«Wenn ich die Kurpfalz zurückbekomme, dann bin ich wieder das Haupt der protestantischen Fraktion im Reich, und sie werden kommen.»

«Du wirst nie mehr Haupt von irgendwas.»

«Wie könnt Ihr es -»

«Sei ruhig, armer Kerl, hör zu. Du hast mit hohem Einsatz gespielt, das ist gut, das mag ich. Dann hast du verloren, und nebenbei hast du diesen ganzen tollen Krieg ausgelöst. So kann es gehen. Manche spielen mit hohem Einsatz und gewinnen. Ich zum Beispiel. Ein kleines Land, eine kleine Armee, drüben im Reich scheint die protestantische Sache verloren, und wer hat mir geraten, alles auf eine Karte zu setzen, das Heer zu sammeln und nach Deutschland zu ziehen? Alle haben mir abgeraten. Tu's nicht, lass es, du kannst nicht gewinnen, aber ich hab es getan, und ich hab gewonnen, und bald werd ich in Wien sein und dem Wallenstein die Ohren abreißen, und der Kaiser wird vor mir in die Knie gehen, und ich werd sagen: Willst du noch Kaiser sein? Dann tu, was dir Gustav Adolf sagt! Aber es hätte anders ausgehen können. Ich könnte tot sein. Ich könnte in einem Boot sitzen und weinend zurück über die Ostsee rudern. Es nützt nichts, ein ganzer Kerl zu sein, stark und klug und ohne Angst, denn man kann trotzdem verlieren. So wie man auch einer wie du sein und trotzdem gewinnen kann. Gibt es alles. Ich hab gewagt und gewonnen, du hast gewagt und verloren, und dann, was hättest du tun sollen? Ja, aufhängen hättest du dich können, aber das ist nicht für jeden, und eine Sünde ist es schließlich auch. Drum bist du noch da. Weil du ja irgendwas tun musst. Also schreibst du Briefe und bittest und stellst Forderungen und kommst zu Audienzen und redest und verhandelst, als wär noch was los mit dir, aber da ist nichts! England schickt dir keine Truppen. Die Union kommt dir nicht zur Hilfe. Deine Brüder im Reich haben dich aufgegeben. Es gibt nur einen, der dir die Pfalz zurückgeben kann, und das bin ich. Und ich geb sie dir als Lehen. Wenn du vor mir kniest und mir Gefolgschaft schwörst als deinem Herrn. Also was ist, Friedrich? Was soll es sein?»

Gustav Adolf verschränkte die Arme und sah dem König ins Gesicht. Sein gesträubter Bart zitterte. Seine Brust hob und senkte sich, der König hörte deutlich seinen Atem.

«Ich brauche Bedenkzeit», brachte der König mühsam hervor.

Gustav Adolf lachte.

«Ihr werdet nicht erwarten ...» Der König räusperte sich, wusste nicht, wie er den Satz weiterführen sollte, rieb sich die Stirn, beschwor sich, nicht schon wieder das Bewusstsein zu verlieren, nicht ausgerechnet jetzt, um keinen Preis jetzt, und fing noch einmal von vorne an: «Ihr werdet nicht erwarten, dass ich eine solche Entscheidung treffe, ohne darüber -»

«Genau das erwarte ich. Als ich meine Generäle zusammengerufen hab, in den Krieg einzugreifen auf Gedeih und Verderb, glaubst du, ich hab das ewig hin und her gewälzt? Glaubst du, ich hab mich mit meiner Frau beraten? Glaubst du,

ich hab erst gebetet? Ich entscheide das jetzt, hab ich gesagt, und dann hab ich es entschieden, und gleich darauf hab ich die Gründe nicht mehr gewusst, aber die waren auch egal, weil es entschieden war! Und schon standen die Generäle vor mir und haben Vivat gerufen, und ich hab gesagt: Ich bin der Löwe aus der Mitternacht! Das ist mir so eingefallen.» Er tippte sich an die Stirn. «So etwas kommt einfach. Ich denk mir nichts, und plötzlich ist es da. Der Löwe aus der Mitternacht! Das bin ich. Also sag dem Löwen zu, oder sag ihm ab, aber stiehl mir keine Zeit.»

