«Tyll», der neue Roman des Erfolgsautors Daniel Kehlmann - er veröffentlichte u.a. «Die Vermessung der Welt», «Ruhm», «F» und «Du hättest gehen sollen» -, ist die Neuerfindung einer legendären Figur: ein großer Roman über die Macht der Kunst und die Verwüstungen des Krieges, über eine aus den Fugen geratene Welt.
Tyll Ulenspiegel - Vagant, Schausteller und Provokateur - wird zu Beginn des 17. Jahrhunderts als Müllerssohn in einem kleinen Dorf geboren. Sein Vater, ein Magier und Welterforscher, gerät schon bald mit der Kirche in Konflikt. Tyll muss fliehen, die Bäckerstochter Nele begleitet ihn. Auf seinen Wegen durch das von den Religionskriegen verheerte Land begegnen sie vielen kleinen Leuten und einigen der sogenannten Großen: dem jungen Gelehrten und Schriftsteller Martin von Wolkenstein, der für sein Leben gern den Krieg kennenlernen möchte, dem melancholischen Henker Tilman und Pirmin, dem Jongleur, dem sprechenden Esel Origenes, dem exilierten Königspaar Elisabeth und Friedrich von Böhmen, deren Ungeschick den Krieg einst ausgelöst hat, dem Arzt Paul Fleming, der den absonderlichen Plan verfolgt, Gedichte auf Deutsch zu schreiben, und nicht zuletzt dem fanatischen Jesuiten Tesimond und dem Weltweisen Athanasius Kircher, dessen größtes Geheimnis darin besteht, dass er seine aufsehenerregenden Versuchsergebnisse erschwindelt und erfunden hat. Ihre Schicksale verbinden sich zu einem Zeitgewebe, zum Epos vom Dreißigjährigen Krieg. Und um wen sollte es sich entfalten, wenn nicht um Tyll, jenen rätselhaften Gaukler, der eines Tages beschlossen hat, niemals zu sterben.
Über Daniel Kehlmann
Daniel Kehlmann, 1975 in München geboren, wurde für sein Werk unter anderem mit dem Candide-Preis, dem WELT Literaturpreis, dem Kleist-Preis und dem Thomas-Mann-Preis ausgezeichnet. Sein Roman «Die Vermessung der Welt» ist eines der erfolgreichsten deutschsprachigen Bücher der Gegenwart.
Schuhe
Der Krieg war bisher nicht zu uns gekommen. Wir lebten in Furcht und Hoffnung und versuchten, Gottes Zorn nicht auf unsere fest von Mauern umschlossene Stadt zu ziehen, mit ihren hundertfünf Häusern und der Kirche und dem Friedhof, wo unsere Vorfahren auf den Tag der Auferstehung warteten.
Wir beteten viel, um den Krieg fernzuhalten. Zum Allmächtigen beteten wir und zur gütigen Jungfrau, wir beteten zur Herrin des Waldes und zu den kleinen Leuten der Mitternacht, zum heiligen Gerwin, zu Petrus dem Torwächter, zum Evangelisten Johannes, und sicherheitshalber beteten wir auch zur Alten Mela, die in den rauen Nächten, wenn die Dämonen frei wandeln dürfen, vor ihrem Gefolge her durch die Himmel streift. Wir beteten zu den Gehörnten der alten Tage und zum Bischof Martin, der seinen Mantel mit dem Bettler geteilt hatte, als es diesen fror, sodass sie danach beide froren und beide gottgefällig waren, denn was nützt ein halber Mantel im Winter, und natürlich beteten wir zum heiligen Moritz, der mit einer ganzen Legion den Tod gewählt hatte, um nicht seinen Glauben an den einen und gerechten Gott zu verraten.
Zweimal im Jahr kam der Steuereintreiber und schien immer überrascht, dass wir noch da waren. Hin und wieder kamen Händler, aber da wir nicht viel kauften, zogen sie schnell ihrer
Wege, und so war es uns recht. Wir brauchten nichts aus der weiten Welt und dachten nicht an sie, bis eines Morgens ein Planwagen, gezogen von einem Esel, über unsere Hauptstraße rollte. Es war ein Samstag und seit kurzem auch Frühling, der Bach schwoll vom Schmelzwasser an, und auf den Feldern, die gerade nicht brachlagen, hatten wir die Saat ausgebracht.
Auf dem Wagen war ein Zelt aus rotem Segeltuch aufgeschlagen. Davor kauerte eine alte Frau. Ihr Körper sah wie ein Beutel aus, ihr Gesicht wie aus Leder, ihr Augenpaar wie winzige schwarze Knöpfe. Eine jüngere Frau mit Sommersprossen und dunklem Haar stand hinter ihr. Auf dem Kutschbock aber saß ein Mann, den wir erkannten, obgleich er noch nie hier gewesen war, und als die Ersten sich erinnerten und seinen Namen riefen, erinnerten sich auch andere, und so rief es bald von überall und mit vielen Stimmen: «Tyll ist hier!», «Tyll ist gekommen!», «Schaut, der Tyll ist da!» Es konnte kein anderer sein.
Sogar zu uns kamen Flugschriften. Sie kamen durch den Wald, der Wind trug sie mit sich, Händler brachten sie - draußen in der Welt wurden mehr davon gedruckt, als irgendwer zählen konnte. Sie handelten vom Schiff der Narren und von der großen Pfaffentorheit und vom bösen Papst in Rom und vom teuflischen Martinus Luther zu Wittenberg und dem Zauberer Horridus und dem Doktor Faust und dem Helden Gawain von der runden Tafel und eben von ihm, Tyll Ulenspiegel, der jetzt selbst zu uns gekommen war. Wir kannten sein geschecktes Wams, wir kannten die zerbeulte
Kapuze und den Mantel aus Kalbsfell, wir kannten sein hageres Gesicht, die kleinen Augen, die hohlen Wangen und die Hasenzähne. Seine Hose war aus gutem Stoff, die Schuhe aus feinem Leder, seine Hände aber waren Diebes- oder Schreiberhände, die nie gearbeitet hatten; die rechte hielt die Zügel, die linke die Peitsche. Seine Augen blitzten, er grüßte hierhin und dorthin.
«Und wie heißt du?», fragte er ein Mädchen.
Die Kleine schwieg, denn sie begriff nicht, wie es sein konnte, dass einer, der berühmt war, mit ihr sprach.
«Na sag es!»
Als sie stockend herausgebracht hatte, dass sie Martha hieß, lächelte er nur, als hätte er das immer schon gewusst.
Dann fragte er mit einer Aufmerksamkeit, als wäre es ihm wichtig: «Und wie alt bist du?»
Sie räusperte sich und sagte es ihm. In den zwölf Jahren ihres Lebens hatte sie nicht Augen gesehen wie seine. Augen wie diese mochte es in den freien Städten des Reichs geben und an den Höfen der Großen, aber noch nie war einer, der solche Augen hatte, zu uns gekommen. Martha hatte nicht gewusst, dass solche Kraft, solche Behändigkeit der Seele aus einem Menschengesicht sprechen konnten. Dereinst würde sie ihrem Mann und noch viel später ihren ungläubigen Enkeln, die den Ulenspiegel für eine Figur alter Sagen hielten, erzählen, dass sie ihn selbst gesehen hatte.
Schon war der Wagen vorbeigerollt, schon war sein Blick anderswohin geglitten, zu anderen am Straßenrand. «Tyll ist
gekommen!», rief es wieder an der Straße und: «Tyll ist hier!» aus den Fenstern und: «Der Tyll ist da!» vom Kirchplatz, auf den nun sein Wagen rollte. Er ließ die Peitsche knallen und stand auf.
Blitzschnell wurde der Wagen zur Bühne. Die zwei Frauen falteten das Zelt, die junge band ihre Haare zu einem Knoten, setzte ein Krönchen auf, warf sich ein Stück Purpurstoff um, die alte stellte sich vor den Wagen, erhob die Stimme und begann einen Leiergesang. Ihr Dialekt klang nach dem Süden, nach den großen Städten Bayerns, und war nicht leicht zu verstehen, aber wir bekamen doch mit, dass es um eine Frau und einen Mann ging, die einander liebten und nicht zueinanderkonnten, weil ein Gewässer sie trennte. Tyll Ulenspiegel nahm ein blaues Tuch, kniete sich hin, schleuderte es, eine Seite festhaltend, von sich, sodass es sich knatternd entrollte; er zog es zurück und schleuderte es wieder weg, zog es zurück, schleuderte es, und wie er auf der einen und die Frau auf der anderen Seite kniete und das Blau zwischen ihnen wogte, schien da wirklich Wasser zu sein, und die Wellen gingen derart wild auf und nieder, als könnte kein Schiff sie befahren.
Als die Frau sich aufrichtete und mit schreckensstarrem Gesicht auf die Wogen sah, bemerkten wir mit einem Mal, wie schön sie war. Während sie da stand und die Arme zum Himmel streckte, gehörte sie plötzlich nicht mehr hierher, und keiner von uns vermochte den Blick von ihr zu wenden. Nur aus dem Augenwinkel sahen wir ihren Geliebten springen und
tanzen und fuhrwerken und sein Schwert schwingen und mit Drachen und Feinden und Hexen und bösen Königen kämpfen, auf dem schweren Weg zu ihr.
Das Stück dauerte bis in den Nachmittag. Aber obgleich wir wussten, dass den Kühen die Euter schmerzten, wurde keiner von uns ungeduldig. Die Alte trug Stunde um Stunde vor. Es schien unmöglich, dass jemand sich so viele Verse merken konnte, und einigen von uns kam der Verdacht, dass sie sie beim Singen erfand. Tyll Ulenspiegels Körper war unterdessen nie in Ruhe, seine Sohlen schienen kaum den Boden zu berühren; wann immer unsere Blicke ihn fanden, war er schon wieder anderswo auf der kleinen Bühne. Am Ende gab es ein Missverständnis: Die schöne Frau hatte sich Gift verschafft, um sich tot zu stellen und nicht den bösen Vormund heiraten zu müssen, aber die alles erklärende Botschaft an ihren Geliebten war auf dem Weg zu ihm verlorengegangen, und als er, der wahre Bräutigam, der Freund ihrer Seele, zu guter Letzt bei ihrem reglosen Leib ankam, traf ihn der Schreck wie ein Blitzschlag. Eine lange Zeit stand er wie erfroren. Die Alte verstummte. Wir hörten den Wind und die nach uns muhenden Kühe. Keiner atmete.
Schließlich zog er das Messer und stach sich in die Brust. Es war erstaunlich, die Klinge verschwand in seinem Fleisch, ein rotes Tuch rollte ihm aus dem Kragen wie ein Blutstrom, und er verröchelte neben ihr, zuckte noch, lag still. War tot. Zuckte doch noch einmal, setzte sich auf, sank wieder zurück. Zuckte wieder, lag wieder still, und nun für immer. Wir warteten.
Tatsächlich. Für immer.
Sekunden später wachte die Frau auf und erblickte den toten Leib neben sich. Erst war sie fassungslos, dann schüttelte sie ihn, dann begriff sie und war wieder fassungslos, und dann weinte sie, als würde nichts auf Erden jemals gut. Dann nahm sie sein Messer und tötete sich ebenfalls, und wieder bewunderten wir die schlaue Vorrichtung und wie tief die Klinge in ihrer Brust verschwand. Nun war nur mehr die Alte übrig und sprach noch ein paar Verse, die wir des Dialekts wegen kaum verstanden. Dann war das Stück zu Ende, und viele von uns weinten noch, als die Toten längst aufgestanden waren und sich verbeugten.
Das war aber nicht alles. Die Kühe mussten noch warten, denn nach der Tragödie kam das Lustspiel. Die Alte schlug eine Trommel, und Tyll Ulenspiegel pfiff auf einer Flöte und tanzte mit der Frau, die nun gar nicht mehr besonders schön aussah, nach rechts und nach links und vor und wieder zurück. Die beiden warfen die Arme hoch, und ihre Bewegungen stimmten in einem Maße überein, als wären sie nicht zwei Menschen, sondern Spiegelbilder voneinander. Wir konnten leidlich tanzen, wir feierten oft, aber keiner von uns konnte tanzen wie sie; wenn man ihnen zusah, war es einem, als hätte ein Menschenkörper keine Schwere und als wäre das Leben nicht traurig und hart. So hielt es auch uns nicht auf den Füßen, und wir begannen zu wippen, zu springen, zu hüpfen und uns zu drehen.
Doch plötzlich war der Tanz vorbei. Keuchend blickten wir
auf zum Wagen, auf dem Tyll Ulenspiegel jetzt allein stand, die beiden Frauen waren nicht zu sehen. Er sang eine Spottballade über den armen dummen Winterkönig, den Pfälzer Kurfürsten, der gemeint hatte, er könne den Kaiser besiegen und von den Protestanten Prags Krone annehmen, doch sein Königtum war noch vor dem Schnee getaut. Auch vom Kaiser sang er, dem immer kalt war vom Beten, dem Männlein, das in der Hofburg zu Wien vor den Schweden zitterte, und dann sang er vom Schwedenkönig, dem Löwen aus der Mitternacht, stark wie ein Bär, aber was hatte es ihm genützt gegen die Kugel in Lützen, die ihm das Leben nahm wie einem kleinen Söldner, und aus war dein Licht, und fort das Königsseelchen, fort der Löwe! Tyll Ulenspiegel lachte, und wir lachten auch, weil man ihm nicht widerstehen konnte und weil es guttat, daran zu denken, dass die Großen starben und wir noch lebten, und dann sang er vom König in Spanien mit der vollen Unterlippe, der die Welt zu beherrschen glaubte, obgleich er pleite war wie ein Huhn.
Vor Lachen merkten wir erst nach einer Weile, dass die Musik sich verändert hatte, dass plötzlich kein Spott mehr darin klang. Eine Ballade vom Krieg sang er jetzt, vom gemeinsamen Reiten und dem Klirren der Waffen und der Freundschaft der Männer und der Bewährung in Gefahr und dem Jubel der pfeifenden Kugeln. Vom Söldnerleben sang er und von der Schönheit des Sterbens, er sang von der jauchzenden Freude eines jeden, der auf dem Pferd dem Feind entgegenritt, und wir alle spürten unsere Herzen schneller schlagen. Die Männer unter uns lächelten, die Frauen wiegten
die Köpfe, die Väter hoben ihre Kinder auf die Schultern, die Mütter blickten stolz auf ihre Söhne hinab.
Nur die alte Luise zischte und ruckte mit dem Kopf und murmelte so laut, dass die, die neben ihr standen, ihr sagten, sie solle doch heimgehen. Worauf sie aber nur lauter wurde und rief, ob denn keiner verstehe, was er hier mache. Er beschwöre es, er rufe es her!
Aber als wir zischten und abwinkten und ihr drohten, trollte sie sich gottlob, und schon spielte er wieder die Flöte, und die Frau stand neben ihm und sah nun majestätisch aus wie eine Person von Stand. Sie sang mit klarer Stimme von der Liebe, die stärker war als der Tod. Von der Liebe der Eltern sang sie und von der Liebe Gottes und der Liebe zwischen Mann und Frau, und da änderte sich wieder etwas, der Taktschlag wurde schneller, die Töne wurden spitzer und schärfer, und auf einmal handelte das Lied von der Liebe der Körper, den warmen Leibern, dem Sich-Wälzen im Gras, dem Duft deiner Nacktheit und deinem großen Hintern. Die Männer unter uns lachten, und dann stimmten die Frauen ins Gelächter ein, und am lautesten lachten die Kinder. Auch die kleine Martha lachte. Sie hatte sich nach vorne geschoben, und sie verstand das Lied ganz gut, denn sie hatte Mutter und Vater oft im Bett gehört und die Knechte im Stroh und ihre Schwester mit dem Tischlersohn voriges Jahr - nachts hatten die beiden sich davongemacht, aber Martha war ihnen nachgeschlichen und hatte alles gesehen.
Auf dem Gesicht des berühmten Mannes zeigte sich ein
lüstern breites Grinsen. Eine starke Kraft hatte sich zwischen ihm und der Frau aufgespannt, es drängte ihn hin- und sie herüber, so heftig zog es ihre Leiber aufeinander zu, und es war kaum auszuhalten, dass sie einander nicht endlich anfassten. Doch die Musik, die er spielte, schien es zu verhindern, denn wie aus Versehen war sie eine andere geworden, und der Moment war vorbei, die Töne erlaubten es nicht mehr. Es war das Agnus Dei. Die Frau faltete fromm die Hände, qui tollis peccata mundi, er wich zurück, und die beiden schienen selbst erschrocken über die Wildheit, die sie beinah erfasst hätte, so wie auch wir erschrocken waren und uns bekreuzigten, weil wir uns erinnerten, dass Gott alles sah und wenig billigte. Die beiden sanken in die Knie, wir taten es ihnen nach. Er setzte die Flöte ab, stand auf, breitete die Arme aus und bat um Bezahlung und Essen. Denn jetzt gebe es eine Pause. Und das Beste komme, falls man ihm gutes Geld zustecke, danach.
Benommen griffen wir in die Taschen. Die beiden Frauen gingen mit Bechern umher. Wir gaben so viel, dass die Münzen klirrten und sprangen. Alle gaben wir: Karl Schönknecht gab, und Malte Schopf gab, und seine lispelnde Schwester gab, und die Müllersfamilie, die sonst so geizig war, gab ebenfalls, und der zahnlose Heinrich Matter und Matthias Wohlsegen gaben besonders viel, obwohl sie Handwerker waren und sich für etwas Besseres hielten.
Martha ging langsam um den Planwagen herum.
Da saß, mit dem Rücken ans Wagenrad gelehnt, Tyll
Ulenspiegel und trank aus einem großen Humpen. Neben ihm stand der Esel.
«Komm her», sagte er.
Mit klopfendem Herzen trat sie näher.
Er streckte ihr den Humpen hin. «Trink», sagte er.
Sie nahm den Krug. Das Bier schmeckte bitter und schwer.
«Die Leute hier. Sind das gute Leute?»
Sie nickte.
«Friedliche Leute, helfen einander, verstehen einander, mögen einander, solche Leute sind das?»
Sie nahm noch einen Schluck. «Ja.»
«Na dann», sagte er.
«Wir werden sehen», sagte der Esel.
Vor Schreck ließ Martha den Humpen fallen.
«Das schöne Bier», sagte der Esel. «Du saudummes Kind.»
«Man nennt das Reden mit dem Bauch», sagte Tyll Ulenspiegel. «Kannst du auch lernen, wenn du möchtest.»
«Kannst du auch lernen», sagte der Esel.
Martha hob den Humpen auf und trat einen Schritt zurück. Die Bierpfütze wurde größer und wieder kleiner, der trockene Boden saugte die Nässe ein.
«Im Ernst», sagte er. «Komm mit uns. Mich kennst du ja jetzt. Ich bin der Tyll. Meine Schwester da drüben ist die Nele. Sie ist nicht meine Schwester. Wie die Alte heißt, weiß ich nicht. Der Esel ist der Esel.»
Martha starrte ihn an.
«Wir bringen dir alles bei», sagte der Esel. «Ich und die Nele
und die Alte und der Tyll. Und du kommst weg von hier. Die Welt ist groß. Du kannst sie sehen. Ich heiß nicht einfach Esel, ich hab auch einen Namen, ich bin Origenes.»
«Warum fragt ihr mich?»
«Weil du nicht wie die bist», sagte Tyll Ulenspiegel. «Du bist wie wir.»
Martha streckte ihm den Humpen hin, aber er nahm ihn nicht, also stellte sie ihn auf den Boden. Ihr Herz klopfte. Sie dachte an ihre Eltern und an die Schwester und an das Haus, in dem sie lebte, und an die Hügel draußen hinterm Wald und an das Geräusch des Windes in den Bäumen, von dem sie sich nicht vorstellen konnte, dass es anderswo genauso klang. Und sie dachte an den Eintopf, den ihre Mutter kochte.
Die Augen des berühmten Mannes blitzten auf, als er lächelnd sagte: «Denk an den alten Spruch. Was Besseres als den Tod findest du überall.»
Martha schüttelte den Kopf.
«Na gut», sagte er.
Sie wartete, aber er sagte nichts mehr, und sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sein Interesse an ihr schon erloschen war.
Also ging sie wieder um den Wagen herum und zu den Leuten, die sie kannte, zu uns. Wir waren jetzt ihr Leben, ein anderes gab es nicht mehr. Sie setzte sich auf den Boden. Sie fühlte sich leer. Aber als wir nach oben blickten, tat sie es auch, denn allen zugleich war uns aufgefallen, dass etwas im Himmel hing.
Eine schwarze Linie durchschnitt das Blau. Wir blinzelten. Es war ein Seil.
Auf der einen Seite war es am Fensterkreuz des Kirchturms festgebunden, auf der anderen an einer Fahnenstange, die neben dem Fenster des Bürgerhauses aus der Mauer ragte, in dem der Stadtvogt arbeitete, was aber nicht oft geschah, denn er war faul. Im Fenster stand die junge Frau, sie musste das Seil gerade erst festgeknotet haben; aber wie, so fragten wir uns, hatte sie es gespannt? Man konnte hier oder dort sein, in diesem Fenster oder im anderen, man konnte leicht ein Seil festknoten und es fallen lassen, aber wie bekam man es wieder hinauf ins andere Fenster, um die andere Seite festzumachen?
Wir sperrten die Münder auf. Für eine Weile schien es uns, als wäre das Seil selbst schon das Kunststück und als bräuchte es nicht mehr. Ein Spatz landete darauf, machte einen kleinen Sprung, breitete die Flügel aus, überlegte es sich anders und blieb sitzen.
Da erschien Tyll Ulenspiegel drüben im Kirchturmfenster. Er winkte, sprang aufs Fensterbrett, trat aufs Seil. Er tat das, als wäre es nichts. Er tat es, als wäre es nur ein Schritt wie jeder. Keiner von uns sprach, keiner rief, keiner bewegte sich, wir hatten aufgehört zu atmen.
Er schwankte nicht und suchte nicht nach Gleichgewicht, er ging einfach. Seine Arme schlenkerten, er ging, wie man auf dem Boden geht, bloß sah es ein bisschen geziert aus, wie er immer einen Fuß genau vor den anderen setzte. Man musste scharf hinsehen, um die kleinen Hüftbewegungen zu bemerken, mit denen er das Schwanken des Seils abfing. Er machte einen Sprung und ging nur einen Moment in die Knie, als er wieder aufkam. Dann spazierte er, die Hände auf dem Rücken gefaltet, zur Mitte. Der Spatz flog auf, aber er machte nur ein paar Flügelschläge und setzte sich wieder und drehte den Kopf; es war so still, dass wir ihn fiepen und piepen hörten. Und natürlich hörten wir unsere Kühe.
Tyll Ulenspiegel über uns drehte sich, langsam und nachlässig - nicht wie einer, der in Gefahr ist, sondern wie einer, der sich neugierig umsieht. Der rechte Fuß stand längs auf dem Seil, der linke quer, die Knie waren ein wenig gebeugt und die Fäuste in die Seiten gestemmt. Und wir alle, die wir hochsahen, begriffen mit einem Mal, was Leichtigkeit war. Wir begriffen, wie das Leben sein kann für einen, der wirklich tut, was er will, und nichts glaubt und keinem gehorcht; wie es wäre, so ein Mensch zu sein, begriffen wir, und wir begriffen, dass wir nie solche Menschen sein würden.
«Zieht eure Schuhe aus!»
Wir wussten nicht, ob wir ihn verstanden hatten.
«Zieht sie aus», rief er. «Jeder den rechten. Fragt nicht, tut es, das wird lustig. Vertraut mir, zieht sie aus. Alt und Jung, Frau und Mann! Jeder. Den rechten Schuh.»
Wir starrten ihn an.
«War es denn nicht lustig bis jetzt? Wollt ihr nicht mehr? Ich zeige euch mehr, zieht die Schuhe aus, jeder den rechten, los!»
Wir brauchten eine Weile, um in Bewegung zu kommen. So ist es immer mit uns, wir sind bedächtige Leute. Als Erstes gehorchte der Bäcker, dann sogleich Malte Schopf und dann Karl Lamm und dann dessen Frau, und dann gehorchten die Handwerker, die sich immer für was Besseres hielten, und dann taten wir es alle, jeder von uns, nur Martha nicht. Tine Krugmann neben ihr stieß sie mit dem Ellenbogen und zeigte auf ihren rechten Fuß, aber Martha schüttelte den Kopf, und Tyll Ulenspiegel auf dem Seil machte von neuem einen Sprung, wobei er in der Luft die Füße zusammenschlug. So hoch sprang er, dass er beim Aufkommen die Arme ausstrecken musste, um sein Gleichgewicht zu finden - ganz kurz nur, aber es reichte, um uns daran zu erinnern, dass auch er Gewicht hatte und nicht fliegen konnte.
«Und jetzt werft», rief er mit hoher, klarer Stimme. «Denkt nicht, fragt nicht, zögert nicht, das wird ein großer Spaß. Tut, was ich sage. Werft!»
Tine Krugmann tat es als Erste. Ihr Schuh flog und stieg höher und verschwand in der Menge. Dann flog der nächste Schuh, es war der von Susanne Schopf, und dann der nächste, und dann flogen Dutzende und dann noch mehr und mehr und mehr. Alle lachten wir und schrien und riefen: «Pass auf!», und: «Duck dich!», und: «Hier kommt was!» Es war ein Heidenspaß, und es machte auch nichts, dass manche der Schuhe Köpfe trafen. Flüche stiegen auf, ein paar Frauen schimpften, ein paar Kinder weinten, aber es war nicht schlimm, und Martha musste sogar lachen, als ein schwerer Lederstiefel sie nur knapp verfehlte, während ein gewebter Pantoffel vor ihre Füße segelte. Er hatte recht gehabt, und
einige fanden es sogar so lustig, dass sie auch die linken Schuhe warfen. Und einige warfen noch Hüte und Löffel und Krüge, die irgendwo zerbrachen, und natürlich warfen ein paar auch Steine. Aber als seine Stimme zu uns sprach, ebbte der Lärm ab, und wir horchten.
«Ihr Deppen.»
Wir blinzelten, die Sonne stand niedrig. Die auf der hinteren Seite des Platzes sahen ihn deutlich, für die anderen war er nur ein Umriss.
«Ihr Narren. Ihr Staubköpfe. Ihr Frösche. Ihr Nichtsnutze, ihr Maulwürfe, ihr blöden Ratten. Jetzt holt sie euch wieder.»
Wir starrten.
«Oder seid ihr zu blöd? Könnt sie euch nicht mehr holen, schafft es nicht, seid zu dumm in den Schädeln?» Er lachte meckernd. Der Spatz flog auf, erhob sich über die Dächer, war dahin.
Wir blickten einander an. Was er gesagt hatte, war gemein; aber es war so gemein auch wieder nicht, dass es nicht immer noch ein Scherz sein konnte und ein derbes Frotzeln nach seiner Art. Dafür war er ja berühmt, er konnte es sich erlauben.
«Na was denn?», fragte er. «Braucht ihr sie nicht mehr? Wollt sie nicht mehr? Mögt sie nicht mehr? Ihr Rindviecher, holt eure Schuhe!»
Malte Schopf war der Erste. Ihm war die ganze Zeit nicht wohl gewesen, und so lief er jetzt dorthin, wo er meinte, dass sein Stiefel hingeflogen war. Er schob Leute zur Seite, drängte
sich, schob sich, bückte sich und wühlte zwischen den Beinen. Auf der anderen Seite des Platzes tat Karl Schönknecht es ihm nach, und dann folgte Elsbeth, die Witwe des Schmieds, aber ihr kam der alte Lembke dazwischen und rief, sie solle sich trollen, das sei der Schuh seiner Tochter. Elsbeth, der noch die Stirn weh tat, weil ein Stiefel sie getroffen hatte, rief zurück, dass lieber er sich trollen solle, denn sie könne ja wohl noch ihren Schuh erkennen, so schöne bestickte Schuhe wie sie habe die Lembke-Tochter gewiss nicht, worauf der alte Lembke schrie, sie solle ihm aus dem Weg gehen und nicht seine Tochter schimpfen, worauf wiederum sie schrie, dass er ein stinkiger Schuhdieb sei. Da mischte sich Lembkes Sohn ein: «Ich warne dich!», und zur selben Zeit begannen Lise Schoch und die Müllerin zu streiten, denn ihre Schuhe sahen wirklich gleich aus, und ihre Füße waren gleich groß, und auch zwischen Karl Lamm und seinem Schwager setzte es laute Worte, und Martha begriff plötzlich, was hier geschah, und sie hockte sich auf den Boden und kroch los.
