ist in jedem Alter schrecklich, allein und verängstigt zu sein, aber ich finde, es ist am schlimmsten, wenn man alt ist Doch ich hatte andere Dinge im Sinn, diese Bürde an alten und noch unerledigten Sachen. »Du hast recht«, sagte ich, »ich habe beschrieben, wie Wharton zum Block kam und Dean Stanton beinahe umbrachte - einer der Jungs, mit denen ich damals zusammenarbeitete.« »Wie war das möglich?« fragte Elaine.

»Bösartigkeit und Nachlässigkeit«, erklärte ich grimmig. »Wharton war die Bösartigkeit und die Wärter, die ihn hereinbrachten, sorgten für die Nachlässigkeit Der entscheidende Fehler war die Kette zwischen Whartons Handfesseln - sie war ein wenig zu lang. Als Dean die Tür von Block E aufschloss, war Wharton hinter ihm. Links und rechts von ihm standen Wärter, aber Anderson hatte recht - Wild Billy war einfach alles egal. Er streifte die Kette über Deans Kopf und begann ihn zu würgen.« Elaine erschauerte.

»Jedenfalls musste ich an all das denken und konnte nicht schlafen, also ging ich hier runter. Ich schaltete AMC ein und dachte, vielleicht kommst du runter, dann hätten wir ein kleines Rendez­vous ...«

Sie lachte und küsste meine Stirn, gerade oberhalb der Augenbraue. Ich hatte stets ein herrliches Kribbeln überall empfunden, wenn Janice das getan hatte, und als Elaine mich jetzt an diesem frühen Morgen küsste, kribbelte es immer noch überall. Manche Dinge ändern sich wohl nie. »... und da lief dieser alte Schwarzweiß-Gangsterfilm aus den Vierzigern. Der Todeskuss heißt er.« Ich spürte, dass ich wieder zittern wollte, und kämpfte dagegen an.

»Richard Widmark spielt dort mit«, sagte ich. »Ich glaube, es war seine erste große Rolle. Ich hab' den Film nie mit Jan angesehen - wir machten uns eigentlich nichts aus Gangsterfilmen -, aber ich habe irgendwo gelesen, dass Widmark den Bösewicht höllisch gut spielt. Und das stimmt. Er ist bleich ... scheint nicht zu gehen, sondern zu schleichen ... nennt die Leute immer >Scheißer< ... redet über "Verräter ... wie sehr er Verräter hasst...«

Ich begann wieder zu zittern, sosehr ich mich auch bemühte, es zu unterdrücken. Ich konnte einfach nichts dafür.

»Blondes Haar«, flüsterte ich. »Strähniges blondes Haar. Ich habe bis zu der Szene, in der er diese alte Frau in einem Rollstuhl die Treppe hinunterstößt, zugeschaut und dann abgeschaltet.« »Er hat dich an Wharton erinnert?« »Er war Wharton«, sagte ich. »Naturgetreu.«

»Paul ...«, begann Elaine und verstummte. Sie schaute auf den leeren Bildschirm (die rote Anzeige zeigte noch die 10, den AMC-Kanal), und dann sah sie wieder mich an.

»Was?« fragte ich. »Was, Elaine?« Und ich dachte: Sie wird mir sagen, dass ich nicht mehr darüber schreiben soll. Dass ich die Seiten, die ich bis jetzt geschrieben habe, zerreißen und einfach aufhören soll.

Aber sie sagte: »Lass dich davon nicht aufhalten.« Ich starrte sie an. »Mach den Mund zu, Paul - es könnte eine Fliege hineinfliegen.« »Verzeihung. Es ist nur ...«

»Du hast gedacht, ich würde dir genau das Gegenteil sagen, nicht wahr?« »Ja.«

Sie ergriff meine Hände (sanft, so sanft waren ihre langen und schönen Finger, ihre knorrigen und hässlichen Knöchel), neigte sich vor und schaute mir in die blauen Augen. Ihre Augen waren haselnussbraun, und das linke war leicht getrübt vom Nebel des grauen Stars. »Ich mag zu alt und gebrechlich zum Leben sein«, begann sie, aber ich bin nicht zu alt zum Denken. Was sind ein paar schlaflose Nächte in unserem Alter? Was bedeutet es schon, einen Geist auf dem Bildschirm zu sehen? Willst du mir weismachen, es sei der einzige Geist, den du jemals gesehen hast?« Ich dachte an Direktor Moores, an Harry Terwilliger und Brutus Howell. Ich dachte an meine Mutter und an Jan, meine Frau, die in Alabama gestorben war. Mit Geistern kannte ich mich aus, das kann man wohl sagen.

»Nein, es war nicht der erste Geist, den ich gesehen habe«, sagte ich. »Aber, Elaine - es war ein Schock Weil er es war.«

Sie küsste mich von neuem und erhob sich. Sie zuckte dabei zusammen und presste die Hände auf ihre Hüften, als befürchtete sie, dass sie aus ihrer Haut springen könnten, wenn sie nicht sehr vorsichtig war.

»Mir ist nicht mehr nach Fernsehen«, sagte sie. »Ich habe mir eine zusätzliche Pille für einen besonders schlimmen Tag ... oder für eine besonders schlimme Nacht aufgehoben. Ich werde sie nehmen und wieder ins Bett gehen. Vielleicht solltest du das auch tun.«

»Ja«, erwiderte ich, »das sollte ich wohl tun.« Einen wilden Augenblick lang dachte ich daran, ihr vorzuschlagen, zusammen ins Bett zu gehen, aber dann sah ich den Schmerz in ihren Augen und besann mich eines Besseren. Denn vielleicht hätte sie ja gesagt, und zwar nur mir zuliebe.

Nicht gerade toll.

Wir verließen den Fernsehraum (ich werde ihn nicht mit diesem anderen Namen würdigen, nicht

einmal, um ironisch zu sein) Seite an Seite, und ich passte mich Elaines Schritten an, die langsam und

quälend vorsichtig waren. Im Gebäude war es still bis auf das Stöhnen von jemandem, der hinter

irgendeiner geschlossenen Tür in den Klauen eines schlechten Traums gefangen war.

»Wirst du schlafen können?« fragte Elaine.

»Ich denke, ja«, erwiderte ich, aber das war natürlich zu optimistisch. Ich lag bis zum Sonnenaufgang

wach im Bett und dachte an Todeskuss. Ich sah Richard Widmark, der mit einem wahnsinnigen

Kichern die alte Lady in ihrem Rollstuhl festschnallte und dann die Treppe hinunterstieß -»Das tun wir

mit Verrätern!« sagte er ihr -, und dann verwandelte sich sein Gesicht in das von William Wharton,

wie es an dem Tag ausgesehen hatte, als er zum Block E und der Green Mile gekommen war -

Wharton, der gekichert hatte wie Widmark, Wharton, der geschrieen hatte: Das ist eine Party, was?

Ich verzichtete aufs Frühstück, nach diesen Erinnerungen war mir nicht danach.

Ich ging hinunter ins Solarium und begann zu schreiben.

Geister? Klar.

Ich weiß alles über Geister.

2

»Jucheee, Jungs!« Wharton lachte. »Das ist 'ne Party, was?«

Immer noch schreiend und lachend, würgte Wharton weiterhin Dean mit seiner Kette. Warum nicht? Wharton wusste, was auch Dean und Harry und mein Freund Brutus Howell wussten - man konnte einen Mann nur einmal braten.

»Schlag ihn!« brüllte Harry Terwilliger. Er hatte mit Wharton gekämpft, hatte versucht, die Dinge im Keim zu ersticken, aber Wharton hatte ihn von sich geschleudert, und jetzt versuchte Harry, sich aufzurappeln. »Percy, schlag ihn!«

Aber Percy stand nur da, den Hickory-Schlagstock in der Hand, die Augen so weit aufgerissen wie sonst sein Maul. Er liebte diesen verdammten Schlagstock, und man hätte sagen können, dies war die einmalige Chance, ihn zu benutzen, wie er es herbeigesehnt hatte, seit er in die Strafvollzugsanstalt Cold Mountain gekommen war - aber jetzt war er zu ängstlich, um die Gelegenheit zu nutzen. Dies war kein verängstigter kleiner Franzose wie Delacroix und kein schwarzer Riese wie John Coffey, der anscheinend kaum wusste, dass er zu seinem eigenen Körper gehörte; dies war ein wirbelnder Teufel. Ich ließ mein Klemmbrett fallen, sprang aus Whartons Zelle und zog meinen 38er. Zum zweiten Mal an diesem Tag vergaß ich die Infektion, die in meinem Unterleib glühte. Ich habe nicht bezweifelt, was die anderen hinterher über Whartons ausdrucksloses Gesicht und seinen teilnahmslosen Blick erzählten, aber das war nicht der Wharton, den ich gesehen habe. Ich sah das verzerrte Gesicht eines Tieres ... keines intelligenten Tieres, sonders eines, das von Verschlagenheit ... und Bösartigkeit... und Freude erfüllt war. Ja. Er tat das, wozu er bestimmt war. Der Ort und die Umstände spielten keine Rolle. Das andere, was ich sah, war Dean Stantons hochrotes, anschwellendes Gesicht. Er war dabei, vor meinen Augen zu sterben.

Wharton sah die Waffe in meiner Hand und drehte Dean darauf zu, so dass er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit draufgegangen wäre, wenn ich geschossen hätte. Über Deans Schulter hinweg funkelte mich ein glühendes blaues Auge an: Schieß doch! Whartons anderes Auge wurde von Deans Haaren verdeckt Schräg hinter ihnen sah ich Percy stehen, der unentschlossen seinen Schlagstock halb erhoben hielt Und dann tauchte auf der Türschwelle zum Gefängnishof ein Wunder in Fleisch und Blut auf: Brutus Howell. Sie hatten den Umzug der Krankenstation beendet und Brutus war gekommen, um zu fragen, wer Kaffee wollte.

Brutal handelte, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Er stieß Percy heftig zur Seite und gegen die Wand, zog seinen eigenen Schlagstock aus dem Halfter und knallte ihn mit voller Wucht auf Whartons Hinterkopf. Es gab einen dumpfen, fast hohlen Laut - als ob sich gar kein Gehirn unter Whartons Schädeldecke befunden hätte -, und endlich lockerte sich die Kette um Deans Hals. Wharton ging wie ein Mehlsack zu Boden, und Dean kroch von ihm weg. Er hustete stoßweise, hielt eine Hand an die Kehle, und seine Augen quollen hervor. Ich kniete mich neben ihn, und er schüttelte heftig den Kopf. »Okay«, krächzte er. »Kümmert euch um ihn!« Er wies auf Wharton. »Einsperren! Zelle!« Ich bezweifelte, dass er eine Zelle brauchte, nachdem Brutal ihn so hart geschlagen hatte; ich dachte, er würde eher einen Sarg brauchen. Doch das war Wunschdenken. Wharton war bewusstlos, aber noch längst nicht tot.

Er lag ausgestreckt auf der Seite, einen Arm vorgereckt, so dass die Fingerspitzen das Linoleum der

Green Mile berührten. Die Augen waren geschlossen, und er atmete langsam, aber regelmäßig. Es lag

sogar ein kleines friedliches Lächeln auf seinem Gesicht, als ob er mit seinem liebsten Wiegenlied

eingeschlafen wäre. Ein Rinnsal Blut sickerte aus seinem Haar auf den Kragen des neuen

Gefängnishemds. Das war alles.

»Percy«, sagte ich, »hilf mir!«

Percy regte sich nicht, stand nur an der Wand und starrte wie betäubt mit weit aufgerissenen Augen

vor sich hin. Ich glaube nicht, dass er genau wusste, wo er war.

»Percy, verdammt, pack ihn!«

Da bewegte er sich endlich, und Harry half ihm. Wir drei schleppten den bewusstlosen Mr. Wharton in

seine Zelle, während Brutal half, Dean auf die Füße zu bringen. Er hielt ihn so liebevoll wie eine

Mutter, während Dean sich krümmte, hustete und um Atem rang.

Unser neues Problemkind schlief fast drei Stunden lang, und als es aufwachte, zeigte es absolut keine

Nachwirkungen von Brutals heftigem Schlag. Er kam zu sich, wie er sich bewegte -schnell. Gerade

hatte er noch wie tot auf der Pritsche gelegen, und im nächsten Augenblick stand er schon an den

Gitterstäben - er war leise wie eine Katze - und starrte mich an, während ich am Wachpult saß und

einen Bericht über den Zwischenfall schrieb. Als ich schließlich spürte, dass mich jemand anstarrte,

blickte ich auf, und da war er. Sein Grinsen gab den Blick auf ein paar faulige dunkle Zähne frei, mit

bereits einigen Lücken dazwischen. Ich erschrak zu Tode, als ich ihn da so grinsend stehen sah.

Natürlich versuchte ich, es nicht zu zeigen, aber ich denke, er wusste es. »Na, du Arschloch«, sagte

er. »Beim nächsten Mal bist du dran. Und dann klappt es.«

»Hallo, Wharton«, erwiderte ich so lässig, wie ich konnte. »Unter diesen Umständen kann ich mir wohl

die Ansprache und die Willkommensworte schenken, meinst du nicht?«

Sein Grinsen wurde ein wenig schwächer. Das war keine Antwort, die er erwartet hatte, und

vermutlich auch keine, die ich ihm unter anderen Umständen gegeben hätte. Aber etwas war

geschehen, während Wharton bewusstlos gewesen war. Das ist vermutlich einer der wichtigsten

Punkte, die ich Ihnen auf diesen mühsamen Seiten mitteilen wollte. Nun sehen wir mal, ob Sie es

glauben.

3

Als die Aufregung vorüber war, brüllte Percy nur einmal Delacroix an und hielt dann den Mund. Das war vermutlich eher auf den Schock zurückzuführen als auf den "Versuch, Taktgefühl zu zeigen -Percy Wetmore wusste meiner Meinung nach so viel über Takt wie ich über die Eingeborenenstämme des dunkelsten Afrika -, aber es war trotzdem verdammt gut, dass er die Klappe hielt Wenn er gejammert hätte, weil Brutal ihn gegen die Wand gestoßen hatte, oder gefragt hätte, warum ihm niemand gesagt hatte, dass manchmal boshafte Männer wie Wild Billy Wharton in Block E kamen, dann hätten wir ihn vielleicht umgebracht glaube ich. Dann hätten wir die Green Mile auf eine ganz neue Weise kennen gelernt Das ist eine lustige Idee, wenn man darüber nachdenkt. Ich verpasste meine Chance, es wie James Cagney in Sprung in den Tod zu machen. Wie dem auch sei, als wir sicher waren, dass Dean wieder atmen und nicht ohnmächtig zusam­menbrechen würde, führten Harry und Brutal ihn rüber zur Krankenstation. Delacroix, der sich während des Zwischenfalls absolut still verhalten hatte (er war oft im Knast gewesen und wusste, wann man besser die Klappe hielt oder wann man sie relativ ungefährdet aufreißen konnte), begann jetzt über den Gang zu brüllen, als Harry und Brutal mit Dean fort gingen. Delacroix wollte wissen, was passiert war. Man hätte denken können, seine verfassungsmäßigen Rechte wären verletzt worden.

»Halt die Schnauze, du kleiner Schwuler!« brüllte Percy so wütend zurück, dass seine Halsadern anschwollen. Ich legte eine Hand auf seinen Arm und spürte, dass er zitterte. Zum Teil war das natürlich auf die Nachwehen der Angst zurückzuführen (von Zeit zu Zeit musste ich mir in Erinnerung rufen, dass ein Teil von Percys Problemen darin bestand, dass er erst einundzwanzig war, nicht viel älter als Wharton), aber ich glaube, das meiste war Zorn. Er hasste Delacroix. Ich weiß nicht, warum, aber er hasste ihn.