«Meine Familie besitzt die Landeshoheit über die Kurpfalz sowie die Reichsunmittelbarkeit seit -»

«Und du meinst, du kannst nicht der Erste deiner Familie sein, der die Pfalz vom Schweden als Lehen bekommt. Aber du wirst sehen, ich bin kein übler Kerl. Ich besteuer dich milde, und wenn du keine Lust hast, zu meinem Geburtstag nach Schweden zu kommen, schickst du deinen Kanzler. Ich tu dir nichts. Nimm die Hand, schlag ein, sei kein Schuh!»

«Kein Schuh?» Der König war sich nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. Wo hatte dieser Mann Deutsch gelernt?

Gustav Adolf hatte den Arm ausgestreckt, und seine kleine, fleischige Hand schwebte vor der Brust des Königs. Er musste sie nur ergreifen, und er würde wieder das Heidelberger Schloss sehen, wieder die Hügel und den Fluss, wieder die dünnen Sonnenstrahlen, die durchs Efeu in den Kolonnaden fielen, wieder die Hallen, in denen er aufgewachsen war. Und Liz würde wieder leben können, wie es sich ziemte, mit genug

Zofen und weichem Leinen und Seide und Kerzen aus Wachs, die nicht flackerten, und ergebenen Leuten, die wussten, wie man zu einer Majestät sprach. Er konnte zurück. Es würde sein wie früher.

«Nein», sagte der König.

Gustav Adolf legte den Kopf schief, als hätte er schlecht gehört.

«Ich bin der König von Böhmen. Ich bin Kurfürst der Pfalz. Ich nehme das, was mir gehört, von keinem als Lehen, meine Familie ist älter als Eure, und weder gebührt es Euch, Gustav Adolf Wasa, so mit mir zu sprechen, noch, mir ein derart niederträchtiges Angebot zu machen.»

«Donnerwetter», sagte Gustav Adolf.

Der König wandte sich ab.

«Warte!»

Der König, schon auf dem Weg zum Ausgang, blieb stehen. Er wusste, dass er damit alle Wirkung wieder zerstörte, und dennoch konnte er nicht anders. Ein Funke von Hoffnung glimmte in ihm auf und ließ sich nicht ersticken: Es konnte ja sein, dass er diesen Mann mit seiner Charakterfestigkeit so beeindruckt hatte, dass er ihm nun ein neues Angebot machen würde. Du bist doch ein ganzer Kerl, würde er vielleicht sagen, ich habe mich getäuscht in dir! Aber nein, dachte der König, Unsinn. Und trotzdem blieb er stehen und drehte sich um und hasste sich dafür.

«Du bist doch ein ganzer Kerl», sagte Gustav Adolf.

Der König schluckte.

«Da hab ich mich getäuscht», sagte Gustav Adolf.

Der König unterdrückte einen Hustenanfall. In seiner Brust schmerzte es. Ihm war schwindlig.

«Dann geh mit Gott», sagte Gustav Adolf.

«Was?»

Gustav Adolf boxte ihn gegen den Oberarm. «Du hast es auf dem rechten Fleck. Kannst stolz sein. Jetzt hau ab, ich muss einen Krieg gewinnen.»

«Nichts mehr?», fragte der König mit gepresster Stimme. «Das war das letzte Wort, das ist alles, geh mit Gott?»

«Ich brauch dich nicht. Die Pfalz krieg ich so oder so, und England wird mir wahrscheinlich sogar früher zur Seite stehen, wenn du nicht bei mir bist, du erinnerst sie nur an die alte Schmach und die verlorene Schlacht vor Prag. Ist besser für mich, wenn wir das nicht machen, ist auch besser für dich, du behältst deine Würde. Komm!» Er legte seinen Arm um die Schultern des Königs, führte ihn zum Ausgang und zog die Plane zur Seite.

Als sie in den Warteraum traten, standen alle auf. Graf Hudenitz nahm den Hut ab und verbeugte sich tief. Die Soldaten standen stramm.

«Was ist denn das für einer?», fragte Gustav Adolf.

Der König brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er den Narren meinte.

«Was ist denn das für einer?», wiederholte der Narr.

«Du gefällst mir», sagte Gustav Adolf.

«Du mir nicht», sagte der Narr.

«Der ist lustig, so einen brauch ich», sagte Gustav Adolf.

«Dich find ich auch lustig», sagte der Narr.

«Was willst du für den?», fragte Gustav Adolf den König.

«Das würde ich nicht empfehlen», sagte der Narr. «Ich bringe Unglück.»

«Wirklich wahr?»

«Schau, mit wem ich gekommen bin. Schau, wie's ihm ergangen ist.»

Gustav Adolf sah den König eine Weile an. Der erwiderte seinen Blick und bekam einen Hustenanfall, den er die ganze Zeit unterdrückt hatte.