Über ihr war schon Geschiebe, Geschimpfe und Gestoße. Ein paar, die ihre Schuhe schnell gefunden hatten, machten sich davon, aber zwischen uns anderen brach eine Wut aus, so heftig, als hätte sie sich lange gestaut. Der Tischler Moritz Blatt und der Hufschmied Simon Kern schlugen mit Fäusten aufeinander ein, dass einer, der gedacht hätte, es ginge nur um Schuhe, das nicht hätte verstehen können, denn dafür hätte er wissen müssen, dass Moritz' Frau als Kind dem Simon versprochen gewesen war. Beide bluteten aus Nase und Mund, beide keuchten wie Pferde, und keiner traute sich dazwischenzugehen; auch Lore Pilz und Elsa Kohlschmitt waren scheußlich ineinander verbissen, aber schließlich hassten sie einander schon so lange, dass sie die Gründe nicht mehr wussten. Sehr wohl allerdings wusste man, warum die Semmler-Familie und die Leute vom Grünangerhaus aufeinander losgingen; es war wegen des strittigen Ackers und der alten Erbschaftssache, die noch von den Tagen des Schultheiß Peter her rührte, und auch wegen der Semmler- Tochter und ihres Kindes, das nicht von ihrem Ehemann war, sondern vom Karl Schönknecht. Wie ein Fieber griff die Wut um sich - wo man hinsah, wurde geschrien und geschlagen, Leiber wälzten sich, und jetzt drehte Martha den Kopf und sah nach oben.
Da stand er und lachte. Den Leib zurückgebogen, den Mund weit aufgerissen, mit zuckenden Schultern. Nur seine Füße standen ruhig, und seine Hüften schwangen mit dem Schaukeln des Seils. Martha kam es vor, als müsste sie nur besser hinsehen, dann würde sie begreifen, warum er sich so freute - aber da rannte ein Mann auf sie zu und sah sie nicht, und sein Stiefel traf ihre Brust, und ihr Kopf schlug auf den Boden, und als sie einatmete, war es, als ob Nadeln sie stachen. Sie rollte auf den Rücken. Seil und Himmel waren leer. Tyll Ulenspiegel war weg.
Sie raffte sich hoch. Sie humpelte vorbei an den sich prügelnden, sich wälzenden, einander beißenden, weinenden, schlagenden Leibern, an denen sie da und dort noch Gesichter erkannte; sie humpelte die Straße entlang, geduckt und mit gesenktem Kopf, aber gerade als sie ihre Haustür erreicht hatte, hörte sie hinter sich das Rumpeln des Planwagens. Sie drehte sich um. Auf dem Kutschbock saß die junge Frau, die er Nele genannt hatte, daneben kauerte reglos die Alte. Warum hielt sie denn keiner auf, warum folgte ihnen niemand? Der Wagen fuhr an Martha vorbei. Sie starrte ihm nach. Gleich würde er bei der Ulme sein, dann am Stadttor, dann fort.
Und da, als der Wagen schon fast die letzten Häuser erreicht hatte, rannte ihm doch einer hinterher, mit mühelos großen Schritten. Das Kalbsfell des Mantels sträubte sich um seinen Nacken wie etwas Lebendes.
«Ich hätt dich mitgenommen!», rief er, als er an Martha vorbeilief. Kurz bevor die Straße sich krümmte, holte er den Wagen ein und sprang auf. Der Torwächter war mit uns anderen am Hauptplatz, niemand hielt sie zurück.
Langsam ging Martha ins Haus, schloss die Tür hinter sich und legte den Riegel vor. Der Ziegenbock lag neben dem Ofen und sah fragend zu ihr auf. Sie hörte die Kühe brüllen, und vom Hauptplatz her gellte unser Geschrei.
Aber schließlich beruhigten wir uns. Noch vor dem Abend wurden die Kühe gemolken. Marthas Mutter kam zurück, und ihr war außer ein paar Schrammen wenig passiert, ihr Vater hatte einen Zahn verloren, und sein Ohr war eingerissen, ihrer Schwester war jemand so fest auf den Fuß getreten, dass sie noch einige Wochen hinkte. Aber es kamen der nächste Morgen und der nächste Abend, und das Leben ging weiter. In jedem Haus gab es Beulen und Schnitte und Schrammen und verstauchte Arme und fehlende Zähne, aber schon am Tag darauf war der Hauptplatz wieder sauber, und jeder trug seine Schuhe.
Wir sprachen nie über das, was geschehen war. Wir sprachen auch nicht über den Ulenspiegel. Ohne es ausgemacht zu haben, hielten wir uns daran; sogar Hans Semmler, den es so fürchterlich erwischt hatte, dass er von nun an im Bett liegen musste und nichts essen konnte außer dicker Suppe, tat so, als wäre es nie anders gewesen. Und auch die Witwe von Karl Schönknecht, den wir am nächsten Tag auf dem Gottesacker begruben, verhielt sich, als wäre es ein Schicksalsschlag gewesen und als wüsste sie nicht genau, wem das Messer in seinem Rücken gehört hatte. Nur das Seil hing noch tagelang über dem Platz, zitterte im Wind und war Spatzen und Schwalben ein Halt, bis der Priester, dem bei der Schlägerei besonders übel mitgespielt worden war, weil wir sein Großtun und seine Herablassung nicht mochten, wieder auf den Glockenturm steigen konnte, um es abzuschneiden.
Aber wir vergaßen auch nicht. Was geschehen war, blieb zwischen uns. Es war da, während wir die Ernte einholten, und es war da, wenn wir miteinander um das Korn handelten oder uns sonntags zur Messe versammelten, wo der Priester einen neuen Gesichtsausdruck hatte, halb Verwunderung und halb Furcht. Und besonders war es da, wenn wir auf dem Platz Feste begingen und wenn wir einander beim Tanzen ins Gesicht sahen. Dann kam es uns vor, als hätte die Luft mehr
Schwere, als schmeckte das Wasser anders und als wäre der Himmel, seitdem das Seil in ihm gehangen hatte, nicht mehr derselbe.
Und ein gutes Jahr später kam der Krieg doch zu uns. Eines Nachts hörten wir es wiehern, und dann lachte es draußen mit vielen Stimmen, und schon hörten wir das Krachen der eingeschlagenen Türen, und bevor wir noch auf der Straße waren, mit nutzlosen Heugabeln oder Messern bewaffnet, züngelten die Flammen.
Die Söldner waren hungriger als üblich, und sie hatten noch mehr getrunken. Lange schon hatten sie keine Stadt betreten, die ihnen so viel bot. Die alte Luise, die tief geschlafen und diesmal keine Vorahnung gehabt hatte, starb in ihrem Bett. Der Pfarrer starb, als er sich schützend vors Kirchenportal stellte. Lise Schoch starb, als sie versuchte, Goldmünzen zu verstecken, der Bäcker und der Schmied und der alte Lembke und Moritz Blatt und die meisten anderen Männer starben, als sie versuchten, ihre Frauen zu schützen, und die Frauen starben, wie Frauen eben sterben im Krieg.
Martha starb auch. Sie sah noch, wie die Zimmerdecke über ihr sich in rote Hitze verwandelte, sie roch den Qualm, bevor er so fest nach ihr griff, dass sie nichts mehr erkannte, und sie hörte ihre Schwester um Hilfe rufen, während die Zukunft, die sie eben noch gehabt hatte, sich in nichts auflöste: der Mann, den sie nie haben, und die Kinder, die sie nicht großziehen, und die Enkel, denen sie niemals von einem berühmten Spaßmacher an einem Vormittag im Frühling erzählen würde,
und die Kinder dieser Enkel, all die Menschen, die es nun doch nicht geben sollte. So schnell geht das, dachte sie, als wäre sie hinter ein großes Geheimnis gekommen. Und als sie die Dachbalken splittern hörte, fiel ihr noch ein, dass Tyll Ulenspiegel nun vielleicht der Einzige war, der sich an unsere Gesichter erinnern und wissen würde, dass es uns gegeben hatte.
Tatsächlich überlebten nur der lahme Hans Semmler, dessen Haus nicht Feuer gefangen hatte und der übersehen worden war, weil er sich nicht bewegen konnte, sowie Elsa Ziegler und Paul Grünanger, die heimlich miteinander im Wald gewesen waren. Als sie im Morgengrauen mit zerzausten Kleidern und wirren Haaren zurückkamen und nur Trümmer unter sich kräuselndem Rauch vorfanden, meinten sie für einen Augenblick, Gott der Herr hätte ihnen zur Strafe für ihre Sünde ein Wahngespinst geschickt. Sie zogen miteinander nach Westen, und für eine kurze Zeit waren sie glücklich.
Uns andere aber hört man dort, wo wir einst lebten, manchmal in den Bäumen. Man hört uns im Gras und im Grillenzirpen, man hört uns, wenn man den Kopf gegen das Astloch der alten Ulme legt, und zuweilen kommt es Kindern vor, als könnten sie unsere Gesichter im Wasser des Baches sehen. Unsere Kirche steht nicht mehr, aber die Kiesel, die das Wasser rund und weiß geschliffen hat, sind noch dieselben, wie auch die Bäume dieselben sind. Wir aber erinnern uns, auch wenn keiner sich an uns erinnert, denn wir haben uns noch nicht damit abgefunden, nicht zu sein. Der Tod ist immer noch
neu für uns, und die Dinge der Lebenden sind uns nicht gleichgültig. Denn es ist alles nicht lang her.
Herr der Luft
Kniehoch hat er das Seil gespannt, von der Linde zur alten Tanne. Dafür musste er Kerben schneiden, bei der Tanne war das leicht, bei der Linde ist das Messer immer wieder abgerutscht, aber schließlich ist es gegangen. Er prüft die Knoten, zieht bedächtig seine Holzschuhe aus, steigt aufs Seil, fällt.
Jetzt steigt er wieder auf, breitet die Arme aus und macht einen Schritt. Er breitet die Arme aus, aber er kann sich nicht halten und fällt. Er steigt wieder auf, versucht es, fällt von neuem.
Er versucht es wieder und fällt.
Man kann auf einem Seil nicht gehen. Das ist offensichtlich. Menschenfüße sind nicht gemacht dafür. Warum es überhaupt probieren?
Aber er probiert weiter. Immer fängt er bei der Linde an, jedes Mal fällt er sofort. Die Stunden vergehen. Am Nachmittag gelingt ein Schritt, ein einziger nur, und bis es dunkel wird, schafft er nicht noch einen. Doch für einen Augenblick hat das Seil ihn gehalten, und er hat darauf gestanden wie auf festem Boden.
Am nächsten Tag regnet es in Strömen. Er hockt im Haus
und hilft seiner Mutter. «Halt das Tuch straff, träum nicht, um Christi willen!» Und der Regen trommelt aufs Dach wie Hunderte kleine Finger.
Am nächsten Tag regnet es weiter. Eiskalt ist es, und das Seil ist klamm, man kann keinen Schritt machen.
Am nächsten Tag wieder Regen. Er steigt auf und fällt und steigt wieder auf und fällt, jedes Mal. Eine Weile liegt er auf dem Boden, die Arme ausgebreitet, die Haare nur ein dunkler Fleck vor Nässe.
Am nächsten Tag ist Sonntag, deshalb kann er erst am Nachmittag aufs Seil, der Gottesdienst dauert den ganzen Morgen. Am Abend gelingen drei Schritte, und wäre das Seil nicht nass gewesen, hätten es vier sein können.
Allmählich begreift er, wie man es machen kann. Seine Knie verstehen, die Schultern halten sich anders. Man muss dem Schwanken nachgeben, muss weich werden in Knien und Hüften, muss dem Sturz einen Schritt zuvorkommen. Die Schwere greift nach einem, aber schon ist man weiter. Seiltanz: dem Fallen davonlaufen.
Tags darauf ist es wärmer. Dohlen schreien, Käfer und Bienen brummen, und die Sonne lässt die Wolken zerrinnen. Sein Atem steigt in kleinen Wolken in die Luft. Die Helle des Morgens trägt die Stimmen weiter, er hört seinen Vater im Haus einen Knecht anschreien. Er singt vor sich hin, das Lied vom Schnitter, der heißt Tod, hat Gewalt vom großen Gott, das hat eine Melodie, zu der es sich gut auf dem Seil gehen lässt, aber offenbar war er zu laut, denn auf einmal steht Agneta,
seine Mutter, neben ihm und fragt, warum er nicht arbeitet.
«Ich komme gleich.»
«Wasser muss geholt werden», sagt sie, «der Herd geputzt.»
Er breitet die Arme aus, steigt aufs Seil und versucht, dabei nicht auf ihren gewölbten Bauch zu achten. Steckt wirklich ein Kind in ihr, strampelt und zuckt und hört ihnen zu? Der Gedanke stört ihn. Wenn Gott einen Menschen schaffen möchte, warum tut er das in einem anderen Menschen? Es liegt etwas Hässliches darin, dass alle Wesen im Verborgenen entstehen: Maden im Teig, Fliegen im Kot, Würmer in der braunen Erde. Nur ganz selten, das hat ihm sein Vater erklärt, wachsen Kinder aus Alraunwurzeln, und noch seltener Säuglinge aus faulen Eiern.
«Soll ich den Sepp schicken?», fragt sie. «Willst du, dass ich den Sepp schicke?»
Der Junge fällt vom Seil, schließt die Augen, breitet die Arme aus, steigt erneut auf. Als er wieder hinsieht, ist seine Mutter gegangen.
Er hofft, dass sie die Drohung nicht wahr macht, aber nach einer Weile kommt Sepp wirklich. Der sieht ihm kurz zu, dann tritt er ans Seil und stößt ihn herunter: kein leichter Schubs, sondern ein Stoß, so fest, dass der Junge der Länge nach hinschlägt. Vor Wut nennt er Sepp einen widerlichen Ochsenarsch, der mit seiner eigenen Schwester schläft.
Das ist nicht klug gewesen. Denn erstens weiß er gar nicht, ob Sepp, der wie alle Knechte von irgendwoher gekommen ist und irgendwohin weiterziehen wird, überhaupt eine Schwester
hat, zweitens hat der Kerl nur auf so etwas gewartet. Bevor der Junge aufstehen kann, hat Sepp sich auf seinen Hinterkopf gesetzt.
Er kann nicht atmen. Steine schneiden ihm ins Gesicht. Er windet sich, aber das hilft nichts, denn Sepp ist doppelt so alt wie er und dreimal so schwer und fünfmal so stark. Also nimmt er sich zusammen, um nicht zu viel Luft zu verbrauchen. Seine Zunge schmeckt nach Blut. Er atmet Dreck ein, würgt, spuckt. In seinen Ohren summt es und pfeift, und der Boden scheint sich zu heben, zu senken und wieder zu heben.
Plötzlich ist das Gewicht weg. Er wird auf den Rücken gerollt, Erde im Mund, die Augen verklebt, im Kopf ein bohrender Schmerz. Der Knecht zerrt ihn zur Mühle: über Kies und Erde, durch Gras, über noch mehr Erde, über scharfe Steinchen, vorbei an den Bäumen, vorbei an der lachenden Magd, dem Heuschuppen, dem Ziegenstall. Dann reißt er ihn empor, öffnet die Tür und stößt ihn hinein.
«Na wird auch Zeit», sagt Agneta. «Der Herd putzt sich nicht selbst.»
Geht man von der Mühle in Richtung Dorf, so muss man durch ein Stück Wald. Dort, wo sich die Bäume lichten und man die Flur des Dorfes überquert - Wiesen und Weiden und Äcker, davon ein Drittel brachliegend, zwei Drittel bewirtschaftet und geschützt von Bretterzäunen -, sieht man schon die Spitze des Kirchturms. Irgendwer liegt hier immer im Dreck und zimmert an den Zäunen, sie gehen ständig kaputt, aber sie müssen
standhalten, sonst entkommt das Vieh, oder die Tiere des Waldes zerstören das Korn. Die meisten Äcker gehören Peter Steger. Die meisten Tiere auch, man kann es leicht erkennen, sie haben sein Brandzeichen am Hals.
Zuerst kommt man am Haus der Hanna Krell vorbei. Sie sitzt, was soll sie sonst tun, auf ihrer Schwelle und flickt Kleidung, so verdient sie ihr Brot. Danach geht man durch die schmale Lücke zwischen dem Steger-Hof und dem Schmiedehaus des Ludwig Stelling, steigt auf den hölzernen Steg, der verhindert, dass man im weichen Kot einsinkt, lässt Jakob Kröhns Stall rechts liegen und befindet sich auf der Hauptstraße, die die einzige Straße ist: Hier wohnt Anselm Melker mit Frau und Kindern, neben ihm sein Schwager Ludwig Koller und daneben Maria Loserin, deren Mann voriges Jahr gestorben ist, weil jemand ihn verwünscht hat; die Tochter ist siebzehn und sehr schön, und sie wird Peter Stegers ältesten Sohn heiraten. Auf der anderen Seite wohnt Martin Holtz, der das Brot bäckt, gemeinsam mit seiner Frau und den Töchtern, und neben ihm sind die kleineren Häuser der Tamms, der Henrichs und der Familie Heinerling, aus deren Fenstern man oft Streiten hört; die Heinerlings sind keine guten Leute, sie haben keine Ehre. Alle außer dem Schmied und dem Bäcker haben draußen ein wenig Land, jeder hat ein paar Ziegen, aber nur Peter Steger, der reich ist, hat Kühe.
Dann ist man auf dem Dorfplatz mit der Kirche, der alten Dorflinde und dem Brunnen. Neben der Kirche steht das Pfarrhaus, neben dem Pfarrhaus das Haus, in dem der
Amtmann wohnt, Paul Steger, der Vetter von Peter Steger, der zweimal im Jahr die Felder begeht und jeden dritten Monat die Steuern zum Grundherrn bringt.
Auf der hinteren Seite des Dorfplatzes ist ein Zaun. Öffnet man das Gatter und geht über das große Feld, das auch dem Steger gehört, ist man schon wieder im Wald, und wenn man sich nicht zu sehr vor der Kalten fürchtet und immerfort weiterwandert und im Unterholz den Weg nicht verliert, so ist man in sechs Stunden beim Hof von Martin Reutter. Wenn einen dort der Hund nicht beißt und man weitergeht, ist man in drei Stunden im nächsten Dorf, das auch nicht viel größer ist.
Dort aber ist der Junge nie gewesen. Er war noch nie anderswo. Und obwohl mehrere Leute, die schon anderswo waren, ihm gesagt haben, dass es dort genauso sei wie hier, kann er nicht aufhören, sich zu fragen, wo man wohl hinkäme, wenn man einfach immer weiterginge, nicht bloß zum nächsten Dorf, sondern weiter und weiter.
Am Kopfende des Tisches spricht der Müller über Sterne. Seine Frau und sein Sohn und die Knechte und die Magd tun, als würden sie zuhören. Es gibt Grütze. Grütze gab es auch gestern, und Grütze wird es morgen wieder geben, mal mit mehr und mal mit weniger Wasser gekocht; es gibt jeden Tag Grütze, nur an den schlechteren Tagen gibt es statt Grütze nichts. Im Fenster hält eine dicke Scheibe den Wind ab, unter dem Herd, der zu wenig Wärme abstrahlt, balgen sich zwei Katzen, und in der Ecke der Stube liegt eine Ziege, die eigentlich drüben im Stall sein müsste, aber keiner mag sie hinauswerfen, denn alle sind müde, und ihre Hörner sind spitz. Neben der Tür und um das Fenster sind Pentagramme eingeritzt, der bösen Geister wegen.
Der Müller beschreibt, wie vor genau zehntausendsiebenhundertunddrei Jahren, fünf Monaten und neun Tagen der Mahlstrom im Herzen der Welt Feuer gefangen hat. Und jetzt dreht das Ding, das die Welt ist, sich wie eine Spindel und gebärt Sterne in Ewigkeit, denn da die Zeit keinen Anfang hat, hat sie auch kein Ende.
«Kein Ende», wiederholt er und stockt. Er hat bemerkt, dass er etwas Unklares gesagt hat. «Kein Ende», sagt er leise, «kein Ende.»
Claus Ulenspiegel stammt von droben her, aus Mölln im lutherischen Norden. Schon nicht mehr ganz jung, ist er vor einem Jahrzehnt in die Gegend gekommen, und weil er nicht von hier war, hat er nur Müllersknecht sein können. Der Müllersstand ist nicht ehrlos wie der des Abdeckers, der die verwesten Tiere beseitigt, oder der des Nachtwächters oder gar des Henkers, aber auch nicht besser als jener der Taglöhner und weit schlechter als der Stand der Handwerker in ihren Zünften oder der der Bauern, die einem wie ihm nicht einmal die Hand gegeben hätten. Aber dann hat ihn die Tochter des Müllers geheiratet, und bald ist der Müller gestorben, und jetzt ist er selbst Müller. Nebenbei heilt er die Bauern, die ihm immer noch nicht die Hand reichen, denn was sich nicht gehört, gehört sich nicht; aber wenn sie Schmerzen
haben, kommen sie zu ihm.
Kein Ende. Claus kann nicht weitersprechen, es beschäftigt ihn zu sehr. Wie soll Zeit aufhören! Andererseits ... Er reibt sich den Kopf. Sie muss ja auch begonnen haben. Denn wenn sie nie begonnen hätte, wie wäre man bis zu diesem Moment gelangt? Er blickt um sich. Unendlich viel Zeit kann nicht vorbei sein. Also muss sie eben doch angefangen haben. Aber vorher? Ein Vorher vor der Zeit? Schwindlig wird einem. So wie in den Bergen, wenn man in eine Klamm schaut.
Einmal, erzählt er jetzt, habe er in so eine gesehen, in der Schweiz, da habe ein Senner ihn zum Almauftrieb mitgenommen. Die Kühe hätten große Glocken getragen, und der Name des Senners sei Ruedi gewesen. Claus stutzt, dann erinnert er sich, was er eigentlich hat sagen wollen. Da habe er also in die Klamm geschaut, und die sei so tief gewesen, dass man den Grund nicht habe sehen können. Da habe er den Senner, der übrigens Ruedi geheißen habe - ein seltsamer Name -, also da habe er den Ruedi gefragt: «Wie tief ist die denn?» Und der Ruedi habe ihm so schleppend, als hätte ihn die Müdigkeit ergriffen, geantwortet: «Die hat keinen Boden!»
Claus seufzt. Die Löffel schaben in der Stille. Erst habe er gedacht, erzählt er weiter, das sei nicht möglich und der Senner sei ein Lügner. Dann habe er sich gefragt, ob die Schlucht vielleicht der Eingang zur Hölle sei. Aber plötzlich sei ihm klargeworden, dass es darauf gar nicht ankomme: Auch wenn die Schlucht einen Grund habe, so müsse man doch bloß nach oben blicken, um eine Schlucht ohne Grund zu sehen. Mit
schwerer Hand kratzt er sich am Kopf. Eine Schlucht, murmelt er, die einfach immer weitergehe, weiter und weiter, immer noch weiter, in die also alle Dinge der Welt passten, ohne auch nur den kleinsten Teil ihrer Tiefe zu füllen, eine Tiefe, an der alles zunichte werde ... Er isst einen Löffel Grütze. Ganz übel werde einem da, so wie einem ja auch marod zumute sei, sobald man sich klarmache, dass die Zahlen nie endeten! Dass man zu jeder Zahl noch eine hinzutun könne, als gäbe es keinen Gott, um solchem Treiben Einhalt zu gebieten. Immer noch eine! Zählen ohne Ende, Tiefe ohne Boden, Zeit vor der Zeit. Claus schüttelt den Kopf. Und wenn -
Da schreit Sepp auf. Er presst die Hände an den Mund. Alle sehen ihn an, verdutzt, aber vor allem froh über die Unterbrechung.
Sepp spuckt ein paar braune Kiesel aus, die genauso aussehen wie die Teigklumpen in der Grütze. Es ist nicht leicht gewesen, sie unbemerkt in seine Schüssel zu schmuggeln. Für so etwas muss man auf den richtigen Moment warten, und wenn nötig, muss man selbst Ablenkung schaffen: Deshalb hat der Junge vorhin Rosa, die Magd, gegen das Schienbein getreten, und als sie aufgeschrien und ihm gesagt hat, dass er ein Rattenvieh, und er ihr gesagt hat, dass sie eine hässliche Kuh sei, und sie ihm wieder gesagt hat, dass er dreckiger sei als der Dreck, und seine Mutter ihnen beiden gesagt hat, dass sie sofort ruhig sein sollten, in Gottes Namen, oder es gebe heute kein Essen, hat er sich schnell vorgebeugt und genau in dem Moment, da alle auf Agneta geblickt haben, die Steine in
Sepps Schüssel plumpsen lassen. Der richtige Augenblick ist schnell versäumt, aber wenn man aufmerksam ist, kann man ihn spüren. Dann könnte ein Einhorn durchs Zimmer laufen, ohne dass die anderen es bemerken würden.
Sepp tastet mit dem Finger im Mund, spuckt einen Zahn auf den Tisch, hebt den Kopf und sieht den Jungen an.
Das ist nicht gut. Der Junge war sich ziemlich sicher, dass Sepp es nicht durchschauen würde, aber der ist offenbar doch nicht so blöd.
Da springt der Junge auf und rennt zur Tür. Leider ist Sepp nicht nur groß, sondern auch schnell, und er bekommt ihn zu fassen. Der Junge will sich losreißen, es gelingt nicht, Sepp holt aus und schlägt ihm die Faust ins Gesicht. Der Schlag saugt alle anderen Geräusche auf.
Er blinzelt. Agneta ist aufgesprungen, die Magd lacht, sie mag es, wenn geprügelt wird. Claus sitzt mit gerunzelter Stirn da, gefangen in seinen Gedanken. Die zwei anderen Knechte reißen neugierig die Augen auf. Der Junge hört nichts, der Raum dreht sich, die Zimmerdecke ist unter ihm, Sepp hat ihn sich über die Schulter geworfen wie einen Mehlsack. Dann trägt er ihn hinaus, und der Junge sieht Gras über sich, drunten wölbt sich der Himmel, durchzogen von den Wolkenfasern des Abends. Jetzt hört er wieder etwas: Ein hoher Ton hängt zitternd in der Luft.
Sepp hält ihn an den Oberarmen und starrt ihm aus nächster Nähe ins Gesicht. Der Junge kann das Rot im Bart des Knechts sehen. Dort, wo der Zahn fehlt, blutet es. Er könnte dem
Knecht mit aller Kraft die Faust ins Gesicht schlagen. Sepp würde ihn wohl fallen lassen, und wenn er schnell wieder auf die Füße käme, könnte er Abstand gewinnen und den Wald erreichen.
Aber wozu? Sie leben in derselben Mühle. Wenn Sepp ihn heute nicht erwischt, so erwischt er ihn morgen, und wenn nicht morgen, dann übermorgen. Besser, man bringt es jetzt hinter sich, da alle zusehen. Vor den Augen der anderen wird Sepp ihn wahrscheinlich nicht umbringen.
Sie sind alle aus dem Haus gekommen: Rosa steht auf den Zehenspitzen, um besser sehen zu können, sie lacht noch immer, und auch die zwei Knechte neben ihr lachen. Agneta ruft etwas; der Junge sieht sie den Mund aufreißen und die Hände schwingen, aber hören kann er sie nicht. Neben ihr blickt Claus immer noch drein, als dächte er an etwas anderes.