»Sieh nach, ob Direktor Moores noch da ist«, wies ich Percy an. »Wenn ja, gib ihm einen voll­ständigen mündlichen Bericht über die Ereignisse. Sag ihm, dass er morgen meinen schriftlichen Bericht auf seinem Schreibtisch hat, wenn ich es schaffe.«

Percy schwoll sichtlich die Brust bei dieser verantwortungsvollen Aufgabe; einen entsetzlichen Moment

lang dachte ich tatsächlich, er würde salutieren. »Jawohl, Sir, das werde ich tun.«

»Fang den Bericht damit an, dass die Lage in Block E normal ist Es soll kein Gangsterroman werden,

und der Direktor wird es zu schätzen wissen, wenn du die Sache nicht in die Länge ziehst, um die

Spannung zu erhöhen.«

»Das werde ich nicht tun.«

»Okay. Dann zisch ab.«

Er ging zur Tür, dann blieb er stehen und wandte sich um. Wenn man sich bei ihm auf eines verlassen

konnte, dann war es seine Widerspenstigkeit Ich wünschte verzweifelt, dass er verschwand, denn

mein Unterleib schien wieder in Flammen zu stehen, aber jetzt wollte er anscheinend nicht gehen.

»Ist alles in Ordnung, Paul?« fragte' er. »Hast du vielleicht Fieber? Eine Grippe eingefangen? Dein

Gesicht ist schweißnass.«

»Ich habe mir vielleicht etwas eingefangen, aber sonst geht es mir prima«, sagte ich. »Geh, Percy,

und berichte dem Direktor, was passiert ist«

Er nickte und ging - Gott sei Dank für diese kleinen Gefälligkeiten. Als die Tür hinter ihm ins Schloss

fiel, rannte ich in mein Büro. Es verstieß gegen die Vorschriften, das Wachpult unbesetzt zu lassen,

aber das interessierte mich jetzt nicht. Die Schmerzen waren wieder so schlimm wie am Morgen.

Ich schaffte es, in die kleine Toilettenkabine hinten in meinem Büro zu gelangen und mein Ding aus

der Hose zu holen, bevor der Urin hervorströmte, aber es war knapp. Ich musste eine Hand auf den

Mund pressen, um einen Schrei zu unterdrücken, als der Strahl zu fließen begann, und mit der

anderen Hand griff ich blindlings nach dem Waschbecken, um mich abzustützen. Es war nicht wie bei

mir zu Hause, wo ich neben dem Holzstapel beim Plumpsklo auf die Knie fallen und eine Lache pinkeln

konnte, die im Boden versickerte; hier würde der Urin über den ganzen Boden laufen.

Es gelang mir, mich auf den Beinen zu halten und nicht zu schreien, aber beides schaffte ich nur

knapp. Ich hatte das Gefühl, dass mein Urin mit winzigen Glassplittern durchsetzt war. Der Geruch,

der aus der Toilette aufstieg, war widerlich, und ich sah etwas Weißes - Eiter, nehme ich an - oben

auf dem Wasser schwimmen.

Ich nahm das Handtuch vom Halter und wischte mir das Gesicht ab. Ja, ich schwitzte; der Schweiß

strömte nur so aus mir heraus. Ich schaute in den Spiegel und sah das Gesicht eines Mannes mit

hohem Fieber. Vierzig Grad? Einundvierzig? Vielleicht besser, es nicht zu wissen. Ich hängte das

Handtuch zurück, betätigte die Wasserspülung und ging langsam zurück durch mein Büro zur Tür des

Zellentrakts. Ich befürchtete, Bill Dodge oder sonst jemand könnte aufgetaucht sein und gesehen

haben, dass drei Gefangene unbeaufsichtigt waren, aber es war niemand da. Wharton lag immer noch

bewusstlos auf seiner Pritsche, Delacroix war wieder still, und John Coffey hatte überhaupt keinen

einzigen Laut von sich gegeben, wie mir plötzlich auffiel. Keinen Piepser. Das war beunruhigend.

Ich ging über die Green Mile hinunter und spähte in Coffeys Zelle, erwartete fast zu entdecken, dass

er Selbstmord auf eine der beiden üblichen Weisen im Todestrakt begangen hatte - sich entweder mit

seiner Hose aufgehängt oder sich die Pulsadern aufgebissen hatte.

Nichts von beidem, wie sich herausstellte. Coffey saß nur auf dem Ende seiner Pritsche und hielt die

Hände im Schoß. Der größte Mann, den ich je gesehen hatte, schaute mich mit seinen sonderbaren

feuchten Augen an.

»Captain?« fragte er.

»Was ist los, großer Junge?«

»Ich muss Sie sehen.«

»Siehst du mich nicht direkt vor dir, John Coffey?«

Er sagte nichts dazu, musterte mich nur weiter mit seinem merkwürdigen feuchten Blick. Ich seufzte.

»Gleich, großer Junge.«

Ich schaute hinüber zu Delacroix, der an den Gitterstäben seiner Zelle stand. Mr. Jingles, seine

geliebte Maus (Delacroix würde behaupten, dass er Mr. Jingles Tricks beigebracht hatte, aber wir, die

auf der Green Mile arbeiteten, waren ziemlich einhellig der Meinung, dass Mr. Jingles sich selbst

dressiert hatte), sprang von Dels einem ausgestreckten Arm auf den anderen, hin und her, wie ein

Akrobat hoch oben in der Zirkuskuppel von einer Plattform auf die andere springt Seine Augen waren

riesig, die Ohren waren an seinen schlanken grauen Schädel angelegt Für mich gab es keinen Zweifel,

dass die Maus auf Delacroix' Nerven reagierte. Während ich sie beobachtete, flitzte sie an seinem

Hosenbein hinab und durch die Zelle zu der leuchtendbunt bemalten Rolle, die vor einer Wand lag. Die

Maus schob die Rolle bis zu Delacroix' Fuß und schaute eifrig zu ihm auf, doch der kleine Cajun

schenkte seinem Freund keine Beachtung, jedenfalls im Augenblick nicht

»Was war los, Boss?« fragte Delacroix. »Wer sich verletzen? Ich 'abe nicht können sehen.«

»Alles ist bestens«, erwiderte ich. »Unser neuer Junge kam herein wie ein Löwe, aber jetzt schläft er

wie ein Lamm. Ende gut alles gut«

»Ist noch nicht vorüber«, sagte Delacroix und schaute den Gang entlang in Richtung von Whartons

Zelle. »L"fromme mauvais, c'est vrai!«

»Keine Sorge, Del«, antwortete ich beruhigend. »Niemand wird von dir verlangen, dass du auf dem Hof mit ihm seilspringst«

Hinter mir knarrte es, als Coffey von seiner Pritsche aufstand. »Boss Edgecombe«, sagte er. Diesmal klang es drängend. »Ich muss mit Ihnen reden!«

Ich wandte mich ihm zu. Okay, kein Problem, dachte ich, Reden gehört zu meinem Job. Und die ganze Zeit bemühte ich mich, nicht zu zittern, denn ich fror trotz des Fiebers. Abgesehen von meinem Unterleib. Ich hatte immer noch das Gefühl, er sei aufgeschlitzt, mit glühenden Kohlen gefüllt und wieder zugenäht worden.

»Also rede, John Coffey«, sagte ich und bemühte mich um einen unbeschwerten und ruhigen Tonfall. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft in Block E wirkte Coffey, als wäre er wirklich hier, tatsächlich unter uns. Der fast stetige Tränenfluss aus seinen Augenwinkeln war versiegt, wenigstens vorübergehend, und ich wusste, dass er sah, was er anschaute - Mr. Paul Edgecombe, Boss der Wärter von Block E -, und nicht irgendeinen Ort, an den er zurückzukehren wünschte, um das Schreckliche, was er getan hatte, ungeschehen zu machen. »Nein«, sagte er, »Sie müssen hier rein kommen.«

»Du weißt, dass ich das nicht tun kann«, erwiderte ich, immer noch um einen lockeren Tonfall bemüht, »wenigstens nicht in diesem Augenblick. Ich bin vorübergehend allein hier, und du bist mindestens anderthalb Tonnen schwerer als ich. Wir hatten heute schon Theater, und das reicht. Also werden wir einfach einen Plausch durch die Gitterstäbe halten, wenn es dir nichts ausmacht, und...«

»Bitte!« Er umklammerte die Gitterstäbe so fest, dass seine Knöchel und die Fingernägel weiß wurden. Sein Gesicht war tiefbetrübt, und diese sonderbaren Augen spiegelten ein 'Verlangen wieder, das ich nicht verstehen konnte. Ich erinnere mich, dass ich dachte, ich hätte es vielleicht verstehen können, wenn ich nicht so krank gewesen wäre, und dass ich ihm dann hätte helfen können. Wenn man weiß, was ein Mensch braucht, dann kennt man den Menschen meistens. »Bitte, Boss Edgecombe! Sie müssen reinkommen«

Das ist das Verrückteste, das ich je gehört habe, dachte ich, und dann wurde mir etwas noch Ver­rückteres klar Ich würde es tun. Ich nahm mein Schlüsselbund vom Gürtel und suchte nach dem Schlüssel für John Coffeys Zelle. Er hätte mich sogar schnappen und wie Brennholz über dem Knie zerbrechen können, wenn ich gut drauf gewesen wäre und mich prima gefühlt hätte, aber das war an diesem Tag nicht der Fall. Trotzdem würde ich es tun. Weniger als eine halbe Stunde nach der anschaulichen Demonstration, wohin Blödheit und Laxheit fuhren können, wenn man es mit zum Tode verurteilten Mördern zu tun hat, würde ich die Zelle dieses schwarzen Riesen allein öffnen, eintreten und mich zu ihm setzen. Wenn das jemand sah, konnte ich meinen Job verlieren, auch wenn Coffey nichts Verrücktes anstellte, aber ich würde es trotzdem tun.

Halt, sagte ich mir, sei vernünftig, Paul. Aber ich war es nicht. Ich benutzte einen Schlüssel für das obere Schloss, einen anderen für das untere, dann schob ich die Tür in ihrer Schiene zur Seite. »Wissen Sie, Boss, das sein vielleicht keine so gute Idee«, meinte Delacroix so nervös und besorgt, dass ich unter anderen Umständen vielleicht darüber gelacht hätte.

»Kümmere dich um deine Angelegenheiten, und ich kümmere mich um meine«, sagte ich, ohne mich zu ihm umzuschauen. Mein Blick war starr auf John Coffeys Augen gerichtet und ich hatte das Gefühl, dass meine Augen wie festgenagelt waren. Es war, als würde ich hypnotisiert. Meine Stimme klang in meinen Ohren wie ein Echo, das durch ein langes Tal hallt Hölle und Teufel, ich wurde vielleicht tatsächlich hypnotisiert »Leg dich einfach hin, Del, und ruh dich aus.« »O 'err im 'immel, diese Knast ist verrückt«, sagte Delacroix mit bebender Stimme. »Mr. Jingles, ich fast wünsche, sie braten mich, und ich 'abe es 'inter mir!«

Ich ging in Coffeys Zelle. Er wich zurück, als ich näher trat. Als er gegen seine Pritsche stieß - mit den Waden, so groß war er -, setzte er sich darauf. Er klopfte auf die Matratze neben sich, und sein Blick ließ mich nicht los. Ich setzte mich neben ihn, und er legte einen Arm um meine Schultern, als wären wir im Kino und ich wäre sein Mädchen.

»Was willst du, John Coffey?« fragte ich und schaute immer noch in seine Augen - in diese traurigen, ernsten Augen.

»Ich will nur helfen«, sagte Coffey. Er seufzte wie jemand, der sich mit einer Aufgabe konfrontiert sieht die er nicht gern erledigt und dann berührte er mich in meinem Schritt, gerade oberhalb meines Penis, auf dem Knochen, der eine Handbreite unter dem Nabel liegt »Hey!« rief ich. »Nimm deine verdammte Hand...«

In diesem Augenblick durchfuhr mich etwas wie ein Blitzschlag, ein starker, aber nicht schmerzhafter Schlag. Ich machte einen Satz auf der Pritsche und krümmte mich, und ich musste daran denken, wie der alte TootToot sich bei unserer Probe auf dem heißen - in diesem Fall noch kalten - Stuhl aufgebäumt und gejohlt hatte. »Ich brate, ich brate, ich bin ein gebratener Truthahn!«

Ich fühlte keine Hitze, keine Elektrizität, aber für einen Moment schien alles die Farbe zu verlieren, als ob die Welt irgendwie ausgequetscht und zum Schwitzen gebracht wurde. Ich konnte jede Pore in John Coffeys Gesicht sehen, ich konnte jedes geplatzte Äderchen in seinen jetzt gehetzt blickenden Augen sehen, ich konnte einen winzigen heilenden Kratzer auf seinem Kinn sehen. Mir wurde bewusst, dass meine Hände, wie Krallen gekrümmt, erhoben waren und meine Füße auf den Boden von Coffeys Zelle trommelten.

Dann war es vorüber. Ebenso wie meine Blaseninfektion. Die Hitze und der elende pochende Schmerz waren aus meinem Unterleib verschwunden, und das Fieber war auch fort aus meinem Kopf. Ich spürte noch den Schweiß, den das Fieber aus meiner Haut gesogen hatte, ich konnte ihn auch riechen, aber es war vorüber.

»Was ist los?« rief Delacroix schrill. Seine Stimme klang immer noch wie aus weiter Ferne, aber als sich John Coffey vorneigte, den Blickkontakt mit mir brach, klang die Stimme des kleinen Cajun plötzlich laut und klar. Es war, als ob mir jemand Wattepfropfen aus den Ohren gezogen hätte. »Was macht er mit Ihnen?«

Ich gab keine Antwort. Coffey hatte sich vorgebeugt, in seinem Gesicht arbeitete es, und sein Hals wirkte angeschwollen. Die Augen quollen fast aus den Höhlen. Er wirkte wie ein Mann, dem ein Hühnerknochen in der Kehle stecken geblieben ist »John!« sagte ich. Ich klopfte ihm auf den Rücken, das war alles, was mir einfiel. »John, was ist los?«

Er zuckte unter der Berührung meiner Hand zusammen. Dann stieß er einen unangenehmen würgenden Laut aus. Sein Mund öffnete sich, wie manchmal Pferde das Maul öffnen, um widerstrebend das Zaumzeug zuzulassen - die Lippen in einer Art verzweifeltem, höhnischem Grinsen von den Zähnen zurückgezogen. Dann öffneten sich auch seine Zahnreihen, und er atmete eine Wolke winziger schwarzer Insekten aus, die wie Mücken aussahen. Das dachte ich jedenfalls damals. Sie schwirrten wild zwischen seinen Knien, wurden weiß und verschwanden. Plötzlich wich alle Kraft aus meinem Unterleib. Es kam mir vor, als wären die Muskeln zu Wasser geworden. Ich sank zurück gegen die Wand von Coffeys Zelle. Ich erinnere mich, dass ich an den Namen des Erlösers dachte - Christus, Christus, Christus, immer wieder -, und ich weiß noch, dass ich dachte, das Fieber hätte mich ins Delirium getrieben. Das war alles.

Dann wurde mir bewusst, dass Delacroix, so laut er konnte, um Hilfe brüllte; er teilte der Welt mit, dass John Coffey dabei war, mich zu töten. Sicher, Coffey neigte sich über mich, aber nur, um sich zu vergewissern, dass mit mir alles in Ordnung war.

»Halt die Klappe, Del«, sagte ich und stand auf. Ich wartete auf den Schmerz, der wieder durch meinen Unterleib schießen würde, doch das war nicht der Fall. Mir ging es besser. Wirklich. Ich war noch einen Moment benommen, aber die Benommenheit ließ schon nach, bevor ich mich an einen Gitterstab der Zellentür klammern konnte, um mich zu stützen. »Mir geht es prima.« »Sie sollten rausgehen«, sagte Coffey und klang wie eine nervöse alte Frau, die einem Lausebengel rät, vom Apfelbaum runterzuklettern. »Sie sollten hier nicht drin sein, wenn sonst niemand im Block ist«

Ich schaute John Coffey an, der auf der Pritsche saß und seine gewaltigen Hände auf die baum­stumpfartigen Knie stützte. John Coffey erwiderte meinen Blick. Er musste den Kopf ein wenig anheben, aber nicht viel.