«Geht», sagte Gustav Adolf. «Geht schnell, haut ab, beeilt euch. Ich will euch nicht länger im Lager haben.» Er wich zurück, als hätte er plötzlich Angst bekommen. Die Plane schloss sich flappend, er war verschwunden.

Der König wischte die Tränen weg, die ihm der Husten in die Augen getrieben hatte. Sein Hals tat weh. Er nahm den Hut ab, kratzte sich den Kopf und versuchte zu begreifen, was geschehen war.

Das war geschehen: Es war vorbei. Er würde seine Heimat nicht mehr wiedersehen. Und auch nach Prag würde er nicht mehr kommen. Er würde im Exil sterben.

«Gehen wir», sagte er.

«Was hat sich ergeben?», fragte Graf Hudenitz. «Was ist herausgekommen?»

«Später», sagte der König.

Trotz allem war er erleichtert, als das Heerlager endlich

hinter ihnen lag. Die Luft wurde besser. Der Himmel stand hoch und blau über ihnen, in der Ferne wölbten sich Hügel. Graf Hudenitz fragte ihn noch zweimal, was die Beratung ergeben habe und ob wohl mit einer Rückkehr nach Prag zu rechnen sei, aber als die Antwort ausblieb, gab er auf.

Der König hustete. Er fragte sich, ob das Wirklichkeit gewesen war: dieser feiste Mann mit den fleischigen Händen, die schrecklichen Dinge, die er gesagt hatte, das Angebot, das er hatte annehmen wollen, mit ganzer Kraft, und das er doch hatte ablehnen müssen. Warum eigentlich, fragte er sich plötzlich, warum hatte er es abgelehnt? Er wusste es nicht mehr, die Gründe, eben noch so zwingend, hatten sich in Nebel aufgelöst. Und er konnte diesen Nebel sogar sehen, bläulich füllte er die Luft und ließ die Hügel verschwimmen.

Er hörte den Narren aus seinem Leben erzählen, doch mit einem Mal kam es ihm so vor, als ob der Narr in seinem Inneren spräche, als ob er nicht neben ihm ritte, sondern eine fiebrige Stimme in seinem Kopf wäre, ein Teil seiner selbst, den er nie hatte kennen wollen. Er schloss die Augen.

Der Narr erzählte davon, wie er mit seiner Schwester davongelaufen war: Ihr Vater sei als Hexer verbrannt worden, ihre Mutter sei mit einem Rittersmann ins Morgenland gezogen, nach Jerusalem vielleicht oder ins ferne Persien, wer mochte das wissen.

«Aber sie ist doch gar nicht deine Schwester», hörte der König den Koch sagen.

Er und seine Schwester, sagte der Narr, seien zuerst mit

einem schlechten Moritatensänger herumgezogen, der gut zu ihnen gewesen sei, und dann mit einem Gaukler, von dem er alles gelernt habe, was er könne, einem Spaßmacher von Rang, einem guten Jongleur, einem Schauspieler, der sich vor keinem habe verstecken müssen, aber vor allem sei er ein böser Kerl gewesen, so gemein, dass Nele ihn für den Teufel gehalten habe. Doch dann hätten sie begriffen, dass jeder Gaukler ein wenig Teufel sei und ein wenig Tier und ein wenig harmlos auch, und sobald sie dies begriffen hätten, hätten sie den Pirmin, so habe er geheißen, nicht mehr gebraucht, und als er zu ihnen wieder besonders böse gewesen sei, habe ihm Nele ein Pilzgericht gekocht, das er so schnell nicht vergessen habe, oder vielmehr habe er es sofort vergessen, er sei nämlich dran krepiert, zwei Handvoll Pfifferlinge, ein Fliegenpilz, ein Stück vom schwarzen Knollenblätterling, mehr brauche man nicht. Die Kunst bestehe darin, Fliegen- und Knollenblätterpilz zu nehmen, denn zwar töte jeder der beiden, aber einzeln schmeckten sie bitter und fielen auf. Gemeinsam verkocht, vereinigten ihre Aromen sich zu einer feinen Süße, deren Wohlgeschmack keinen Verdacht aufkommen lasse.

«Heißt das, ihr habt ihn umgebracht?», fragte einer der Soldaten.