Da hat der Knecht ihn hoch über den Kopf gehoben. Der Junge befürchtet, dass Sepp ihn auf den harten Boden schleudern wird; er hebt die Hände schützend vor die Stirn. Aber Sepp tritt einen und noch einen und einen dritten Schritt vor, und plötzlich beginnt das Herz des Jungen zu rasen. Das Blut pocht in seinen Ohren, er beginnt zu schreien. Er kann seine Stimme nicht hören, er schreit lauter, er hört sie noch immer nicht. Er hat begriffen, was Sepp vorhat. Begreifen es auch die anderen? Noch könnten sie einschreiten, aber - jetzt nicht mehr. Sepp hat es getan. Der Junge fällt.
Er fällt immer noch. Die Zeit scheint langsamer zu werden, er kann sich noch umsehen, er spürt den Sturz, das Gleiten durch die Luft, und er kann auch noch denken, dass ganz genau das geschieht, wovor er sein Leben lang gewarnt worden ist: Steig nicht vor dem Rad in den Bach, geh niemals vor dem, geh vor dem Mühlrad nicht, auf keinen Fall geh nie, nie, geh nie vor dem Mühlrad in den Bach! Und jetzt, da das gedacht ist, ist der Sturz noch immer nicht vorbei, und er fällt noch immer und fällt und fällt immer noch, aber gerade, als er einen weiteren Gedanken fasst, nämlich dass womöglich gar nichts passieren und der Sturz immer weiter andauern wird, schlägt er klatschend auf und sinkt, und wieder dauert es einen Augenblick, bevor die Eiseskälte zubeißt. Seine Brust schnürt sich zu, vor seinen Augen wird es schwarz.
Er spürt, wie ein Fisch seine Wange streift. Er spürt das Wasser strömen, spürt, wie es schneller und schneller fließt, spürt den Sog zwischen seinen Fingern. Er weiß, dass er sich festhalten müsste, aber woran nur, alles ist in Bewegung, nichts Festes irgendwo, und dann spürt er eine Bewegung über sich, und er muss daran denken, dass er sich das sein Lebtag vorgestellt hat, mit Grauen und Neugier, die Frage, was er tun müsste, wenn er tatsächlich einmal vor dem Mühlrad in den Bach fiele. Nun ist alles anders, und er kann gar nichts tun, und er weiß, dass er gleich tot sein wird, zerdrückt, zerpresst, zermahlen, aber er erinnert sich doch, dass er nicht auftauchen darf, droben ist kein Entkommen, droben ist das Rad. Er muss nach unten.
Aber wo ist das, unten?
Mit aller Kraft macht er Schwimmstöße. Sterben ist nichts,
das begreift er. Es geht so schnell, es ist keine große Sache, mach einen falschen Schritt, einen Sprung, eine Bewegung, und du bist kein Lebender mehr. Ein Grashalm reißt, ein Käfer wird zertreten, eine Flamme geht aus, ein Mensch stirbt, es ist nichts! Seine Hände graben im Schlamm, er hat es auf den Grund geschafft.
Und da weiß er plötzlich, dass er heute nicht sterben wird. Fäden aus langem Gras streicheln ihn, Dreck kommt in seine Nase, er spürt einen kalten Griff am Nacken, hört ein Knirschen, spürt etwas am Rücken, dann an den Fersen; er ist unterm Mühlrad durch.
Er stößt sich vom Boden ab. Während er aufsteigt, sieht er kurz ein bleiches Gesicht, die Augen groß und leer, der Mund offen, es leuchtet schwach in der Wasserdunkelheit, wahrscheinlich der Geist von einem Kind, das irgendwann weniger Glück hatte als er. Er macht Schwimmstöße. Schon ist er an der Luft. Er atmet ein und spuckt Schlamm und hustet und krallt sich im Gras fest und kriecht keuchend ans Ufer.
Ein Fleck bewegt sich auf dünnen Beinchen vor seinem rechten Auge. Er blinzelt. Der Fleck kommt näher. Es kitzelt an seiner Braue, er drückt die Hand ans Gesicht, der Fleck verschwindet. Droben schwebt, rund schillernd, eine Wolke. Jemand beugt sich über ihn. Es ist Claus. Er kniet sich hin, streckt die Hand aus und berührt seine Brust, murmelt etwas, das er nicht versteht, weil der hohe Ton immer noch in der Luft hängt und alles andere übertönt; aber da, während sein Vater spricht, wird der Ton leiser und leiser. Claus steht auf, der Ton
ist verstummt.
Jetzt ist auch Agneta da. Und neben ihr Rosa. Jedes Mal, wenn wieder jemand auftaucht, braucht der Junge einen Augenblick, um das Gesicht zu erkennen, etwas in seinem Kopf ist langsam geworden und arbeitet noch nicht wieder. Sein Vater macht kreisende Handbewegungen. Er fühlt seine Kräfte zurückkehren. Er will sprechen, aber aus seinem Hals kommt nur Krächzen.
Agneta streicht ihm über die Wange. «Zweimal», sagt sie, «bist du jetzt getauft.»
Er versteht nicht, was sie meint. Wahrscheinlich liegt das am Schmerz in seinem Kopf, einem Schmerz so stark, dass er nicht nur ihn, sondern die Welt selbst ausfüllt - alle sichtbaren Dinge, die Erde, die Menschen um ihn, auch die Wolke dort droben, die immer noch weiß ist wie frischer Schnee.
«Na komm ins Haus», sagt Claus. Seine Stimme klingt tadelnd, als hätte er ihn bei etwas Verbotenem ertappt.
Der Junge setzt sich auf, beugt sich vornüber und übergibt sich. Agneta kniet neben ihm und hält seinen Kopf.
Dann sieht er, wie sein Vater weit ausholt und Sepp eine Ohrfeige gibt. Sepps Oberkörper kippt vornüber; er hält sich die Wange und richtet sich wieder auf, da trifft ihn der nächste Schlag. Und dann ein dritter, wieder weit ausgeholt, die Wucht schleudert ihn fast zu Boden. Claus reibt sich die schmerzenden Hände, Sepp torkelt. Dem Jungen ist klar, dass er das nur vorspielt: Es hat ihm nicht sehr weh getan, er ist wesentlich stärker als der Müller. Aber auch er weiß, dass man
dafür bestraft werden muss, wenn man das Kind seines Brotgebers fast tötet, so wie wiederum der Müller und alle anderen wissen, dass man ihn nicht einfach fortjagen kann, Claus braucht drei Knechte, mit weniger geht es nicht, und wenn einer davon ausfällt, kann es Wochen dauern, bis ein neuer Müllersknecht auf Wanderschaft auftaucht - die Bauernknechte wollen nicht in der Mühle arbeiten, sie liegt zu weit vom Dorf, und der Beruf ist ehrlos, nur die Verzweifelten sind dazu bereit.
«Komm ins Haus», sagt nun auch Agneta.
Es ist fast dunkel. Alle haben es eilig, denn keiner will mehr draußen sein. Jeder weiß, was sich nachts in den Wäldern herumtreibt.
«Zweimal getauft», sagt Agneta wieder.
Als er sie fragen will, was sie meint, merkt er, dass sie nicht mehr bei ihm ist. Hinter ihm murmelt der Bach, durch den dicken Vorhang des Mühlenfensters dringt etwas Licht nach draußen. Claus muss schon die Talgkerze angezündet haben. Offenbar hat sich keiner die Mühe machen wollen, ihn hineinzuschleppen.
Frierend steht der Junge auf. Überlebt. Er hat überlebt. Das Mühlrad hat er überlebt. Er hat das Mühlrad überlebt. Das Mühlrad. Hat er überlebt. Er fühlt sich unsagbar leicht. Er macht einen Sprung, aber als er aufkommt, gibt sein Bein nach, und er fällt ächzend auf die Knie.
Vom Wald her kommt ein Flüstern. Er hält die Luft an und horcht, nun ist es ein Knurren, nun ein Zischen, dann hört es für einen Moment auf, dann beginnt es von neuem. Ihm ist, als bräuchte er nur besser hinzuhören, und er könnte Worte verstehen. Aber das will er auf keinen Fall. Hastig humpelt er zur Mühle.
Wochen vergehen, bis sein Bein ihm erlaubt, zurück aufs Seil zu gehen. Schon am ersten Tag taucht eine der Bäckerstöchter auf und setzt sich ins Gras. Er kennt sie vom Sehen, ihr Vater kommt oft zur Mühle, denn seit Hanna Krell ihn nach einem Streit verflucht hat, plagt ihn das Rheuma. Die Schmerzen lassen ihn nicht schlafen, deshalb braucht er den Abwehrzauber von Claus.
Der Junge überlegt, ob er sie davonjagen soll. Aber erstens wäre das nicht nett, und zweitens hat er nicht vergessen, dass sie beim letzten Dorffest das Steinewerfen gewonnen hat. Sie muss sehr stark sein, und ihm dagegen tut noch der ganze Körper weh. Also erträgt er ihre Gegenwart. Obwohl er sie nur aus dem Augenwinkel sieht, fällt ihm auf, dass sie Sommersprossen auf den Armen und im Gesicht hat und dass ihre Augen in der Sonne blau sind wie Wasser.
«Dein Vater», sagt sie, «hat zu meinem Vater gesagt, es gibt keine Hölle.»
«Hat er nicht gesagt.» Er schafft vier ganze Schritte, bevor er fällt.
«Doch.»
«Nie», sagt er bestimmt. «Ich schwöre.»
Er ist sich ziemlich sicher, dass sie recht hat. Sein Vater
könnte allerdings auch das Gegenteil gesagt haben: Wir sind in der Hölle, immerdar, und kommen nie heraus. Oder er könnte gesagt haben, dass wir im Himmel sind. Er hat seinen Vater schon alles sagen hören, was man überhaupt sagen kann.
«Weißt du's schon?», fragt sie. «Peter Steger hat beim alten Baum ein Kalb geschlachtet. Der Schmied hat's erzählt. Sie waren zu dritt. Peter Steger, der Schmied und der alte Heinerling. Sie sind nachts zur Weide gegangen und haben das Kalb dort gelassen, für die Kalte.»
«Ich war auch einmal da», sagt er.
Sie lacht. Natürlich glaubt sie ihm nicht, und natürlich hat sie recht, er war nicht da; niemand geht zur Weide, wenn er nicht muss.
«Ich schwör's!», sagt er. «Glaub mir, Nele!»
Er steigt wieder auf das Seil und steht da, ohne sich festzuhalten. Das kann er jetzt. Um den Schwur zu bestärken, legt er sich zwei Finger der rechten Hand aufs Herz. Aber dann nimmt er die Hand schnell wieder fort, denn er erinnert sich daran, dass die kleine Käthe Loser letztes Jahr vor ihren Eltern falsch geschworen hat, und zwei Nächte darauf ist sie gestorben. Um aus der Verlegenheit herauszukommen, tut er so, als verlöre er das Gleichgewicht, und lässt sich der Länge nach ins Gras fallen.
«Mach das weiter», sagt sie ruhig.
«Was?» Mit schmerzverzerrtem Gesicht steht er auf.
«Das Seil. Etwas können, das kein anderer kann. Das ist gut.»
Er zuckt die Achseln. Ihm ist nicht klar, ob sie sich über ihn lustig macht.
«Muss gehen», sagt sie, springt auf und läuft los.
Während er ihr nachsieht, reibt er sich die schmerzende Schulter. Dann steigt er zurück aufs Seil.
In der Woche darauf müssen sie einen Karren Mehl zum Reutterhof bringen. Martin Reutter hat das Korn vor drei Tagen gebracht, aber er kann das Mehl nicht abholen, ihm ist die Deichsel gebrochen. Sein Knecht Heiner ist gestern gekommen, um Bescheid zu sagen.
Die Lage ist vertrackt. Man kann nicht einfach den Knecht mit dem Mehl losschicken, denn der könnte sich damit auf Nimmerwiedersehen davonmachen, einem Knecht darf man nie über den Weg trauen. Claus aber kann nicht von der Mühle weg, weil es zu viel Arbeit gibt, also muss Agneta mit, und weil die nicht mit Heiner allein im Wald sein sollte, da Knechte zu allem imstande sind, kommt auch der Junge mit.
Sie fahren vor Sonnenaufgang los. Nachts ist viel Regen gefallen. Nebel hängt zwischen den Stämmen, die Wipfel scheinen im noch dunklen Himmel zu verschwinden, die Wiesen sind schwer von Nässe. Der Esel geht schleppend, ihm ist alles eins. Der Junge kennt ihn, so lange er denken kann. Er hat viele Stunden bei ihm im Stall gehockt, hat sich sein leises Schnauben angehört, hat ihn gestreichelt und Freude daran gehabt, wie das Tier ihm seine immerfeuchte Schnauze gegen die Wange gedrückt hat. Agneta hält die Zügel, der Junge sitzt neben ihr auf dem Bock, die Augen halb geschlossen, und schmiegt sich an sie. Hinter ihnen liegt Heiner auf den Mehlsäcken; manchmal grunzt er, und manchmal lacht er vor sich hin, ohne dass man sagen könnte, ob er schläft oder wach ist.
Hätten sie den breiten Weg genommen, könnten sie schon diesen Nachmittag am Ziel sein, aber der führt zu nahe an der Lichtung mit der alten Weide vorbei. Kein Ungeborenes darf in die Nähe der Kalten kommen. Daher müssen sie den Umweg über den schmalen überwachsenen Pfad nehmen, der viel tiefer durch den Wald führt, vorbei am Ahornhügel und dem großen Mäusetümpel.
Agneta erzählt von der Zeit, als sie noch nicht Ulenspiegels Frau gewesen ist. Einer der beiden Söhne von Bäcker Holtz habe sie heiraten wollen. Er habe gedroht, sich den Söldnern anzuschließen, wenn sie ihn nicht nehme. Nach Osten habe er ziehen wollen, in die ungarischen Ebenen, um gegen die Türken zu kämpfen. Und fast hätte sie ihn ja genommen - warum nicht, habe sie gedacht, am Ende sei einer wie der andere. Aber dann sei der Claus ins Dorf gekommen, ein Katholik aus dem Norden, was ja an sich schon seltsam sei, und als sie den geheiratet habe, weil sie ihm nicht habe widerstehen können, sei der junge Holtz doch nicht nach Osten gezogen. Geblieben sei er und habe Brote gebacken, und als zwei Jahre später die Pest durchs Dorf gezogen sei, sei er als Erster gestorben, und als auch sein Vater gestorben sei, habe sein Bruder die Bäckerei übernommen.
Agneta seufzt und streicht dem Jungen über den Kopf. «Du weißt ja nicht, wie er mal war. Jung und rank und ganz anders als die anderen.»
Der Junge braucht einen Moment, um zu verstehen, von wem sie spricht.
«Er hat alles gewusst. Er hat lesen können. Und er war auch schön. Stark war er, und helle Augen hat er gehabt, und er konnte besser singen und tanzen als alle anderen.» Sie überlegt eine Weile. «Er war ... wach!»
Der Junge nickt. Er würde lieber ein Märchen hören.
«Er ist ein guter Mensch», sagt Agneta. «Das darfst du nie vergessen.»
Der Junge muss gähnen.
«Nur ist er im Kopf nie da. Das habe ich damals nicht verstanden. Ich hab ja nicht gewusst, dass es so einen gibt. Wie hätte ich's wissen sollen? Ich bin ja immer hier gewesen. Dass so einer dann auch nie recht bei uns sein kann. Am Anfang war er nur manchmal anderswo im Kopf, meistens war er bei mir, getragen hat er mich, gelacht haben wir, seine Augen waren so hell. Nur manchmal war er bei den Büchern oder bei seinen Versuchen, angezündet hat er etwas oder Pulver gemischt. Dann war er öfter bei den Büchern und seltener bei mir, und dann noch seltener, und jetzt? Du siehst ja. Letzten Monat, als das Mühlrad stehen geblieben ist. Erst nach drei Tagen hat er es repariert, weil er vorher etwas auf der Wiese hat ausprobieren wollen. Keine Zeit hat er gehabt für die Mühle, der Herr Müller. Und dann hat er das Rad auch noch schlecht repariert, und die Achse ist stecken geblieben, und wir haben den Anselm Melker zu Hilfe holen müssen. Aber ihm ist's gleich gewesen!»
«Kann ich ein Märchen hören?»
Agneta nickt. «Vor langer Zeit», beginnt sie. «Als die Steine noch jung gewesen sind und es keine Herzöge gegeben hat und keiner einen Zehnt hat bezahlen müssen. Vor langer Zeit, als selbst im Winter noch kein Schnee gefallen ist ...»
Sie zögert, berührt ihren Bauch und nimmt die Zügel kürzer. Der Weg ist nun schmal und geht über breite Wurzeln hinweg. Ein falscher Schritt des Esels, und der Wagen könnte kippen.
«Vor langer Zeit», beginnt sie von neuem, «hat ein Mädchen einen goldenen Apfel gefunden, den wollte sie mit ihrer Mutter teilen, aber sie hat sich in den Finger geschnitten, und aus ihrem Blutstropfen ist ein Baum gewachsen, der hat mehr Äpfel getragen, allerdings nicht güldene, sondern schrumpelhässlich garstige Äpfel, wer von denen gegessen hat, ist eines schweren Todes gestorben. Denn ihre Mutter ist eine Hexe gewesen, die hat den Goldapfel wie ihren Augenstern gehütet, und jeden Ritter, der gegen sie gezogen ist, um die Tochter zu freien, hat sie zerrissen und gefressen, gelacht hat sie dabei und gefragt: Ist denn kein Held unter euch? Als aber endlich der Winter gekommen ist und alles bedeckt hat mit kühlem Schnee, da hat die arme Tochter für ihre Mutter putzen und kochen müssen, tagaus, tagein und ohne Ende.»
«Schnee?»
Agneta verstummt.
«Du hast gesagt, dass es im Winter keinen Schnee gab.»
Agneta schweigt.
«Entschuldige», sagt der Junge.
«Da hat die arme Tochter für ihre Mutter putzen und kochen müssen, tagaus, tagein und ohne Ende, und das, obgleich sie so schön gewesen ist, dass keiner sie hat ansehen können, ohne sich zu verlieben.»
Agneta schweigt wieder, dann stöhnt sie leise.
«Was ist?»
«Also ist die Tochter im tiefen Winter davongelaufen, denn sie hat gehört, dass es weit, weit, weit weg, am Rand des großen Meers, einen Jungen gibt, der des Goldapfels würdig ist. Aber zuerst hat sie fliehen müssen, und das war schwer, denn die Mutter, die Hexe, war wachsam.»
Agneta verstummt erneut. Der Wald ist nun sehr dicht, nur ganz oben zwischen den Wipfeln blitzt noch hellblauer Himmel. Agneta zieht an den Zügeln, der Esel bleibt stehen. Ein Eichhörnchen springt auf den Weg, sieht sie mit kalten Augen an; dann, schnell wie eine Täuschung, ist es verschwunden. Der Knecht hinter ihnen hört auf zu schnarchen und setzt sich auf.
«Was ist?», fragt der Junge wieder.
Agneta antwortet nicht. Leichenblass ist sie plötzlich. Und da sieht der Junge, dass ihr Rock voll Blut ist.
Für einen Moment wundert er sich darüber, dass ihm ein so großer Fleck bisher nicht aufgefallen ist, dann versteht er, dass das Blut gerade eben noch nicht da war.
«Es kommt», sagt Agneta. «Ich muss zurück.»
Der Junge starrt sie an.
«Heißes Wasser», sagt sie mit brüchiger Stimme. «Und Claus. Ich brauch heißes Wasser, und den Claus brauch ich auch mit seinen Sprüchen und Kräutern. Und die Hebamme aus dem Dorf brauch ich, die Lise Köllerin.»
Der Junge starrt sie an. Heiner starrt sie an. Der Esel starrt vor sich hin.
«Weil ich sonst sterbe», sagt sie. «Das muss sein. Da kann man nichts machen. Ich kann den Wagen hier nicht umdrehen, der Heiner stützt mich, wir gehen zu Fuß, und du bleibst.»
«Warum fahren wir nicht weiter?»
«Es dauert bis zum Abend, bis wir beim Reutterhof sind, zu Fuß zur Mühle zurück geht es schneller.» Sie steigt keuchend ab. Der Junge will nach ihrem Arm greifen, aber sie schiebt ihn weg. «Hast verstanden?»
«Was?»
Agneta ringt nach Luft. «Einer muss beim Mehl bleiben. Das ist so viel wert wie die halbe Mühle.»
«Allein im Wald?»
Agneta stöhnt.
Heiner blickt dumpf zwischen ihnen hin und her.
«Mit zwei Trotteln bin ich hier.» Agneta legt beide Hände auf die Wangen des Jungen und blickt ihm so fest in die Augen, dass er sein Spiegelbild sehen kann. Ihr Atem pfeift und rasselt. «Verstehst du?», fragt sie leise. «Mein Herz, mein kleiner Junge, verstehst du? Du wartest hier.»
In seiner Brust pocht es so laut, dass er meint, sie müsse es hören können. Er will ihr sagen, dass sie sich das falsch überlegt hat, dass der Schmerz ihre Klarheit trübt. Sie wird es zu Fuß nicht schaffen, es dauert Stunden, sie blutet zu stark. Aber seine Kehle ist ausgetrocknet, die Worte bleiben im Hals stecken. Hilflos sieht er zu, wie sie, an Heiner gelehnt, davonhumpelt. Halb stützt der Knecht sie, halb schleppt er sie, bei jedem Schritt stöhnt sie auf. Eine kurze Zeit sieht er sie noch, dann hört er das Stöhnen leiser werden, und dann ist er allein.
Eine Weile lenkt er sich ab, indem er den Esel an den Ohren zieht. Rechts und links und rechts, jedes Mal gibt das Vieh ein trauriges Geräusch von sich. Warum ist es so geduldig, warum so gutartig, warum beißt es nicht? Er sieht ihm ins rechte Auge. Wie eine Glaskugel liegt es in seiner Höhle, dunkel, wässrig und leer. Es blinzelt nicht, es zuckt bloß ein wenig, als er es mit dem Finger berührt. Er fragt sich, wie es wohl ist, dieser Esel zu sein. Eingesperrt in eine Eselseele, einen Eselkopf auf den Schultern, mit Eselgedanken darin, wie mag sich das anfühlen?
Er hält die Luft an und horcht. Der Wind: Geräusche in Geräuschen hinter anderen Geräuschen, Summen und Rascheln, Quieken, Ächzen und Knarren. Das Wispern der Blätter über dem Wispern von Stimmen, und wieder scheint ihm, als müsste er bloß eine Weile zuhören, dann könnte er verstehen. Er beginnt, vor sich hin zu summen, doch der Klang seiner Stimme kommt ihm fremd vor.
Da fällt ihm auf, dass die Mehlsäcke mit einem Seil verknotet sind; einem langen, das von einem Sack zum nächsten läuft. Erleichtert holt er sein Messer hervor und macht sich daran, Kerben in Stämme zu schneiden.
Sobald er das Seil brusthoch zwischen zwei Bäumen festgezurrt hat, geht es ihm besser. Er prüft die Festigkeit, dann zieht er die Schuhe aus, klettert hinauf und geht mit ausgebreiteten Armen bis zur Mitte. Dort steht er, vor Karren und Esel, über dem lehmigen Weg. Er verliert das Gleichgewicht, springt ab, klettert sofort wieder hinauf. Eine Biene steigt aus den Büschen, sinkt wieder und verschwindet im Grün. Langsam setzt der Junge sich in Bewegung. Fast hätte er es bis ans andere Ende geschafft, aber dann fällt er doch.
Er bleibt eine Weile liegen. Wozu auch aufstehen? Er rollt sich auf den Rücken. Ihm ist, als ob die Zeit stocken würde. Etwas hat sich verändert: Der Wind flüstert weiter, und weiterhin bewegen sich die Blätter, und dem Esel knurrt laut der Magen, aber all das hat nichts mit der Zeit zu tun. Früher war Jetzt, und jetzt ist Jetzt, und in der Zukunft, wenn alles anders ist und wenn es andere Menschen gibt und keiner außer Gott mehr von ihm und Agneta und Claus und der Mühle weiß, dann wird es immer noch Jetzt sein.
Das Himmelsband über ihm ist dunkelblau geworden, nun überzieht es sich mit samtigem Grau. Schatten klettern an Baumstämmen herunter, und auf einmal ist es unten Abend. Das Licht droben gerinnt zu einem schmalen Funkeln. Und dann ist es Nacht.
Er weint. Aber weil keiner da ist, der helfen könnte, und weil man eigentlich immer nur eine kurze Weile weinen kann, bevor einem die Kraft und die Tränen ausgehen, hört er schließlich wieder auf.
Er hat Durst. Agneta und Heiner haben den Schlauch mit dem Bier mitgenommen, Heiner hat ihn umgeschnallt, keiner hat daran gedacht, ihm etwas zu trinken hierzulassen. Seine Lippen sind trocken. Es müsste in der Nähe einen Bach geben, aber wie soll er den finden?
Die Geräusche sind nun andere als am Tag: Andere Tierlaute, ein anderer Wind, auch die Äste knacken anders. Er horcht. Droben muss es sicherer sein. Er macht sich daran, einen Baum zu besteigen. Aber das ist schwer, wenn man kaum etwas sieht. Dünne Äste brechen, und die schrundige Rinde schneidet in seine Finger. Ein Schuh gleitet von seinem Fuß; er hört ihn noch gegen einen und gegen noch einen Ast prallen. Sich an den Stamm klammernd, schiebt er sich empor und schafft es noch ein wenig höher. Dann kann er nicht mehr.
Eine Weile hängt er. Er hat sich vorgestellt, dass er auf einem breiten Ast schlafen könnte, an den Stamm gelehnt, aber jetzt merkt er, dass das so nicht geht. Es gibt nichts Weiches an einem Baum, und man muss sich ständig anklammern, damit man nicht fällt. Ein Zweig presst sich gegen sein Knie. Zunächst meint er, dass sich das aushalten lässt, doch auf einmal ist es unerträglich. Auch der Ast, auf dem er sitzt, schmerzt ihn. Er muss an das Märchen von der bösen Hexe und der schönen Tochter und dem Ritter und dem Goldapfel
denken: Wird er je erfahren, wie es endet?
Er steigt wieder ab. Das ist schwierig im Dunkeln, aber er ist geschickt und rutscht nicht ab und erreicht den Boden. Nur kann er seinen Schuh nicht mehr finden. Wie gut, dass wenigstens der Esel da ist. Der Junge schmiegt sich an das weiche, sanft stinkende Tier.
Ihm fällt ein, dass seine Mutter zurückkommen könnte. Wenn sie auf dem Weg nach Hause gestorben ist, könnte sie plötzlich auftauchen. An ihm vorbeistreifen könnte sie, ihm etwas zuraunen, ihm ihr verwandeltes Gesicht zeigen. Der Gedanke lässt sein Herz gefrieren. Könnte es wirklich sein, dass man einen Menschen gerade noch geliebt hat, aber im nächsten Moment stirbt man vor Schreck, wenn dieser Mensch zurückkommt? Er denkt daran, dass die kleine Gritt letztes Jahr beim Pilzesammeln ihrem toten Vater begegnet ist: Keine Augen hat er gehabt, und eine Handbreit über dem Boden ist er geschwebt. Und an den Kopf denkt er, den Großmutter vor vielen Jahren im Grenzstein hinter dem Steger-Hof gesehen hat, heb den Rock, Mädchen, und da sei keiner hinter dem Stein versteckt gewesen, sondern der Stein habe mit einem Mal Augen und Lippen gehabt, so heb ihn doch schon und zeig, was drunter ist! Großmutter hat das erzählt, als er klein war; jetzt ist sie lange schon tot, auch ihr Körper muss längst zerfallen sein, ihre Augen sind zu Steinen geworden und ihre Haare zu Gras. Er befiehlt sich, nicht an solche Dinge zu denken, aber es gelingt ihm nicht, und vor allem einen Gedanken kann er nicht wegwischen: Lieber soll Agneta tot sein, lieber in der tiefsten ewigen Hölle gefangen, als plötzlich als Geist aus den Büschen zu treten.