»Was hast du gemacht, großer Junge?« fragte ich leise. »Was hast du mit mir gemacht?« »Geholfen«, sagte er. »Ich habe geholfen, nicht wahr?« »Ja, das nehme ich an, aber wie? Wie hast du mir geholfen?«

Er schüttelte den Kopf auf seine typische Art nach rechts, nach links und zurück zur Mitte. Er wusste nicht, wie er mir geholfen hatte (wie er mich geheilt hatte), und seine gelassene Miene ließ darauf schließen, dass es ihm auch völlig gleichgültig war - so gleichgültig, wie mir die Mechanik des Laufens war, wenn ich auf den letzten fünfzig Yard bei einem 4. Juli-Lauf über zwei Meilen führte. Ich spielte mit dem Gedanken, ihn zu fragen, woher er überhaupt gewusst hatte, dass ich krank gewesen war, doch er hätte zweifellos mit dem gleichen Kopfschütteln geantwortet

Es gibt eine Formulierung, die ich irgendwo gelesen und nie vergessen habe, etwas über »ein Rätsel, das in einem Geheimnis verborgen ist«. Das traf auf John Coffey zu, und ich nehme an, er konnte nachts nur deshalb schlafen, weil es ihm gleichgültig war. Percy bezeichnete ihn als Idioten, was hart, aber nicht sehr weit von der Wahrheit entfernt war. Coffey, unser großer Junge, kannte seinen Namen und wusste, dass er anders geschrieben wurde als das Getränk, und das war so ziemlich alles, was ihn interessierte.

Als wollte er mir das bestätigen, schüttelte er ein weiteres Mal auf diese bedächtige Art den Kopf und legte sich dann mit dem Gesicht zur Wand, die Hände wie ein Kissen unter seiner linken Wange, auf die Pritsche. Seine Beine hingen vom Schienbein an über die Pritsche hinaus, aber das störte ihn anscheinend nicht Sein Hemd war am Rücken hochgerutscht, und ich konnte die Narben sehen, die seine Haut überzogen.

Ich verließ die Zelle, schloss die Tür oben und unten ab und wandte mich Delacroix zu, der schräg

gegenüber auf der anderen Seite des Gangs stand, die Hände um die Gitterstäbe seiner Zelle

klammerte und mich besorgt anschaute. Vielleicht sogar furchtsam. Mr. Jingles kauerte auf seiner

Schulter, und seine feinen Barthaare zuckten. »Was hat diese schwarze Mann mit Ihnen getan?«

fragte Delacroix. »Was hat gezaubert? Hat er Boss verhext?« Der Teufel wusste, wie der kleine

Franzose auf einmal das >H< schaffte.

»Ich weiß nicht, wovon du redest, Del.«

»Ach, zum Teufel! Sehen Sie sich an! Alles verändert. Sogar gehen anders, Boss!«

Ich ging vermutlich tatsächlich anders. Es war ein schönes Gefühl der Ruhe in meinem Unterleib, ein

so ungewöhnliches Gefühl des Friedens, dass es an Verzückung grenzte - jeder, der sich schon mal

von derartig schlimmen Schmerzen erholt hat wird wissen, wovon ich rede.

»Es ist wirklich alles in Ordnung, Del«, beteuerte ich. »John Coffey hatte einen Alptraum, das ist

alles.«

»Er ist Zaubermann!« sagte Delacroix heftig.

Schweißperlen standen auf seiner Oberlippe. Er hatte nicht viel gesehen, gerade genug, um sich zu

Tode zu erschrecken. »Er ist Voodoo-Mann!«

»Wie kommst du darauf?«

Delacroix griff auf die Schulter und nahm die Maus in die Hand. Er umfasste sie mit der Handfläche

und hob sie an sein Gesicht. Mit der freien Hand nahm Delacroix etwas Pinkfarbenes aus der

Hosentasche - eines dieser Pfefferminzbonbons. Er hielt es hoch, doch zuerst ignorierte es die Maus,

streckte statt dessen den Kopf zu dem Mann hin und schnüffelte an seinem Atem, wie ein Mensch

vielleicht an einem Blumenstrauß riecht. Seine kleinen schwarzen Augen schlössen sich fast mit einem

Ausdruck der Verzückung. Delacroix küsste die Nase der Maus, und sie erlaubte ihm das. Dann nahm

sie das angebotene Pfefferminzbonbon und begann zu mampfen. Delacroix sah der Maus noch einen

Augenblick lang zu und schaute dann mich an. Und plötzlich kapierte ich es.

»Mr. Jingels hat es dir geflüstert«, sagte ich. »Richtig?«

»Oui.«

»Wie er dir seinen Namen geflüstert hat«

»Oui. In meine Ohr geflüstert«

»Leg dich hin, Del«, sagte ich. »Ruh dich ein bisschen aus. All diese Flüsterei muss dich erschöpft

haben.«

Er murmelte noch etwas - beschuldigte mich, ihm nicht zu glauben, nehme ich an. Seine Stimme

klang wieder wie aus weiter Ferne. Und als ich zum Wachpult zurückging, hatte ich das Gefühl,

überhaupt nicht den Boden zu berühren - es war mehr ein Schweben oder vielleicht überhaupt keine

Bewegung; die Zellen rollten einfach an mir vorbei wie Filmkulissen auf versteckten Rädern.

Ich wollte mich ganz normal hinsetzen, aber auf halbem Weg gaben meine Knie nach, und ich

plumpste auf das blaue Kissen, das Harry vor einem Jahr von zu Hause mitgebracht hatte, um weicher

zu sitzen. Wenn der Stuhl nicht dort gestanden hätte, wäre ich vermutlich auf den Boden gekracht.

So saß ich aber auf dem Stuhl und spürte die Ruhe in meinem Unterleib, in dem noch vor knapp zehn

Minuten ein Waldbrand gewütet hatte. Ich habe geholfen, nicht wahr? hatte John Coffey gesagt, und

das stimmte, was meinen Körper anbetraf. Mein Seelenfriede war jedoch eine andere Geschichte.

Dem hatte er überhaupt nicht geholfen.

Mein Blick fiel auf den Stapel Formulare unter dem Blechaschenbecher, der auf der Ecke des

Wachpults stand. BLOCK-BERICHT stand oben auf den Formularen, und in der Mitte war eine freie

Fläche mit der Überschrift: »Bericht über ungewöhnliche Vorfälle«. Ich würde die freie Fläche nutzen,

um in meinem abendlichen Bericht die Geschichte von William Whartons lebhafter und ereignisreicher

Ankunft zu erzählen. Aber angenommen, ich würde ebenfalls berichten, was mir in John Coffeys Zelle

widerfahren war? Ich sah mich schon, wie ich den Bleistift aufnahm - denjenigen, an dessen Spitze

Brutal stets leckte - und ein einziges Wort in Großbuchstaben schrieb: WUNDER.

Das hätte lustig sein sollen, doch statt zu lächeln, war ich plötzlich überzeugt, dass ich gleich heulen

würde. Ich schlug die Hände vors Gesicht, drückte die Handflächen auf den Mund, um Schluchzer zu

unterdrücken - ich wollte Del nicht von neuem erschrecken, nachdem er sich gerade erst ein wenig

beruhigt hatte -, aber es kamen keine Schluchzer. Auch keine Tränen. Nach ein paar Minuten ließ ich

meine Hände auf das Pult sinken und faltete sie. Ich wusste nicht, was ich empfand!, und mein

einziger klarer Gedanke war der Wunsch, dass niemand zurück zum Block kommen sollte, bis ich mich

etwas besser unter Kontrolle hatte. Ich fürchtete, dass sie mir vielleicht etwas an meinem Gesicht

ansehen könnten.

Ich zog ein Formular zu mir heran. Ich würde noch warten, bis ich mich ein bisschen beruhig hatte,

bevor ich aufschrieb, wie mein neues Problemkind beinahe Dean Stanton erwürgt hätte, aber ich

konnte unterdessen den Rest des Bürokratie-Blödsinns ausfüllen. Ich dachte, meine Handschrift würde

vielleicht komisch aussehen - zittrig -, aber sie sah ungefähr so aus wie immer.

Fünf Minuten später legte ich den Bleistift hin und ging in die Toilettenkabine, die an mein Büro grenzte, um zu pinkeln. Ich musste nicht dringend, aber es würde reichen, um zu testen, was mit mir geschehen war. Als ich dort stand und auf dem Strahl wartete, wuchs in mir die Überzeugung, dass es genauso schmerzen würde wie an diesem Morgen, als ich glaubte, winzige Glassplitter auszuscheiden; was Coffey mit mir angestellt hatte, würde sich als simple Hypnose herausstellen, und das wäre vielleicht trotz der Schmerzen beruhigender als alles andere.

Doch es kam kein Schmerz, und was in die Toilette floss, war klar, ohne Anzeichen auf Eiter. Ich knöpfte meinen Hosenschlitz zu, betätigte die Wasserspülung, kehrte an das Wachpult zurück und setzte mich wieder hin.

Ich wusste, was geschehen war. Ich nehme an, ich wusste es sogar, während ich mir einzureden versuchte, dass es Hypnose gewesen war. Ich hatte eine Heilung erlebt, eine authentische Wunderheilung im Namen Jesu, des Allmächtigen. Als Junge, der mit dem Besuch jeder Baptisten­oder Pfingstkirche aufgewachsen war, die bei meiner Mutter und ihren Schwestern zu bestimmten Monaten jeweils gefragt waren, hatte ich viel von Jesu Werk gehört, von den Wundergeschichten des Allmächtigen. Ich glaubte nicht alle, aber es gab viele Personen, denen ich glaubte. Eine davon war ein Mann namens Roy Delfines, der mit seiner Familie ungefähr zwei Meilen von uns entfernt wohnte, als ich zwölf oder so war. Delfines hatte seinem achtjährigen Sohn den kleinen Finger mit einem Beil abgehackt, ein Unfall, der passiert war, weil der Junge unerwartet die Hand bewegt hatte, als er für seinen Vater auf dem Hof ein Stück Holz auf dem Hackklotz gehalten hatte. Roy Delfines sagte, er hätte in diesem Herbst und Winter praktisch den Teppich mit den Knien abgescheuert, und im Frühjahr war der Finger des Jungen nachgewachsen. Sogar mit Nagel. Ich glaubte Roy Delfines, wenn er das bei den Dankgottesdiensten am Donnerstagabend bezeugte. Es lag eine schlichte Ehrlichkeit in seinen Worten, wenn er mit den Händen tief in den Taschen seiner Latzhose dastand und erzählte, und es war unmöglich, ihm nicht zu glauben.

»Es juckte ihn, als der Finger wuchs, und er konnte nachts nicht schlafen«, sagte Roy Delfines, »aber er wusste, dass Gott ihn kitzelte, und fand sich damit ab. Gelobt sei Jesus, der Herr ist allmächtig.« Roy Delfines' Story war nur eine von vielen; ich wuchs in einer Tradition von Wundern und Heilungen auf. Ich glaubte ebenfalls an Zauberei: Sumpfwasser gegen Warzen, Moos unter dem Bettkissen gegen Liebeskummer und natürlich Zaubersprüche gegen und für alles mögliche -aber ich glaubte nicht, dass John Coffey ein Zauberer oder Hexer war. Ich hatte ihm in die Augen gesehen. Noch wichtiger, ich hatte seine Berührung gespürt Seine Berührung war die eines sonderbaren und wunderbaren Arztes gewesen.

Ich habe geholfen, nicht wahr? Das ging mir nicht mehr aus dem Kopf, wie der Refrain eines Schlagers oder die Worte eines Zauberspruchs. Ich habe geholfen, nicht wahr?

Doch das hatte er nicht Gott hatte geholfen. John Coffeys Gebrauch der ersten Person war vermutlich eher Unwissenheit als Angeberei, aber ich wusste - glaubte es jedenfalls zu wissen -, was ich über Heilung in diesen >Gelobt sei Jesus, der Herr ist allmächtig< Kirchen gelernt hatte und in den Herrgottswinkeln in den Pinienwäldern, die meine kaum zwanzigjährige Mutter und meine Tanten so liebten: Heilen hatte nie etwas mit dem Geheilten oder dem Heiler zu tun, sondern nur mit Gottes Willen. Dass man sich freut wenn ein Kranker gesund wird, ist normal, die erwartete Reaktion, doch die geheilte Person hat bei den Fragen nach dem Warum eine Verpflichtung, über Gottes Willen nachzugrübeln und sich zu fragen, warum sich Gott so außergewöhnlich lange Zeit gelassen hat um seinen Willen in die Tat umzusetzen. Was wollte Gott in diesem Fall von mir? Was wollte er so sehr, dass er heilende Kräfte in die Hände eines Kindermörders legte? Dass ich in Block E war, anstatt hundeelend zu Hause im Bett zu liegen, zitternd und aus jeder Pore nach Sulfat stinkend? Vielleicht Ich sollte vielleicht hier sein anstatt zu Hause, für den Fall, dass Wild Bill Wharton noch Schlimmeres anstellte, oder um dafür zu sorgen, dass Percy Wetmore nicht noch größere und möglicherweise verheerende Dummheiten machte. Also gut So sei es. Ich würde die Augen offen und den Mund geschlossen halten, besonders, wenn es um Wunderheilungen ging.

Niemand würde sich wundern, dass ich besser und gesünder aussah. Ich hatte aller Welt gesagt, dass es mir besser ging, und bis zu diesem Tag glaubte ich das wirklich. Sogar Direktor Moores hatte ich erzählt, dass ich auf dem Wege der Besserung sei. Delacroix hatte etwas gesehen, aber ich sagte mir, dass auch er den Mund halten würde (vermutlich aus Furcht, John Coffey würde ihn sonst verzaubern). Und Coffey selbst hatte es vermutlich bereits vergessen. Er war schließlich nur so etwas wie ein Kanal, und wenn der Regen aufgehört hat erinnert sich kein Kanal der Welt mehr an das Wasser, das ihn durchflossen hat. So entschloss ich mich, über das Thema zu schweigen, und ich hatte nicht die blasseste Ahnung, wie bald ich die Geschichte erzählen würde - oder wem. Aber ich wollte unbedingt mehr über meinen großen Jungen erfahren, und es hat keinen Sinn, das nicht zuzugeben. Nach dem, was mir dort in der Zelle widerfahren war, war ich neugieriger denn je.

4

Bevor ich an diesem Abend das Gefängnis verließ, vereinbarte ich mit Brutal, dass er mich am näch­sten Tag vertreten würde, wenn ich etwas später zur Arbeit kommen sollte, und als ich am folgenden Morgen aufstand, machte ich mich auf den Weg nach Tefton unten im Trapingus County. »Ich weiß nicht, ob es mir gefällt, dass du dir so viele Sorgen wegen dieses Coffey machst«, meinte meine Frau und gab mir das Lunchpaket mit, das sie vorbereitet hatte - Janice hielt nichts von Hamburgerbuden am Straßenrand; sie pflegte zu sagen, dass in jedem einzelnen Bauchschmerzen lauerten. »Das passt gar nicht zu dir, Paul.«

»Ich mache mir keine Sorgen um ihn«, erwiderte ich. »Ich bin neugierig, das ist alles.« »Nach meiner Erfahrung führt eins zum anderen«, antwortete Janice steif und gab mir einen lie­bevollen, innigen Kuss auf den Mund. »Du siehst wenigstens besser aus, das muss ich sagen. Eine Zeitlang hatte ich Angst um dich. Geht es besser mit deinem Wasserwerk?«

»Deutlich besser«, sagte ich, und schon fuhr ich los und sang dabei Songs wie >Come, Josephine, in My Flying Machine< und >We're in the Moneys um mir die Zeit zu vertreiben. Als erstes ging ich in Tefton zu der Zeitung Intelligencer, und man sagte mir, dass Burt Hammersmith, der Mann, den ich suchte, höchstwahrscheinlich drüben im Gerichtsgebäude sei. Dort sagte man mir, dass Hammersmith da gewesen war, jedoch unfreiwillig Feierabend gemacht habe, weil ein Wasserrohrbruch das Hauptverfahren verhindert hatte, das zufällig ein Vergewaltigungsprozess war (im Intelligencer würde das verpönte Wort >Vergewaltigung< als >tätliche Bedrohung einer Frau< umschrieben werden, so war das in jenen Tagen, bevor Ricki Lake und Carnie Wilson die Bühne betraten). Man nahm an, dass er nach Hause gefahren war.