Nicht er, sagte der Narr. Die Schwester habe ihn umgebracht, er könne keiner Fliege was. Er lachte hell. Man habe keine Wahl gehabt. Der Mann sei so furchtbar böse gewesen, dass man ihn auch im Tod nicht losgeworden sei. Eine ganze Weile sei sein Geist ihnen hinterhergezogen, habe

ihnen nachts im Wald nachgekichert, sei in ihren Träumen aufgetaucht und habe diesen oder jenen Handel angeboten.

«Was für einen Handel?»

Der Narr schwieg, und als der König die Augen öffnete, bemerkte er, dass um sie jetzt Schneeflocken fielen. Er atmete tief ein. Schon löste die Erinnerung an den Pestilenzgestank des Heerlagers sich auf. Sinnend leckte er sich die Lippen, dachte an Gustav Adolf und musste wieder husten. Ritten sie etwa rückwärts? Das erschien ihm nicht weiter ungewöhnlich, bloß wollte er nicht zurück in das stinkende Lager, nicht wieder unter diese Soldaten und zu dem Schwedenkönig, der nur darauf wartete, ihn zu verspotten. Die Wiesen um sie waren bereits von dünnem Weiß überzogen, und auf den Baumstümpfen - das vorrückende Heer hatte alle Bäume gefällt - bildeten sich Schneehaufen. Er legte den Kopf in den Nacken. Der Himmel flimmerte von Flocken. Er dachte an seine Krönung, er dachte an die fünfhundert Sänger und den achtstimmigen Choral, er dachte an Liz im Juwelenmantel.

Stunden waren vergangen, vielleicht auch Tage, als er wieder in die Zeit zurückfand, jedenfalls hatte das Land sich abermals verändert, es lag nun so viel Schnee, dass die Pferde kaum vorankamen: Vorsichtig hoben sie die Hufe, bedächtig setzten sie sie ins hohe Weiß. Kalter Wind peitschte ihm ins Gesicht. Als er sich hustend umsah, fiel ihm auf, dass die holländischen Soldaten nicht mehr da waren. Nur Graf Hudenitz, der Koch und der Narr ritten noch neben ihm.

«Wo sind die Soldaten?», fragte er, aber die anderen

beachteten ihn nicht. Er wiederholte die Frage lauter, nun sah Graf Hudenitz ihn verständnislos an, kniff die Augen zusammen, blickte wieder nach vorne in den Wind.

Sind wohl abgehauen, dachte der König. «Ich habe das Heer, das ich verdiene», sagte er. Dann fügte er hustend hinzu: «Meinen Hofnarren, meinen Koch und meinen Kanzler eines Hofes, den es nicht mehr gibt. Meine Luftarmee, meine letzten Getreuen!»

«Zu Befehl», sagte der Narr, der ihn offenbar trotz des Windes verstanden hatte. «Jetzt und immerdar. Du bist krank, Majestät?»

Dem König wurde beinahe mit Erleichterung klar, dass es stimmte: deshalb also der Husten, deshalb der Schwindel, deshalb seine Schwäche vor dem Schweden, deshalb die Verwirrung. Er war krank! Es ergab so viel Sinn, dass er lachen musste.

«Ja», rief er fröhlich. «Bin krank!»

Während er sich vornüberbeugte, um zu husten, dachte er aus irgendeinem Grund an seine Schwiegereltern. Dass sie ihn nicht mochten, hatte er vom ersten Moment an gewusst. Aber er hatte sie bezwungen, mit seiner Eleganz und seinem ritterlichen Auftreten, mit seiner deutschen Klarheit, seiner inneren Kraft.

Und er dachte an seinen Ältesten. Den schönen Jungen, den alle so sehr geliebt hatten. Wenn ich nicht zurückkehre, hatte er ihm, dem Kind, gesagt, so kehrst doch du zurück ins Fürstentum und in den hohen Stand unserer Familie. Dann war

der Kahn gekentert, und er war ertrunken, und jetzt war er bei Gott, dem Herrn.

Wo ich auch bald bin, dachte der König und berührte seine glühende Stirn. In der ewigen Glorie.

Er drehte den Kopf zur Seite und rückte das Kissen zurecht. Sein Atem fühlte sich heiß an. Er zog die Decke über den Kopf, sie war schmutzig und roch nicht gut. Wie viele Leute hatten wohl schon in diesem Bett geschlafen?

Er strampelte die Decke fort und sah sich um. Offenbar war er in einem Herbergszimmer. Auf dem Tisch stand ein Krug. Auf dem Boden lag Stroh. Es gab nur ein Fenster, dick verglast, draußen wirbelte Schnee. Auf einem Schemel saß der Koch.