Der Esel zuckt, Holz knackt in der Nähe, etwas kommt heran, seine Hose füllt sich mit Wärme. Ein wuchtiger Körper streift vorbei und entfernt sich wieder, seine Hose wird kalt und schwer. Der Esel brummt, er hat es auch gespürt. Was war das? Jetzt ist da ein grünliches Glimmen zwischen den Ästen, größer als ein Glühwürmchen, doch weniger hell, und vor Angst kommen ihm fiebrige Bilder in den Kopf. Ihm ist heiß, dann wird ihm kalt. Dann wieder heiß. Und trotz allem denkt er: Agneta, lebend oder tot, darf nicht wissen, dass er in die Hose gemacht hat, sonst gibt es Schläge. Und als er sie wimmernd unter einem Busch liegen sieht, der zugleich das Band ist, an dem die Erdscheibe vom Mond hängt, sagt ihm ein Rest seines sich auflösenden Verstandes, dass er wohl gerade einschläft, ermüdet von seiner Angst und all dem Herzklopfen, gnädig seinen schwindenden Kräften überlassen, auf dem kalten Boden und im Nachtlärm des Waldes, neben dem leise schnarchenden Esel. Und so weiß er nicht, dass seine Mutter tatsächlich nicht fern von ihm auf dem Boden liegt, wimmernd und stöhnend, unter einem Busch, der nicht viel anders aussieht als der Busch in seinem Traum, einer Wacholderstaude mit majestätisch vollen Beeren. Dort liegt sie, in der Dunkelheit, dort.
Agneta und der Knecht haben den kurzen Weg genommen, sie war zu schwach für den Umweg, und so sind sie der Lichtung der Kalten zu nahe gekommen. Nun liegt Agneta auf dem Boden und hat keine Kraft mehr und kaum noch Stimme zum Schreien, und Heiner sitzt neben ihr, in seinem Schoß das neugeborene Wesen.
Der Knecht überlegt, ob er fortlaufen soll. Was hält ihn schon? Diese Frau wird sterben, und wenn er in der Nähe gewesen ist, wird man sagen, er sei schuld. So ist es immer. Wenn etwas passiert und ein Knecht ist in der Nähe, dann ist der Knecht schuld.
Er könnte auf Nimmerwiedersehen verschwinden, auf dem Reutterhof hält ihn nichts, das Essen ist nicht reichlich, und der Bauer ist nicht gut zu ihm, er schlägt ihn so oft, wie er seine eigenen Söhne schlägt. Warum Mutter und Kind nicht liegen lassen? Groß ist die Welt, sagen die Knechte, andere Herrschaft findet sich leicht, neue Höfe gibt es genug, und etwas Besseres als der Tod findet sich, wo immer du suchst.
Er weiß, dass man nachts nicht im Wald sein soll, und er hat Hunger, und stechenden Durst hat er auch, weil er irgendwo am Weg den Bierschlauch verloren hat. Er schließt die Augen. Das hilft. Wenn man die Augen schließt, ist man bei sich, da ist dann kein anderer, der einem etwas tut, da ist man innen, da ist dann nur man selbst. Er erinnert sich an Wiesen, durch die er gelaufen ist, als er ein Kind war, er erinnert sich an frisches Brot, so gut, wie er es schon lange nicht mehr bekommen hat, und an einen Mann, der ihn mit einem Stock geschlagen hat, vielleicht war es sein Vater, er weiß es nicht. Und so ist er dem Mann davongelaufen, und dann war er anderswo, dann ist er wieder fortgelaufen. Fortlaufen ist etwas Wunderbares. Es gibt
keine Gefahr, der man nicht entkommen kann, wenn man schnelle Beine hat.
Aber diesmal läuft er nicht. Er hält das Kind, und Agnetas Kopf hält er auch, und als sie aufstehen will, stützt er sie und wuchtet sie empor.
Trotzdem wäre Agneta nicht auf die Füße gekommen, hätte sie sich nicht an das mächtigste aller Quadrate erinnert. Merk es dir, hat Claus gesagt, benütz es nur in der Not. Du kannst es schreiben, nur aussprechen darfst du es nie! Und so hat sie den letzten Rest Klarheit in ihrem Kopf dazu verwendet, die Buchstaben in den Boden zu ritzen. Es beginnt mit SALOM AREPO, aber wie es weitergeht, ist ihr nicht eingefallen; das Schreiben ist dreifach schwer, wenn man es nie gelernt hat und wenn es dunkel ist und wenn man blutet. Aber dann hat sie sich über Claus' Anweisung hinweggesetzt und mit krächzender Stimme gerufen: «Salom Arepo Salom Arepo!» Und schon, da selbst Bruchstücke Kraft entfalten, kommt ihre Erinnerung zurück, und sie weiß auch den Rest.
Und allein dadurch schon, sie hat es fühlen können, sind die bösen Kräfte zurückgewichen, die Blutung hat nachgelassen, und das Kind ist unter Schmerzen wie von glühenden Eisen aus ihrem Leib gerutscht.
So gerne wäre sie liegen geblieben. Aber sie weiß, wer viel
Blut verloren hat, der bleibt, wenn er liegt, für immer liegen.
«Gib mir das Kind.»
Er gibt es ihr.
Sie kann es nicht sehen, die Nacht ist so schwarz, als wäre man blind, aber als sie das kleine Wesen hält, spürt sie, dass es noch lebt.
Keiner wird von dir wissen, denkt sie. Keiner sich erinnern, nur ich, deine Mutter, und ich vergesse nicht, weil ich nicht vergessen darf. Denn alle anderen werden dich vergessen.
Das hat sie auch den anderen drei gesagt, die ihr bei der Geburt gestorben sind. Und wirklich, von jedem weiß sie noch alles, was es zu wissen gibt: den Geruch, die Schwere, die jedes Mal ein wenig andere Gestalt in ihren Händen. Sie hatten nicht einmal Namen.
Ihre Knie knicken ein, Heiner hält sie. Für einen Augenblick ist die Versuchung stark, sich einfach wieder hinzulegen. Aber sie hat zu viel Blut verloren, die Kalte ist nicht weit, und auch das kleine Volk könnte sie finden. Sie reicht Heiner das Kind und will losgehen, doch sofort fällt sie und liegt auf Wurzeln und Reisig und spürt, wie groß die Nacht ist. Warum widersteht man eigentlich? Es wäre so leicht. Einfach loslassen. So leicht.
Stattdessen schlägt sie die Augen auf. Sie fühlt die Wurzeln unter sich. Sie schlottert vor Kälte und begreift, dass sie noch lebt.
Wieder steht sie auf. Offenbar hat die Blutung nachgelassen. Heiner hält ihr das Kind hin; sie nimmt es und merkt sofort, dass kein Leben mehr in ihm ist, also gibt sie es zurück, denn sie braucht beide Hände, um sich an einem Baumstamm festzuhalten. Er legt es auf den Boden, aber sie zischt ihn an, und er hebt es wieder auf. Denn natürlich kann man es nicht hier lassen: Moos würde darüberwachsen, Pflanzen würden es umschlingen, Käfer seine Glieder bewohnen, sein Geist würde nie ruhen.
Und in diesem Moment geschieht es, dass Claus in der Dachkammer seiner Mühle die Ahnung beschleicht, dass etwas nicht in Ordnung ist. Schnell murmelt er ein Gebet, streut eine Prise zerriebenen Alraun in die Flamme seiner qualmenden Tranfunzel. Das schlechte Omen bestätigt sich: Anstatt aufzulodern, verlöscht die Flamme sofort. Scharfer Gestank erfüllt den Raum.
In der Dunkelheit schreibt Claus ein Quadrat mittlerer Kraft an die Wand:
Danach, um sicherzugehen, sagt er siebenmal laut: Nipson anomimata mi monan ospin. Er weiß, dass das Griechisch ist. Was es heißt, weiß er nicht, aber es liest sich vorwärts genauso wie rückwärts, und Sätze dieser Art haben besondere Kraft. Dann legt er sich wieder auf den harten Bretterboden, um mit seiner Arbeit weiterzumachen.
Zurzeit beobachtet er jede Nacht den Lauf des Mondes.
Seine Fortschritte sind so schleppend, dass es zum Verzweifeln ist. Der Mond geht jedes Mal anderswo auf als in der Nacht zuvor, seine Bahn bleibt nie die gleiche. Und weil offenbar keiner das erläutern kann, hat Claus beschlossen, die Sache selbst aufzuklären.
«Wenn etwas keiner weiß», hat ihm Wolf Hüttner einst gesagt, «müssen wir es rausfinden!»
Hüttner, der Mann, der sein Lehrer war, ein Chiromant und Geisterbeschwörer zu Konstanz, von Beruf Nachtwächter. Claus Ulenspiegel ist einen Winter lang bei ihm im Dienst gewesen, und kein Tag vergeht, da er nicht dankbar an ihn denkt. Hüttner hat ihm die Quadrate, Sprüche und wirkstarken Kräuter gezeigt, und Claus hat kein Wort versäumt, wenn Hüttner zu ihm vom kleinen Volk und dem großen Volk und den Alten der Vorzeit und dem Volk der tiefen Erde und den Geistern der Luft gesprochen hat und davon, dass man den Gelehrten nicht trauen dürfe, denn sie wüssten nichts, aber sie gäben es nicht zu, um die Gnade ihrer Fürsten nicht zu verlieren, und als Claus nach der Schneeschmelze weitergezogen ist, hat er drei Bücher aus Hüttners Sammlung im Sack gehabt. Damals hat er noch nicht lesen können, aber das hat ihm dann in Augsburg ein Pastor beigebracht, den er vom Rheuma geheilt hat, und als er weitergezogen ist, hat er auch drei Bücher aus der Bibliothek des Pastors mitgenommen. Schwer sind all die Bücher gewesen, ein Dutzend von ihnen füllten den Tragesack wie Blei. Bald ist ihm klargeworden, dass er entweder die Bücher zurücklassen oder sesshaft werden muss, am besten an einem versteckten Ort abseits der großen Straßen, denn Bücher sind teuer, und nicht alle Besitzer haben sich freiwillig von ihnen getrennt, und wenn man Pech hat, könnte Hüttner selbst plötzlich vor der Tür stehen, einen Fluch auf ihn legen und zurückverlangen, was ihm gehörte.
Als es tatsächlich zu viele Bücher gewesen sind, um weiterzuziehen, hat das Schicksal seinen Lauf genommen. Eine Müllerstochter hat ihm gefallen, sie war gut anzusehen, und lustig war sie auch, und Kraft hatte sie, und dass sie ihn mochte, konnte ein Blinder sehen. Sie zu gewinnen ist nicht schwer gewesen, im Tanzen war er gut, und die richtigen Sprüche und Kräuter, um ein Herz zu binden, hat er gekannt, überhaupt hat er mehr gewusst als jeder andere im Dorf, das hat ihr gefallen. Der Vater hat zunächst Zweifel gehabt, aber keiner der anderen Knechte hat ausgesehen, als ob er die Mühle übernehmen könnte, also hat er nachgegeben. Und eine Weile ist auch alles gut gewesen.
Dann hat er ihre Enttäuschung gespürt. Erst manchmal, dann öfter. Und dann ständig. Sie hat seine Bücher nicht gemocht, sie hat nicht gemocht, dass er die Rätsel der Welt lösen muss, und es stimmt ja auch, es ist eine große Aufgabe, die lässt einem nicht viel Kraft für anderes, schon gar nicht für den täglichen Mühlentrott. Plötzlich ist es auch Claus wie ein Fehler vorgekommen: Was tu ich hier, was habe ich mit den Mehlwolken zu schaffen, was mit den stumpfsinnigen Bauern, die einen immer betrügen wollen beim Bezahlen, was mit dem begriffsstutzigen Gesinde, das nie macht, was man ihm
aufträgt? Andererseits, so sagt er sich oft, führt das Leben einen eben irgendwohin - wärst du nicht hier, so wärst du anderswo, und alles wäre gerade ebenso seltsam. Wirklich Sorgen bereitet ihm allerdings die Frage, ob man wohl in die Hölle kommt, wenn man so viele Bücher gestohlen hat.
Aber man muss das Wissen nun mal packen, wo es sich finden lässt, man ist doch nicht bestimmt dafür, ahnungslos zu vegetieren. Und wenn man niemanden hat, mit dem man sprechen kann, ist es nicht leicht. So viel beschäftigt dich, aber keiner will sie hören, deine Gedanken darüber, was der Himmel ist und wie die Steine entstehen und wie die Fliegen und das überall wimmelnde Leben und in welcher Sprache die Engel miteinander reden und wie Gott der Herr sich selbst geschaffen hat und sich immer noch schaffen muss, Tag für Tag, denn täte er es nicht, hörte alles von einem Moment zum nächsten auf - wer, wenn nicht Gott, sollte die Welt daran hindern, einfach nicht zu sein?
Für manche Bücher hat Claus Monate gebraucht, für andere Jahre. Manche kennt er auswendig und versteht sie trotzdem nicht. Und mindestens einmal im Monat kehrt er ratlos zu dem dicken lateinischen Werk zurück, das er aus einer brennenden Pfarrei in Trier gestohlen hat. Es war nicht er, der das Feuer gelegt hat, aber er war in der Nähe und hat den Rauch gerochen und die Gelegenheit ergriffen. Ohne ihn wäre das Buch verbrannt. Er hat ein Recht darauf. Doch lesen kann er es nicht.
Siebenhundertfünfundsechzig Seiten sind es, in enger Schrift
bedruckt, und einige haben auch Bilder, die aus üblen Träumen zu stammen scheinen: Männer mit Vogelköpfen, eine Stadt mit Zinnen und hohen Türmen auf einer Wolke, aus der in dünnen Strichen Regen fällt, ein Pferd mit zwei Köpfen auf einer Waldlichtung, ein Insekt mit langen Flügeln, eine Schildkröte, die auf einem Sonnenstrahl gen Himmel klettert. Das erste Blatt, auf dem wohl einmal der Buchtitel stand, fehlt; ebenso hat jemand das Blatt mit den Seiten dreiundzwanzig und vierundzwanzig sowie jenes mit den Seiten fünfhundertneunzehn und fünfhundertzwanzig herausgerissen. Dreimal schon ist Claus mit dem Buch beim Priester gewesen und hat um Hilfe gebeten, aber jedes Mal hat der ihn rüde fortgeschickt und erklärt, dass es nur Menschen von Bildung zustehe, sich mit lateinischen Schriften zu befassen. Zunächst hat Claus erwogen, ihm eine milde Verwünschung auf den Hals zu schicken - Rheuma oder eine Mäuseplage im Pfarrhaus oder schlechte Milch -, doch dann hat er begriffen, dass der arme Dorfpriester, der zu viel trinkt und sich in der Predigt ständig wiederholt, in Wahrheit selber kaum Latein versteht. So hat er sich beinahe damit abgefunden, dass er genau dieses eine Buch, das womöglich den Schlüssel zu allem enthält, nie wird lesen können. Denn wer könnte ihm hier, in einer gottverlassenen Mühle, Latein beibringen?
Trotzdem, in den letzten Jahren hat er eine Menge herausgefunden. Im Wesentlichen weiß er inzwischen, woher die Dinge kommen, wie die Welt entstanden ist und warum alles so ist, wie es ist: die Geister, die Stoffe, die Seelen, das
Holz, das Wasser, der Himmel, das Leder, das Korn, die Grillen. Hüttner wäre stolz auf ihn. Nicht mehr lange, dann wird er die letzten Lücken geschlossen haben. Dann wird er selbst ein Buch schreiben, in dem alle Antworten stehen, und dann werden die Gelehrten in ihren Universitäten sich wundern und schämen und sich die Haare raufen.
Aber leicht wird das nicht. Seine Hände sind groß, und der dünne Federkiel zerbricht ihm immer wieder zwischen den Fingern. Er wird viel üben müssen, bevor er ein ganzes Buch mit den Spinnenzeichen aus Tinte füllen kann. Aber es muss sein, denn er kann all das, was er herausgefunden hat, nicht für immer im Gedächtnis halten. Es ist schon zu viel, es schmerzt ihn, oft ist ihm schwindlig von all dem Wissen im Kopf.
Vielleicht wird er irgendwann seinem Sohn etwas beibringen können. Er hat gemerkt, dass ihm der Junge beim Essen manchmal zuhört, wider Willen fast und bemüht, sich nichts anmerken zu lassen. Dünn und zu schwach ist er, aber er scheint klug zu sein. Vor kurzem hat Claus ihn dabei ertappt, wie er mit drei Steinen jongliert hat, ganz leicht und ohne Mühe - reiner Unsinn, aber doch auch ein Zeichen, dass das Kind vielleicht nicht so stumpf ist wie die anderen. Neulich hat der Junge ihn gefragt, wie viele Sterne es eigentlich gibt, und da er erst vor kurzem nachgezählt hat, hat er ihm nicht ohne Stolz eine Antwort geben können. Er hofft, dass das Kind, das Agneta trägt, wieder ein Junge wird; mit etwas Glück sogar einer, der kräftiger ist, damit er ihm besser bei der Arbeit hilft,
und dem er dann auch etwas beibringen kann.
Der Bretterboden ist zu hart. Aber würde er weicher liegen, schliefe er ein und könnte nicht den Mond beobachten. Mühevoll hat Claus im schrägen Dachfenster ein Gitter aus dünnen Fäden angebracht - seine Finger sind dick und schwerfällig, und die von Agneta gesponnene Wolle ist widerspenstig. Doch schließlich hat er es geschafft, das Fenster in kleine und fast gleich große Vierecke zu unterteilen.
So liegt er also und starrt. Zeit vergeht. Er gähnt. Tränen treten ihm in die Augen. Du darfst nicht einschlafen, sagt er sich, du darfst um keinen Preis einschlafen!
Und endlich ist da der Mond, silbern und beinahe rund, mit Flecken wie von schmutzigem Kupfer. In der untersten Reihe ist er aufgetaucht, doch nicht im ersten Viereck, wie Claus es erwartet hätte, sondern im zweiten. Wieso nur? Er blinzelt. Seine Augen schmerzen. Er kämpft gegen den Schlaf und nickt ein und ist wieder wach und nickt wieder ein, aber nun ist er doch wach und blinzelt, und der Mond steht nicht mehr in der zweiten, sondern in der dritten Reihe von unten, im zweiten Viereck von links. Wie ist das passiert? Leider sind die Vierecke ungleich groß, weil die Wolle fasert, daher sind die Knoten zu dick geraten - aber warum verhält der Mond sich so? Es ist ein gemeines Gestirn, tückisch und verlogen; nicht zufällig steht sein Bild in den Karten für Untergang und Verrat. Um aufzuzeichnen, wann der Mond wo ist, muss man außerdem die Zeit wissen, aber woran, bei allen Teufeln, soll man die Zeit ablesen, wenn nicht am Stand des Mondes? Ganz verrückt
kann einen das machen! Hinzu kommt, dass gerade einer der Fäden sich gelöst hat; Claus richtet sich auf und versucht, ihn mit störrischen Fingern festzuknoten. Und kaum ist ihm das endlich gelungen, zieht eine Wolke auf. Das Licht schimmert fahl um ihre Ränder, aber wo genau der Mond steht, lässt sich nicht mehr sagen. Er schließt die schmerzenden Augen.
Als Claus am frühen Morgen frierend zu sich kommt, hat er von Mehl geträumt. Es ist nicht zu fassen - immerzu geschieht das. Früher hat er Träume voller Licht und Lärm gehabt. Musik gab es in seinen Träumen, manchmal haben Geister mit ihm gesprochen. Aber das ist lange her. Heute träumt er von Mehl.
Während er sich unmutig aufrichtet, wird ihm klar, dass es nicht der Mehltraum war, der ihn geweckt hat, es waren Stimmen von draußen. Um diese Zeit? Beunruhigt erinnert er sich an das Omen der vergangenen Nacht. Er beugt sich aus dem Fenster, und im selben Moment teilt sich das Dämmergrau des Waldes, und Agneta und Heiner humpeln heraus.
Sie haben es wirklich geschafft, gegen alle Wahrscheinlichkeit. Zunächst hat der Knecht sie beide getragen, die lebende Frau und das tote Kind; dann konnte er nicht mehr, und Agneta ist allein gegangen, gestützt von ihm; dann war ihm das Kind zu schwer und auch zu gefährlich, denn ein ungetauft Gestorbenes zieht Geister an, sowohl die von droben als auch die aus der Tiefe, und Agneta hat es selbst tragen müssen. So haben sie tastend den Weg gefunden.
Claus klettert die Leiter hinunter, stolpert über die
schnarchenden Knechte, tritt eine Ziege zur Seite, reißt die Tür auf und läuft gerade rechtzeitig hinaus, um die zusammenbrechende Agneta auffangen zu können. Vorsichtig legt er sie hin und tastet nach ihrem Gesicht. Er spürt ihren Atem. Er zeichnet ein Pentagramm auf ihre Stirn, mit der Spitze nach oben natürlich, damit es heilt, und dann holt er tief Luft und spricht in einem einzigen Atemzug: Das solt ihr nit tun, ihr solet alle Beume bladen und alle Wasser waden und all Berge stigen und alle Gottesengel mieden, und alle Glocken werden klingen und alle Messe singen und alle Evengelien gelesen sollen ihr die Gesundheit widder nesen. Er weiß nur ungefähr, was das bedeutet, aber der Spruch ist uralt, und er kennt keinen stärkeren, um die Alben der Nacht zu verscheuchen.
Nun wäre Quecksilber gut, aber er hat keines mehr, also macht er stattdessen das Zeichen des Quecksilbers über ihrem Unterleib - das Kreuz mit der Acht, das für Hermes steht, den großen Mercurius; das Zeichen allein wirkt nicht so gut wie echtes Quecksilber, aber es ist besser als nichts. Dann schreit er Heiner an: «Los, auf den Dachboden, hol das Knabenkraut!» Heiner nickt, wankt in die Mühle und klettert keuchend die Leiter empor. Erst als er oben in der nach Holz und altem Papier riechenden Kammer steht und verwirrt das Wollgeflecht im Fenster anstarrt, fällt ihm auf, dass er keine Ahnung hat, was Knabenkraut ist. Also legt er sich auf den Boden, bettet den Kopf auf das mit Heu gestopfte Kissen, in dem der Müller einen Abdruck hinterlassen hat, und schlummert ein.
Der Tag bricht an. Nachdem Claus seine Frau in die Mühle getragen hat, steigt der Tau aus der Wiese, die Sonne geht auf, der Morgendunst weicht dem Mittagslicht. Die Sonne erreicht den Zenit und beginnt ihren Weg hinab. Neben der Mühle gibt es nun einen Haufen frisch aufgeworfener Erde: Da liegt das namenlose Kind, das nicht getauft wurde und deshalb nicht auf den Friedhof darf.
Und Agneta stirbt nicht. Das überrascht alle. Vielleicht liegt es an ihrer Kraft, vielleicht an Claus' Sprüchen, vielleicht am Knabenkraut, obgleich das nicht sehr stark ist, Zaunrübe oder Eisenhut wären besser gewesen, aber leider hat er seine letzten Vorräte vor kurzem für Maria Stelling hergegeben, deren Kind tot geboren worden ist; man munkelt, sie habe nachgeholfen, weil sie nicht von ihrem Mann, sondern von Anselm Melker schwanger gewesen sei, aber das interessiert Claus nicht. Agneta also ist nicht gestorben, und erst als sie sich aufsetzt und sich müde umsieht und zunächst leise, dann lauter und schließlich schreiend einen Namen ruft, wird allen klar, dass sie über der Aufregung den Jungen vergessen haben und den Wagen mit dem Esel. Und das teure Mehl.
Aber die Sonne geht bald unter. Es ist zu spät, um sich noch auf den Weg zu machen. Und so beginnt eine weitere Nacht.
Früh am Morgen bricht Claus mit den Knechten Sepp und Heiner auf. Sie gehen schweigend. Claus ist in Gedanken versunken, Heiner sagt sowieso nie etwas, und Sepp pfeift leise vor sich hin. Da sie Männer sind und zu dritt, müssen sie keinen Umweg nehmen, sondern können geradewegs die
Lichtung mit der alten Weide überqueren. Schwarz und riesig steht der böse Baum da, und seine Äste vollführen Bewegungen, wie Äste sie sonst nicht machen. Die Männer bemühen sich, nicht hinzusehen. Als sie wieder im Wald sind, atmen sie auf.
Immer wieder kehren Claus' Gedanken zu dem gestorbenen Kind zurück. Obwohl es ein Mädchen war, tut der Verlust weh. Es ist doch ein guter Brauch, sagt er sich, die eigenen Kinder nicht zu früh zu lieben. So oft hat Agneta schon geboren, aber nur eines hat überlebt, und auch das ist dünn und schwächlich, und man weiß nicht, ob es die zwei Nächte im Wald überstanden hat.
Die Liebe zu den Kindern - besser, man kämpft gegen sie an. Man kommt ja auch nicht einem Hund zu nahe; sogar wenn er freundlich aussieht, kann er zuschnappen. Stets muss man einen Abstand lassen zwischen sich und seinem Kind, sie sterben einfach zu schnell. Aber mit jedem Jahr, das vergeht, gewöhnt man sich mehr an so ein Wesen. Man fasst Zutrauen, man erlaubt sich, es gernzuhaben. Und plötzlich ist es weg.
Kurz vor Mittag entdecken sie Fußspuren des kleinen Volks. Aus Vorsicht bleiben sie stehen, aber nach einer genauen Untersuchung erkennt Claus, dass sie nach Süden führen, weg von hier. Außerdem sind die kleinen Leute im Frühjahr noch nicht sehr gefährlich, erst im Herbst werden sie rastlos und gemein.
Sie finden die Stelle am späten Nachmittag. Fast wären sie vorbeigegangen, weil sie ein wenig vom Pfad abgekommen
sind, das Unterholz ist dicht, man weiß kaum, wohin man geht. Aber dann hat Sepp den süßlich scharfen Geruch bemerkt. Sie schieben Zweige zur Seite, brechen Äste, halten sich die Hände vor die Nasen. Bei jedem Schritt wird der Geruch stärker. Und da ist der Wagen, umschwärmt von einer Fliegenwolke. Die Säcke sind aufgerissen, der Boden ist weiß von Mehl. Hinter dem Wagen liegt etwas. Es sieht aus wie ein Haufen alter Felle. Sie brauchen einen Moment, um zu erkennen, dass es die Überreste des Esels sind. Nur der Kopf fehlt.
«Wahrscheinlich war's ein Wolf», sagt Sepp und rudert mit den Armen, um die Fliegen abzuwehren.
«Das würde anders aussehen», sagt Claus.
«Die Kalte?»
«Die interessiert sich nicht für Esel.» Claus bückt sich und tastet. Ein glatter Schnitt, nirgends Bissspuren. Kein Zweifel, das ist ein Messer gewesen.
Sie rufen nach dem Jungen. Sie horchen, sie rufen wieder. Sepp blickt nach oben und verstummt. Claus und Heiner rufen weiter. Sepp steht wie erstarrt.
Nun blickt auch Claus nach oben. Das Entsetzen greift nach ihm und hält ihn und greift noch fester zu, sodass er meint, er müsse ersticken. Etwas schwebt über ihnen, weiß vom Kopf bis zu den Füßen, und stiert herab, und obgleich es schon dunkel wird, sieht man die großen Augen, die gefletschten Zähne, das verzerrte Gesicht. Und jetzt, da sie emporstarren, hören sie ein hohes Geräusch. Es klingt wie ein Schluchzen, aber das ist es nicht. Was auch immer da über ihnen ist, es lacht.
«Komm runter», ruft Claus.