Ich erhielt eine Wegbeschreibung und folgte einer unbefestigten Straße, die so zerfurcht und schmal war, dass ich sie kaum mit meinem Ford zu befahren wagte, und dann fand ich meinen Mann. Hammersmith hatte die meisten Artikel über den Coffey-Prozess geschrieben, und von ihm erfuhr ich das Gros der Einzelheiten über die kurze Menschenjagd, bei der Coffey eingefangen worden war. Ich meine natürlich die Einzelheiten, die man beim Intelligencer für zu grauenhaft gehalten hatte, um sie zu veröffentlichen.

Mrs. Hammersmith war eine junge Frau mit einem hübschen, aber müden Gesicht, deren Hände rot von Seifenlauge waren. Sie stellte keine Fragen, sondern führte mich einfach durch ein kleines Haus, in dem es nach frisch gebackenem Kuchen duftete, und hinaus auf die hintere Veranda, auf der ihr Mann mit einer Flasche Brause in der Hand und einem zusammengefalteten Exemplar der Zeitschrift Liberty auf dem Schoß saß. Es gab einen kleinen abfallenden Hinterhof; an seinem Ende kabbelten sich zwei kleine Kinder bei einer Schaukel. Von der Veranda aus war ihr Geschlecht unmöglich zu bestimmen, doch ich vermutete, dass es ein Junge und ein Mädchen war. Vielleicht waren es sogar Zwillinge, was ein interessantes Licht auf die Rolle ihres Vaters warf, die er - wenn auch eher als Zaungast - bei Coffeys Prozess gespielt hatte. Etwas näher, wie eine Insel inmitten eines Streifens aus kahlem, zertrampeltem und Kotübersätem Boden, stand eine Hundehütte. Kein Zeichen von Fifi. Es war wieder ein heißer Tag, ungewöhnlich für die Jahreszeit, und ich nahm an, dass er vielleicht in der Hundehütte lag und Siesta hielt »Burt, du hast Besuch«, sagte Mrs. Hammersmith. »Aha.« Er schaute mich an, sah seine Frau an und blickte wieder zu seinen Kindern, denen offensichtlich seine ganze Sorge galt Er hatte schütteres Haar und war dünn - fast krankhaft mager, als hätte er sich gerade erst von einer schlimmen Krankheit erholt. Seine Frau legte eine rote, vom Waschen geschwollene Hand auf seine Schulter. Er berührte sie nicht, zeigte keinerlei Reaktion, und sie zog die Hand einen Moment später zurück Es kam mir flüchtig in den Sinn, dass sie nicht wie ein Ehepaar, sondern eher wie Bruder und Schwester wirkten - er hatte den Verstand, sie das gute Aussehen, aber keiner konnte eine darunter liegende Ähnlichkeit leugnen, ein Erbe, dem man nie entkommen kann. Später auf der Heimfahrt wurde mir klar, dass sie sich in Wirklichkeit überhaupt nicht ähnelten; was den Eindruck erweckt hatte, waren die Nachwirkungen von Stress und fortdauerndem Kummer. Es ist sonderbar, wie Schmerz unsere Gesichter zeichnet und uns wie Verwandte wirken lässt

Sie fragte: »Möchten Sie etwas Kaltes trinken, Mister...«

»Edgecombe«, sagte ich. »Paul Edgecombe. Und danke. Ein kalter Drink wäre wunderbar, Ma'am.« Sie ging ins Haus. Ich streckte Hammersmith meine Hand hin, und er schüttelte sie kurz. Sein Händedruck war schlaff und kalt. Er ließ die Kinder hinten auf dem Hof nie aus den Augen. »Mr. Hammersmith, ich bin Superintendent in Block E der Strafvollzugsanstalt Gold Mountain. Das ist...«

»Ich weiß, was das ist«, sagte er und schaute mich jetzt mit etwas mehr Interesse an. »Das As der Wärter von der Green Mile steht also leibhaftig auf meiner Veranda.

Was führt Sie die fünfzig Meilen hierher, um mit dem einzigen Vollzeit-Reporter der Lokalzeitung zu reden?«

»John Coffey«, sagte ich.

Ich denke, ich hatte eine starke Reaktion erwartet (die Kinder, die Zwillinge sein konnten, führten wohl zu der Annahme und vielleicht auch die Hundehütte; die Dettericks hatten auch einen Hund), aber Hammersmith hob nur die Augenbrauen und nippte an seiner Brause. »Coffey ist jetzt ihr Problem, nicht wahr?« fragte er.

»Er ist kein großes Problem«, sagte ich. »Er hat Angst vor der Dunkelheit, und er heult oft, aber beides ist bei unserer Art Arbeit kein Problem. Wir erleben Schlimmeres.«

»Er heult viel?« fragte Hammersmith. »Nun, dazu hat er auch allen Grund, würde ich sagen, wenn man bedenkt, was er getan hat. Was wollen Sie wissen?«

»Alles, was Sie mir sagen können. Ich habe Ihre Zeitungsartikel gelesen, und jetzt möchte ich alles hören, was nicht in der Zeitung stand.«

Er blickte mich scharf an. »Zum Beispiel, wie die kleinen Mädchen aussahen? Was genau er ihnen angetan hat? Sind Sie an solchen Dingen interessiert, Mr. Edgecombe?« »Nein«, erwiderte ich in mildem Tonfall. »Es sind nicht die Detterick-Mädchen, an denen ich interessiert bin, Sir. Die armen Kleinen sind tot. Aber Coffey ist es nicht - noch nicht -, und bin neugierig, etwas über ihn zu erfahren.«

»In Ordnung«, meinte er. »Ziehen Sie sich einen Stuhl heran, und nehmen Sie Platz, Mister Edgecombe. Verzeihen Sie, wenn ich soeben ein wenig scharf geklungen habe, aber ich muss mich bei meinem Job mit vielen Geiern herumschlagen. Teufel, ich werde oft genug beschuldigt, selbst einer zu sein. Ich wollte nur sichergehen, dass Sie keiner dieser Blutsauger sind.« »Sind Sie jetzt davon überzeugt?«

»Ja, ich denke schon.« Es klang fast gleichgültig. Die Geschichte, die er mir erzählte, deckte sich im großen und ganzen mit der, die ich an früherer Stelle erzählt habe - wie Mrs. Detterick die Veranda leer vorgefunden, die Tür aus den Angeln gerissen, die Decken in einer Ecke, Blut auf der Verandatreppe entdeckt hatte; wie ihr Sohn und Mann den Spuren des Entführers der Mädchen gefolgt waren; wie die Posse sie eingeholt und kurz darauf John Coffey gestellt hatte. Wie Coffey wehklagend am Flussufer gesessen hatte, während die Leichen wie große Puppen auf seinen gewal­tigen Armen gelegen hatten. Der Reporter, der in seinem weißen Hemd mit offenem Kragen und der grauen Anzughose spindeldürr aussah, sprach mit leiser, leidenschaftsloser Stimme ..., doch er wandte den Blick nicht ein einziges Mal von seinen eigenen beiden Kindern ab, die sich im Schatten am Fuß des Hangs lachend beim Schaukeln ablösten. Irgendwann mitten in der Geschichte brachte Mrs. Hammersmith eine Flasche selbstgemachte Brause, die kalt war und köstlich schmeckte. Sie hörte eine Weile zu und unterbrach dann ihren Mann, um die Kinder zu rufen und anzukündigen, dass sie Kuchen im Backofen habe.

»Wir kommen, Mama!« antwortete eine Mädchenstimme, und die Frau ging wieder ins Haus. Als Hammersmith zu Ende erzählt hatte, sagte er »Warum wollen Sie das wissen? Ich hatte noch nie Besuch von einem Gefängniswärter, Sie sind der erste.« »Ich sagte doch schon ...«

»Neugier, ja. Die Leute sind neugierig, das weiß ich, und ich danke sogar Gott dafür, denn sonst wäre ich arbeitslos und wüsste nicht, wie ich unseren Lebensunterhalt verdienen sollte. Aber fünfzig Meilen sind ein langer Weg, nur um Neugier zu befriedigen, besonders wenn die letzten zwanzig über schlechte Straßen führen. Warum sagen Sie also nicht die Wahrheit, Edgecombe? Ich habe Ihre Neugier befriedigt, also befriedigen Sie jetzt meine.«

Ich könnte sagen: Nun, ich hatte diese Blaseninfektion, und John Coffey legte mir eine Hand auf und heilte sie. Der Mann, der diese beiden Mädchen vergewaltigt und ermordet hat, tat das. Deshalb interessiere ich mich natürlich für ihn - jeder wäre da neugierig geworden. Ich frage mich sogar, ob Sheriff Homer Cribus und Deputy Rob McGee vielleicht den falschen Mann verhaftet haben. Trotz all der Beweise gegen ihn frage ich mich das. Denn einen Mann mit der Gabe eines Heilers hält man für gewöhnlich nicht für den Typ, der Kinder vergewaltigt und ermordet Nein, das wäre nicht der richtige Ansatz.

»Zwei Fragen beschäftigen mich«, sagte ich. »Die erste Frage ist: Hat er jemals zuvor so etwas getan?«

Hammersmith wandte sich mir zu, und sein Blick spiegelte plötzlich Interesse wider. Er war ein kluger Mann. Vielleicht sogar ein brillanter Mann, auf seine stille Art »Warum?« fragte er. »Was wissen Sie, Edgecombe? Was hat er gesagt?«

»Nichts. Aber ein Mann, der so etwas tut, hat es für gewöhnlich vorher schon getan. Sie kommen auf den Geschmack«

»Ja«, sagte Hammersmith. »So ist es. Ganz richtig.«

»Und es kam mir in den Sinn, dass man leicht seinen Weg zurückverfolgen und es herausfinden könnte.

Bei einem Mann seiner Größe, obendrein einem Schwarzen, kann das nicht so schwierig sein.« »Wenn Sie das denken, irren Sie sich«, sagte Hammersmith. »In Coffeys Fall jedenfalls. Ich weiß es.«

»Sie haben es versucht?«

»Das habe ich, und ich habe nichts gefunden. Es gab ein paar Typen von der Eisenbahn, die glaubten, ihn auf dem Bahnhof in Knoxville gesehen zu haben - zwei Tage vor der Ermordung der Detterick-Mädchen. Das ist keine Überraschung; er befand sich am Fluss in der Nähe der Gleise der Great Southern, als er festgenommen wurde, also ist er vermutlich mit der Eisenbahn von Tennessee herunter gekommen. Ich erhielt einen Brief von einem Mann, der mir mitteilte, dass er einen großen kahlköpfigen Schwarzen im Frühjahr dieses Jahres angeheuert hatte, um Kisten zu verladen - das war in Kentucky. Ich habe ihm ein Foto von Coffey geschickt, und er erkannte ihn darauf wieder. Aber sonst ...« Hammersmith zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf. »Kommt Ihnen das nicht ein bisschen merkwürdig vor?«

»Das kommt mir äußerst merkwürdig vor, Mr. Edgecombe. Er scheint vom Himmel gefallen zu sein. Und er ist keine Hilfe; er kann sich an nichts erinnern, hat von einer Woche zur nächsten alles vergessen.«

»Stimmt«, sagte ich, »und wie erklären Sie sich das?«

»Wir haben eine Wirtschaftskrise«, sagte er. »Das ist für mich die Erklärung. Die Leute sind überall auf den Straßen. Die landwirtschaftlichen Wanderarbeiter wollen in Kalifornien Pfirsiche pflücken, die armen Weißen vom Bergbau wollen in Detroit Autos bauen, die Schwarzen aus Mississippi wollen nach New England gehen und in den Schuh- und Textilfabriken arbeiten. Jeder - Schwarze wie Weiße -meint, es wird jenseits des nächsten Landstreifens besser. Das ist die verdammte amerikanische Lebensart Selbst ein Riese wie Coffey fällt niemandem auf, weil sich so viele Leute herumtreiben . .., es sei denn, er entschließt sich, zwei kleine Mädchen umzubringen. Kleine weiße Mädchen.« »Glauben Sie das?« fragte ich skeptisch. »Ich meine, dass er nur auffällt, wenn er weiße Mädchen umbringt?«

Er blickte mich aus seinem schmalen Gesicht kühl an. »Manchmal glaube ich das, ja.«

Seine Frau neigte sich aus dem Küchenfenster wie ein Lokführer aus dem Führerstand einer Lok und rief: »Kinder! Der Kuchen ist fertig!«

Dann wandte sie sich an mich. »Möchten Sie ein Stück Rosinenkuchen, Mr. Edgecombe?« »Ich bin überzeugt, dass er köstlich ist, Ma'am, aber ich muss passen.« »In Ordnung«, sagte sie und zog sich zurück.

»Haben Sie seine Narben gesehen?« fragte Hammersmith unvermittelt. Er beobachtete immer noch seine Kinder, die sich noch nicht ganz dazu durchringen konnten, den Spaß des Schaukelns aufzugeben - auch nicht für Rosinenkuchen. »Ja.« Es überraschte mich, dass er sie gesehen hatte. Er bemerkte meine Reaktion und lachte. »Der einzige große Sieg des Verteidigers bestand darin, dass Coffey sein Hemd ausziehen und diese Narben den Geschworenen zeigen durfte. Der Ankläger, George Peterson, erhob äußerst heftig Einspruch, doch der Richter ließ es zu. Der gute George hätte sich den Atem sparen können - in dieser Gegend kaufen Geschworene niemandem diesen psychologischen Scheiß ab, dass Leute, die misshandelt wurden, nichts dafür können, wenn sie ein Verbrechen begehen. Die Jurys in dieser Gegend glauben, dass sie sehr wohl für ihre Taten verantwortlich sind. Das ist ein Gesichtspunkt, für den ich viel Verständnis habe ..., aber diese Narben waren wirklich grässlich. Ist Ihnen etwas daran aufgefallen, Edgecombe?«

Ich hatte Coffey nackt unter der Dusche gesehen, und es war mir etwas an den Narben aufgefallen; ich wusste, was Hammersmith meinte. »Sie sind alle zerrissen, sehen fast wie ein Gitter aus.« »Sie wissen, was das bedeutet?«

»Jemand hat ihn brutal ausgepeitscht, als er ein Kind war«, sagte ich. »Bevor er gewachsen ist« »Aber man hat es nicht geschafft, den Teufel aus ihm herauszupeitschen, nicht wahr, Edgecombe? Man hätte sich das Peitschen sparen und ihn statt dessen im Fluss ersäufen sollen wie eine streunende Katze, finden Sie das nicht auch?«

Ich nehme an, es wäre diplomatisch gewesen, ihm einfach zuzustimmen und zu verschwinden, aber das konnte ich nicht Ich hatte Coffey gesehen. Und ich hatte ihn gespürt. Hatte die Berührung seiner Hände gespürt

»Er ist... sonderbar«, sagte ich. »Aber er scheint keine wirklichen gewalttätigen Züge zu haben. Ich weiß, wie er gefunden wurde, und das ist unvereinbar mit dem, was ich Tag für Tag im Block von ihm sehe. Ich kenne gewalttätige Männer, Mr. Hammersmith.« Ich dachte natürlich an Wharton, der Dean Stanton mit der Kette seiner Handfesseln gewürgt und gebrüllt hatte: »Jucheee, Jungs! Das ist 'ne Party, was?«

Hammersmith schaute mich jetzt genauer an und zeigte ein kleines ungläubiges Lächeln, das mir nicht sonderlich behagte. »Sie sind nicht hergekommen, um herauszufinden, ob er in einer anderen Gegend weitere kleine

Mädchen ermordet hat oder nicht«, sagte er. »Sie sind hergekommen, um festzustellen, ob ich denke,

dass er es überhaupt getan hat. Das ist es, nicht wahr? Geben Sie es zu, Edgecombe.«

Ich schluckte den Rest meiner kalten Brause, stellte die Flasche neben seine auf den kleinen Tisch und

sagte: »Und? Glauben Sie es?«

»Kinder!« rief er den kleinen Hang hinab und beugte sich ein wenig vor. »Kommt sofort her und holt

euch euren Kuchen!« Dann lehnte er sich auf dem Stuhl zurück und schaute mich an.