«Wir müssen weiter», sagte der König.

«Zu krank», sagte der Koch, «Eure Majestät können nicht, Ihr seid -»

«Papperlapapp», sagte der König. «Unsinn, Blödsinn, Torheit, Gerede. Liz wartet doch auf mich!»

Er hörte den Koch antworten, aber bevor er ihn verstehen konnte, musste er erneut eingeschlafen sein, denn er fand sich im Dom wieder, auf dem Thron, im Angesicht des Hochaltars, und er hörte den Chor und dachte an das Märchen von der Spindel, das ihm seine Mutter einst erzählt hatte. Plötzlich kam es ihm wichtig vor, aber sein Gedächtnis wollte es nicht in die richtige Ordnung bringen: Wenn man die Spindel abwickelte, wickelte sich auch ein Stück des Lebens ab, und je schneller man sie drehte, etwa weil man es eilig hatte oder weil einen etwas schmerzte oder weil die Dinge nicht waren, wie man es wollte, desto schneller verging auch das Leben, und schon war der Mann im Märchen am Ende der Spindel, und alles war vorbei und hatte doch noch kaum begonnen. Aber was in der Mitte geschehen war, daran konnte sich der König nicht mehr erinnern, und darum öffnete er die Augen und gab den Befehl, dass es jetzt weitergehen müsse, weiter nach Holland, wo sein Palast war und seine Frau mit dem Hofstaat wartete, angetan mit Seide und Diadem, wo die Feste kein Ende nahmen, jeden Tag gab es die Theateraufführungen, die sie so mochte, dargeboten von den besten Schauspielern aus aller Herren Länder.

Zu seiner Überraschung befand er sich wieder auf dem Pferd. Jemand hatte ihm einen Mantel um die Schultern gelegt, aber er spürte den Wind noch immer. Die Welt schien weiß - der Himmel, der Boden, auch die Hütten rechts und links vom Weg.

«Wo ist der Hudenitz?», fragte er.

«Der Graf ist weg!», rief der Koch.

«Wir mussten weiter», sagte der Narr. «Wir hatten kein Geld mehr, der Wirt hat uns rausgeworfen. König oder nicht, hat er gesagt, bei mir wird bezahlt!»

«Ja», sagte der König, «aber wo ist der Hudenitz?»

Er versuchte nachzuzählen, wie groß seine Armee noch war. Da war der Narr, und da war der Koch, und da war er selbst, und da war noch der Narr, das waren vier, doch als er zur Sicherheit ein zweites Mal nachzählte, kam er nur auf zwei,

nämlich den Narren und den Koch. Weil das aber nicht stimmen konnte, zählte er erneut und kam auf drei, aber beim nächsten Mal waren es wieder vier: der König von Böhmen, der Koch, der Narr, er selbst. Und da gab er auf.

«Wir müssen absteigen», sagte der Koch.

Und tatsächlich, der Schnee war zu hoch, die Pferde kamen nicht mehr vorwärts.

«Aber er kann nicht gehen», hörte der König den Narren sagen, und zum ersten Mal klang seine Stimme nicht hämisch, sondern wie die eines gewöhnlichen Menschen.

«Aber wir müssen absteigen», sagte der Koch. «Du siehst doch. Es geht nicht weiter.»

«Ja», sagte der Narr. «Das sehe ich.»

Während der Koch die Zügel hielt, stieg der König, gestützt auf den Narren, ab. Er versank bis zu den Knien. Das Pferd schnaufte erleichtert, als es das Gewicht los war, warmer Atem stieg von seinen Nüstern auf. Der König tätschelte ihm das Maul. Das Tier sah ihn aus trüben Augen an.

«Wir können die Pferde doch nicht einfach stehenlassen», sagte der König.

«Keine Sorge», sagte der Narr. «Bevor sie erfroren sind, wird jemand sie essen.»

Der König hustete. Der Narr stützte ihn von links, der Koch von rechts, und sie stapften los.

«Wohin gehen wir?», fragte der König.

«Nach Hause», sagte der Koch.

«Ich weiß», sagte der König, «aber heute. Jetzt. In der Kälte.

Wohin gehen wir jetzt?»

«Einen halben Tagesmarsch westlich soll es ein Dorf geben, wo noch Menschen sind», sagte der Koch.

«Genau weiß es niemand», sagte der Narr.

«Ein halber Tagesmarsch ist ein ganzer Tagesmarsch», sagte der Koch. «Bei so viel Schnee.»