Der Junge, denn er ist es wirklich, kichert und rührt sich nicht. Ganz nackt ist er, ganz weiß. Er muss sich im Mehl gewälzt haben.
«Herrgott», sagt Sepp. «Großer gütiger Herrgott!»
Und während Claus hinaufblickt, sieht er noch etwas, was er eben noch nicht gesehen hat, weil es zu sonderbar ist. Was der Junge da oben auf dem Kopf trägt, während er kichernd und nackt auf einem Seil steht, ohne herabzufallen, ist kein Hut.
«Heilige Jungfrau», sagt Sepp. «Hilf und verlass uns nicht.»
Auch Heiner bekreuzigt sich.
Claus zieht sein Messer und ritzt mit zitternder Hand ein Pentagramm in einen Stamm: Spitze nach rechts, die Form fest geschlossen. Rechts davon ritzt er ein Alpha, links ein Omega ein, dann hält er den Atem an, zählt langsam bis sieben und murmelt eine Bannformel - Geister der oberen Welt, Geister der unteren, alle Heiligen, gütige Jungfrau, steht uns bei im Namen des dreifaltigen Gottes. «Hol ihn runter», sagt er dann zu Sepp. «Schneid das Seil durch!»
«Warum ich?»
«Weil ich es sage.»
Sepp starrt und bewegt sich nicht. Fliegen landen auf seinem Gesicht, aber er scheucht sie nicht weg.
«Dann du», sagt Claus zu Heiner.
Heiner öffnet und schließt den Mund. Würde ihm das Sprechen nicht so schwerfallen, spräche er jetzt davon, dass er gerade erst eine Frau durch den Wald geschleppt und gerettet
hat; ganz auf sich gestellt, hat er den Weg gefunden. Er spräche davon, dass alles seine Grenzen hat, auch die Duldsamkeit des Sanftesten. Aber da das Reden nicht seine Sache ist, verschränkt er die Arme und blickt verstockt auf den Boden.
«Dann du», sagt Claus zu Sepp. «Einer muss es machen. Und ich habe Rheuma. Du kletterst jetzt, oder du bereust es, solang du lebst.» Er versucht, sich an den Spruch zu erinnern, mit dem man Widerstrebende zum Gehorsam zwingt, aber die Worte fallen ihm nicht ein.
Sepp stößt furchtbare Flüche aus und beginnt zu klettern. Er stöhnt, die Äste geben keinen guten Halt, und er muss sich mit aller Kraft bemühen, nicht zu der weißen Erscheinung hinaufzusehen.
«Was soll das?», ruft Claus empor. «Was ist in dich gefahren?»
«Der große, große Teufel», sagt der Junge fröhlich.
Sepp steigt wieder herab. Diese Antwort zu hören ist über seine Kräfte gegangen. Außerdem ist ihm wieder eingefallen, dass er den Jungen ja in den Bach geworfen hat, und falls der es noch weiß und auf ihn wütend ist, dann ist jetzt nicht mehr der Moment, ihm zu begegnen. Er erreicht den Boden und schüttelt den Kopf.
«Dann du!», sagt Claus zu Heiner.
Aber der dreht sich wortlos um, geht davon und verschwindet im Dickicht. Eine Weile hört man ihn noch. Dann nicht mehr.
«Geh wieder hinauf», sagt Claus zu Sepp.
«Nein!»
«Mutus dedit», murmelt Claus, der sich nun doch an die Worte der Formel erinnert, «<mutus dedit nomen -»
«Hilft nichts», sagt Sepp. «Ich mach es nicht.»
Es kracht im Unterholz, Äste brechen, Heiner ist wieder da. Ihm ist klargeworden, dass es gleich Nacht sein wird. Er kann nicht allein im dunklen Wald sein, das hält er nicht noch einmal aus. Wütend wehrt er Fliegen ab, lehnt sich an einen Stamm und brummt vor sich hin.
Als Claus und Sepp sich von ihm abwenden, merken sie, dass der Junge neben ihnen steht. Erschrocken springen sie zurück. Wie ist er so schnell heruntergekommen? Der Junge nimmt das ab, was er auf dem Kopf getragen hat: ein Stück fellbedeckte Kopfhaut mit zwei langen Eselsohren. Seine Haare sind verkrustet von Blut.
«Um Gottes willen», sagt Claus. «Um Marias und Gottes und des Sohnes willen.»
«Die Zeit war lang», sagt der Junge. «Niemand ist gekommen. Es war nur ein Spaß. Und die Stimmen! Ein großer Spaß.»
«Was für Stimmen?»
Claus sieht sich um. Wo ist der Rest des Eselskopfes? Die Augen, der Kiefer mit den Zähnen, der ganze riesige Schädelknochen, wo ist das alles?
Der Junge kniet sich langsam hin. Dann kippt er lachend zur Seite und rührt sich nicht mehr.
Sie heben ihn auf, wickeln ihn in eine Decke und machen sich davon - weg von dem Wagen, dem Mehl, dem Blut. Eine Weile stolpern sie durch die Dunkelheit, bis sie sich sicher genug fühlen, das Kind abzulegen. Sie zünden kein Feuer an, und sie sprechen nicht miteinander, um nichts herbeizulocken. Der Junge kichert im Schlaf, seine Haut fühlt sich heiß an. Äste krachen, der Wind flüstert, mit geschlossenen Augen murmelt Claus Gebete und Bannsprüche, was ein wenig hilft, denn nach und nach wird ihnen besser. Während er betet, versucht er zu überschlagen, wie viel ihn das kosten wird: Der Wagen ist zerstört, der Esel tot, vor allem wird er das Mehl ersetzen müssen. Wovon soll er das bezahlen?
In den frühen Morgenstunden lässt das Fieber des Jungen nach. Als er aufwacht, fragt er verwirrt, wovon seine Haare so verklebt sind und warum sein Körper weiß ist. Dann zuckt er mit den Schultern und findet es nicht weiter wichtig, und als sie ihm sagen, dass Agneta am Leben ist, freut er sich und lacht. Sie finden einen Bach, er wäscht sich; das Wasser ist so kalt, dass er am ganzen Körper zittert. Claus wickelt ihn wieder in die Decke, und sie brechen auf. Auf dem Heimweg erzählt der Junge das Märchen, das er von Agneta gehört hat. Eine Hexe kommt darin vor und ein Ritter und ein goldener Apfel, und am Ende geht alles gut aus, die Prinzessin heiratet den Helden, die böse Alte ist mausetot.
Zurück in der Mühle, auf seinem Strohsack neben dem Herd, schlummert der Junge in der Nacht so tief, als könnte nichts ihn je wieder wecken. Er ist der Einzige, der schlafen kann, denn das gestorbene Kind kehrt wieder: nur ein Flackern in der Dunkelheit, dazu ein leises Wimmern, mehr ein Luftzug als eine Stimme. Eine Zeitlang ist es hinten im Verschlag, wo Claus und Agneta liegen, aber als es nicht ans Bett der Eltern kann, weil die Pentagramme auf den Pfosten es abhalten, taucht es in der Stube auf, wo der Junge und die Knechte sich um den warmen Herd gebettet haben. Es ist blind und taub und versteht nichts und stößt den Milcheimer um, wirbelt die frisch gewaschenen Tücher vom Küchenbrett und verwickelt sich im Vorhang am Fenster, bevor es verschwindet - in den Limbus, wo die Ungetauften zehnmal hunderttausend Jahre in der Eiseskälte frieren, bevor der Herr ihnen vergibt.
Ein paar Tage später schickt Claus den Jungen zu Ludwig Stelling, dem Schmied, ins Dorf. Claus braucht einen neuen Hammer, der aber nicht teuer sein darf, denn seit er die Ladung Mehl verloren hat, ist er bei Martin Reutter hoch verschuldet.
Auf dem Weg hebt der Junge drei Steine auf. Er wirft den ersten in die Höhe, dann den zweiten, dann fängt er den ersten und wirft ihn wieder hoch, dann wirft er den dritten, fängt den zweiten und wirft ihn wieder, dann fängt er den dritten und wirft ihn, dann wieder den ersten - nun sind alle drei in der Luft. Seine Hände machen kreisende Bewegungen, und alles geht wie von selbst. Der Kniff ist, nicht zu denken und keinen der Steine scharf anzusehen. Man muss genau aufpassen und zugleich so tun, als wären sie nicht da.
So geht er, umwirbelt von den Steinen, an Hanna Krells Haus vorbei und über das Steger'sche Feld. Vor der Schmiede lässt er die Steine in den feuchten Schlamm fallen und tritt ein.
Er legt zwei Münzen auf den Amboss. Zwei hat er noch in der Tasche, aber das muss der Schmied nicht wissen.
«Viel zu wenig», sagt der Schmied.
Der Junge zuckt die Achseln, nimmt die beiden Münzen und wendet sich zur Tür.
«Warte», sagt der Schmied.
Der Junge bleibt stehen.
«Du musst schon mehr geben.»
Der Junge schüttelt den Kopf.
«So geht das nicht», sagt der Schmied. «Wenn du was kaufen willst, musst du handeln.»
Der Junge geht zur Tür.
«Warte!»
Der Schmied ist riesenhaft, sein nackter Bauch ist behaart, um den Kopf hat er ein Tuch gebunden, sein Gesicht ist rot und voller Poren. Jeder im Dorf weiß, dass er nachts mit der Ilse Melkerin ins Gesträuch geht, nur Ilses Mann weiß es nicht, oder vielleicht weiß er es doch und tut nur so, als wüsste er es nicht, denn was kann man schon ausrichten gegen einen Schmied. Wenn der Priester sonntags über die Sittenlosigkeit predigt, sieht er immer den Schmied an und manchmal auch Ilse. Aber das hält die beiden nicht ab.
«Das ist zu wenig», sagt der Schmied.
Aber der Junge weiß, dass er gewonnen hat, er wischt sich
über die Stirn. Vom Feuer strahlt grelle Hitze, Schatten tanzen an der Wand. Er legt seine Hand aufs Herz und schwört: «Mehr hab ich nicht mitbekommen, beim Heil meiner Seele!»
Mit wütendem Gesicht gibt der Schmied ihm den Hammer. Der Junge bedankt sich artig und geht langsam, damit die Münzen in seiner Tasche nicht klimpern, zur Tür.
Er geht an Jakob Brantners Stall und dem Melkerhaus und dem Tammhaus vorbei bis zum Dorfplatz. Ob Nele wohl da ist? Und wirklich, da sitzt sie, im Nieselregen, auf dem Mäuerchen des Brunnens.
«Du schon wieder», sagt er.
«Dann geh doch weg», sagt sie.
«Geh selber weg.»
«Ich war vorher da.»
Er setzt sich neben sie. Beide grinsen.
«Der Händler war hier», sagt sie. «Er hat gesagt, der Kaiser lässt jetzt alle hohen Herren Böhmens köpfen.»
«Auch den König?»
«Den Winterkönig. Auch den. So nennen sie ihn, weil er nur einen Winter König war, nachdem ihm die Böhmen ihre Krone gegeben haben. Er konnte fliehen und wird zurückkommen, an der Spitze eines großen Heeres, der englische König ist nämlich der Vater seiner Frau. Er wird Prag zurückerobern, und den Kaiser wird er absetzen und selbst Kaiser sein.»
Hanna Krell kommt mit einem Eimer und macht sich am Brunnenrand zu schaffen. Das Wasser ist schmutzig, trinken kann man es nicht, aber man braucht es zum Waschen und für das Vieh. Als sie klein waren, haben sie Milch getrunken, aber seit ein paar Jahren sind sie alt genug für Dünnbier. Alle im Dorf essen Grütze und trinken Dünnbier. Sogar die reichen Stegers. Für Winterkönige und Kaiser gibt es Rosenwasser und Wein, aber einfache Menschen trinken Milch und Dünnbier, von ihrem ersten Tag an bis zum letzten.
«Prag», sagt der Junge.
«Ja», sagt Nele. «Prag!»
Beide denken an Prag. Gerade weil es nur ein Wort ist, weil sie nichts darüber wissen, klingt es so verheißungsvoll wie aus einem Märchen.
«Wie weit ist Prag?», fragt der Junge.
«Sehr weit.»
Er nickt, als wäre das eine Antwort gewesen. «Und England?»
«Auch sehr weit.»
«Da reist man wohl ein Jahr.»
«Länger.»
«Wollen wir hin?»
Nele lacht.
«Warum nicht?», fragt er.
Sie antwortet nicht, und er weiß, dass sie jetzt aufpassen müssen. Ein falsches Wort kann Folgen haben. Peter Stegers jüngster Sohn hat Else Brantnerin voriges Jahr eine Holzpfeife geschenkt, und weil sie die angenommen hat, sind die beiden jetzt verlobt, obwohl sie einander gar nicht mögen. Die Angelegenheit ist bis zum Landvogt in der Amtstadt gegangen,
der es wiederum ans Offizial weitergeleitet hat, wo entschieden wurde, dass da nichts zu machen ist: Ein Geschenk ist ein Versprechen, und ein Versprechen gilt vor Gott. Jemanden zu einer Reise einzuladen ist noch kein Geschenk, aber es ist fast ein Versprechen. Der Junge weiß es, und er weiß, dass Nele es auch weiß, und sie beide wissen, dass sie das Thema wechseln müssen.
«Wie geht es deinem Vater?», fragt der Junge. «Das Rheuma besser?»
Sie nickt. «Ich weiß nicht, was dein Vater gemacht hat. Aber es hat geholfen.»
«Sprüche und Kräuter.»
«Wirst du das lernen? Leute heilen, wirst du das auch mal können?»
«Ich will lieber nach England.»
Nele lacht.
Er steht auf. Er hat die unbestimmte Hoffnung, dass sie ihn zurückhalten wird, aber sie rührt sich nicht.
«Beim nächsten Sonnwendfest», sagt er. «Ich werde übers Feuer springen wie die anderen.»
«Ich auch.»
«Du bist ein Mädchen!»
«Und das Mädchen haut dich gleich.»
Er geht los, ohne sich noch einmal umzudrehen. Er weiß, dass das wichtig ist, denn wenn er sich umdreht, hat sie gewonnen.
Der Hammer ist schwer. Vor dem Heinerlinghaus endet der
Holzsteg, der Junge verlässt den Weg und schlägt sich durchs hohe Gras. Das ist nicht ganz ungefährlich, der kleinen Leute wegen. Er denkt an Sepp. Seit der Nacht im Wald hat der Knecht Angst vor ihm und hält sich in sicherer Entfernung, das ist nützlich. Wenn er bloß wüsste, was im Wald passiert ist. Er weiß, dass er nicht daran denken möchte. Erinnerung ist etwas Eigenartiges: Sie kommt und geht nicht einfach, wie sie will, sondern man kann sie hell machen und wieder löschen wie einen Kienspan. Der Junge denkt an seine Mutter, die gerade erst wieder hat aufstehen dürfen, und für einen Moment denkt er auch an das tote Kleine, seine Schwester, deren Seele jetzt in der Kälte ist, weil man sie nicht getauft hat.
Er bleibt stehen und blickt empor. Über den Kronen müsste man das Seil spannen, von einem Kirchturm zum nächsten, von Dorf zu Dorf. Er breitet die Arme aus und stellt es sich vor. Dann setzt er sich auf einen Stein und sieht zu, wie die Wolken sich teilen. Warm ist es geworden, und die Luft füllt sich mit Dampf. Er schwitzt, legt den Hammer neben sich. Plötzlich fühlt er sich schläfrig, und er hat Hunger, aber es sind noch viele Stunden bis zur Grütze. Und wenn man fliegen könnte? Mit den Armen schlagen, sich vom Seil lösen, höher steigen, höher? Er bricht einen Halm ab und schiebt ihn sich zwischen die Lippen. Der Halm schmeckt süßlich, feucht und ein wenig scharf. Er legt sich ins Gras und schließt die Augen, sodass das Sonnenlicht warm auf seinen Lidern liegt. Die Nässe des Grases dringt klamm durch seine Kleidung.
Ein Schatten fällt auf ihn. Der Junge öffnet die Augen.
«Habe ich dich erschreckt?»
Der Junge setzt sich auf, schüttelt den Kopf. Fremde sind hier selten. Manchmal kommt der Vogt aus der Kreishauptstadt, und hin und wieder kommen Händler. Aber diesen Fremden kennt er nicht. Er ist jung, kaum schon ein Mann. Er hat ein kleines Bärtchen, und er trägt ein Wams, eine Hose aus gutem grauem Stoff und hohe Stiefel. Sein Blick ist hell und neugierig.
«Hast dir vorgestellt, wie das wäre, wenn du fliegen könntest?»
Der Junge starrt den Fremden an.
«Nein», sagt der Fremde, «das war keine Zauberei. Man kann Gedanken nicht lesen. Keiner kann das. Aber wenn ein Kind die Arme ausbreitet und sich auf die Zehenspitzen stellt und nach oben schaut, denkt es ans Fliegen. Das macht es, weil es noch nicht ganz glauben kann, dass es nie fliegen wird. Dass Gott uns das Fliegen nicht erlaubt. Den Vögeln schon, aber uns nicht.»
«Irgendwann können wir alle fliegen», sagt der Junge. «Wenn wir tot sind.»
«Wenn man tot ist, ist man erst einmal tot. Dann liegt man im Grab, bis der Herr wiederkehrt, uns zu richten.»
«Wann kehrt er wieder?»
«Hat der Priester dir das nicht beigebracht?»
Der Junge zuckt die Achseln. Natürlich spricht der Priester in der Kirche oft über diese Dinge, das Grab, das Gericht, die Toten, aber er hat eine monotone Stimme, und dass er betrunken ist, kommt auch nicht selten vor.
«Am Ende der Zeit», sagt der Fremde. «Nur können die Toten keine Zeit empfinden, sie sind ja tot, also kann man auch sagen: Sofort. Sobald du tot bist, bricht der Tag des Gerichts an.»
«Das hat mein Vater auch gesagt.»
«Dein Vater ist ein Gelehrter?»
«Mein Vater ist Müller.»
«Hat er Meinungen? Liest er?»
«Er weiß viel», sagt der Junge. «Er hilft den Menschen.»
«Hilft ihnen?»
«Wenn sie krank sind.»
«Vielleicht kann er mir auch helfen.»
«Seid Ihr krank?»
Der Fremde setzt sich neben ihn auf den Boden. «Was meinst du, bleibt es sonnig, oder kommt der Regen wieder?»
«Woher soll ich das wissen.»
«Du bist doch von hier!»
«Der Regen kommt wieder», sagt der Junge, weil es ja meistens regnet, das Wetter ist fast immer schlecht. Deshalb ist die Kornernte so übel, deshalb bekommt die Mühle nicht genug Getreide, deshalb haben alle Hunger. Angeblich war es früher besser. Die älteren Leute erinnern sich an lange Sommer, aber vielleicht bilden sie es sich auch ein, wer kann es wissen, sie sind alt.
«Mein Vater meint», sagt der Junge, «dass auf den Regenwolken die Engel reiten und auf uns heruntersehen.»
«Wolken sind aus Wasser», sagt der Fremde. «Niemand sitzt
auf ihnen. Die Engel haben Körper aus Licht und brauchen kein Gefährt. Wie auch die Dämonen. Die sind aus Luft. Deshalb nennt man den Teufel den Herrn der Lüfte.» Er hält inne, als wollte er seinen eigenen Sätzen nachhorchen, und betrachtet mit beinahe neugierigem Ausdruck seine Fingerspitzen. «Und doch», sagt er dann, «sind sie nichts als Partikel von Gottes Willen.»
«Auch die Teufel?»
«Natürlich.»
«Die Teufel sind Gottes Wille?»
«Gottes Wille ist größer als alles, was sich vorstellen lässt. Er ist so groß, dass er sich selbst zu verneinen vermag. Ein altes Rätsel lautet: Kann Gott einen Stein so schwer machen, dass er ihn danach nicht mehr heben kann? Das klingt nach einem Paradox. Weißt du, was das ist, ein Paradox?»
«Ja.»
«Wirklich?»
Der Junge nickt.
«Was denn?»
«Ihr seid ein Paradox, und Euer Galgenstrick von einem Kupplervater ist auch eines.»
Der Fremde schweigt einen Moment, dann ziehen sich seine Mundwinkel zu einem dünnen Lächeln empor. «Es ist eigentlich kein Paradox, denn die richtige Antwort lautet: Natürlich kann er das. Aber danach kann er den Stein, den er nicht mehr heben kann, ohne Mühe heben. Gott ist zu umfassend, um mit sich eins zu sein. Deshalb gibt es den Herrn
der Luft und seine Konsorten. Deshalb gibt es alles, was nicht Gott ist. Deshalb gibt es die Welt.»
Der Junge hebt eine Hand vors Gesicht. Die Sonne steht nun frei von Wolken, eine Amsel flattert vorbei. Ja doch, denkt er, so müsste man fliegen, das wäre noch besser, als auf dem Seil zu gehen. Aber wenn man nun mal nicht fliegen kann, dann ist auf dem Seil zu gehen das Zweitbeste.
«Deinen Vater würde ich gern kennenlernen.»
Der Junge nickt gleichgültig.
«Beeil dich lieber», sagt der Fremde. «In einer Stunde regnet es.»
Der Junge zeigt fragend auf die Sonne.
«Siehst du die kleinen Wolken dort hinten?», fragt der Fremde. «Und die langgezogenen über uns? Die dort hinten ballt der Wind zusammen, der kommt aus Osten und bringt kalte Luft, und die über uns fangen sie auf, und dann kühlt alles noch weiter ab, und das Wasser wird schwer und fällt zur Erde. Es sitzen keine Engel auf den Wolken, aber es lohnt sich trotzdem, sie anzusehen, denn sie bringen Wasser und Schönheit. Wie heißt du?»
Der Junge sagt es ihm.
«Vergiss deinen Hammer nicht, Tyll.» Der Fremde wendet sich ab und geht davon.
Claus ist düster zumute an diesem Abend. Dass er das Körnerproblem nicht lösen kann, liegt ihm bei Tisch auf der Seele.
Es ist vertrackt. Wenn man einen Kornhaufen vor sich hat und ein Korn davon wegnimmt, so hat man noch immer einen Haufen vor sich. Nun nimm noch eines. Ist das noch ein Haufen? Natürlich. Nun nimm noch eines weg. Ist das noch ein Haufen? Ja, natürlich. Nun nimm noch eines weg. Ist es noch ein Haufen? Natürlich. Und immer so weiter. Es ist ganz simpel: Nie wird ein Kornhaufen allein dadurch, dass man ein einziges Korn wegnimmt, zu etwas, das kein Kornhaufen ist. Niemals auch wird etwas, das kein Kornhaufen ist, dadurch, dass man ein Korn dazulegt, zu einem Haufen.
Und doch: Nimmt man Korn um Korn fort, ist der Haufen irgendwann kein Haufen mehr. Irgendwann liegen bloß noch ein paar Körnchen auf dem Boden, die man beim allerbesten Willen nicht Haufen nennen kann. Und wenn man noch weitermacht, kommt einmal der Moment, da man das letzte nimmt und auf dem Boden nichts mehr liegt. Ist ein Korn ein Haufen? Sicher nicht. Und gar nichts? Nein, gar nichts ist kein Haufen. Denn gar nichts ist gar nichts.
Aber welches Korn ist das Korn, durch dessen Fortnahme der Haufen aufhört, ein Haufen zu sein? Wann geschieht es eigentlich? Hunderte Male hat Claus es durchgespielt, Hunderte Kornhaufen hat er in seiner Phantasie aufgeschüttet, um dann im Geist einzelne Körner fortzunehmen. Aber er hat den entscheidenden Moment nicht gefunden. Es hat sogar den Mond verdrängt aus seiner Aufmerksamkeit, und auch ans gestorbene Kind hat er nicht mehr oft gedacht.
Heute Nachmittag hat er es dann in Wirklichkeit probiert.
Am schwierigsten ist es gewesen, so viel ungemahlenes Korn hinauf in die Dachkammer zu bekommen, ohne dass dabei etwas verlorengeht, denn übermorgen kommt ja Peter Steger und holt das Mehl ab: Schreiend und mit Drohungen hat Claus die Knechte zur Vorsicht anhalten müssen, noch mehr Schulden kann er sich nicht leisten. Agneta hat ihn ein pelziges Hornvieh genannt, worauf er ihr gesagt hat, sie soll sich nicht in Dinge mischen, die für Frauen zu schwierig sind, woraufhin sie ihm eine gelangt hat, woraufhin er ihr gesagt hat, dass sie sich in Acht nehmen soll, worauf sie ihm eine solche Ohrfeige gegeben hat, dass er sich für eine Weile hat hinsetzen müssen. So kommt es oft zwischen ihnen. Am Anfang hat er Agneta manchmal zurückgeschlagen, aber das ist ihm nie gut bekommen, er ist zwar stärker, doch sie ist meist wütender, und in jedem Zwist gewinnt der, der wütender ist, und so hat er es sich schon lange wieder abgewöhnt, sie zu schlagen, denn so schnell, wie ihre Wut kommt, so schnell verfliegt sie zum Glück auch.
Dann hat er in seiner Dachkammer zu arbeiten begonnen. Zu Anfang besonnen und gewissenhaft, bei jedem Korn den Haufen prüfend, aber nach und nach schwitzend und mürrisch und am späten Nachmittag schon in blanker Verzweiflung. Irgendwann hat auf der rechten Seite des Raumes ein neuer Haufen gelegen und auf der linken etwas, das man vielleicht noch einen Haufen hätte nennen können, vielleicht aber auch nicht. Und eine Weile später ist links nur noch eine Handvoll Körner gewesen.
Und wo war nun eigentlich die Grenze? Es ist zum Weinen. Er löffelt seine Grütze, seufzt und hört dem prasselnden Regen zu. Die Grütze schmeckt schlecht wie immer, aber für eine Weile besänftigt ihn das Regengeräusch. Dann fällt ihm ein, dass es sich mit Regen ja ähnlich verhält: Wie viele Tropfen weniger müssten fallen, damit es kein Regen mehr ist? Er stöhnt. Manchmal scheint es ihm, als wäre es Gottes Ziel gewesen, bei der Einrichtung der Welt den Verstand eines armen Müllers zu narren.
Agneta legt ihm die Hand auf den Arm und fragt, ob er mehr Grütze möchte.
Er möchte nicht, aber er versteht, dass er ihr leidtut und dass es ein Friedensangebot ist wegen der Ohrfeigen. «Ja», sagt er leise. «Danke.»
Da pocht es an der Tür.
Claus kreuzt die Finger zur Abwehr. Er murmelt einen Spruch, macht Zeichen in der Luft, dann erst ruft er: «Wer da, im Namen Gottes?» Alle wissen, dass man nie herein sagen darf, bevor der draußen seinen Namen ausgesprochen hat. Die bösen Geister sind mächtig, aber die allermeisten können nur über die Schwelle, wenn man sie einlädt.
«Zwei Wanderer», ruft eine Stimme. «In Christi Namen, macht auf.»
Claus erhebt sich, geht zur Tür und schiebt den Riegel zur Seite.
Ein Mann tritt ein. Er ist nicht mehr jung, aber er sieht kräftig aus. Seine Haare und sein Bart sind triefend nass,
Regenwasser perlt auf dem dicken grauen Leinenstoff seines Mantels. Ihm folgt ein zweiter, viel jüngerer Mann. Der blickt sich um, und als er den Jungen sieht, geht ein Lächeln über sein Gesicht. Es ist der Fremde von heute Mittag.
«Ich bin Doktor Oswald Tesimond von der Gesellschaft Jesu», sagt der Ältere. «Das ist Doktor Kircher. Man hat uns eingeladen.»
«Eingeladen?», fragt Agneta.
«Gesellschaft Jesu?», fragt Claus.
«Wir sind Jesuiten.»
«Jesuiten», wiederholt Claus. «Wirkliche, wahrhaftige Jesuiten?»
Agneta bringt zwei Hocker an den Tisch, die anderen rücken zusammen.