Dieses kleine Lächeln - das, was mir nicht behagte - war wieder auf seinem zu schmalen Gesicht

»Ich will Ihnen etwas erzählen«, kündigte er an. »Hören Sie gut zu, denn dies könnte etwas sein, das

Sie wissen müssen.«

»Ich höre.«

»Wir hatten einen Hund namens Sir Galahad«, begann er und wies mit dem Daumen zur Hundehütte.

»Er war ein guter Hund. Nicht reinrassig, aber sanft Ruhig. Leckte einem die Hand oder apportierte

einen Stock Es gibt viele solche Mischlingshunde, meinen Sie nicht auch?«

Ich zuckte mit den Schultern und nickte.

»In vielerlei Hinsicht ist eine gute Promenadenmischung wie Ihr Neger«, sagte er. »Man wird vertraut

mit ihm, und oftmals liebt man ihn. Er ist von keinem besonderen Nutzen, aber man hält ihn, weil man

denkt, er liebt einen ebenfalls. Wenn Sie Glück haben, Mr. Edgecombe, werden Sie nie eine andere

Erfahrung machen. Cynthia und ich, wir hatten dieses Glück nicht« Er seufzte - ein lang gezogener,

hohler Laut, als raschelte Laub im Wind. Er wies wieder zu der Hundehütte, und ich fragte mich,

weshalb mir vorher entgangen war, dass sie verlassen wirkte und die Kothäufchen verblasst und oben

pulvrig waren.

»Ich pflegte hinter ihm sauberzumachen und das Dach der Hütte zu reparieren, damit es nicht

reinregnet«, sagte Hammersmith. »In dieser Hinsicht war Sir Galahad ebenfalls wie Ihr Neger aus

dem Süden, der diese Dinge nicht selbst tun will. Jetzt rühre ich nichts mehr dort an, ich war nicht mal

mehr in der Nähe der Hundehütte seit dem Unfall ..., wenn man es als Unfall bezeichnen kann. Ich

ging mit meinem Gewehr dorthin und erschoss ihn, aber seither war ich nicht mehr dort. Ich kann

mich einfach nicht dazu überwinden. Ich nehme an, irgendwann werde ich es wieder schaffen. Ich

werde seine Scheiße entfernen und die Hütte abreißen.«

Da kamen die Kinder, und auf einmal wollte ich nicht, dass sie kamen; auf einmal war es das letzte

auf der Welt, das ich wollte. Das kleine Mädchen war in Ordnung, aber der Junge ...

Sie stürmten die Verandatreppe herauf, sahen mich an, kicherten und wollten weiter zur Küchentür

laufen.

»Caleb«, rief Hammersmith. »Komm her. Nur für einen Moment«

Das kleine Mädchen - gewiss seine Zwillingsschwester (sie mussten im selben Alter sein, ungefähr

vier) - eilte weiter zur Küche. Der kleine Junge kam zu seinem Vater und schaute zu Boden. Er

wusste, dass er hässlich war. Er war erst vier, schätze ich, aber mit vier ist man alt genug, um zu

wissen, dass man hässlich ist Sein Vater schob zwei Finger unter das Kinn des Jungen und wollte

seinen Kopf anheben. Zuerst widersetzte sich der Junge, doch als sein Vater zärtlich, ruhig und

liebevoll »Bitte, Sohn« sagte, hob er den Kopf.

Eine große kreisförmige Narbe verlief vom Haaransatz über die Stirn durch ein totes und schiefes

Auge bis zum Mundwinkel, der entstellt war und das anzügliche Grinsen eines Spielers oder vielleicht

Zuhälters zeigte. Eine Wange war glatt und schön; die andere war von wulstigen Narben entstellt.

Ich nehme an, dass ein Loch darin gewesen war, aber das war wenigstens geheilt.

»Er hat noch ein Auge«, sagte Hammersmith und streichelte liebevoll über die verunstaltete Wange

des Jungen. »Ich nehme an, er kann sich glücklich schätzen, weil er nicht blind geworden ist. Wir

knien uns nieder und danken Gott wenigstens dafür. Nicht wahr, Caleb?«

»Ja, Sir«, sagte der Junge scheu - der Junge, der von lachenden Kindern auf dem Spielplatz in all

seinen elenden Schuljahren gnadenlos verspottet werden würde, der Junge, der nie zum Mitspielen

gebeten und im Mannesalter vielleicht nie mit einer Frau schlafen würde, ohne sie bezahlen zu

müssen, der Junge, der immer außerhalb des warmen und hellen Kreises anderer stehen würde, der

Junge, der sich in den nächsten fünfzig oder sechzig oder siebzig Jahren seines Lebens im Spiegel

betrachten und denken würde: hässlich, hässlich, hässlich.

»Geh und hol dir deinen Kuchen«, sagte der Vater und küsste seinen Sohn auf den schiefen, höhnisch

grinsenden Mund.

»Ja, Sir«, sagte Caleb und flitzte in die Küche.

Hammersmith nahm ein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich über die Augen - sie

waren jetzt trocken, aber ich nehme an, er hatte sich daran gewöhnt, dass sie sonst feucht waren.

»Der Hund war hier, als die Kinder geboren wurden«, erzählte er. »Als Cynthia sie von der Klinik

heimbrachte, ging ich mit ihnen zu der Hundehütte, damit er sie riechen konnte, und Sir Galahad

leckte ihre Hände. Ihre kleinen Hände.« Er nickte, als wollte er sich das selbst bestätigen. »Er spielte

mit ihnen; pflegte Ardens Gesicht abzulecken, bis sie kicherte.

Caleb zupfte ihn an den Ohren, und als er das Gehen lernte, hielt er sich manchmal an Galahad fest

und watschelte über den Hof. Der Hund hat ihn nie auch nur angeknurrt. Beide Kinder nicht«

Jetzt kamen die Tränen; er wischte sie automatisch fort wie jemand, der es so oft getan hatte, dass

es ihm in Fleisch und Blut übergegangen war.

»Es gab keinen Grund«, sagte er. »Caleb hat ihm nichts getan, ihn nicht angeschrieen, ihn nicht

gereizt. Ich weiß es. Ich war dabei. Wenn ich nicht dabei gewesen wäre, dann hätte der Junge es

höchstwahrscheinlich nicht überlebt. Es ist nichts geschehen, Mr. Edgecombe. Der Junge stand nur

vor dem Gesicht des Hundes - und es kam Sir Galahad in den Sinn - was auch immer einem Hund als

Sinn dient -, ihn anzuspringen und zu beißen. Zu töten, wenn möglich. Der Junge stand vor ihm, und

der Hund biss. Und das geschah auch mit Coffey. Er war dort, sah die Mädchen auf der Veranda,

schnappte sie sich, vergewaltigte sie, tötete sie. Sie sagen, es müsste irgendein Anzeichen darauf

geben, dass er so etwas schon einmal getan hat und ich weiß, was Sie meinen, aber vielleicht hat er

es nie zuvor getan. Mein Hund hat nie jemanden zuvor gebissen; nur dieses eine Mal. Vielleicht würde

Coffey es nie wieder tun, wenn man ihn freiließe. Vielleicht hätte mein Hund auch nie wieder

gebissen. Aber darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht wissen Sie. Ich bin mit meinem Gewehr

zu ihm gegangen und habe ihm den Kopf weggeschossen.« Er atmete schwer.

»Ich bin so vorurteilsfrei wie jeder andere auch, Mr. Edgecombe. War auf dem College in Bowling

Green, habe Geschichte und Journalismus und auch etwas Philosophie studiert. Ich betrachte mich

gern als relativ gebildet und aufgeklärt. Ich bezweifle, dass die Leute oben im Norden dem zustimmen

würden, aber ich sehe mich gern so. Ich würde die Sklaverei um nichts in der Welt wieder einführen.

Ich denke, wir müssen human und großzügig in unseren Bemühungen sein, das Rassenproblem zu

lösen. Aber wir müssen bedenken, dass Ihr Neger beißen wird, wenn er die

Gelegenheit bekommt, genau wie ein Mischlingshund beißen wird, wenn er die Chance hat und es ihm

in den Sinn kommt, das zu tun. Sie wollen wissen, ob er es getan hat, Ihr weinerlicher Mr. Coffey mit

all den Narben?«

Ich nickte.

»O ja«, sagte Hammersmith. »Er hat es getan. Zweifeln Sie nicht daran, und wenden Sie ihm nicht

den Rücken zu. Sie haben vielleicht einmal oder hundertmal Glück ... sogar tausendmal ..., doch am

Ende ...« Er hob eine Hand und ließ Finger und Daumen schnell zusammenschnappen und

verwandelte sie damit in ein beißendes Maul.

»Verstehen Sie?«

Ich nickte abermals.

»Er vergewaltigte sie, tötete sie, und danach tat es ihm leid ..., aber diese kleinen Mädchen blieben

geschändet, diese kleinen Mädchen blieben getötet. Aber Sie werden es ihm besorgen, nicht wahr,

Edgecombe? In ein paar Wochen werden Sie es ihm besorgen, damit er nie wieder so etwas tut«

Er erhob sich, ging zum Verandageländer und schaute zur Hundehütte, die inmitten dieses kahlen

Streifens stand, inmitten von altem Hundekot »Vielleicht werden Sie mich entschuldigen«, sagte er.

»Da ich den Nachmittag nicht im Gericht verbringen muss, dachte ich mir, ich könnte mich eine Weile

meiner Familie widmen. Kinder sind nur einmal jung.«

»Nur zu.« Meine Lippen fühlten sich betäubt und kalt an. »Und vielen Dank für Ihre Zeit.«

»Gern geschehen«, sagte er.

Ich fuhr von Hammersmith' Haus aus direkt zum Gefängnis. Es war eine lange Fahrt, und diesmal

konnte ich sie mir nicht mit Singen verkürzen. Ich hatte das Gefühl, dass mir alle Melodien

ausgegangen waren, wenigstens für eine Weile. Ich sah vor meinem geistigen Auge immer noch das

verunstaltete Gesicht des kleinen Jungen. Und Hammersmith' Hand, die er wie ein beißendes Maul

auf- und zuschnappen ließ.

5

Am nächsten Tag machte Wild Bill Wharton seinen ersten Ausflug in die Gummizelle. Er verhielt sich am Morgen und Nachmittag ruhig und brav wie ein kleines Lamm - ein Verhalten, das unnatürlich bei ihm war und Probleme ankündigte, wie wir bald feststellten. Dann, so gegen neunzehn Uhr dreißig, spürte Harry etwas Warmes auf den Hosenbeinen der Uniform, die er an diesem Tag frisch gereinigt angezogen hatte. Es war Pisse. William Wharton stand in seiner Zelle, zeigte sein verrotteten Zähne in einem breiten Grinsen und pinkelte auf Harry Terwilligers Hosenbeine und Schuhe.

»Der dreckige Hurensohn muss die Piss den ganzen Tag aufgespart haben«, sagte Harry später,

immer noch angewidert und empört

Nun, das war's dann. Es war an der Zeit, William Wharton zu zeigen, wer in Block E das sagen hatte.

Harry holte Brutal und mich, und ich alarmierte Dean und Percy, die ebenfalls Dienst hatten. Wir

hatten zu dieser Zeit drei Gefangene und waren sozusagen ausgebucht. Meine Gruppe arbeitete von

neunzehn bis drei Uhr am Morgen - wenn am meisten mit Problemen zu rechnen war -, und zwei

andere Crews hatten Dienst für den Rest des Tages. Diese anderen Gruppen bestanden hauptsächlich

aus Springern, und Bill Dodge übernahm für gewöhnlich die Leitung. Es war alles in allem keine

schlechte Regelung, und ich dachte mir, wenn ich Percy zur Tagschicht abschieben könnte, würde das

Leben sogar noch besser werden. Ich schaffte es jedoch nie, Percy loszuwerden. Manchmal frage ich

mich, ob es die Dinge geändert hätte, wenn es mir gelungen wäre.

Im Lagerraum neben Old Sparky befand sich ein großes Hauptwasserrohr, an das Dean und Percy

einen langen Feuerwehrschlauch anschlossen. Dann warteten sie am Ventil, um es aufzudrehen, wenn

es nötig war.

Brutal und ich eilten zu Whartons Zelle, wo er immer noch stand, immer noch grinste und immer noch

sein Gerät aus der Hose hängen ließ. Ich hatte am vergangenen Abend die Zwangsjacke aus der

Gummizelle geholt und in ein Regal in meinem Büro gelegt, weil ich mir gedacht hatte, dass wir sie

vielleicht für unser neues Problemkind brauchen würden. Jetzt hatte ich sie schnell zur Hand und

hakte meinen Zeigefinger unter einen der Leinenriemen. Harry folgte uns und zog die Spitze des

Feuerwehrschlauchs mit, der durch mein Büro bis in den Lagerraum und zu der Trommel führte, von

der Dean und Percy den Schlauch abrollten, so schnell sie konnten.

»Na, wie hat euch das gefallen?« rief Wild Bill. Er lachte wie ein Kind auf dem Jahrmarkt, wurde so

von Gelächter geschüttelt, dass er kaum sprechen konnte, und dicke Lachtränen rannen über seine

Wangen. »Wenn ihr so schnell kommt, muss es euch gefallen haben. Ich bereite momentan ein paar

Stücke Scheiße als Munition vor. Schöne weiche. Damit werde ich euch morgen ...«

Er bemerkte, dass ich die Zellentür aufschloss, verstummte und kniff die Augen zu Schlitzen

zusammen. Er sah, dass Brutal seinen Revolver in einer Hand und den Schlagstock in der anderen

hielt, und die Augenschlitze wurden noch schmaler.

»Ihr könnt auf den Beinen reinkommen, aber ihr werdet auf dem Arsch rauskriechen, das garantiert

euch Billy the Kid«, sagte er. Sein Blick zuckte wieder zu mir. »Und wenn du meinst, du kannst mich

in diese Irrenjacke zwingen, solltest du dir das noch mal überlegen, du Saftsack.«

»Du hast hier gar nichts zu sagen«, erwiderte ich. »Das solltest du wissen, aber ich nehme an, du bist

zu blöd, um es ohne eine kleine Lektion zu begreifen.«

Ich zog die Zellentür auf. Wharton ging rückwärts zur Pritsche zurück - sein Fimmel hing immer noch

aus der Hose -, streckte mir die Handflächen entgegen und winkte mir dann. »Komm nur, du

Scheißer«, sagte er. »Es wird eine Lektion geben, ganz richtig, aber ich werde sie erteilen.« Er wandte

den Blick und sein schwarzzahniges Grinsen von mir zu Brutal. »Na komm, Großer, du zuerst. Diesmal

kannst du dich nicht von hinten anschleichen. Steck den Ballermann weg - du wirst sowieso nicht

schießen, du nicht - und wir kämpfen Mann gegen Mann. Du wirst ja sehen, wer der bessere ...«

Brutal trat in die Zelle, jedoch nicht auf Wharton zu. Als er durch die Tür gegangen war, glitt er nach

links, und Wharton riss die Augen auf, als er den Feuerwehrschlauch sah, den Harry auf ihn richtete.

»Das wagst du nicht«, rief er. »Nein, das wirst du nicht...«

»Dean!« brüllte ich. »Wasser - marsch! Volle Pulle!«

Wharton sprang vorwärts, und Brutal verpasste ihm einen Hieb mit dem Schlagstock - so einen Hieb,

wie Percy ihn sich bestimmt immer erträumt hatte - auf die Stirn, gleich über die Augenbrauen.