Der König hustete. Er stapfte hustend, er hustete stapfend, er stapfte und stapfte, und er hustete, und er wunderte sich darüber, dass es ihm in der Brust kaum noch weh tat.

«Ich glaube, ich werde gesund», sagte er.

«Sicher», sagte der Narr. «Das sieht man. Das werdet Ihr, Majestät.»

Der König spürte, dass er hingefallen wäre, hätten ihn die beiden nicht gestützt. Immer höher waren die Schneeverwehungen, immer schwerer fiel es ihm, die Augen im kalten Wind offen zu halten. «Wo ist denn der Hudenitz?», hörte er sich zum dritten Mal fragen. Sein Hals schmerzte. Überall Schneeflocken, und als er die Augen schloss, sah er sie immer noch: glimmende, tanzende, wirbelnde Punkte. Er seufzte, die Beine knickten ihm ein, keiner hielt ihn, der weiche Schnee nahm ihn auf.

«Können ihn nicht liegen lassen», hörte er jemanden über sich sagen.

«Was sollen wir tun?»

Hände griffen nach ihm und zogen ihn nach oben, eine Hand strich ihm beinahe zärtlich über den Kopf, und das erinnerte ihn an seine liebste Kinderfrau, die ihn aufgezogen hatte,

damals in Heidelberg, als er nur ein Prinz und kein König und alles noch gut gewesen war. Seine Füße stapften im Schnee, und als er kurz die Augen öffnete, sah er neben sich die Konturen geborstener Dächer, leere Fenster, einen zerstörten Brunnenaufbau, aber Menschen waren nicht zu sehen.

«Wir können in keines hinein», hörte er. «Die Dächer sind kaputt, außerdem sind da Wölfe.»

«Aber hier draußen erfrieren wir», sagte der König.

«Wir zwei erfrieren nicht», sagte der Narr.

Der König sah sich um. Und wirklich, der Koch war nicht mehr zu sehen, er war allein mit Tyll.

«Er hat einen anderen Weg versucht», sagte der Narr. «Kann man ihm nicht übelnehmen. Jeder sorgt für sich im Sturm.»

«Warum erfrieren wir nicht?», fragte der König.

«Du glühst zu sehr. Dein Fieber ist zu stark. Die Kälte kann dir nichts, du stirbst noch vorher.»

«An was denn?», fragte der König.

«An der Pest.»

Der König schwieg einen Moment. «Ich habe die Pest?», fragte er dann.

«Armer Kerl», sagte der Narr. «Armer Winterkönig, ja, die hast du. Schon seit Tagen. Hast die Beulen nicht bemerkt an deinem Hals? Merkst es nicht beim Einatmen?»

Der König atmete ein. Die Luft war eisig. Er hustete. «Wenn es die Pest ist», sagte er, «dann wirst du dich ja anstecken.»

«Dafür ist es zu kalt.»

«Kann ich mich jetzt hinlegen?»

«Du bist ein König», sagte der Narr. «Du kannst tun, was du willst, wann du willst und wo.»

«Dann hilf mir! Ich lege mich hin.»

«Eure Majestät», sagte der Narr und stützte ihn im Nacken und half ihm auf den Boden.

Noch nie hatte der König so weich gelegen. Die Schneeverwehungen schienen schwach zu glimmen, der Himmel dunkelte schon, aber die Flocken waren immer noch ein helles Flirren. Er fragte sich, ob wohl die armen Pferde noch lebten. Dann dachte er an Liz. «Kannst du ihr eine Botschaft bringen?»

«Natürlich, Eure Majestät.»

Es passte ihm nicht, dass der Narr ihn so respektvoll ansprach, es gehörte sich nicht, denn dafür hatte man ja einen Hofnarren: damit einem der Verstand nicht einschlief bei all der Huldigung. Ein Narr musste frech sein! Er räusperte sich, um ihn zurechtzuweisen, aber dann musste er schon wieder husten, und das Sprechen fiel ihm zu schwer.

Da war doch noch etwas gewesen? Ach ja, die Botschaft an Liz. Sie hatte immer das Theater geliebt, er hatte das nie begriffen. Leute standen auf der Bühne und taten, als wären sie jemand anderer. Er musste lächeln. Ein König ohne Land im Sturm, allein mit seinem Narren - so etwas würde es nie in einem Stück geben, es war zu albern. Er versuchte, sich aufzusetzen, doch seine Hände sanken ein, er sackte wieder zurück. Was hatte er noch tun wollen? Ach so, die Nachricht an Liz.