Claus macht eine ungeschickte Verbeugung. Er sei Claus Ulenspiegel, sagt er, und das sei seine Frau und das sein Sohn und das sein Gesinde. Sie bekämen selten Besuch hoher Herren. Es sei eine Ehre. Viel gebe es nicht, aber was man habe, stehe zur Verfügung. Hier die Grütze, da das Dünnbier und im Krug noch etwas Milch. Er räuspert sich. «Darf ich fragen, ob Ihr Gelehrte seid?»
«Das will ich meinen», antwortet Doktor Tesimond und nimmt mit spitzen Fingern einen Löffel. «Ich bin Doktor der Medizin und der Theologie, außerdem ein Chemikus mit dem Fachgebiet Drakontologie. Doktor Kircher beschäftigt sich mit den okkulten Zeichen, mit der Kristallkunde und dem Wesen der Musik.» Er isst etwas Grütze, verzieht das Gesicht und legt
den Löffel weg.
Für einen Moment ist es still. Dann beugt Claus sich vor und fragt, ob es ihm erlaubt sei, eine Frage zu stellen.
«Mit Gewissheit», sagt Doktor Tesimond. Etwas daran, wie er spricht, ist ungewöhnlich: Manche Wörter in seinen Sätzen stehen nicht dort, wo man sie erwarten würde, auch betont er sie anders; es klingt, als hätte er kleine Steine im Mund.
«Was ist Drakontologie?», fragt Claus. Sogar im schwachen Licht der Talgkerze kann man erkennen, dass seine Wangen rot angelaufen sind.
«Die Lehre vom Wesen der Drachen.»
Die Knechte heben die Köpfe. Die Magd lässt den Mund offen stehen.
Dem Jungen wird heiß. «Habt Ihr welche gesehen?», fragt er.
Doktor Tesimond runzelt die Stirn, als hätte ein unschönes Geräusch ihn gestört.
Doktor Kircher blickt zum Jungen und schüttelt den Kopf.
Er bitte um Entschuldigung, sagt Claus. Das sei ein einfaches Haus, sein Sohn könne sich nicht benehmen und vergesse manchmal, dass ein Kind ruhig zu sein habe, wenn Erwachsene sprächen. Aber die Frage sei doch auch ihm gekommen. «Habt Ihr welche gesehen?»
Er höre diese amüsante Frage nicht zum ersten Mal, sagt Doktor Tesimond. In der Tat begegne jeder Drakontologe ihr regelmäßig beim einfachen Volk. «Aber Drachen sind selten. Sie sind sehr ... Wie heißt es noch?»
«Scheu», sagt Doktor Kircher.
Deutsch sei nicht seine Muttersprache, sagt Doktor Tesimond, er müsse sich entschuldigen, manchmal falle er ins Idiom seiner über alles geliebten Heimat, die er im Leben nicht mehr sehen werde: England, die Insel der Äpfel und des Morgennebels. Ja, die Drachen seien unvorstellbar scheu und zu verblüffenden Kunststücken der Tarnung fähig. Man könne hundert Jahre suchen und doch nie in die Nähe eines Drachen kommen. Ebenso könne man hundert Jahre in unmittelbarer Nähe eines Drachen verbringen und ihn nie bemerken. Ebendeshalb brauche man die Drakontologie. Denn die medizinische Wissenschaft könne nicht verzichten auf die Heilkraft ihres Blutes.
Claus reibt sich die Stirn. «Woher habt Ihr denn das Blut?»
«Das Blut haben wir natürlich nicht. Medizin ist die Kunst ... Wie heißt es?»
«Der Substitution», sagt Doktor Kircher.
Jawohl, Drachenblut sei eine Substanz von solcher Mächtigkeit, dass man des Stoffes selbst nicht bedürfe. Es reiche, dass der Stoff in der Welt sei. In seiner geliebten Heimat gebe es noch zwei Drachen, aber aufgespürt habe sie seit Jahrhunderten kein Mensch.
«Regenwurm und Engerling», sagt Doktor Kircher, «sehen dem Drachen ähnlich. Zu feiner Substanz zerstoßen, kann ihr Körper Erstaunliches bewirken. Drachenblut vermag den Menschen unverwundbar zu machen, aber ersatzweise kann zerriebener Zinnober ob seiner Ähnlichkeit immerhin Hautkrankheiten kurieren. Zinnober ist ebenfalls schwer zu bekommen, doch Zinnober wiederum ersetzt man durch alle Kräuter mit drachenhaft geschuppter Oberfläche. Heilkunst ist Substitution nach dem Prinzip der Ähnlichkeit - Krokus kuriert Augenkrankheiten, weil er aussieht wie ein Auge.»
«Je mehr ein Drakontologe von seinem Geschäft versteht», sagt Doktor Tesimond, «desto besser kann er die Absenz des Drachen durch Substitution ausgleichen. Die höchste Weihe aber liegt darin, nicht den Körper des Drachen, sondern sein ... Wie ist das Wort?»
«Wissen», sagt Doktor Kircher.
«Sein Wissen zu nützen. Schon Plinius berichtet, dass Drachen ein Kraut kennen, mit dessen Hilfe sie tote Artgenossen wiederbeleben. Dieses Kraut zu finden wäre der heilige Gral unserer Wissenschaft.»
«Aber woher weiß man, dass es Drachen gibt?», fragt der Junge.
Doktor Tesimond runzelt die Stirn. Claus beugt sich vor und gibt seinem Sohn eine Ohrfeige.
«Wegen der Wirksamkeit der Substitute», sagt Doktor Kircher. «Woher soll denn ein mickriges Tier wie der Egerling Heilkraft haben, wenn nicht durch seine Ähnlichkeit mit dem Drachen! Warum kann der Zinnober heilen, wenn nicht deshalb, weil er dunkelrot ist wie Drachenblut!»
«Noch eine Frage», sagt Claus. «Wenn ich schon mit gelehrten Leuten rede . Wenn ich schon die Möglichkeit habe .»
«Bitte», sagt Doktor Tesimond.
«Ein Haufen Körner. Wenn man immer nur eines wegnimmt. Es treibt mich in den Wahnsinn.»
Die Knechte lachen.
«Ein bekanntes Problem», sagt Doktor Tesimond. Er macht eine auffordernde Bewegung in Richtung Doktor Kirchers.
«Wo ein Ding ist, kann kein anderes sein», sagt Doktor Kircher, «aber zwei Wörter schließen einander nicht aus. Zwischen einem Ding, das ein Kornhaufen ist, und einem Ding, das kein Kornhaufen ist, ist keine scharfe Grenze gezogen. Die Haufennatur verblasst nach und nach, vergleichbar einer Wolke, die sich auflöst.»
«Ja», sagt Claus wie zu sich selbst. «Ja. Nein, nein. Denn ... Nein! Aus einem Fingernagel Holz kann man keinen Tisch machen. Keinen, den man verwenden kann. Es ist zu wenig. Es geht nicht. Auch nicht aus zwei Fingernägeln Holz. Zu wenig Holz, um daraus einen Tisch zu machen, wird nie zu genügend Holz, nur weil man eine Winzigkeit hinzutut!»
Die Gäste schweigen. Alle hören dem Regen und dem Kratzen der Löffel und dem Wind zu, der am Fensterladen rüttelt.
«Eine gute Frage», sagt Doktor Tesimond und blickt Doktor Kircher auffordernd an.
«Dinge sind, was sie sind», sagt Doktor Kircher, «aber Vagheit ist tief eingeschlossen ins Innere unserer Begriffe. Es ist eben nicht immer klar, ob ein Ding ein Berg ist oder kein Berg, eine Blume oder keine Blume, ein Schuh oder kein Schuh oder eben ein Tisch oder kein Tisch. Deshalb spricht Gott,
wenn er Klarheit will, in Zahlen.»
«Es ist ungewöhnlich, dass ein Müller sich für solche Fragen interessiert», sagt Doktor Tesimond. «Oder für so etwas.» Er zeigt auf die über dem Türstock eingeschnitzten Pentagramme.
«Die halten die Dämonen ab», sagt Claus.
«Und die schnitzt man einfach so ein? Das reicht?»
«Man braucht die richtigen Worte.»
«Halt den Mund», sagt Agneta.
«Aber das ist doch schwierig mit den Worten», sagt Doktor Tesimond. «Mit den ...» Er sieht Doktor Kircher fragend an.
«Sprüchen», sagt Doktor Kircher.
«Genau», sagt Doktor Tesimond, «ist das nicht gefährlich? Man sagt, dass die gleichen Worte, die Dämonen bannen, diese unter gewissen Bedingungen auch anlocken.»
«Das sind andere Sprüche. Die kenne ich auch. Keine Sorge. Die kann ich unterscheiden.»
«Sei ruhig», sagt Agneta.
«Und für was interessiert so ein Müller sich denn noch? Was beschäftigt ihn, was will er wissen? Wie kann man dir noch . helfen?»
«Na, mit den Blättern», sagt Claus.
«Halt den Mund!», sagt Agneta.
«Vor ein paar Monaten habe ich bei der alten Eiche auf Jakob Brantners Feld zwei Blätter gefunden. Eigentlich ist es nicht das Feld vom Brantner, es hat immer den Losers gehört, aber der Schultheiß hat im Erbschaftsstreit entschieden, dass es ein Brantner-Feld ist. Egal, die Blätter jedenfalls haben ganz gleich
ausgesehen.»
«Es ist sehr wohl das Feld vom Brantner», sagt Sepp, der ein Jahr lang Knecht auf dem Brantner-Hof gewesen ist. «Die Losers sind Lügner, die der Teufel holen wird.»
«Wenn es hier einen Lügner gibt», sagt die Magd, «dann ist es der Jakob Brantner. Man muss nur sehen, wie der die Frauen anschaut in der Kirche.»
«Aber das Feld gehört ihm doch», sagt Sepp.
Claus schlägt auf den Tisch, alle verstummen.
«Die Blätter. Die haben gleich ausgesehen, jede Ader, jeder Riss. Ich habe sie getrocknet, ich kann sie zeigen. Ich habe sogar dem Händler eine Lupe abgekauft, als er durchs Dorf gekommen ist, um sie besser ansehen zu können. Der Händler kommt nicht oft, er heißt Hugo, er hat an der linken Hand nur zwei Finger, und wenn man ihn fragt, wie er die anderen verloren hat, sagt er: Herr Müller, es sind bloß Finger!» Claus denkt kurz nach, verblüfft darüber, wo der Fluss seiner Rede ihn hingetragen hat. «Als sie da also vor mir gelegen haben, die beiden Blätter, da habe ich mich auf einmal gefragt, ob das nicht bedeutet, dass sie eigentlich eines sind. Wenn der Unterschied nur darin besteht, dass das eine Blatt links und das andere rechts liegt - da braucht man ja bloß eine Handbewegung zu machen.» Er zeigt es mit so unbeholfener Geste, dass ein Löffel nach der einen und eine Schüssel nach der anderen Seite fliegt. «Man stelle sich vor, einer sagt nun, dass beide Blätter ein und dasselbe sind, was soll man ihm antworten? Er hätte doch recht!» Claus pocht auf den Tisch,
aber alle außer Agneta, die ihn unverwandt und beschwörend ansieht, folgen mit den Augen der rollenden Schüssel, die einen und noch einen Kreis beschreibt und dann liegen bleibt. «Diese zwei Blätter also», sagt Claus in die Stille. «Wenn sie nur zum Schein zwei Blätter und in Wahrheit eines sind, heißt das nicht, dass . all das Hier und Dort und Da nur ein Netz ist, das Gott geknüpft hat, damit wir nicht seine Geheimnisse durchschauen?»
«Du musst jetzt still sein», sagt Agneta.
«Und weil wir von Geheimnissen sprechen», sagt Claus. «Ich habe ein Buch, das ich nicht lesen kann.»
«Es gibt keine zwei gleichen Blätter in der Schöpfung», sagt Doktor Kircher. «Es gibt nicht einmal zwei gleiche Körner Sand. Keine zwei Dinge, zwischen denen Gott nicht Unterschiede erkennt.»
«Die Blätter sind oben, ich kann sie zeigen! Und das Buch kann ich auch zeigen! Und das mit dem Engerling stimmt nicht, ehrwürdiger Herr, zerstoßener Engerling kann nicht heilen, sondern macht Rückenschmerz und kalte Gelenke.» Claus gibt seinem Sohn ein Zeichen. «Hol das große Buch, das ohne Einband, das mit den Bildern!»
Der Junge steht auf und läuft zur Leiter, die nach oben führt. Er klettert blitzschnell, schon ist er durch die Luke verschwunden.
«Du hast einen guten Sohn», sagt Doktor Kircher.
Claus nickt zerstreut.
«Wie dem auch sei», sagt Doktor Tesimond. «Es ist spät, und
wir müssen vor Einbruch der Nacht im Dorf sein. Kommst du, Müller?»
Claus sieht ihn verständnislos an. Die beiden Gäste stehen auf.
«Du Trottel», sagt Agneta.
«Wohin?», fragt Claus. «Warum?»
«Kein Grund, sich Sorgen zu machen», sagt Doktor Tesimond. «Wir wollen nur sprechen, ausführlich und in Ruhe. Das hast du doch gewollt, Müller. In Ruhe. Über alles, was dich beschäftigt. Sehen wir wie böse Leute aus?»
«Aber ich kann nicht», sagt Claus. «Übermorgen kommt der Steger und will sein Korn. Es ist noch nicht gemahlen, ich habe es oben in der Kammer, die Zeit drängt.»
«Das sind gute Knechte», sagt Doktor Tesimond. «Auf die kann man sich verlassen, die Arbeit wird getan.»
«Wer seinen Freunden nicht folgen will», sagt Doktor Kircher, «muss damit rechnen, es einmal mit Leuten zu tun zu haben, die nicht seine Freunde sind. Man hat zusammen gespeist, hat zusammen in der Mühle gesessen. Man kann einander vertrauen.»
«Dieses lateinische Buch», sagt Doktor Tesimond. «Ich will es sehen. Wenn es Fragen gibt, können wir antworten.»
Alle warten auf den Jungen, der sich oben durch die dunkle Dachstube tastet. Es dauert eine Weile, bis er neben dem Kornhaufen das richtige Buch gefunden hat. Als er wieder hinunterklettert, stehen sein Vater und die Gäste schon in der Tür.
Er reicht Claus das Buch, der streicht ihm über den Kopf, dann bückt er sich und küsst ihn auf die Stirn. Im letzten Tageslicht sieht der Junge die kleinen, scharfen Fältchen seines Vaters. Er sieht das Flackern in seinen unruhigen Augen, die immer nur kurz auf ein Ding blicken können, er sieht die weißen Haare im schwarzen Bart.
Und während Claus auf seinen Sohn hinunterblickt, wundert es ihn, dass ihm so viele Kinder bei der Geburt gestorben sind, dass aber ausgerechnet dieses eine überlebt hat. Er hat sich zu wenig für den Jungen interessiert, er war einfach zu sehr daran gewöhnt, dass sie alle gleich wieder verschwinden. Aber das wird sich ändern, denkt Claus, ich werde ihm beibringen, was ich weiß, die Sprüche, die Quadrate, die Kräuter und den Lauf des Mondes. Fröhlich nimmt er das Buch und tritt in den Abend hinaus. Der Regen hat aufgehört.
Agneta hält ihn fest. Sie umarmen einander lange. Claus will loslassen, aber Agneta hält ihn noch. Die Knechte kichern.
«Du bist bald zurück», sagt Doktor Tesimond.
«Da hörst du es», sagt Claus.
«Du Trottel», sagt Agneta und weint.
Plötzlich ist Claus all das peinlich - die Mühle, die schluchzende Frau, der dürre Sohn, sein ganzes armes Dasein. Resolut schiebt er Agneta von sich. Es gefällt ihm, dass er nun gemeinsame Sache mit den gelehrten Männern machen darf, denen er sich näher fühlt als diesen Mühlenmenschen, die nichts wissen.
«Keine Angst», sagt er zu Doktor Tesimond. «Ich finde den
Weg auch im Dunkeln.»
Claus geht mit großen Schritten los, die beiden Männer folgen ihm. Agneta sieht ihnen nach, bis die Dämmerung sie verschluckt.
«Geh rein», sagt sie zu dem Jungen.
«Wann kommt er zurück?»
Sie schließt die Tür und legt den Riegel vor.
Doktor Kircher öffnet die Augen. Jemand ist im Zimmer. Er horcht. Nein, hier ist keiner außer Doktor Tesimond, dessen Schnarchen er von drüben aus dem Bett hört. Er schlägt die Decke zurück, bekreuzigt sich und steht auf. Es ist so weit. Gerichtstag.
Zu allem Überfluss hat er wieder von ägyptischen Zeichen geträumt. Eine lehmgelbe Mauer, darin Männchen mit Hundeköpfen, Löwen mit Flügeln, Äxte, Schwerter, Lanzen, Wellenlinien aller Art. Kein Mensch versteht sie, das Wissen um sie ist verlorengegangen, bis ein begnadeter Geist auftreten wird, sie wieder zu entschlüsseln.
Das wird er sein. Eines Tages.
Sein Rücken schmerzt wie jeden Morgen. Der Strohsack, auf dem er schlafen muss, ist dünn, der Boden eiskalt. Es gibt nur ein Bett im Pfarrhaus, und in dem schläft sein Mentor, selbst der Pfarrer muss nebenan auf dem Boden liegen. Immerhin ist sein Mentor diese Nacht nicht aufgewacht. Oft schreit er im Schlaf, und manchmal zieht er das unterm Kissen versteckte Messer hervor und denkt, es ginge ihm ans Leben. Wenn das geschieht, hat er wieder von der großen Verschwörung geträumt, damals in England, als es ihm und ein paar mutigen Leuten fast gelungen wäre, den König in die Luft zu sprengen. Der Versuch ist fehlgeschlagen, aber sie haben nicht aufgegeben: Tagelang haben sie nach der Prinzessin Elisabeth gesucht, um sie zu entführen und mit Gewalt auf den Thron zu setzen. Es hätte gelingen können, und wäre es gelungen, so wäre die Insel heute wieder im Besitz des rechten Glaubens. Wochenlang hat Doktor Tesimond damals in den Wäldern gelebt, von Wurzeln und Quellwasser, als Einziger ist er entkommen und hat es übers Meer geschafft. Später wird man ihn heiligsprechen, aber nachts sollte man nicht in seiner Nähe liegen, denn das Messer ist immer unter seinem Kissen, und in seinen Träumen schwärmen protestantische Schinder aus.
Doktor Kircher wirft seinen Mantel über und verlässt das Pfarrhaus. Benommen steht er in der Fahlheit des frühen Morgens. Rechts von ihm ist die Kirche, vor ihm der Hauptplatz mit Brunnen und Linde und dem gestern errichteten Podium, daneben die Häuser der Tamms, Henrichs und Heinerlings, er kennt jetzt alle Bewohner dieses Dorfs, er hat sie einvernommen, er weiß um ihre Geheimnisse. Etwas bewegt sich auf dem Dach des Henrich-Hauses, instinktiv weicht er zurück, aber es ist wahrscheinlich nur eine Katze. Er murmelt einen Abwehrsegen und schlägt dreimal das Kreuz, geh hin, böser Geist, lass ab, ich stehe unter dem Schutz des Herrn und der Jungfrau und aller Heiligen. Dann setzt er sich, lehnt sich an die Wand des Pfarrhauses und wartet mit klappernden Zähnen auf die Sonne.
Er merkt, dass jemand neben ihm sitzt. Lautlos muss der sich genähert, lautlos sich hingesetzt haben. Es ist Meister Tilman.
«Guten Morgen», murmelt Doktor Kircher und erschrickt. Das war ein Fehler, nun könnte Meister Tilman zurückgrüßen.
Zu seinem Entsetzen geschieht das auch. «Guten Morgen!»
Doktor Kircher blickt sich nach allen Seiten um. Zum Glück ist niemand zu sehen, das Dorf schläft noch, keiner beobachtet sie.
«Diese Kälte», sagt Meister Tilman.
«Ja», sagt Doktor Kircher, denn irgendwas muss man ja sagen. «Schlimm.»
«Und wird jedes Jahr schlimmer», sagt Meister Tilman.
Sie schweigen.
Doktor Kircher weiß, dass es am besten wäre, nicht zu antworten, aber die Stille ist lastend, also räuspert er sich und sagt: «Die Welt geht zu Ende.»
Meister Tilman spuckt auf den Boden. «Und wie lange noch?»
«Wohl so hundert Jahre», sagt Doktor Kircher und blickt weiter unbehaglich um sich. «Manche meinen, etwas weniger, während andere glauben, dass es um die hundertzwanzig sein werden.»
Er verstummt, spürt einen Kloß im Hals. Das passiert ihm jedes Mal, wenn er von der Apokalypse spricht. Er bekreuzigt sich, Meister Tilman tut es ihm nach.
Der arme Mann, denkt Doktor Kircher. Eigentlich braucht kein Henker das Jüngste Gericht zu fürchten, da die Verurteilten ihren Scharfrichtern vor dem Tod vergeben müssen, aber dann und wann gibt es Verstockte, die sich weigern, und zuweilen geschieht es sogar, dass einer seinen Henker ins Tal Josaphat bestellt. Jeder kennt diesen Fluch: Ich bestelle dich ins Tal Josaphat. Wer das zum Henker sagt, beschuldigt ihn des Mordes und verweigert die Vergebung. Ob Meister Tilman das schon passiert ist?
«Ihr fragt Euch, ob ich Angst vor dem Gericht habe.»
«Nein!»
«Ob einer mich ins Tal Josaphat bestellt hat.»
«Nein!»
«Jeder fragt sich das. Wisst Ihr, ich habe mir das nicht ausgesucht. Ich bin, was ich bin, weil mein Vater war, was er war. Und der war es wegen seines Vaters. Und mein Sohn wird sein müssen, was ich bin, denn ein Henkerssohn wird Henker.» Meister Tilman spuckt wieder aus. «Mein Sohn ist ein sanfter Kerl. Ich schaue ihn an, er ist erst acht und ganz lieb, und Töten passt nicht zu ihm. Aber er hat keine Wahl. Zu mir hat es auch nicht gepasst. Und ich hab es gelernt, und gar nicht schlecht.»
Doktor Kircher ist jetzt wirklich besorgt. Keinesfalls darf jemand sehen, wie er hier einträchtig mit dem Henker plaudert.
Am Himmel breitet sich weißliche Helligkeit aus, an den Hauswänden sind bereits die Farben zu unterscheiden. Auch das Podium drüben vor der Linde kann man schon deutlich erkennen. Dahinter steht, nur ein unscharfer Fleck in der Dämmerung, der Pferdewagen des Moritatensängers, der vor zwei Tagen angereist ist. So ist es immer: Wenn es etwas zu sehen gibt, versammelt sich das fahrende Volk.
«Gottlob gibt es in diesem Dreckloch keine Schänke», sagt
Meister Tilman. «Denn wenn es eine gibt, gehe ich abends hin, aber dann sitze ich allein, und alle schielen herüber und flüstern. Und obwohl ich es vorher weiß, gehe ich trotzdem in die Schänke, denn wohin soll ich sonst? Ich kann es nicht erwarten, wieder nach Eichstätt zu kommen.»
«Behandelt man Euch da besser?»
«Nein, aber da bin ich zu Hause. Zu Hause schlecht behandelt zu werden ist besser, als anderswo schlecht behandelt zu werden.» Meister Tilman hebt die Arme und streckt sich gähnend.
Doktor Kircher zuckt zur Seite. Die Hand des Henkers ist nur wenige Zoll von seiner Schulter entfernt, es darf nicht zu einer Berührung kommen. Wen ein Henker anfasst, und sei es auch nur im Vorbeigehen, der verliert seine Ehre. Aber natürlich darf man ihn auch nicht gegen sich aufbringen. Verärgert man ihn, könnte er einen absichtlich packen und die Strafe in Kauf nehmen. Doktor Kircher verflucht sich für seine Gutmütigkeit - nie hätte er sich auf diese Unterhaltung einlassen dürfen.
Zu seiner Erleichterung hört er in diesem Moment von drinnen den trockenen Husten seines Mentors. Doktor Tesimond ist aufgewacht. Mit einer entschuldigenden Geste steht er auf.
Meister Tilman lächelt schief.
«Gott sei mit uns an diesem großen Tag», sagt Doktor Kircher.
Aber Meister Tilman antwortet nicht. Doktor Kircher geht schnell ins Pfarrhaus, um seinem Mentor beim Ankleiden zu
helfen.
Gemessenen Schrittes und bekleidet mit der roten Robe des Richters, bewegt sich Doktor Tesimond zum Podium. Oben steht ein Tisch mit Stößen Papier, beschwert von Steinen aus dem Mühlbach, damit der Wind kein Blatt davonträgt. Die Sonne nähert sich dem Zenit. Flirrend fällt das Licht durch die Krone der Linde. Alle sind da: vorne sämtliche Mitglieder der Familie Steger und der Schmied Stelling mit seiner Frau und der Bauer Brantner mit den Seinen, dahinter Bäcker Holtz mit Frau und beiden Töchtern und Anselm Melker mit seinen Kindern und Frau und Schwägerin und alter Mutter und alter Schwiegermutter und altem Schwiegervater und Tante und daneben Maria Loserin mit ihrer schönen Tochter und dahinter die Henrichs und die Heinerlings mitsamt ihren Knechten und ganz hinten die mausartig runden Gesichter der Tamms. Abseits steht Meister Tilman, gelehnt an den Stamm des Baums. Er trägt eine braune Kutte, sein Gesicht ist blass und aufgequollen. Hinten auf seinem Eselswagen steht der Moritatensänger und kritzelt in ein Büchlein.
Leichtfüßig springt Doktor Tesimond hinauf und stellt sich hinter einen Stuhl. Doktor Kircher fällt es trotz seiner Jugend weniger leicht als ihm, das Podium ist hoch, und die Robe behindert ihn beim Steigen. Als er oben ist, sieht Doktor Tesimond ihn auffordernd an, und Doktor Kircher weiß, dass er jetzt die Stimme erheben soll, aber während er um sich blickt, schwindelt es ihn. Das Gefühl der Unwirklichkeit ist so groß, dass er sich an der Tischkante festhalten muss. Das geschieht ihm nicht zum ersten Mal, es ist eines der Dinge, die er unbedingt geheim halten muss. Er hat gerade erst die niederen Weihen bekommen, er ist noch lange kein vollgültiger Jesuit, und nur Männer von bester Gesundheit an Körper und Geist dürfen Mitglied der Gesellschaft Jesu sein.
Vor allem aber darf niemand wissen, wie sehr ihm immer wieder die Zeit in Unordnung gerät. Manchmal findet er sich an einem fremden Ort wieder, ohne zu wissen, was inzwischen geschehen ist. Neulich hat er für eine gute Stunde vergessen, dass er schon erwachsen ist, hat sich für ein Kind gehalten, das nahe dem Elternhaus im Gras spielt, als wären die fünfzehn Jahre seither und das schwere Studium in Paderborn bloß die Phantasie eines Jungen gewesen, der sich wünscht, endlich erwachsen zu sein. Wie brüchig die Welt ist. Fast jede Nacht sieht er ägyptische Zeichen, und zunehmend wächst die Sorge in ihm, dass er eines Tages aus einem Traum nicht mehr aufwachen, dass er für immer eingesperrt sein könnte in der bunten Hölle eines gottlosen Pharaonenreichs.