Wharton, der anscheinend dachte, wir hätten bis zu seiner Ankunft noch nie Probleme gehabt, ging

auf die Knie, die Augen offen, aber wie blind. Dann kam das Wasser, und Harry taumelte unter dem

Druck, doch dann hielt er den Schlauch an der Düse fest in den Händen und zielte damit wie mit einer

Waffe. Der Strahl traf Wild Bill Wharton mitten auf die Brust, wirbelte ihn halb herum und trieb ihn

zurück bis unter seine Pritsche. Weiter unten auf dem Gang sprang Delacroix in seiner Zelle von einem

Fuß auf den anderen, keifte John Coffey mit schriller Stimme an, verfluchte ihn und verlangte, dass er

ihm schilderte, was sich in Whartons Zelle ereignete, wer gewann und wie dem Neuen, dem gran' fou,

die Behandlung mit dem Wasser gefiel. John sagte nichts, stand nur stumm in seiner zu kurzen Hose

und den Gefängnislatschen da. Ich konnte nur kurz zu ihm blicken, doch das reichte, um seine übliche

Miene zu sehen - traurig und gelassen. Es war, als hätte er das Ganze schon zuvor gesehen, nicht nur

ein- oder zweimal, sondern Tausende Male.

»Wasser abstellen!« rief Brutal über die Schulter, und dann stürmte er tiefer in die Zelle. Er packte

den halb bewusstlosen Wharton unter den Achseln und zerrte ihn unter der Pritsche hervor. Wharton

hustete und stieß gurgelnde Laute aus. Blut sickerte aus den Brauen, über denen Brutals Schlagstock

die Haut aufgerissen hatte, in seine Augen. Brutus Howell und ich hatten das Anlegen der

Zwangsjacke zu einer wahren Wissenschaft gemacht; wir hatten es geübt, wie Varietetänzer einen

neuen Tanz einstudieren.

Dann und wann zahlt sich das Üben aus. Jetzt zum Beispiel. Brutal setzte Wharton auf und streckte

mir seine Arme hin, wie ein Kind seiner Mama die Arme einer lädierten Puppe hinhält. Wharton

dämmerte, dass alles zu spät war, wenn er nicht sofort kämpfte, das sah ich in seinen Augen, aber die

Leitungen zwischen Verstand und Muskeln waren noch defekt, und bevor er sie reparieren konnte,

verpasste ich ihm die Zwangsjacke, und Brutal schnallte die Riemen am Rücken zu. Während Brutal

sich darum kümmerte, schnappte ich mir die Riemen der Handfesseln und verschnürte Whartons

Handgelenke noch zusätzlich auf seinen Rücken. Am Ende sah er aus, als umarme er sich selbst.

»Verdammt noch mal, großer Blödmann, was machen sie mit Pissäär?« brüllte Delacroix. Ich hörte Mr.

Jingles fiepen, als wollte er es ebenfalls wissen.

Percy traf ein. Sein Hemd war nass und klebte an ihm nach seinem Kampf mit dem Wasser vom

Hauptrohr, und sein Gesicht glühte vor Aufregung. Dean tauchte hinter ihm auf. Er trug eine Kette aus

purpurfarbenen Würgemalen um den Hals und sah viel weniger begeistert aus als Percy.

»Komm, komm, Wild Bill«, sagte ich und riss Wharton auf die Füße. »Wir machen einen kleinen

Spaziergang.«

»Nenn mich nicht so!« kreischte Wharton, und ich denke, dass wir zum ersten Mal echte Gefühle von

ihm sahen, nicht nur die clevere Tarnung eines Tiers. »Wild Bill Hickok war kein Ranger! Er hat nie mit

einem Bowiemesser gegen einen Bären gekämpft. Er war nur ein weiterer hinterhältiger

Gesetzeshüter. Der Blödmann hat sich mit dem Rücken zur Tür gesetzt und sich von einem

Besoffenen umlegen lassen!«

»Du meine Güte, eine Lektion in Geschichte!* rief Brutal und schubste Wharton aus der Zelle.

»Wer hier den Dienst antritt, weiß nie, was ihn erwartet. Aber reizend ist es immer - kein Wunder, bei

so vielen netten Leuten wie dir ist das nur natürlich, nicht wahr? Und weißt du was? Schon bald wirst

du selbst Geschichte sein, Wild Bill. Und jetzt gehen wir den Gang hinunter. Wir haben ein schönes

Zimmer für dich. Sozusagen ein Zimmer zum Abkühlen.«

Wharton stieß einen wütenden, unverständlichen Schrei aus und warf sich gegen Brutal, obwohl er

gut verschnürt in der Zwangsjacke steckte und seine Hände gefesselt waren. Percy machte Anstalten,

seinen Schlagstock zu zücken - die Wetmore-Lösung für alle Probleme des Lebens -, aber Dean legte

ihm eine Hand auf den Arm. Percy schaute ihn verwirrt, fast empört an, als wollte er sagen, nach

dem, was Wharton ihm angetan hatte, sollte Dean der letzte auf der Welt sein, der ihn beschützen

wollte.

Brutal stieß Wharton zurück. Ich nahm ihn in Empfang und schob ihn zu Harry weiter. Und Harry

zerrte ihn über die Green Mile, vorbei an dem starrenden Delacroix und dem teilnahmslosen Coffey.

Wharton musste laufen, um nicht aufs Gesicht zu fallen, und auf dem ganzen Weg versprühte er

Flüche wie ein Schweißbrenner Funken. Wir stießen ihn in die letzte Zelle rechts, während Dean, Harry

und Percy (der sich ausnahmsweise mal nicht wegen Überarbeitung beklagte) das Gerumpel aus der

Gummizelle entfernten. Während die drei diese Arbeit verrichteten, hatte ich eine kurze Unterhaltung

mit Wharton.

»Du hältst dich für einen harten Jungen«, sagte ich, »und vielleicht bist du das auch, Sonny aber hier

drinnen zählt Härte nicht. Deine wilden Tage sind vorbei. Wenn du uns die Sache leicht machst,

werden wir sie dir leicht machen. Wenn du die harte Tour bevorzugst stirbst du am Ende trotzdem,

aber wir werden dich vorher anspitzen wie einen Bleistift«

»Ihr werdet unendlich glücklich sein, mein Ende zu erleben«, erwiderte Wharton mit heiserer Stimme.

Er wand sich in der Zwangsjacke, obwohl er wissen musste, dass es nichts nutzte, und sein Gesicht

war tomatenrot »Und bis ich krepiere, werde ich euch das Leben zur Hölle machen!« Er bleckte die

Zähne wie ein wütender Pavian.

»Wenn das alles ist was du willst, uns das Leben zur Hölle zu machen, dann kannst du jetzt aufhören,

denn das hast du bereits getan«, sagte Brutal. »Aber was deine Zeit auf der Green Mile anbetrifft,

Wharton, so juckt es uns nicht, ob du sie ausschließlich in dem Einzelzimmer mit den weichen Wänden

verbringst Und du kannst diese verdammte Irrenjacke tragen, bis deine Arme aus Mangel an

Blutzirkulation brandig werden und abfallen.« Er legte eine kurze Pause ein. »Hier kommt selten

jemand her, weißt du. Und wenn du meinst, es interessiert jemanden, was auch immer mit dir

geschieht, solltest du umdenken, Cowboy. Für die Welt bist du bereits ein toter Gesetzloser.«

Wharton musterte Brutal sorgfältig, und der zornige Ausdruck wich aus seinem Gesicht »Nimm mir die

Jacke ab«, bat er in versöhnlichem Tonfall - zu ruhig und vernünftig, um ihm zu trauen. »Ich werde

brav sein. Ehrlich.«

Harry tauchte auf der Türschwelle der Zelle auf.

Das Ende des Gangs sah aus wie ein Trödelmarkt, aber das würden wir schnell aufgeräumt haben,

wenn wir erst einmal angefangen hatten. Das war nicht das erste Mal; wir kannten die Übung.

»Fertig«, sagte Harry.

Brutal packte die Wölbung der Zwangsjacke, wo sich Whartons rechter Ellenbogen befand, und riss

ihn auf die Füße. »Auf, auf, Wild Billy. Und sieh es doch mal positiv.

Du hast mindestens

vierundzwanzig Stunden Zeit um dich daran zu erinnern, dass du dich nie mit dem Rücken zur Tür

setzen und nie die Asse und Achten festhalten solltest«

»Lass mich aus dem Ding raus«, sagte Wharton. Er schaute von Brutal zu Harry und dann zu mir, und

die Röte kroch wieder in sein Gesicht »Ich werde brav sein. Ich sage euch, ich habe meine Lektion

gelernt. Ich ... ich ... uuuaaaahhhh ...« Er brach plötzlich zusammen, halb in der Zelle, halb auf dem

Linoleum der Green Mile. Er trat mit den Füßen aus und zuckte mit dem Körper.

»O Gott, er hat einen Anfall«, flüsterte Percy.

»Klar, und meine Schwester ist die Hure von Babylon«, meinte Brutal. »Sie tanzt samstags nachts mit

einem langen weißen Schleier den Fruchtbarkeitstanz für Moses.« Er bückte sich und schob eine Hand

unter eine von Whartons Achseln. Ich packte Wharton unter der anderen Achsel. Er zappelte zwischen

uns wie ein Fisch am Haken. Seinen zuckenden Körper zu tragen und ihn an einem Ende grunzen und

am anderen furzen zu hören war eines der weniger angenehmen Erlebnisse meines Lebens.

Ich blickte auf und sah für einen Moment John Goffeys Augen. Sie waren blutunterlaufen, und seine

dunklen Wangen waren feucht. Er hatte wieder geheult. Ich erinnerte mich an Hammersmiths Geste

der zubeißenden Hand und fröstelte ein wenig. Dann wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder

Wharton zu.

Wir warfen ihn wie eine Fracht in die Gummizelle, wo er dann immer noch zuckend auf dem Boden

lag, nahe der Wasserabflussrinne, wo wir einst die Maus gesucht hatten, die ihr Leben in Block E als

Steamboat Willy begonnen hatte.

»Es juckt mich nicht, ob er seine Zunge oder was auch immer verschluckt und abkratzt«, sagte Dean

mit krächzender Stimme, »aber denkt an die Schreibarbeit, Jungs! Die würde endlos sein.«

»Die Schreibarbeit ist nicht das Schlimmste, denkt an die Untersuchung«, warf Harry ein.

»Wir würden unsere verdammten Jobs verlieren. Dann könnten wir unten in Mississippi Erbsen

pflücken. Ihr wisst was Mississippi ist nicht wahr? Das indianische Wort für Arschloch.«

»Er wird nicht abkratzen, und er wird auch nicht seine Zunge verschlucken«, sagte Brutal. »Wenn wir

morgen die Tür offnen, ist er putzmunter. Mein Wort darauf.«

So war es dann auch. Der Mann, den wir am nächsten Abend um neun in seine Zelle zurückbrachten,

war ruhig, blass und scheinbar geläutert. Er ging mit gesenktem Kopf, griff keinen an, als ihm die

Zwangsjacke abgenommen wurde, und starrte mich nur stumm an, als ich ihm mitteilte, dass es beim

nächsten Mal achtundvierzig Stunden dauern würde und er sich überlegen soll, wie viel Zeit er damit

verbringen möchte, in seine Hosen zu pinkeln und löffelweise mit Babynahrung gefüttert zu werden.

»Ich werde brav sein, Boss, ich habe meine Lektion gelernt«, sagte er leise und demütig, als wir ihn in

seine Zelle sperrten. Brutal blickte zu mir und zwinkerte.

Spät am nächsten Tag kaufte William Wharton, der sich für Billy the Kid hielt und niemals für den

hinterhältigen Wild Bill Hickok, vom alten TootToot ein Schokoladenteilchen. Solche Geschäfte waren

TootToot strikt verboten, doch die Nachmittagscrew bestand aus Springern, wie ich wohl schon gesagt

habe, und der Handel ging über die Bühne. Toot wusste zweifellos, dass er ein krummes Ding drehte,

aber für ihn war sein Snackmobil, der Karren mit den Bibelsprüchen und seiner Ware, stets eine Sache

von »ein Nickel ist ein Nickel, ein Dirne ist ein Dirne«.

In dieser Nacht, als Brutal seinen Kontrollgang machte, stand Wharton an der Tür seiner Zelle. Er

wartete, bis Brutal ihn anschaute, dann hielt er die Hände trichterförmig vor den Mund und schoss

einen dicken und erstaunlich langen Strahl Schokoladenbrei aus seinen geblähten Wangen in Brutals

Gesicht. Er hatte das gesamte Schokoladenteilchen in den Mund geschoben, es darin gehalten, bis die

Schokolade flüssig geworden war, und jetzt hatte er sie wie Kautabak ausgespuckt.

Wharton fiel zurück auf seine Pritsche. Er hatte einen Spitzbart aus Schokolade, trat mit den Beinen

aus, lachte und zeigte auf Brutal, der viel mehr als einen Spitzbart hatte.

»Der kleine Mohr, Yessir, Boss, Yessir, ist das nicht zum Wiehern?« Wharton hielt sich lachend den

Bauch. »Mann, wenn das doch nur Kacke gewesen wäre! Ich wünschte, es wäre Kacke gewesen!

Wenn ich davon etwas gehabt hätte...«

Du bist Kacke«, grollte Brutal, »und ich hoffe, du hast deine Sachen gepackt, denn du wanderst

zurück in deine Lieblingstoilette.«

So verpassten wir Wharton erneut die Zwangsjacke und sperrten ihn abermals in die Gummizelle.

Diesmal für zwei Tage. Manchmal konnten wir ihn darin toben hören, bisweilen versprach er,

vernünftig und brav zu sein, und gelegentlich schrie er, dass er einen Arzt brauche und sterbe.

Meistens war er jedoch still. Und er war auch still, als wir ihn wieder rausholten und er mit gesenktem

Kopf und teilnahmslosen Augen zu seiner Zelle ging und nicht reagierte, als Harry sagte: »Denk daran,

es liegt an dir.« Er würde sich eine Zeitlang manierlich verhalten und dann etwas anderes versuchen.

Keine seiner Aktionen war nicht schon einmal versucht worden (nun, vielleicht mit Ausnahme der

Sache mit dem Schokoladenteilchen; sogar Brutal gab zu, dass es ziemlich originell war), aber allein

seine Hartnäckigkeit war unheimlich. Ich befürchtete, dass früher oder später jemand unaufmerksam

werden könnte und dafür büßen müsste.

Und die Situation konnte noch eine Weile so weitergehen, denn er hatte irgendwo einen Anwalt der

alle Tricks versuchte und den Leuten erzählte, wie falsch es wäre, diesen Jungen zu töten, auf dessen Stirn noch nicht der Tau der Jugend getrocknet war ... und der zufällig so weiß wie John Brown war. Es hatte keinen Sinn, sich darüber aufzuregen, denn es war der Job des Anwalts, Wharton vor dem heißen Stuhl zu bewahren. Und es war unser Job, ihn sicher hinter Schloss und Riegel zu verwahren. Und am Ende würde Old Sparky ihn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bekommen, Anwalt hin öder her.

6

Das war die Woche, in der Melinda Moores, die Frau des Direktors, aus Indianola heimkehrte. Die

Ärzte waren fertig mit ihr. Sie hatten ihre interessanten neumodischen Röntgenaufnahmen von dem

Tumor in ihrem Kopf, sie hatten die Schwäche in ihrer Hand und die lähmenden Schmerzen registriert,

von denen sie jetzt fast ständig gepeinigt wurde, und nun waren sie fertig mit ihr. Sie gaben ihrem

Mann einen Haufen Pillen mit, die Morphium enthielten, und schickten Melinda zum Sterben nach

Hause. Hal Moores hatte einige Urlaubstage aufgespart, nicht viele, in jenen Tagen bekam man nicht

viele Urlaubstage, aber er nahm alle, die er hatte, damit er ihr bei dem, was sie zu tun hatte, helfen

konnte.

Meine Frau und ich besuchten Melinda drei oder vier Tage nach ihrer Heimkehr. Ich rief vorher an,

und Hal sagte ja, ein Besuch sei prima, Melinda habe einen ziemlich guten Tag und würde sich freuen,

uns zu sehen.