«Die Königin», sagte er.

«Ja», sagte der Narr.

«Wirst du es ihr sagen?»

«Das werde ich.»

Der König wartete, aber der Narr machte noch immer keine Miene, ihn zu verspotten. Dabei war das doch seine Aufgabe! Ärgerlich schloss er die Augen. Zu seiner Überraschung änderte das gar nichts: Er sah den Narren immer noch, und er sah auch den Schnee. Er spürte Papier in seinen Händen, offenbar hatte es ihm der Narr zwischen die Finger geschoben, und er spürte etwas Festes, das war wohl ein Stück Kohle. Wir sehen uns wieder vor Gott, wollte er schreiben, ich hab nur dich geliebt im Leben, aber dann kam ihm alles durcheinander, und er war sich nicht mehr sicher, ob er das schon geschrieben hatte oder erst hatte schreiben wollen, und er wusste auch nicht mehr recht, an wen die Botschaft gehen sollte, darum schrieb er mit zittriger Hand: Gustav Adolf ist bald tot, das weiß ich jetzt, aber ich sterbe noch vorher. Doch das war ja gar nicht die Botschaft, darum ging es überhaupt nicht, deshalb schrieb er noch dazu: Pass gut auf den Esel auf, ich schenke ihn dir, aber nein, das hatte er nicht Liz sagen wollen, sondern dem Narren, und der Narr war hier, er konnte es ihm selbst sagen, während die Botschaft doch für Liz war. Also setzte er von neuem an und wollte schreiben, doch es war zu spät, es ging nicht mehr. Seine Hand erschlaffte.

Er konnte nur hoffen, dass er alles, was wichtig war, schon aufgeschrieben hatte.

Ohne Mühe erhob er sich und ging. Als er sich noch einmal umsah, merkte er, dass sie wieder zu dritt waren: der Narr, kniend in seinem Fellmantel, der König auf dem Boden, halb war sein Körper schon bedeckt vom Weiß, und er. Der Narr sah auf. Ihre Blicke begegneten einander. Der Narr hob die Hand an die Stirn und verneigte sich.

Er senkte grüßend den Kopf, wandte sich ab und ging davon. Nun, da er nicht mehr einsank, kam er viel schneller voran.

Hunger

« E war einmal», erzählt Nele.

Sie sind schon den dritten Tag im Wald. Hin und wieder dringt etwas Licht durchs Blätterdach, und trotz der Laubdecke über ihnen werden sie nass vom Regen. Sie fragen sich, ob der Wald je enden wird. Pirmin, der vor ihnen geht und sich dann und wann das Halbrund seiner Glatze kratzt, dreht sich nicht nach ihnen um; manchmal hören sie ihn murmeln, manchmal in einer fremden Sprache singen. Sie kennen ihn jetzt schon gut genug, um ihn nicht anzusprechen, denn das kann ihn wütend machen, und ist er einmal wütend, dauert es nicht mehr lang, und er tut ihnen weh.

«Eine Mutter hatte drei Töchter», erzählt Nele. «Sie besaßen eine Gans. Die legte ein güldnes Ei.»

«Was für ein Ei?»

«Ein goldenes.»

«Du hast gülden gesagt.»

«Das ist das Gleiche. Die Töchter waren sehr unterschiedlich, zwei waren böse, sie hatten schwarze Seelen, aber sie waren schön. Die jüngste dagegen war gut, und ihre Seele war weiß wie Schnee.»

«War sie auch schön?»

«Die Schönste der drei. Schön wie der junge Tag.»

«Der junge Tag?»

«Ja», sagt sie ärgerlich.

«Ist der schön?»

«Sehr.»

«Der junge Tag?»

«Sehr schön. Und die bösen Schwestern zwangen die jüngste zu arbeiten, ohne Unterlass bei Tag und Nacht, und die Finger scheuerte sie sich blutig, und ihre Füße wurden zu schmerzenden Klumpen, und das Haar wurde ihr grau vor der Zeit. Eines Tages brach das güldene Ei auf, und ein Däumling trat heraus und fragte: Jungfer, was wünschst du dir?»

«Wo war das Ei die ganze Zeit vorher?»

«Ich weiß nicht, das lag irgendwo.»

«Die ganze Zeit über?»

«Ja, das lag irgendwo.»

«Ein Ei aus Gold? Das hat wirklich keiner genommen?»

«Es ist ein Märchen!»