Hastig wischt er sich über die Augen. Peter Steger und Ludwig Stelling, die Beisitzer, sind in schwarzen Roben zu ihnen heraufgestiegen, ihnen nach kommt Ludwig von Esch, der Pfleger und Vorstand des Amtsgerichtsbezirks, der das Urteil sprechen muss, damit es Gültigkeit hat. Sonnenflecken tanzen auf Gras und Brunnen. Trotz der Helligkeit ist es so kalt, dass der Atem zu Dunstwölkchen wird. Lindenkrone, denkt Doktor Kircher. Lindenkrone, so ein Wort kann sich festhaken in einem, aber das darf jetzt nicht geschehen, er darf sich nicht ablenken lassen, er muss seine ganze Kraft auf die Zeremonie richten. Lindenkönig, Lindenkrone, Lindenkron. Nein! Jetzt nicht, jetzt keine Verwirrung, alle warten! Als Schriftführer eröffnet er die Verhandlung, ein anderer kann es nicht tun, es ist seine Aufgabe, er muss ihr gerecht werden. Um sich zu beruhigen, sieht er in die Gesichter der Zuschauer vorne und in der Mitte, aber kaum ist er ruhiger geworden, trifft sein Blick den des Müllersjungen. Ganz hinten steht der, neben seiner Mutter. Die Augen schmal, die Wangen hohl, die Lippen ein wenig gespitzt, als würde er vor sich hin pfeifen.
Versuch, ihn aus deinem Geist zu löschen. Du hast nicht umsonst so viele Exerzitien mitgemacht. Mit dem Verstand verhält es sich wie mit den Augen, sie sehen, was vor ihnen liegt, aber worauf sie sich richten, kannst du bestimmen. Er blinzelt. Nur ein Fleck, denkt er, nur Farben, nur ein Spiel des Lichts. Ich sehe keinen Jungen, ich sehe Licht. Ich sehe kein Gesicht, Farben sehe ich. Nur Farbe, Licht und Schatten.
Und tatsächlich, schon ist der Junge nicht mehr von Bedeutung. Er darf ihn bloß nicht ansehen. Ihre Blicke dürfen sich nicht treffen. Solange das nicht passiert, ist alles in Ordnung.
«Ist der Richter hier?», fragt er mit belegter Stimme.
«Der Richter ist hier», antwortet Doktor Tesimond.
«Der Pfleger hier?»
«Bin hier», sagt Ludwig von Esch ärgerlich. Unter normalen Umständen wäre er es, der den Gerichtstag führt, aber das hier
sind keine normalen Umstände.
«Der erste Beisitzer hier?»
«Hier», sagt Peter Steger.
«Der zweite?»
Schweigen. Peter Steger stößt Ludwig Stelling in die Seite. Der sieht sich verwundert um. Peter Steger stößt noch einmal.
«Ja, ist hier», sagt Ludwig Stelling.
«Das Gericht ist versammelt», sagt Doktor Kircher.
Aus Versehen blickt er Meister Tilman an. Fast lässig lehnt der Henker am Stamm der Linde, reibt seinen Bart und lächelt, aber worüber? Mit klopfendem Herzen blickt er woanders hin, auf keinen Fall darf der Eindruck entstehen, er hätte ein Einverständnis mit dem Scharfrichter. Also sieht er zum Moritatensänger. Vorgestern hat er ihn singen gehört. Die Laute war schlecht gestimmt, die Reime waren klapprig, und die unerhörten Ereignisse, von denen er gesungen hat, waren so unerhört nicht: ein Kindesmord durch die Protestanten in Magdeburg, ein ärmliches Spottlied auf den pfälzischen Kurfürsten, in dem sich Brot auf verbog und wundersam auf Waffengang reimte. Mit Unbehagen denkt er daran, dass in der Ballade, die der Sänger über diesen Prozess singen wird, wohl auch er vorkommen wird.
«Das Gericht ist versammelt», hört er sich erneut sagen. «Zusammengekommen, um Recht zu sprechen und Recht zu erkennen vor der Gemeinde, die Ruhe und Frieden zu halten hat, vom Anfang der Verhandlung bis zum Schluss, im Namen Gottes.» Er räuspert sich, dann ruft er: «Bringt die
Armesünder!»
Eine Weile ist es so still, dass man den Wind hört, die Bienen, das ganze Mäh und Muh und Gekläff und Brummen der Tiere. Dann öffnet sich die Tür des Brantner'schen Kuhstalls. Sie quietscht, weil man sie kürzlich erst mit Eisen verstärkt hat, auch die Fensterläden sind mit Brettern vernagelt. Die Kühe, für die darin jetzt kein Platz mehr ist, sind im Steger-Stall untergekommen; deshalb hat es Streit gegeben, weil Peter Steger Bezahlung dafür wollte und Ludwig Brantner gesagt hat, er könne ja nichts dafür. In einem Dorf ist nie etwas einfach.
Ein Landsknecht tritt gähnend ins Freie, ihm folgen blinzelnd die zwei Angeklagten und hinter ihnen noch zwei Landsknechte. Es sind ältliche Krieger kurz vor der Ausmusterung, einer hinkt, dem anderen fehlt die linke Hand. Etwas Besseres hat man aus Eichstätt nicht geschickt.
Und wenn man sich die Angeklagten so anschaut, kann es einem ja auch scheinen, als wäre mehr nicht notwendig. Mit ihren geschorenen Köpfen, auf denen sich, wie immer, wenn man eines Menschen Haupthaar abschneidet, allerlei Beulen und Buchten zeigen, sehen sie aus wie die harmlosesten und schwächsten Leute überhaupt. Ihre Hände sind mit dicken Verbänden umwickelt, damit man die gequetschten Finger nicht sieht, und um ihre Stirnen ziehen sich dort, wo Meister Tilman das Lederband angelegt hat, blutige Abdrücke. Wie leicht, denkt Doktor Kircher, könnte einen das Erbarmen überkommen, aber man darf sich nicht erlauben, dem Anschein zu glauben, denn sie sind im Bunde mit der größten Macht der gefallenen Welt, und ihr Herr ist jeden Moment bei ihnen. Deshalb ist das so gefährlich: Beim Gerichtstag kann der Teufel immer eingreifen, jederzeit kann er seine Stärke zeigen und sie befreien, nur Mut und Reinheit der Richter können es verhindern. Immer wieder haben seine Oberen ihm im Seminar eingeschärft: Unterschätze die Teufelsbündler nicht! Vergiss nie, dass dein Mitleid ihre Waffe ist und dass ihnen Mittel zur Verfügung stehen, von denen dein Verstand nichts ahnt.
Die Zuschauer machen Platz, eine Gasse entsteht, die beiden Angeklagten werden zum Podium geführt: vorneweg die alte Hanna Krell, dahinter der Müller. Beide gehen sie vorgebeugt, sie wirken geistesabwesend, es wird nicht klar, ob sie wissen, wo sie sind und was geschieht.
Unterschätze sie nicht, sagt sich Doktor Kircher, das ist das Wichtige. Dass du sie nicht unterschätzt.
Das Gericht setzt sich: in der Mitte Doktor Tesimond, rechts von ihm Peter Steger, links Ludwig Stelling. Und links von Stelling, mit einem kleinen Abstand, weil der Gerichtsschreiber zwar zuständig für den reibungslosen Ablauf, aber selbst nicht Teil des Gerichts ist, steht der Stuhl für ihn.
«Hanna», sagt Doktor Tesimond und hebt ein Blatt Papier. «Hier ist dein Geständnis.»
Sie schweigt. Ihre Lippen bewegen sich nicht, ihre Augen scheinen erloschen. Wie eine leere Hülle sieht sie aus, ihr Gesicht eine Maske, die keiner trägt, ihre Arme wie falsch eingehängt in den Gelenken. Besser, man denkt nicht darüber
nach, denkt Doktor Kircher, der im selben Augenblick natürlich doch darüber nachdenken muss, was Meister Tilman mit diesen Armen angestellt hat, damit sie so falsch hängen. Besser man stellt es sich nicht vor. Er reibt sich die Augen und stellt es sich vor.
«Du schweigst», sagt Doktor Tesimond, «also werden wir deine Worte aus dem Verhör vorlesen. Sie stehen auf diesem Blatt. Du hast sie gesprochen, Hanna. Nun sollen alle sie hören. Nun soll alles zutage liegen.» Seine Worte scheinen nachzuhallen, als wären sie in einem steinernen Raum gesprochen und nicht im Freien unter einer Linde, in deren Lindenkrone lind der Wind - nein! Nicht zum ersten Mal muss Doktor Kircher daran denken, wie glücklich er sich schätzen kann und wie sehr er von Gott begünstigt ist, dass Doktor Tesimond ihn zu seinem Famulus erwählt hat. Er selbst hat nichts dazugetan, hat sich nicht angeboten und nicht nach vorne gedrängt, damals, als der legendäre Mann von Wien nach Paderborn gekommen ist, ein Gast der Oberen, ein bewunderter Durchreisender, ein Zeuge des wahren Glaubens, der mit einem Mal beim Exerzitium in der Ordenskirche aufgestanden und auf ihn zugegangen ist. Ich werde dich befragen, mein Junge, antworte schnell. Denk nicht nach, was ich hören will, das kannst du nicht erraten, sag nur, was richtig ist. Wen liebt Gott mehr - die Engel, die ohne Sünde sind, oder den Menschen, der gesündigt hat und bereut? Antworte schneller. Sind die Engel von Gottes Substanz und damit ewig, oder sind sie geschaffen wie wir? Noch schneller. Und die
Sünde, ist sie Gottes Schöpfung, und wenn sie es ist, kann er sie lieben wie alle seine Geschöpfe, und wenn nicht, wie ist es möglich, dass die Strafe des Sünders ohne Ende ist, ohne Ende sein Schmerz und ohne Ende sein Leid im Feuer, sprich schnell!
So ist es eine Stunde gegangen. Er hat sich antworten gehört, auf immer neue Fragen, und wenn er keine Antworten gewusst hat, hat er welche erfunden und manchmal gleich Zitate und Quellen dazu, über hundert Bände hat Thomas von Aquin geschrieben, niemand kennt sie alle, und auf seine Erfindungskraft hat er sich immer schon verlassen können. So hat er gesprochen und gesprochen, als redete ein anderer durch ihn, und hat all seine Kraft zusammengenommen und seinem Gedächtnis nicht erlaubt, ihm Antworten, Sätze oder Namen vorzuenthalten, und auch die Zahlen hat er zusammenrechnen und voneinander abziehen und dividieren können, ohne aufs Klopfen seines Herzens oder den Schwindel in seinem Kopf zu achten, und die ganze Zeit über hat ihm der Mitbruder mit solcher Intensität ins Gesicht gesehen, dass es ihm noch heute manchmal scheinen will, als dauerte die Befragung noch an und würde für immer dauern, als wäre alles seither ein Traum. Doch schließlich ist Doktor Tesimond einen Schritt zurückgetreten und hat mit geschlossenen Augen und wie zu sich selbst gesagt: «Ich brauche dich. Mein Deutsch ist nicht gut, du musst helfen. Ich reise nach Wien zurück, heilige Pflichten rufen, du kommst mit.»
Und so sind sie nun seit einem Jahr unterwegs. Der Weg nach
Wien ist weit, wenn es unterwegs so viel Dringliches gibt; ein Mann wie Doktor Tesimond kann nicht einfach weiterziehen, wenn er Machenschaften vorfindet. In Lippstadt haben sie einen Dämon austreiben müssen, dann war in Passau ein ehrvergessener Priester zu verjagen. Um Pilsen haben sie einen Bogen gemacht, weil die dort besonders wütenden Protestanten durchreisende Jesuiten womöglich hätten verhaften können, und dieses Umwegs wegen hat es sie in ein Dörfchen verschlagen, wo die Verhaftung, Folterung und Verurteilung einer üblen Hexe sie ein halbes Jahr in Anspruch genommen haben. Dann haben sie Kunde von einem drakontologischen Kolloquium in Bayreuth erhalten. Natürlich haben sie dorthin reisen müssen, um Erhard von Felz, den größten Rivalen des Doktors, daran zu hindern, unwidersprochen Unsinn von sich zu geben; die Debatte der beiden hat sieben Wochen, vier Tage und drei Stunden gedauert. Danach hat er inständig gehofft, dass sie die Kaiserstadt nun endlich erreichen würden, aber als sie im Collegium Willibaldinum in Eichstätt übernachtet haben, hat der Fürsterzbischof sie zur Audienz bestellt: «Meine Leute sind verschlafen, Doktor Tesimond, die Pfleger machen nicht genug Anzeigen in den Dörfern, der Hexer werden mehr und mehr, keiner tut etwas, mein eigenes Jesuitenseminar kann ich kaum finanzieren, weil der Domherr dagegen ist. Wollt Ihr mir helfen? Ich ernenne Euch zum Hexen-Commissarius ad hoc, und ich erteile Euch die Erlaubnis, das kapitale Supplicium der Malefikanten an Ort und Stelle vorzunehmen, wenn Ihr mir nur
bitte helft. Ihr erhaltet jede Vollmacht.»
Deswegen hat Doktor Kircher einen ganzen Nachmittag lang gezögert, als ein Gespräch mit einem sonderbaren Jungen in ihm den Verdacht aufkommen ließ, dass ihr Weg sich schon wieder mit dem eines Hexers gekreuzt hat. Ich muss es nicht melden, hat er gedacht, ich kann schweigen, ich kann es vergessen, ich hätte schließlich mit dem Jungen gar nicht sprechen müssen, es war ein Zufall. Aber sogleich ist da wieder die Stimme des Gewissens gewesen: Sprich mit deinem Mentor. Zufälle gibt es nicht, es gibt nur Gottes Willen. Und wie erwartet hat Doktor Tesimond an jenem Nachmittag sofort entschieden, dass der Müller besucht werden müsse, und wie erwartet hat danach alles seinen üblichen Lauf genommen. Jetzt sitzen sie schon seit Wochen in diesem gottverlassenen Dorf, und Wien ist ferner denn je.
Ihm fällt auf, dass alle ihn ansehen, nur die Angeklagten blicken zu Boden. Es ist wieder passiert: Er war abwesend. Er kann nur hoffen, dass es nicht zu lange gedauert hat. Rasch sieht er sich um und findet sich zurecht: Vor ihm liegt das Geständnis der Hanna Krell, er kennt die Schrift, es ist die seine, er hat es selbst geschrieben, er muss es nun verlesen. Mit unsicheren Fingern greift er danach, aber genau in dem Moment, als seine Finger das Papier berühren, kommt Wind auf, Doktor Kircher packt zu, zum Glück schnell genug, das Blatt ist fest in seiner Hand. Nicht auszudenken, ihm wäre es weggeflogen, der Satan ist mächtig, die Luft sein Reich, das käme ihm gerade recht, wenn das Gericht sich zum Gespött
machte.
Während er Hannas Geständnis vorliest, denkt er wider Willen an die Befragung zurück. An den dunklen Raum hinten im Pfarrhaus, einst die Besenkammer, nun das Verhörzimmer, in dem Meister Tilman und Doktor Tesimond Tag um Tag daran gearbeitet haben, die Wahrheit aus der alten Frau hervorzulocken. Doktor Tesimond hat eine freundliche Seele und wäre der strengen Befragung am liebsten ferngeblieben, aber die Halsgerichtsordnung des Kaisers Karl zwingt einen Richter, bei jeder Folter, die er anordnet, zugegen zu sein. Und sie schreibt auch ein Geständnis vor. Kein Prozess darf ohne Geständnis enden, kein Urteil darf verhängt werden, wenn die Beklagten nicht etwas zugegeben haben. Der Prozess findet zwar in der verschlossenen Kammer statt, aber bei dem Gerichtstag, an dem das Geständnis öffentlich bestätigt und das Urteil gesprochen wird, ist alle Welt zugegen.
Während Doktor Kircher liest, kommen aus der Menge Ausrufe des Schreckens. Menschen ziehen die Luft ein, Menschen tuscheln, Menschen schütteln die Köpfe, Menschen fletschen die Zähne vor Grimm und Ekel. Seine Stimme zittert, während er sich von nächtlichen Flügen und entblößten Leibern sprechen hört, von Reisen auf dem Wind, vom großen Sabbat der Nacht, von Blut in den Kesseln und nackten Körpern, sieh, sie wälzen sich, der riesige Ziegenbock mit nie erlahmender Lust, er nimmt dich von vorn und nimmt dich von hinten, zu Liedern, gesungen in der Sprache des Orkus. Doktor Kircher wendet das Blatt und kommt zu den Verwünschungen:
Kälte und Hagel auf die Felder, sodass die Ernte der Frommen verdirbt, und Hunger aufs Haupt der Gottesfürchtigen und Tod und Krankheit den Schwachen und die Pestilenz für die Kinder. Mehrmals will ihm die Stimme versagen, aber er denkt an sein heiliges Amt und ruft sich zur Ordnung, und Gott sei Dank ist er vorbereitet. Nichts von diesen schrecklichen Dingen ist neu für ihn, er kennt jedes Wort, hat es nicht bloß einmal, sondern wieder und wieder geschrieben, draußen vor der Kammer, während drinnen verhört wurde und Meister Tilman alles zutage gefördert hat, was bei einem Hexereiprozess gestanden werden muss: Und bist du nicht auch geflogen, Hanna? Alle Hexen fliegen, willst ausgerechnet du nicht geflogen sein, wirst du es bestreiten? Und der Sabbat? Hast du nicht den Satan geküsst, Hanna? Wenn du sprichst, wird dir vergeben, aber wenn du schweigen willst, dann schau, was Meister Tilman in der Hand hat, er wird es verwenden.
«Das ist geschehen», liest Doktor Kircher die letzten Zeilen vor, «auf solche Art habe ich, Hanna Krell, Tochter von Leopoldina und Franz Krell, dem Herrn widersagt, die Gemeinschaft der Christen verraten, meine Mitbürger mit Schaden belegt und die heilige Kirche und meine Obrigkeit auch. In tiefer Scham gestehe ich und nehme die gerechte Strafe an, so wahr mir Gott helfe.»
Er verstummt. Eine Fliege summt an seinem Ohr vorbei, fliegt einen Bogen, setzt sich auf seine Stirn. Soll er sie verjagen oder tun, als merkte er es nicht? Was ist der Gerichtswürde angemessener, was weniger lächerlich? Er
schielt zu seinem Mentor, aber der gibt ihm keinen Hinweis.
Stattdessen beugt Doktor Tesimond sich vor, sieht Hanna Krell an und fragt: «Ist das dein Geständnis?»
Sie nickt. Ihre Ketten klirren.
«Du musst es sagen, Hanna!»
«Das ist mein Geständnis.»
«All das du hast getan?»
«Habe all das getan.»
«Und wer war der Anführer?»
Sie schweigt.
«Hanna! Wer war dein Anführer? Mit wem seid ihr zum Sabbat, wer hat euch fliegen gelehrt?»
Sie schweigt.
«Hanna?»
Sie hebt die Hand und zeigt auf den Müller.
«Du musst es sagen, Hanna.»
«Er.»
«Lauter!»
«Er war's.»
Doktor Tesimond macht eine Handbewegung, der Wächter stößt den Müller nach vorne. Nun beginnt der Hauptteil des Prozesses. Auf die alte Hanna sind sie nur nebenbei gekommen, ein Hexer hat fast immer ein Gefolge; dennoch hat es eine Weile gedauert, bis Ludwig Stellings Frau unter Strafandrohung zugegeben hat, dass ihr Rheuma sie erst plagt, seitdem sie Streit mit Hanna Krell hatte, und wiederum erst nach einer Woche Befragung ist auch Magda Steger und Maria
Loserin aufgefallen, dass Unwetter stets dann gekommen sind, wenn Hanna angeblich zu krank für den Kirchgang war. Hanna selbst hat nicht lange geleugnet. Schon als Meister Tilman ihr die Instrumente zeigte, hat sie begonnen, ihre Verbrechen zuzugeben, und als er ernsthaft ans Werk gegangen ist, hat sich sehr schnell deren volles Ausmaß erschlossen.
«Claus Ulenspiegel!» Doktor Tesimond hält drei Blätter in die Luft. «Dein Geständnis!»
Doktor Kircher sieht die Blätter in den Händen seines Mentors, und sofort schmerzt sein Kopf. Jeden Satz darauf kann er auswendig, immer wieder hat er es neu geschrieben, vor der verschlossenen Tür des Befragungszimmers, durch die man alles hören konnte.
«Darf ich was sagen?», fragt der Müller.
Doktor Tesimond sieht ihn missbilligend an.
«Bitte», sagt der Müller. Er reibt den roten Abdruck des Lederbandes auf seiner Stirn. Die Ketten klirren.
«Was denn?», fragt Doktor Tesimond.
So ist es die ganze Zeit gegangen. Ein so schwieriger Fall wie dieser Müller, hat Doktor Tesimond immer wieder gesagt, sei ihm noch nie untergekommen! Und so ist es immer noch, trotz aller Mühen Meister Tilmans - trotz Klinge und Nadel, trotz Salz und Feuer, trotz Lederschlinge, nasser Schuhe, Daumenschraube und stählerner Gräfin -, alles unklar. Ein Scharfrichter weiß Zungen zu lösen, aber was tut er mit einem, der redet und redet und dem es nicht das Geringste ausmacht, sich selbst zu widersprechen, als hätte Aristoteles nichts über
Logik verfasst? Zunächst hat Doktor Tesimond es für eine perfide List gehalten, aber dann ist ihm aufgefallen, dass sich in den Konfusionen des Müllers immer auch Bruchstücke von Wahrheiten, ja sogar verwunderliche Einsichten befunden haben.
«Ich hab nachgedacht», sagt Claus. «Ich weiß jetzt Bescheid. Über meine Irrtümer. Ich bitte um Verzeihung. Ich bitte um Gnade.»
«Hast du getan, was diese Frau gesagt hat? Den Hexensabbat angeführt, hast du das?»
«Ich hab mich für klug gehalten», sagt der Müller mit zu Boden gerichtetem Blick. «Ich hab mich überschätzt. Hab dem Kopf zu viel zugemutet, dem blöden Verstand, es tut mir leid. Ich bitte um Gnade.»
«Und der Schadenszauber? Die zu Schanden gewordenen Felder? Die Kälte, der Regen, warst das du?»
«Ich hab den Kranken geholfen nach alter Weise. Manchen hab ich nicht helfen können, die alten Mittel sind nicht so zuverlässig, ich hab immer mein Bestes getan, man hat mich ja nur bezahlt, wenn es geholfen hat. Ich hab die Zukunft derer, die sie kennen wollten, in Wasser und Vogelflug gelesen. Peter Stegers Vetter, nicht der Paul Steger, der andere, der Karl, ich hab ihm gesagt, dass er nicht auf die Buche steigen soll, auch nicht, um Schätze zu finden, tu es nicht, hab ich gesagt, und der Steger-Vetter hat gefragt: Ein Schatz auf meiner Buche? Und ich hab gesagt: Tu es nicht, Steger, und der Karl hat gesagt: Wenn da ein Schatz ist, will ich hinauf, und dann ist er
gefallen und hat sich den Kopf zerschlagen. Und ich komme nicht drauf, obwohl ich immer drüber nachdenke, ob eine Weissagung, die nicht in Erfüllung gegangen wäre, hätte ich sie nicht gemacht, eigentlich eine Weissagung ist oder was anderes.»
«Hast du das Geständnis der Hexe gehört? Dass sie dich den Anführer des Sabbats genannt hat, hast du das gehört?»
«Wenn da ein Schatz ist, auf der Buche, dann ist er immer noch dort.»
«Hast du die Hexe gehört?»
«Und die zwei Birkenblätter, die ich gefunden hab.»
«Nicht schon wieder!»
«Die haben ausgesehen wie ein einziges Blatt.»
«Nicht schon wieder die Blätter!»
Claus schwitzt, er atmet schwer. «Die Sache hat mich so verwirrt.» Er denkt nach, schüttelt den Kopf, kratzt sich den geschorenen Kopf, sodass seine Ketten klirren. «Darf ich die Blätter zeigen? Sie müssen noch in der Mühle sein, auf dem Dachboden, wo ich meinen dummen Studien nachgegangen bin.» Er dreht sich um und zeigt mit kettenrasselndem Arm über die Köpfe der Zuschauer. «Mein Sohn kann sie holen!»
«In der Mühle ist kein Zauberzeug mehr», sagt Doktor Tesimond. «Dort ist jetzt ein neuer Müller, und der wird den Krempel nicht aufbewahrt haben.»
«Und die Bücher?», fragt Claus leise.
Beunruhigt sieht Doktor Kircher, dass eine Fliege sich auf dem Papier in seinen Händen niederlässt. Ihre schwarzen
Beinchen folgen dem Lauf der Schriftzeichen. Kann es sein, dass sie ihm etwas sagen will? Aber sie bewegt sich so schnell, dass man das, was sie zeichnet, nicht lesen kann, und er darf sich nicht schon wieder ablenken lassen.
«Wo sind meine Bücher?», fragt Claus.
Doktor Tesimond macht seinem Adlatus ein Zeichen, und Doktor Kircher steht auf und verliest das Geständnis des Müllers.
In Gedanken ist er wieder bei den Ermittlungen. Der Knecht Sepp hat bereitwillig erzählt, wie oft er den Müller tagsüber in tiefem Schlaf vorgefunden hat. Ohne dass jemand solche Ohnmachten bezeugt, kann man keinen der Hexerei überführen, da gibt es strenge Regeln. Die Satansknechte lassen ihre Körper zurück und fliegen mit dem Geist hinaus in ferne Länder. Sogar Schütteln und Anschreien und Treten hätten nichts geholfen, so hat es Sepp zu Protokoll gegeben, und auch der Pfarrer hat den Müller schwer belastet: Ich verfluch dich, habe er gerufen, sobald einer im Dorf ihn verärgert habe, ich verbrenn dich, ich mach dir Schmerzen! Vom ganzen Dorf habe er Gehorsam verlangt, jeder habe seinen Zorn gefürchtet. Und die Frau des Bäckers hat einmal die Dämonen gesehen, die er nach Einbruch der Dunkelheit auf dem Steger-Feld beschworen hat: Von Schlünden, Zähnen, Klauen und großen Gemächten hat sie gesprochen, schleimigen Gestalten der Mitternacht, Doktor Kircher hat es kaum über sich gebracht, das aufzuschreiben. Und dann haben vier, fünf, sechs Dorfbewohner, und dann noch drei und dann noch zwei, immer mehr und mehr, ausführlich beschrieben, wie oft er schlechtes Wetter über ihre Felder gebracht habe. Schadenszauber ist noch wichtiger als Ohnmacht - wenn er nicht bezeugt ist, kann man einen Angeklagten nur für Ketzerei verurteilen, aber nicht als Hexer. Um sicherzustellen, dass es keinen Irrtum gibt, hat Doktor Kircher den Zeugen tagelang die Gesten und Worte erklärt, die sie bemerkt haben müssen, ihre Köpfe arbeiten langsam, alles muss man wiederholen, die Bannflüche, die alten Formeln, die Satansbeschwörungen, bevor sie sich erinnern. Tatsächlich hat sich hernach herausgestellt, dass sie alle die richtigen Worte gehört und die richtigen Beschwörungsgesten gesehen haben, nur der Bäcker, der auch befragt wurde, war sich plötzlich nicht mehr sicher, aber dann hat Doktor Tesimond ihn zur Seite genommen und gefragt, ob er wirklich einen Hexer schützen wolle und ob sein Leben so rein sei, dass er eine genaue Untersuchung nicht zu fürchten habe. Da hat sich der Bäcker dann doch erinnert, dass er alles gesehen hat, was die anderen gesehen haben, und dann hat nichts mehr gefehlt, um den Müller im scharfen Verhör zum Geständnis zu führen.
«Den Hagel habe ich auf die Felder geschickt», liest Doktor Kircher vor. «In die Erde habe ich meine Kreise geritzt, die Kräfte drunten und die Dämonen droben und den Herrn der Luft angerufen, Schande auf die Äcker, Eis auf die Erde, Tod dem Korn gebracht. Zudem habe ich mich in den Besitz eines verbotenen Buches gesetzt, in lateinischer Sprache ...»