»Ich hasse solche Besuche«, sagte ich zu Janice, als wir zu dem kleinen Haus fuhren, in dem die

Moores die meiste Zeit ihrer Ehe verbracht hatten.

»So geht es jedem, Schatz«, erwiderte sie und tätschelte meine Hand. »Wir werden es tapfer ertragen

- und sie wird es ebenfalls ertragen.«

»Das hoffe ich.«

Melinda saß im Wohnzimmer in einem Streifen Oktobersonne, die für die Jahreszeit erstaunlich warm

war, und meine erste entsetzliche Wahrnehmung bestand darin, dass sie neunzig Pfund verloren

hatte. Das stimmte natürlich nicht - wenn sie so viel Gewicht verloren hätte, wäre sie kaum dort im

Wohnzimmer gewesen, aber das war die erste Reaktion meines Gehirns auf das, was meine Augen

meldeten. Ihr Gesicht war eingefallen, und ihre Haut war weiß und wirkte wie Pergament, das über

die Knochen gespannt wurde. Dunkle Ringe lagen unter ihren Augen. Und zum ersten Mal sah ich sie

in ihrem Schaukelstuhl, ohne dass sie irgendwelche Stoffreste zu einem Flickenteppich verarbeitete.

Sie saß einfach nur da. Wie jemand in einem Bahnhof. »Melinda«, sagte meine Frau herzlich. Ich

denke, sie war genauso geschockt wie ich - vielleicht noch mehr -, aber sie verbarg es hervorragend,

wie manche Frauen das eben können. Sie ging zu Melinda, ließ sich neben dem Schaukelstuhl auf ein

Knie nieder und ergriff eine Hand der Frau des Direktors. Während sie das tat, fiel mein Blick zufällig

auf den blauen Kaminvorleger.

Es kam mir in den Sinn, dass er die Farbe von verschrumpelten alten Limonen haben sollte, denn jetzt

war das Zimmer einfach eine andere Version der Green Mile.

»Ich habe Ihnen etwas Tee mitgebracht«, sagte Janice. »Die Sorte, die ich selbst zusammenstelle.

Man kann gut danach schlafen. Ich habe ihn in der Küche gelassen.«

»Vielen Dank, meine Liebe«, sagte Melinda. Ihre Stimme klang alt und brüchig.

»Wie fühlen Sie sich?« fragte meine Frau.

»Besser«, sagte Melinda mit ihrer brüchigen, heiseren Stimme. »Nicht so, dass ich tanzen gehen

möchte, aber heute habe ich wenigstens keine Schmerzen. Sie haben mir einige Tabletten gegen

Kopfschmerzen mitgegeben. Manchmal wirken die sogar.«

»Das ist doch gut, nicht wahr?«

»Aber ich kann nicht richtig zugreifen. Irgend etwas ist mit meiner Hand passiert.« Sie hob sie an und

betrachtete sie, als hätte sie die Hand noch nie gesehen, und dann ließ sie sie auf ihren Schoß sinken.

»Irgend etwas ist geschehen ... mit meinem ganzen Körper.« Sie begann lautlos zu weinen, und ich

musste an John Coffey denken. Ich glaubte ihn wieder sagen zu hören: Ich habe geholfen, nicht

wahr? Ich habe geholfen, nicht wahr? Wie ein Reim, den man nicht vergessen kann. Hal kam ins

Wohnzimmer. Er zog mich zur Seite, und glauben Sie mir, ich war froh darüber. Wir gingen in die

Küche. Er schenkte mir weißen Whiskey ein, heiße Ware, frisch aus dem Destillierapparat irgendeines

Farmers. Wir stießen an und tranken. Das Feuerwasser schmeckte grauenhaft, aber die Wärme im

Magen war himmlisch. Dennoch winkte ich ab, als Moores gegen den Tonkrug tippte und wortlos

fragte, ob ich noch einen Schluck wollte.

Wild Bill Wharton war nicht mehr in der Gummizelle - jedenfalls im Augenblick nicht -, und man

konnte sich in seiner Nähe noch weniger sicher fühlen, wenn man vom Alkohol benebelt war. Nicht

einmal mit den Gitterstäben zwischen uns.

»Ich weiß nicht, wie lange ich dies ertragen kann, Paul«, sagte Moores leise. »Ein Mädchen kommt

morgens und hilft mir mit ihr, aber die Ärzte sagen, dass sie vielleicht die Kontrolle über ihren Harn

und Stuhl verliert und ... und ...« Er konnte nicht weitersprechen, schluckte und kämpfte gegen die

Tränen an.

»Sie müssen da durch, so gut es geht«, sagte ich, griff über den Tisch und drückte kurz seine zittrige

Hand mit den Leberflecken. »Sagen Sie sich das Tag für Tag, und überlassen Sie den Rest Gott. Sie

können ja gar nichts anderes tun.«

»Vermutlich nicht Paul. Aber es ist hart. Ich bete, dass Sie nie selbst herausfinden müssen, wie hart«

Er versuchte, sich unter Kontrolle zu bekommen.

»Erzählen Sie mir jetzt was es Neues gibt. Wie kommen Sie mit William Wharton zurecht? Und wie

werden Sie mit Percy Wetmore fertig?«

Wir sprachen eine Zeitlang über den Job und überstanden so den Besuch.

Danach, auf der ganzen Heimfahrt bei der meine Frau die meiste Zeit stumm, mit feuchten Augen und

in Gedanken versunken auf dem Beifahrersitz saß, gingen mir Coffeys Worte durch den Kopf - etwa so

schnell, wie Mr. Jingles durch Delacroix Zelle flitzte: Ich habe geholfen, nicht wahr?

»Es ist schrecklich«, meinte meine Frau irgendwann. »Und keiner kann ihr helfen.«

Ich nickte beipflichtend und dachte: Ich habe geholfen, nicht wahr? Aber das war verrückt und ich

bemühte mich, diese Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen. Als wir auf unserem Hof hielten,

brach Janice zum zweiten Mal ihr Schweigen - sie sprach nicht über ihre alte Freundin Melinda,

sondern über meine Blaseninfektion. Sie wollte wissen, ob sie tatsächlich weg war. Tatsächlich weg,

versicherte ich. Geheilt.

»Das ist schön«, sagte Janice und küsste mich über der Augenbraue, auf die Stelle, wo es auch jetzt

wieder prickelte. »Weißt du, wir hätten eine Menge nachzuholen. Wenn du Zeit und Lust hast, meine

ich.«

Da ich viel von letzterem und genug vom ersten hatte, nahm ich sie an der Hand, führte sie ins

hintere Schlafzimmer und zog sie aus, während sie den Teil von mir streichelte, der anschwoll und

pochte, jedoch nicht mehr weh tat. Und als ich in sie hineintauchte, auf die langsame Weise

hineinschlüpfte, die sie mochte - die wir beide mochten -, dachte ich an John Coffeys Worte. Ich habe

geholfen, nicht wahr? Ich habe geholfen, nicht wahr? Wie ein Liedfetzen, der einen erst in Ruhe lässt

wenn die Zeile komplett ist.

Als ich später zum Gefängnis fuhr, dachte ich daran, dass wir bald für Delacroix Hinrichtung proben

mussten. Das erinnerte mich daran, dass Percy diesmal in der ersten Reihe stehen würde, und ich

erschauderte. Ich sagte mir, dass ich mich damit abfinden sollte. Noch eine Hinrichtung, und wir

würden Percy ein für allemal los sein. Aber die Gänsehaut blieb, als ob die Infektion, unter der ich

gelitten hatte, überhaupt nicht geheilt war, sondern nur den Ort gewechselt hatte und jetzt nicht mehr

meinen Unterleib kochte, sondern mein Rückgrat vereiste.

7

»Komm schon«, sagte Brutal am nächsten Abend zu Delacroix. »Wir machen einen kleinen

Spaziergang. Du und ich und Mr. Jingles.«

Delacroix schaute ihn misstrauisch an und griff dann in der Zigarrenkiste nach der Maus. Er hielt sie

auf der Handfläche und schaute Brutal aus schmalen Augen an. »Wovon reden Monsieur?«

»Es ist ein großer Abend für dich und Mr. Jingles«, sagte Dean, als er mit Harry zu ihnen stieß. Die

Würgemale um seinen Hals hatten eine hässliche gelbliche Schattierung angenommen, aber Dean

konnte wenigstens wieder sprechen, ohne dass es klang, als belle ein erkälteter Hund eine Katze an.

Er sah Brutal an. »Meinst du, wir müssen ihm die Ringe anlegen, Brutal?«

Brutal gab vor, darüber nachzudenken. »Nö«, antwortete er schließlich. »Er wird brav sein, nicht

wahr, Del? Du und die Maus, ihr werdet beide brav sein. Schließlich tretet ihr heute Abend vor ein

paar hohen Tieren auf.«

Percy und ich standen beim Wachpult und beobachteten die Szene. Percy hatte die Arme verschränkt,

und ein leichtes verächtliches Lächeln spielte um seine Lippen. Nach einer Weile nahm er seinen

Hornkamm aus der Tasche und begann, sein Haar damit zu bearbeiten. John Coffey verfolgte das

Geschehen ebenfalls aufmerksam. Stumm stand er hinter den Gitterstäben seiner Zelle. Wharton lag

auf seiner Pritsche, starrte an die Decke und ignorierte die ganze Show.

Er war immer noch >brav<, obwohl das, was er brav nannte, von den Ärzten in Briar Ridge als

katatonisch bezeichnet wurde. Und es war noch eine Person anwesend, außer Sichtweite in meinem

Büro, aber ihr dünner Schatten fiel durch die Tür auf die Green Mile.

»Was 'at das alles zu bedeuten, gran' fou?« fragte Del nörgelnd und zog die Füße auf die Pritsche, als

Brutal die beiden Schlösser der Zellentür aufschloss und die Tür aufzog. Dels Blick zuckte zwischen

Brutal, Harry und Dean hin und her.

»Nun, ich werde es dir verraten«, brummte Brutal. »Mr. Moores ist eine Weile weg - seine Frau ist

krank, wie du vielleicht gehört hast. Jetzt hat Mr. Anderson die Leitung übernommen, Mr. Curtis

Anderson.«

»Ja? Und was 'at das mit mir zu tun?«

»Nun, Boss Anderson hat von deiner Maus gehört, Del, und will ihren Auftritt sehen. Er und sechs

andere Leute warten drüben in der Verwaltung auf dich und die Maus. Es sind keine einfachen Wärter

in ihren blauen Uniformen, es sind ziemlich hohe Tiere, wie Brutal schon sagte. Ich glaube, einer

davon ist ein Politiker, der den weiten Weg von der Hauptstadt auf sich genommen hat«

Delacroix' Brust schwoll sichtlich, und ich bemerkte nicht die Spur eines Zweifels an ihm. Natürlich

wollten sie Mr. Jingles sehen; wer wollte das nicht?

Er kramte herum, zuerst unter seiner Pritsche und dann unter seinem Kissen. Schließlich fand er eins

dieser großen pinkfarbenen Pfefferminzbonbons und die bunt angemalte Rolle. Er schaute Brutal

fragend an, und Brutal nickte.

»Ja, Del, sie sind ganz wild darauf, den Trick mit der Rolle zu sehen, nehme ich an, aber wie Mr.

Jingles diese Pfefferminzbonbons verspeist, das ist auch verdammt niedlich. Und vergiss nicht die

Zigarrenkiste. Du brauchst sie doch, um ihn darin reinzutragen, oder?«

Delacroix holte die Zigarrenkiste und verstaute Mr. Jingles' Requisiten darin. Die Maus ließ sich auf

seiner Schulter nieder. Dann trat er aus der Zelle, ging mit stolzgeschwellter Brust voran und blickte

zu Dean und Harry zurück »Kommt ihr, Jungs?«

»Nein«, antwortete Dean. »Wir haben andere Dinge zu tun. Aber du zeigst dem werten Publikum, was

ihr draufhabt, Del - zeig ihnen, was passiert, wenn ein Junge aus Louisiana den Hammer weglegt und

wirklich zu arbeiten anfängt.«

»Verlass dich drauf.« Ein Lächeln erhellte sein Gesicht, so plötzlich und glücklich, dass ich eine Weile

gerührt war und das Schreckliche vergaß, das er getan hatte. Welch eine Welt, in der wir leben -

welch eine Welt!

Delacroix wandte sich John Coffey zu. Zwischen ihnen hatte sich eine scheue Freundschaft entwickelt,

die sich nicht sonderlich von den etwa hundert anderen Beziehungen von Todeskandidaten

unterschied, die ich gesehen hatte.

»Zeig es ihnen, Del«, sagte Coffey ernst »Zeig ihnen all seine Tricks.« Delacroix nickte und hielt die

Hand hoch an seine Schulter. Mr. Jingles trat auf die Hand, als wäre es ein Podium, und Delacroix

streckte die Hand zu Coffeys Zelle hin. John Coffey hielt einen gewaltigen Finger durch die Gitterstäbe,

und die Maus reckte sich ihm entgegen und leckte die Fingerspitze wie ein Hund. Nicht zu glauben,

aber ich sah es mit eigenen Augen.

»Los, los, Del, trödle nicht herum«, sagte Brutal. »Diese Leute verzichten auf ein gutes Abendessen

daheim, um deine Maus in Aktion zu erleben.« Das stimmte natürlich nicht - Anderson war ohnehin

jeden Abend bis zwanzig Uhr da, und die Wärter, die er angeschleppt hatte, um ihnen Delacroix'

»Show« zu zeigen, würden bis dreiundzwanzig oder vierundzwanzig Uhr da sein, je nachdem, wann

ihre Schicht endete. Der Politiker aus der Hauptstadt würde sich höchstwahrscheinlich als ein

Hausmeister oder Pförtner mit geborgter Krawatte entpuppen. Aber Delacroix konnte das nicht

wissen.

»Ich bin bereit«, verkündete Delacroix mit der Schlichtheit eines großen Stars, der es irgendwie

geschafft hat, bescheiden und bodenständig zu bleiben. »Gehen wir.« Und als Brutal ihn über die

Green Mile führte - Mr. Jingles hockte auf der Schulter des kleinen Mannes -, begann Delacroix wieder

einmal zu trompeten: »Messieurs et mes-dames! Bienvenue au cirque de mousie!« Obwohl er tief in

seine Phantasiewelt versunken war, machte er einen weiten Bogen um Percy und bedachte ihn mit

einem misstrauischen Blick.

Harry und Dean stoppten vor der leeren Zelle gegenüber von Wharton (dieser Held hatte sich immer

noch nicht gerührt).

Sie beobachteten, wie Brutal die Tür zum Hof aufschloss und Delacroix zu seinem Gala-Auftritt vor den

hohen Tieren der Strafvollzugsanstalt Cold Mountain hinausführte. Wir warteten, bis die Tür wieder

abgeschlossen war, und dann schaute ich zu meinem Büro. Der dünne Schatten fiel , immer noch auf

den Boden, und ich war froh, dass Delacroix zu aufgeregt gewesen war, um ihn zu sehen. »Komm

raus«, rief ich. »Und beeilt euch, Leute. Ich möchte zwei Proben durchziehen, und wir haben nicht viel

Der alte TootToot kam mit glänzenden Augen und quietschvergnügt wie immer, wenn er den

Zeit«

Todeskandidaten mimte, aus meinem Büro, ging zu Delacroix' Zelle und schlenderte durch die offene Tür. »Ich setze mich«, sagte er. »Ich setze mich, setze mich.«

Dies ist der wahre Zirkus, dachte ich und schloss kurz die Augen. Dies ist der wahre Zirkus, genau hier, und wir sind alle nur ein Haufen dressierter Mäuse. Dann verbannte ich den Gedanken aus meinem Kopf, und wir begannen mit der Probe für die Hinrichtung.

8

Die erste Probe ging gut, und auch die zweite klappte. Percy machte seine Sache besser, als ich es in meinen wildesten Träumen zu hoffen gewagt hätte. Das bedeutete noch nicht, dass alles klappen würde, wenn wirklich die Zeit für Delacroix' letzten Spaziergang über die Green Mile kam, aber es war ein großer Schritt in die richtige Richtung. Ich hatte den Eindruck, dass alles gut verlaufen war, weil Percy endlich etwas getan hatte, was ihm Spaß machte. Ich empfand tiefe Verachtung bei dieser Erkenntnis und verdrängte sie. Was machte es schon? Er würde Delacroix die Kappe aufsetzen und ihn braten lassen, und dann würden wir alle beide los sein. Wenn das kein Happy End war, was dann? Und, wie Direktor Moores gesagt hatte, Delacroix' Eier wurden so oder so gebraten, ganz gleich, wer letzte Hand anlegte.

Immerhin hatte sich Percy vorteilhaft in seiner neuen Rolle gezeigt, und er wusste es. Wir alle wussten es. Was mich anbetraf, so war ich zu erleichtert, um mich über den Widerling aufzuregen, jedenfalls im Moment. Es sah aus, als ob alles in Ordnung gehen würde. Es erleichterte mich ebenfalls, dass Percy tatsächlich mal zuhörte, als wir ihm einiges vorschlugen, was seinen Auftritt sogar noch verbessern könnte oder zumindest die Möglichkeit verringerte, dass etwas schiefging. Wenn Sie die Wahrheit wissen wollen, wir waren ziemlich begeistert - sogar Dean, der Abstand von Percy hielt ... sowohl körperlich als auch geistig, wenn er das konnte.

Ich nehme an, unsere Begeisterung war verständlich - für die meisten Männer ist nichts schmeichelhafter als ein junger Mensch, der wirklich auf ihren Rat hört, und wir waren in dieser Hinsicht nicht anders. Daher fiel keinem von uns auf, dass Wild Bill Wharton nicht mehr zur Decke starrte. Das schließt mich ein, aber ich weiß, dass er nicht mehr an die Decke starrte. Er starrte zu uns, als wir dort beim Wachpult standen, quatschten und Percy Ratschläge gaben. Ratschläge! Und er tat so, als hörte er auf uns! Das ist zum Brüllen, wenn man bedenkt, wie sich die Dinge entwickelten. Das Geräusch eines Schlüssels im Schloss der Hoftür beendete unsere kleine Manöverkritik nach den Proben. Dean warf Percy einen warnenden Blick zu. »Kein Wort und keinen falschen Blick«, sagte er. »Wir möchten nicht, dass er weiß, was wir getan haben. Das ist nicht gut für sie. Das regt sie auf.« Percy nickte und hielt den Zeigefinger auf die Lippen - eine verschwörerische Geste des Schweigens, die lustig sein sollte, es jedoch nicht war. Die Tür zum Hof wurde geöffnet, und Delacroix kam herein, begleitet von Brutal, der die Zigarrenkiste mit der bunten Rolle darin trug, wie der Assistent des Magiers bei einer Varieteshow nach dem Ende des Auftritts die Requisiten des Meisters trägt Mr. Jingles hockte auf Delacroix' Schulter.

Und Delacroix selbst? Ich sage Ihnen - Jenny Lind hätte nicht glücklicher nach einem Auftritt im Weißen Haus sein können. »Sie 'aben Mr. Jingles geliebt!« rief Delacroix. »Sie 'aben gelacht und gejubelt und geklatscht in die 'ände!«

»Na prima«, sagte Percy. Er sprach in einem milden und gütigen Tonfall, der gar nicht zu dem Percy passte, den wir kannten. »Geh in deine Zelle, Alter.«

Delacroix schaute ihn gespielt argwöhnisch an, und schon kam wieder der alte Percy zum Vorschein. Er fletschte die Zähne, knurrte wie ein gereizter Hund und tat, als wollte er Delacroix anspringen und beißen. Es war natürlich ein Scherz, Percy war glücklich, weil er seine Rolle so gut gespielt hatte, keineswegs in Beißstimmung, aber Delacroix wusste das nicht. Er sprang entsetzt zurück und stolperte über Brutals große Füße. Er stürzte schwer und schlug mit dem Hinterkopf auf das Linoleum. Mr. Jingles rettete sich rechtzeitig mit einem Sprung, um nicht zerquetscht zu werden, und flitzte fiepend über die Green Mile zu Delacroix' Zelle.

Delacroix rappelte sich auf, bedachte den kichernden Percy mit einem einzigen hasserfüllten Blick und eilte dann hinter seinem Liebling her, wobei er sich über den Hinterkopf rieb. Brutal (der nicht wusste, dass Percy ganz aufgeregt war, weil er ausnahmsweise mal seinen Job richtig gemacht hatte) schaute Percy in stummer Verachtung an, folgte Del und nahm sein Schlüsselbund vom Gürtel. Ich glaube, das nächste passierte, weil Percy tatsächlich zu einer Entschuldigung bereit war - ich weiß, es ist kaum zu glauben, aber er war an diesem Tag in äußerst gutmütiger Stimmung.

Wenn es stimmt, beweist es nur ein zynisches altes Sprichwort, das ich einmal aufgeschnappt habe,

etwas wie »keine gute Tat bleibt ungestraft«. Erinnern Sie sich, dass ich Ihnen erzählt habe, wie Percy

vor Delacroix' Eintreffen die Maus zur Gummizelle gejagt hatte und dabei zu nahe an die Zelle des

Präsidenten geraten war? So etwas war gefährlich, und deshalb war die Green Mile so breit - wenn

man sich genau in der Mitte hielt, konnte man von den Zellen aus nicht angepackt werden. Der

Präsident hatte Percy nichts getan, aber ich erinnere mich, dass ich dachte, Arien Bitterbuck hätte ihm

etwas tun können, wenn Percy zu nahe an seine Zelle herangeraten wäre. Nur um ihm eine Lektion zu

erteilen.

Nun, der Präsident und der Chief waren fort, aber Wild Bill Wharton war da. Er war schlimmer, als der

Präsident oder der Chief es sich jemals hätten vorstellen können, und er hatte das kleine Spiel

beobachtet und auf eine Gelegenheit gehofft, um selbst mitzumischen. Diese Chance fiel ihm nun

sozusagen in den Schoß - dank Percy Wetmore.

»Hey, Del!« rief Percy lachend und ging hinter Brutal und Delacroix her, wobei er auf der Green Mile

zu nah an Whartons Seite geriet, ohne es zu bemerken. »Hey, du blöder Scheißer, ich habe es nicht

so gemeint! Sollte ein Spaß ...«

Wharton sprang wie der Blitz von seiner Pritsche und zu den Gitterstäben - nie in meiner Zeit als

Wärter habe ich jemanden gesehen, der sich so schnell bewegen konnte, und das schließt einige

äußerst athletische junge Männer ein, mit denen Brutal und ich später in der Jugendstrafanstalt zu tun

hatten. Er stieß die Arme durch die Gitterstäbe und packte Percy, zuerst an den Schultern seiner

Uniformjacke und dann an der Kehle. Wharton riss ihn gegen die Zellentür. Percy quiekte wie ein

Schwein auf der Schlachtbank, und ich las in seinen Augen, dass er dachte, er müsse sterben.

»Bist du süß«, flüsterte Wharton. Er nahm eine Hand von Percys Kehle und strich über sein Haar.

»Weich!« sagte er und lachte. »Wie bei einem Mädchen. Ich glaube, ich würde lieber deinen Arsch

ficken als die Pussy deiner Schwester.« Und er küsste Percy tatsächlich aufs Ohr.

Ich denke, Percy - der Delacroix mit dem Schlagstock verprügelt hatte, weil der ihn unabsichtlich vorn

an der Hose berührt hatte - Sie erinnern sich? - wusste genau, was mit ihm geschah. Ich bezweifle,

dass er es wissen wollte, aber ich denke, er wusste es. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen,

und die Pickel auf seinen Wangen prangten wie Muttermale. Seine Augen waren weit aufgerissen und

wässrig. Etwas Speichel sickerte aus einem Winkel seines zuckenden Mundes. All dies geschah sehr

schnell - es dauerte weniger als zehn Sekunden, schätze ich.

Harry und ich traten vor, die Schlagstöcke erhoben. Dean zog seine Waffe. Aber bevor die Dinge

eskalieren konnten, ließ Wharton Percy los und trat zurück Er hob die Hände in Schulterhöhe und

grinste. »Ich habe ihn losgelassen. War nur ein Spielchen, und ich habe ihn losgelassen«, sagte er.

»Habe dem Jungen kein einziges Härchen auf dem Köpfchen gekrümmt, also steckt mich nicht wieder

in diese gottverdammte Gummizelle.«

Percy Wetmore sauste auf die andere Seite der Green Mile und duckte sich gegen die verschlossene

Tür der leeren Zelle. Er atmete so schnell und laut, dass es fast wie Schluchzen klang. Er hatte seine

Lektion erhalten, dass er sich in der sicheren Mitte der Green Mile halten musste, fort von den

Zähnen, die beißen, und den Klauen, die zuschnappen. Ich konnte mir vorstellen, dass es eine Lektion

war, die ihm länger in Erinnerung bleiben würde als all die Ratschläge, mit denen wir ihn nach

unseren Proben überhäuft hatten. Sein Gesicht spiegelte blankes Entsetzen wider, und sein kostbares

Haar war zum ersten Mal, seit ich ihn kennen gelernt hatte, vollkommen verwuschelt und zerzaust. Er

wirkte wie jemand, der soeben ganz knapp einer Vergewaltigung entkommen war.

Einen Augenblick lang verharrten alle, und nur Percys schluchzendes Atmen war zu hören. Dann

wurde die Stille durch schrilles Gelächter unterbrochen, so plötzlich und irre, dass es furchterregend

war. Wharton, war mein erster Gedanke, doch er war es nicht. Es war Delacroix. Er stand an der

offenen Tür seiner Zelle und zeigte auf Percy. Die Maus saß wieder auf seiner Schulter, und er wirkte

wie ein kleiner, aber böser Hexer, vervollständigt durch das Teufelchen. »Sehen an, 'at in 'ose

gepisst!« johlte Delacroix. »Sehen, was große Mann gemacht 'at! Schlägt andere Leute mit Knüppel,

mais oui, ein mauvais komme, aber wenn jemand berührt ihn, er pissen in die 'osen wie Baby!«

Er lachte und wies auf die Hose, und die ganze Angst und sein Hass auf Percy kamen bei diesem

höhnischen Gelächter heraus.

Percy starrte ihn an. Er war anscheinend nicht in der Lage, sich zu bewegen oder zu reden. Wharton

trat wieder an die Gitterstäbe seiner Zelle und schaute auf den dunklen Fleck vorn auf Percys Hose -

er war klein, aber er war da, und es gab keinen Zweifel, was es war - und grinste.

»Jemand sollte dem harten Jungen Windeln kaufen«, sagte er, kehrte zu seiner Pritsche zurück und

schüttelte sich vor Lachen.

Brutal ging zu Delacroix' Zelle, doch der Cajun war hineingesprungen und hatte sich auf seine Pritsche

geworfen, bevor Brutal dort war.

Ich legte eine Hand auf Percys Schulter. »Percy ...«, begann ich, aber weiter kam ich nicht. Er

erwachte zu neuem Leben und schüttelte meine Hand ab. Er blickte auf seine Hose hinab, sah den

Fleck, der sich ausbreitete, und lief dunkelrot an.

Er sah zu mir auf und schaute dann zu Harry und Dean. Ich erinnere mich, froh gewesen zu sein, dass

der alte TootToot weg war. Wenn er dabei gewesen wäre, hätte sich die Geschichte an einem

einzigen Tag im ganzen Gefängnis herumgesprochen. Und man hätte sie voller Schadenfreude

jahrelang weitererzählt - nicht zuletzt wegen Percys unglücklichem Nachnamen ...

»Wenn ihr jemandem davon erzählt, seid ihr alle in einer Woche arbeitslos und könnt betteln gehen«,

zischte er wütend. Es war die Art Rederei, bei der ich unter anderen Umständen den Wunsch gehabt

hätte, ihm eine zu scheuern, doch nun hatte ich nur Mitleid mit ihm. Ich nehme an, er sah dieses

Mitleid, und das machte es noch schlimmer für ihn - als hätte er eine offene Wunde, in die Salz

gestreut wurde.

»Was hier passiert, bleibt unter uns«, versicherte Dean ruhig. »Du brauchst dir keine Sorgen zu

machen.«

Percy blickte über die Schulter zu Delacroix' Zelle zurück. Brutal schloss gerade die Tür ab, und aus

der Zelle konnten wir immer noch tödlich klar Delacroix kichern hören. Percys Blick war dunkel wie

eine Gewitterwolke. Ich spielte mit dem Gedanken, ihm zu sagen, dass man im Leben erntet, was

man sät, aber dann kam ich zu dem Schluss, dass dies vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt für eine

Bibelstunde war.

»Und was den anbetrifft...«, begann Percy, aber er sprach nicht zu Ende. Statt dessen ging er mit

gesenktem Kopf davon, vermutlich, um im Vorratsraum eine trockene Hose zu suchen.

»Er ist so süß«, sagte Wharton mit verträumter Stimme. Harry riet ihm, bloß die Schnauze zu halten,

weil er sonst in die Gummizelle wandern würde. Wharton verschränkte die Arme vor der Brust, schloss

die Augen und tat, als wolle er schlafen.

9

Am Abend vor Delacroix' Hinrichtung war es wärmer und schwüler als je zuvor - das Außenther­mometer des Verwaltungsbüros zeigte achtundzwanzig Grad an, als ich um achtzehn Uhr den Dienst antrat. Achtundzwanzig Grad Ende Oktober, stellen Sie sich das vor, und Donner grollte im Westen, als hätten wir Juli. Ich hatte an diesem Nachmittag ein Mitglied meiner Kirchengemeinde in der Stadt getroffen, und der alte Knabe hatte mich allen Ernstes gefragt, ob dieses für die Jahreszeit so ungewöhnliche Wetter ein Anzeichen auf den Weltuntergang sein könnte. Ich hatte ihm erklärt, ich sei mir sicher, dass es nicht so wäre, aber es schoss mir durch den Kopf, dass es für Eduard Delacroix der Weltuntergang war. O ja, das war es.

Bill Dodge stand in der Tür zum Gefängnishof, trank Kaffee und rauchte eine Zigarette. Er wandte den Kopf, sah mich und sagte: »Sieh an, Paul Edgecombe, fett wie das Leben und doppelt so hässlich.«

»Wie war der Tag, Billy?« »Nichts Besonderes.« »Delacroix?«

»Prima. Er versteht anscheinend, dass er morgen dran ist, und doch habe ich das Gefühl, dass er es nicht begreift. Du weißt, wie die meisten sich aufführen, wenn das Ende schließlich naht.« Ich nickte. »Wharton?«

Bill lachte. »Welch ein Witzbold. Dagegen klingt Jack Benny wie ein Quäker. Er hat Rolfe Wettermark erzählt, dass er Erdbeermarmelade aus der Pussy seiner Frau geschleckt hat.«

»Was hat Rolfe gesagt?«

»Dass Wharton ja gar nicht verheiratet ist. Er meinte, Wharton müsse an seine Mutter gedacht haben.« Ich lachte. Das war wirklich lustig, auf billige Weise. Und es war gut, lachen zu können, ohne das Gefühl zu haben, jemand zünde Streichhölzer tief in meinem Unterleib an. Bill lachte mit mir, kippte den Rest seines Kaffees in den Hof, der leer war, abgesehen von ein paar herumschlurfenden Kalfaktoren, von denen die meisten schon ungefähr tausend Jahre dort zu sein schienen.

Donner grollte irgendwo in der Ferne, und Blitze zuckten am dunklen Himmel. Bill blickte nervös auf, und sein Lachen verstummte.

»Das Wetter stinkt mir«, sagte er. »Ich habe so ein komisches Gefühl, dass was passieren wird. W a s Schlimmes.«

Damit hatte er recht Das Schlimme passierte gegen Viertel vor zehn an diesem Abend. A l s Percy Mr. Jingles tötete.

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