Da bemerkt er einen Fremden und verstummt. Wo ist er
hergekommen? Doktor Kircher hat nicht gesehen, wie er sich genähert hat, aber wäre er vorher schon unter den Zuschauern gewesen, mit seinem breitkrempigen Hut und dem Samtkragen und dem silbernen Stock, so hätte er ihm doch auffallen müssen! Aber da steht er, neben dem Wagen des Moritatensängers. Was, wenn nur er ihn sähe? Sein Herz beginnt zu klopfen. Wenn der Mann nur für ihn da wäre und für die anderen unsichtbar, was dann?
Doch jetzt, da der Fremde mit langsamen Schritten nach vorne geht, treten die Leute zur Seite, um ihn vorbeizulassen. Doktor Kircher seufzt erleichtert. Der Bart des Mannes ist kurz geschnitten, sein Umhang aus Samt, auf dem Filzhut wippt eine Feder. Mit feierlicher Geste nimmt er den Hut ab und verbeugt sich.
«Zum Gruß, Vaclav van Haag.»
Doktor Tesimond steht auf und verbeugt sich ebenfalls. «Eine Ehre», sagte er. «Eine große Freude!»
Auch Doktor Kircher steht auf, verbeugt sich und setzt sich wieder. Es ist also nicht der Teufel, sondern der Autor eines bekannten Werks über die Kristallbildung in Tropfsteinhöhlen - Doktor Kircher hat es irgendwann gelesen und wenig in Erinnerung behalten. Fragend blickt er zur Linde: Das Licht flirrt, als wäre alles ein Trug. Was will denn dieser Fachmann für Kristallbildung hier?
«Ich schreibe eine Abhandlung über die Hexerei», sagt Doktor van Haag, während er sich wieder aufrichtet. «Die Kunde hat sich verbreitet, dass Ihr in diesem Dorf einen Hexer
gestellt habt. Ich bitte um Erlaubnis, ihn verteidigen zu dürfen.»
Ein Murmeln geht durch die Zuschauer. Doktor Tesimond zögert. «Ich bin sicher», sagt er dann, «ein Mann von Eurer Gelehrsamkeit weiß mit seiner Zeit Besseres anzufangen.»
«Schon möglich, aber gleichwohl bin ich hier und bitte Euch um den Gefallen.»
«Die Halsgerichtsordnung schreibt keinen Fürsprecher für den Armesünder vor.»
«Aber sie untersagt Fürsprache auch nicht. Herr Pfleger, wollt Ihr mir erlauben -»
«Sprecht den Richter an, verehrter Kollege, nicht den Pfleger. Der wird das Urteil verkünden, aber richten werde ich.»
Doktor van Haag sieht den Pfleger an. Der ist weiß vor Wut, aber es stimmt, er hat hier nichts zu bestimmen. Van Haag neigt kurz den Kopf und spricht zu Doktor Tesimond: «Es gibt zahlreiche Beispiele. Prozesse mit Fürsprechern werden immer häufiger. Mancher Armesünder spricht nicht so gut für sich selbst, wie er es doch gewiss täte, wenn er nur gut sprechen könnte. Zum Beispiel das verbotene Buch, von dem gerade die Rede war. Hieß es nicht, das sei auf Lateinisch geschrieben?»
«Richtig.»
«Hat der Müller es gelesen?»
«Ja, Herrgott, wie soll er es denn gelesen haben!»
Doktor van Haag lächelt. Er sieht Doktor Tesimond an, dann Doktor Kircher, dann den Müller, dann wieder Doktor
Tesimond.
«Ja und?», fragt Doktor Tesimond.
«Wenn das Buch auf Lateinisch geschrieben ist!»
«Ja?»
«Und wenn der Müller nun nicht Lateinisch spricht.»
«Ja?»
Doktor van Haag breitet die Arme aus und lächelt wieder.
«Kann ich was fragen?», sagt der Müller.
«Ein Buch, das man nicht besitzen darf, verehrter Kollege, ist ein Buch, das man nicht besitzen, nicht eines, das man bloß nicht lesen darf. Mit Vorbedacht spricht das Heilige Offizium vom Haben, nicht vom Kennen. Doktor Kircher?»
Doktor Kircher schluckt, räuspert sich, blinzelt. «Ein Buch ist eine Möglichkeit», sagt er. «Es ist immer zu sprechen bereit. Auch einer, der seine Sprache nicht versteht, kann es an andere weitergeben, die es sehr wohl lesen können, auf dass es sein Schandwerk an ihnen verrichte. Oder er könnte die Sprache erlernen, und gibt es keinen, der sie ihm beibringt, so findet er womöglich einen Weg, sie sich selbst beizubringen. Auch das hat man schon gesehen. Man kann es durchs reine Anschauen der Buchstaben erreichen, durchs Zählen ihrer Häufigkeit, durchs Betrachten ihrer Muster, denn der Menschengeist ist mächtig. Auf diesem Weg hat der heilige Zagraphius in der Wüste das Hebräische erlernt, nur aus der starken Sehnsucht heraus, Gottes Wort im Urlaut zu kennen. Und über Taras von Byzanz wird berichtet, dass er die Hieroglyphen Ägyptens allein durch jahrelanges Anschauen begriffen hat. Leider hat er uns keinen Schlüssel hinterlassen, und so müssen wir die Entzifferung von neuem vornehmen, aber die Aufgabe wird gelöst werden, vielleicht schon bald. Und nicht zu vergessen, es gibt immer die Möglichkeit, dass Satan, dessen Vasallen alle Sprachen verstehen, einem seiner Knechte von einem Tag auf den anderen die Fähigkeit schenkt, das Buch zu lesen. Aus diesen Gründen liegt die Einschätzung des Verständnisses bei Gott und nicht bei seinen Knechten. Bei jenem Gott, der am Tag des Gerichts in die Seelen blicken wird. Aufgabe der menschlichen Richter ist es, die simplen Umstände zu klären. Und der einfachste davon ist dieser: Ist ein Buch verboten, so darf man es nicht haben.»
«Außerdem ist es zu spät für eine Verteidigung», sagt Doktor Tesimond. «Der Prozess ist vorbei. Nur das Urteil fehlt noch. Der Angeklagte hat gestanden.»
«Aber offensichtlich unter Folter?»
«Ja natürlich», ruft Doktor Tesimond. «Warum hätte er sonst gestehen sollen! Ohne Folter würde doch nie jemand was gestehen!»
«Während unter der Folter jeder gesteht.»
«Gott sei Dank, ja!»
«Auch ein Unschuldiger.»
«Aber er ist nicht unschuldig. Wir haben die Aussagen der anderen. Wir haben das Buch!»
«Die Aussagen der anderen, die der Folter verfallen wären, wenn sie nicht ausgesagt hätten?»
Doktor Tesimond schweigt einen Moment. «Verehrter
Kollege», sagt er leise. «Natürlich muss jemand, der sich weigert, gegen einen Hexer auszusagen, selbst untersucht und angeklagt werden. Wo kommt man hin, wenn man das anders hält?»
«Gut, eine andere Frage: Was hat es eigentlich mit der Ohnmacht der Hexer auf sich? Früher hieß es, die Ohnmächtigen würden im Traum mit dem Teufel verkehren. Der Teufel hat ja keine Macht in Gottes Welt, so steht es sogar bei Institoris, darum muss er den Schlaf nützen, um seinen Verbündeten das Wahnbild einzuflößen, er schenke ihnen wilde Lust. Nun aber verurteilt man die Hexer für genau die Taten, die man früher für vom Teufel eingegebene Trugbilder erklärt hat, den Schlaf aber und die Wahnträume legt man ihnen weiterhin zur Last. Ist die böse Tat nun echt oder Einbildung? Sie kann nicht beides sein. Das ist nicht sinnvoll, verehrter Kollege!»
«Das ist überaus sinnvoll, verehrter Kollege!»
«Dann erklärt es mir.»
«Verehrter Kollege, ich werde nicht zulassen, dass der Gerichtstag durch Gerede und Zweifel entwertet wird.»
«Darf ich etwas fragen?», ruft der Müller.
«Ich auch», sagt Peter Steger und streicht seine Robe zurecht. «Das dauert schon lange, können wir eine Pause machen? Die Kühe haben volle Euter, Ihr hört es ja.»
«Nehmt ihn fest», sagt Doktor Tesimond.
Doktor van Haag tritt einen Schritt zurück. Die Wächter starren ihn an.
«Abführen und binden», sagt Doktor Tesimond. «Es stimmt, dass die Halsgerichtsordnung dem Armesünder einen Fürsprecher erlaubt, aber sie sagt nirgendwo, dass es anständig ist, sich zum Fürsprecher eines Teufelsknechtes aufzuschwingen und den Gerichtstag mit dummen Fragen zu stören. Bei aller Wertschätzung für einen gelehrten Kollegen, das kann ich nicht dulden, und wir werden in scharfer Befragung klären, was einen angesehenen Mann dazu bringt, sich so zu verhalten.»
Keiner rührt sich. Doktor van Haag sieht die Wächter an, die Wächter sehen Doktor Tesimond an.
«Vielleicht ist es die Ruhmsucht», sagt Doktor Tesimond. «Vielleicht Schlimmeres. Es wird sich zeigen.»
Ein Lachen geht durch die Menge. Doktor van Haag tritt einen weiteren Schritt zurück und legt die Hand an den Griff seines Degens. Tatsächlich hätte er davonkommen können, denn die Wächter sind weder schnell noch mutig, aber schon steht Meister Tilman neben ihm und schüttelt den Kopf.
Mehr braucht es nicht. Meister Tilman ist sehr groß und sehr breit, und sein Gesicht sieht auf einmal anders aus als noch gerade eben. Doktor van Haag lässt den Degen los. Einer der Wächter greift ihn am Handgelenk, nimmt den Degen an sich und führt ihn zum Stall mit der eisenverstärkten Tür.
«Ich protestiere!», sagt Doktor van Haag, während er ohne Widerstand mitgeht. «Ein Mann von Stand darf so nicht behandelt werden.»
«Erlaubt mir, verehrter Kollege, Euch zu versprechen, dass
Euer Stand nicht vergessen wird.»
Doktor van Haag dreht sich im Gehen noch einmal um. Er öffnet den Mund, aber ihm scheint plötzlich die Kraft zu fehlen, er ist völlig überrumpelt. Schon öffnet sich knarrend die Tür, und er ist mitsamt dem Wächter im Stall verschwunden. Eine kurze Zeit vergeht, dann kommt der Wächter wieder heraus, schließt die Tür und schiebt die beiden Riegel vor.
Doktor Kirchers Herz klopft. Ihm ist schwindlig vor Stolz. Er hat nicht zum ersten Mal mitangesehen, wie jemand die Entschlossenheit seines Mentors unterschätzt. Man ist eben nicht ohne Grund der einzige Überlebende der Pulververschwörung, man wird nicht einfach so zu einem der berühmtesten Glaubenszeugen der Gesellschaft Jesu. Immer wieder gibt es Leute, die nicht wissen, mit wem sie es zu tun haben. Aber unfehlbar finden sie es heraus.
«Das ist der große Gerichtstag», sagt Doktor Tesimond zu Peter Steger. «Das ist nicht die Zeit zum Kuhmelken. Wenn deinem Vieh die Euter weh tun, dann tun sie weh für die Sache Gottes.»
«Ich verstehe», sagt Peter Steger.
«Verstehst du es wirklich?»
«Wirklich. Ja, ja, ich verstehe.»
«Und du, Müller. Wir haben dein Geständnis vorgelesen, wir wollen es nun hören, laut und deutlich: Ist es wahr? Hast du es getan? Bereust du?»
Es wird still. Nur den Wind hört man und das Muhen der Kühe. Eine Wolke ist vor die Sonne gezogen, zu Doktor
Kirchers Erleichterung haben die Lichtspiele in der Baumkrone aufgehört. Dafür aber rascheln und wispern und zischeln die Zweige im Wind. Kalt ist es geworden, wahrscheinlich wird es gleich wieder regnen. Auch die Hinrichtung dieses Hexers wird nichts nützen gegen das schlechte Wetter, es gibt zu viele böse Menschen, alle gemeinsam sind sie schuld an der Kälte und den Missernten und der Knappheit von allem in diesen letzten Jahren vor dem Ende der Welt. Aber man tut, was man kann. Auch wenn man auf verlorenem Posten kämpft. Man hält aus, verteidigt die verbliebenen Stellungen und wartet auf den Tag, da Gott wiederkehrt in Herrlichkeit.
«Müller», wiederholt Doktor Tesimond. «Du musst es sagen, vor allen Menschen hier. Ist es wahr? Hast du es getan?»
«Darf ich was fragen?»
«Nein. Du sollst nur antworten. Ist es wahr? Hast du es getan?»
Der Müller blickt um sich wie einer, der nicht genau weiß, wo er sich befindet. Aber auch das ist wohl eine Finte, Doktor Kircher weiß genau, dass man darauf nicht hereinfallen darf, denn hinter diesen scheinbar verlorenen Leuten verbirgt sich der alte Widersacher, bereit zu töten und zu zerstören, wo immer er kann. Wenn nur die Äste aufhören würden mit ihren Geräuschen. Der Raschelwind ist plötzlich noch schlimmer, als es das flimmernde Licht gewesen ist. Und wenn die Kühe doch ruhig wären!
Meister Tilman tritt neben den Müller und legt ihm die Hand auf die Schulter wie einem alten Freund. Der Müller sieht ihn an, er ist kleiner als der Scharfrichter, sein Blick geht empor wie der eines Kindes. Meister Tilman beugt sich hinab und sagt ihm etwas ins Ohr. Der Müller nickt, als verstünde er. Zwischen den beiden herrscht eine Vertrautheit, die Doktor Kircher verwirrt. Wahrscheinlich liegt es daran, dass er nicht achtgibt und in die falsche Richtung blickt, genau in die Augen des Jungen.
Der ist auf den Wagen des Moritatensängers geklettert. Dort steht er, erhöht über allen, steht auf dem Rand des Wagens, und es ist merkwürdig, dass er nicht fällt. Wie hält er da oben das Gleichgewicht? Doktor Kircher kann nicht anders, er lächelt verkrampft. Der Junge lächelt nicht zurück. Unwillkürlich fragt Doktor Kircher sich, ob das Kind ebenfalls vom Satan berührt ist, doch im Verhör gab es kein Anzeichen dafür, die Frau hat viel geweint, der Junge war in sich gekehrt, aber beide haben alles gesagt, was nötig war. Auf einmal ist Doktor Kircher sich nicht mehr sicher. Ist man zu nachlässig gewesen? Die Finten des Herrn der Luft sind vielfältig. Was, wenn gar nicht der Müller der schlimmste Hexer ist? Doktor Kircher spürt einen Verdacht in sich keimen.
«Hast du es getan?», fragt Doktor Tesimond erneut.
Der Scharfrichter weicht zurück. Alle horchen auf, stellen sich auf die Zehenspitzen, heben die Köpfe. Selbst der Wind lässt für einen Moment nach, als Claus Ulenspiegel Luft holt, um endlich zu antworten.
Er hat nicht gewusst, dass es so gutes Essen gibt. Sein Lebtag ist ihm so etwas nicht begegnet: zuerst eine kräftige Hühnersuppe mit frisch gebackenem Weizenbrot, dann eine Hammelkeule, gewürzt mit Salz und sogar Pfeffer, dann die Lende eines fetten Schweins mit Sauce, schließlich süßer Kirschkuchen, noch warm vom Ofen, dazu ein starker, wie Nebel zu Kopf steigender Rotwein. Sie müssen von irgendwo einen Koch hergebracht haben. Während Claus an seinem kleinen Tisch im Kuhstall isst und spürt, wie sein Magen sich mit warmen, feinen Dingen füllt, denkt er, dass so eine Mahlzeit es im Grunde sogar wert ist, dafür zu sterben.
Er hat gemeint, die Henkersmahlzeit käme nur in Redensarten vor, er hat nicht geahnt, dass tatsächlich ein Koch geholt wird, der einem so gutes Essen zubereitet, wie man es sein Lebtag nicht bekommen hat. Mit zusammengeketteten Armen ist es schwer, das Fleisch zu halten, das Eisen scheuert, die Handgelenke sind wund, aber im Moment ist das egal, so gut schmeckt es. Und überhaupt tun seine Hände schon nicht mehr ganz so weh wie noch vor einer Woche. Meister Tilman ist auch ein Meister des Heilens, Claus hat neidlos einräumen müssen, dass der Scharfrichter Kräuter kennt, von denen er nie gehört hat. Doch das Gefühl ist nicht zurückgekehrt in seine gequetschten Finger, und darum fällt das Fleisch immer wieder auf den Boden. Er schließt die Augen. Er hört die Hühner im
Stall nebenan scharren, er hört das Schnarchen des Mannes mit der teuren Kleidung, der sein Fürsprecher hat sein wollen und jetzt angekettet im Heu liegt. Während er das herrliche Schweinefleisch kaut, versucht er, sich vorzustellen, dass er nie erfahren wird, wie der Prozess dieses Mannes ausgeht.
Er wird dann nämlich tot sein. Er wird auch nicht erfahren, wie das Wetter übermorgen ist. Er wird dann tot sein. Oder ob es morgen Nacht wieder regnet. Aber das ist ja auch egal, wen interessiert schon der Regen.
Nur seltsam ist es doch: Jetzt sitzt du noch hier und kannst alle Zahlen zwischen eins und tausend herbeten, aber übermorgen wirst du entweder ein Luftwesen sein oder aber eine Seele, die in einem Menschen oder Tier wieder zur Welt kommt und sich an den Müller, der du noch bist, kaum erinnert - aber wenn man so ein Wiesel ist oder ein Huhn oder ein Spatz auf dem Zweig und nicht einmal weiß, dass man einmal ein Müller gewesen ist, der sich mit der Bahn des Mondgestirns beschäftigt hat, ja wenn man so von Ast zu Ast hüpft und nur über Körner und natürlich die Bussarde nachdenkt, denen man entkommen muss, was für eine Bedeutung hat es dann eigentlich noch, dass man einst ein Müller war, von dem man nichts mehr weiß?
Ihm fällt ein, dass Meister Tilman ihm gesagt hat, dass er jederzeit mehr bekommen kann. Ruf einfach, sag Bescheid, kannst so viel haben, wie du willst, denn danach kommt nichts mehr.
Also versucht es Claus. Er ruft. Kauend ruft er, denn er hat
noch Fleisch auf dem Teller, und auch Kuchen ist noch da, aber wenn man mehr haben kann, warum soll man dann warten, bis alles weg ist und bis die Leute draußen es sich womöglich anders überlegen? Er ruft noch einmal, und tatsächlich geht die Tür auf.
«Kann ich mehr haben?»
«Von allem?»
«Bitte von allem.»
Meister Tilman geht schweigend hinaus, und Claus macht sich über den Kuchen her. Und während er die warme, weiche, süße Masse zerkaut, wird ihm plötzlich klar, dass er immer Hunger gehabt hat: Tag und Nacht, abends und morgens. Nur hat er nicht mehr gewusst, dass das Hunger ist - dieses Gefühl des Ungenügens, die Hohlheit in allem, die nie nachlassende Schwäche des Körpers, die die Knie und die Hände schlaff macht und den Kopf verwirrt. Das war nicht nötig, das hätte so nicht sein müssen, das war einfach nur der Hunger!
Die Tür geht knarrend auf, und Meister Tilman trägt ein Brett mit Schüsseln herein. Claus seufzt vor Freude. Meister Tilman, der das Seufzen missversteht, stellt das Tablett ab und legt ihm eine Hand auf die Schulter.
«Wird schon», sagt er.
«Ich weiß», sagt Claus.
«Geht ganz schnell. Ich kann das. Ich versprech's dir.»
«Danke», sagt Claus.
«Manchmal ärgern mich die Armesünder. Dann geht es nicht schnell. Das kannst du mir glauben. Aber du hast mich nicht
geärgert.»
Claus nickt dankbar.
«Sind bessere Zeiten jetzt. Früher hat man euch alle verbrannt. Das dauert, das ist nicht schön. Aber Hängen ist nichts. Das geht schnell. Du steigst aufs Gerüst, kaum versiehst du dich, stehst schon vor dem Schöpfer. Verbrannt wirst du erst danach, aber da bist du schon tot, das stört dich gar nicht, wirst sehen.»
«Gut», sagt Claus.
Die beiden blicken einander an. Meister Tilman scheint nicht gehen zu wollen. Man könnte meinen, dass es ihm im Stall gefällt.
«Bist kein übler Kerl», sagt Meister Tilman.
«Danke.»
«Für einen Teufelsbündler.»
Claus zuckt die Achseln.
Meister Tilman geht hinaus und verschließt umständlich die Tür.
Claus isst weiter. Wieder versucht er, es sich vorzustellen: Die Häuser da draußen, die Vögel am Himmel, die Wolken, der braungrüne Erdboden mit Gras und Feldern und all den Maulwurfshügeln im Frühling, denn die Maulwürfe wirst du nicht los, mit keinem Kraut und keinem Spruch, und der Regen natürlich - all das weiterhin, aber er nicht.
Nur kann er sich das nicht vorstellen.
Denn immer wenn er sich eine Welt ohne Claus Ulenspiegel ausmalt, schmuggelt seine Einbildung genau jenen Claus
Ulenspiegel, den sie wegschaffen sollte, wieder hinein - als Unsichtbaren, als Auge ohne Körper, als Gespenst. Wenn er sich aber wirklich ganz und gar wegdenkt, so verschwindet die Welt, die er sich ohne Claus Ulenspiegel vorstellen möchte, mit ihm. So oft er es auch versucht, es ist immer das Gleiche. Darf er daraus schließen, dass er in Sicherheit ist? Dass er gar nicht weg sein kann, weil die Welt ja schließlich nicht verschwinden darf und weil sie aber verschwinden müsste ohne ihn?
Das Schweinefleisch schmeckt immer noch herrlich, aber Kuchen, das fällt ihm jetzt auf, hat Meister Tilman nicht mehr gebracht, und weil der Kuchen das Allerbeste war, versucht es Claus und ruft noch einmal.
Der Scharfrichter kommt herein.
«Kann ich noch Kuchen haben?»
Meister Tilman antwortet nicht und geht hinaus. Claus kaut das Schweinefleisch. Jetzt, wo der Hunger gestillt ist, merkt er erst richtig, wie gut es schmeckt, wie fein und reich, wie warm und salzig und ein bisschen süß. Er betrachtet die Wand des Stalls. Wenn man kurz vor Mitternacht ein Quadrat aufmalt und dazu mit etwas Blut zwei doppelte Kreise auf dem Boden zieht und dreimal den dritten der verborgenen Namen des Allmächtigen anruft, dann erscheint eine Tür, und man kann sich davonmachen. Das Problem wären nur die Ketten, denn um die loszuwerden, bräuchte man den Absud von Zinnkraut; er müsste also mit Ketten fliehen und unterwegs Zinnkraut finden, aber Claus ist müde, und sein Körper schmerzt, und jetzt ist auch nicht die Jahreszeit für Zinnkraut.
Und es ist schwierig, anderswo neu anzufangen. Früher wäre es gegangen, aber jetzt ist er älter und hat nicht mehr die Kraft, wieder ein ehrloser fahrender Geselle zu sein, ein verachteter Taglöhner am Rand irgendeines Dorfes, ein von allen gemiedener Fremder. Man könnte nicht einmal als Heiler arbeiten, weil das auffallen würde.
Nein, gehängt zu werden ist leichter. Und wenn es so sein sollte, dass man sich nach dem Tod an das, was vorher war, erinnert, so könnte einen das im Weltwissen weiter voranbringen als zehn Jahre des Suchens und Forschens. Vielleicht wird er danach die Sache mit der Mondbahn verstehen, vielleicht auch begreifen, bei welchem Korn der Haufen aufhört, ein Haufen zu sein, womöglich sogar sehen, wodurch sich zwei Blätter unterscheiden, zwischen denen es keinen anderen Unterschied gibt als den, dass sie eben zwei sind und nicht eines. Vielleicht liegt es an dem Wein und der warmen Wohligkeit, die Claus zum ersten Mal im Leben erfasst, jedenfalls will er nicht mehr hinaus. Mag die Wand bleiben, wo sie ist.
Der Riegel wird zurückgeschoben, Meister Tilman bringt Kuchen. «Das war's jetzt aber, noch mal komm ich nicht.» Er klopft Claus auf die Schulter, das tut er gern, vermutlich weil er die Menschen draußen nie berühren darf. Dann gähnt er, geht hinaus und schlägt die Tür so laut zu, dass der schlafende Mann erwacht.
Der richtet sich auf, rekelt sich und blickt sich nach allen Seiten um. «Wo ist die alte Frau?»
«Im anderen Stall», sagt Claus. «Das ist ein Glück. Sie jammert dauernd, es ist nicht auszuhalten.»
«Gib mir Wein!»
Claus sieht ihn erschrocken an. Er will antworten, dass das sein Wein ist, ganz allein seiner, dass er ihn redlich verdient hat, weil er dafür sterben muss. Aber dann tut ihm der Mann leid, der es schließlich auch nicht leichthat, also reicht er ihm den Krug. Der Mann nimmt ihn und trinkt mit großen Schlucken. Hör auf, will Claus rufen, ich krieg nicht mehr! Doch er bringt es nicht über sich, denn das ist jemand von Stand, so einem befiehlt man nichts. Der Wein läuft ihm am Kinn herab und macht Flecken auf seinem Samtkragen, aber es scheint ihn nicht zu kümmern, so durstig ist er.
Endlich setzt er den Krug ab und sagt: «Mein Gott, das ist guter Wein!»
«Jaja», sagt Claus, «sehr guter.» Er hofft inständig, dass der Mann den Kuchen nicht auch noch will.
«Jetzt, wo uns keiner hört. Sag mir die Wahrheit. Warst du mit dem Teufel im Bund?»
«Ich weiß nicht, gnädiger Herr.»
«Wie kann man das nicht wissen?»
Claus überlegt. Es ist offensichtlich, dass er etwas falsch gemacht hat in seinem dummen Kopf, sonst wäre er nicht hier. Aber er weiß nicht so recht, was es eigentlich war. So lange ist er befragt worden, immer wieder und wieder, unter so vielen Schmerzen, so oft hat er seine Geschichte neu erzählen müssen, jedes Mal hat noch etwas gefehlt, immer musste er etwas hinzufügen, noch einen Dämon, der beschrieben werden musste, noch eine Beschwörung, noch ein dunkles Buch, noch einen Sabbat, damit Meister Tilman von ihm abließ, und dann musste er auch diese neuen Einzelheiten wieder und wieder erzählen, sodass er nicht mehr so recht weiß, was er hat erfinden müssen und was wirklich passiert ist in seinem kurzen Leben, in dem es ohnehin nicht viel Ordnung gab: Mal ist er hier gewesen, mal dort, dann anderswo, und dann war er plötzlich im Mehlstaub, und die Frau war unzufrieden, und die Knechte hatten keinen Respekt, und jetzt ist er in Ketten, und das ist schon alles gewesen. So, wie der Kuchen gleich aufgegessen sein wird, drei oder vier Bissen noch, vielleicht fünf, wenn man immer nur ganz wenig nimmt.
«Ich weiß es nicht», sagt er noch einmal.
«Verfluchtes Missgeschick», sagt der Mann und blickt auf den Kuchen.
Erschrocken nimmt Claus alles, was noch da ist, und schluckt es hinunter, ohne zu kauen. Der Kuchen füllt seinen Hals, er schluckt, so fest er kann; weg ist er. Das war es also mit dem Essen. Für immer.
«Gnädiger Herr», sagt Claus, um zu zeigen, dass er weiß, was sich gehört. «Was passiert jetzt noch mit Euch?»
«Schwer vorauszusagen. Ist man drin, kommt man nicht gut raus. Sie werden mich in die Stadt bringen, dann werden sie mich verhören. Ich werde irgendwas zugeben müssen.» Seufzend betrachtet er seine Hände. Offensichtlich denkt er an den Scharfrichter; jeder weiß, dass der stets bei den Fingern
beginnt.
«Gnädiger Herr», sagt Claus wieder. «Wenn Ihr Euch einen Haufen Korn vorstellt.»