«Hast du's erfunden?»

Nele schweigt. Die Frage scheint ihr sinnlos. Die Silhouette des Jungen im Waldeszwielicht sieht sehr schmal aus - er geht etwas gebeugt, der Kopf vorgereckt über seiner Brust, sein Körper spillerig dürr, als wäre er eine zum Leben erweckte Holzfigur. Hat sie dieses Märchen erfunden? Sie weiß es selbst nicht. So viel hat sie erzählen hören, von ihrer Mutter und ihren zwei Tanten und der Großmutter, so viel von Däumlingen und güldenen Eiern und Wölfen und Rittern und Hexen und guten sowie bösen Schwestern, dass sie nicht nachzudenken braucht; fängt man einmal an, so geht es ganz von selbst weiter, und die Teile fügen sich zusammen, mal so und mal so, und schon hat man ein Märchen.

«Na, erzähl weiter», sagt der Junge.

Während sie davon erzählt, dass der Däumling die schöne Schwester auf deren Bitte hin in eine Schwalbe verwandelt, damit sie ins Schlaraffenland davonfliegen kann, wo alles gut ist und keiner Hunger leidet, fällt Nele auf, dass der Wald immer dichter wird. Eigentlich sollten sie sich der Stadt Augsburg nähern. Aber es sieht nicht danach aus.

Pirmin bleibt stehen. Er dreht sich schnüffelnd um sich selbst. Etwas hat seine Aufmerksamkeit erregt. Er beugt sich vor und betrachtet einen Birkenstamm, die weißschwarze Rinde, die Höhlung eines Astlochs.

«Was ist da?», fragt Nele und erschrickt im gleichen Moment über ihre Unbedachtheit. Sie spürt, dass der Junge neben ihr erstarrt.

Langsam dreht Pirmin ihnen seinen großen, unförmig kahlen Kopf zu. Seine Augen glitzern feindselig.

«Erzähl weiter», sagt er.

An ihren Armen und Beinen spürt sie noch genau, wo er sie gezwickt hat, und ihre Schulter schmerzt noch fast wie vor vier oder fünf Tagen, als er ihr mit kundigem Griff den Arm auf den Rücken gedreht hat. Der Junge wollte ihr helfen, aber da hat er ihm so fest in den Magen getreten, dass er für den Rest des Tages nicht mehr hat aufrecht stehen können.

Und doch ist Pirmin bisher nicht zu weit gegangen. Er hat

ihnen weh getan, aber nicht zu weh, und sooft er Nele auch angefasst hat, so war es doch nie oberhalb des Knies oder unterhalb des Nabels. Da er weiß, dass die beiden jederzeit davonlaufen können, hält er sie auf die einzig mögliche Art: Er bringt ihnen bei, was sie lernen wollen.

«Erzähl weiter», sagt er wieder. «Ich bitte nicht noch mal.»

Und Nele, die sich immer noch fragt, was er wohl in dem Astloch gesehen hat, erzählt davon, wie der Däumling und die Schwalbe ans Tor des Schlaraffenlands kommen, das bewacht wird von einem Wächter, groß wie ein Turm. Er sagt: Hier werdet ihr nie hungrig sein und nie durstig, aber ihr kommt nicht rein! Sie bitten ihn und betteln und flehen, doch er kennt keine Gnade, der Wächter hat ein steinernes Herz, das liegt zentnerschwer in seiner Brust, ohne zu schlagen, und so sagt er nur immerzu: Ihr kommt nicht rein! Ihr kommt nicht rein!

Nele schweigt. Die beiden blicken sie an und warten.

«Und?», fragt Pirmin.

«Sie sind nicht reingekommen», sagt Nele.

«Nie?»

«Sein Herz war aus Stein!»

Pirmin starrt sie einen Moment an, dann lacht er auf und geht weiter. Die beiden Kinder folgen ihm. Es ist bald Nacht, und anders als Pirmin, der ihnen kaum je etwas abgibt, haben sie nichts mehr zu essen.

Normalerweise erträgt Nele den Hunger besser als der Junge. Sie stellt sich dann vor, der Schmerz und die Schwäche in ihrem Inneren wären etwas, das anderswo hingehört und mit ihr nichts zu tun hat. Aber heute ist es der Junge, dem es besser gelingt. Sein Hunger fühlt sich an wie etwas Leichtes, ein Pochen und Schweben, fast ist ihm, als könnte er in die Luft steigen. Während die beiden hinter Pirmin hergehen, ist er mit seinen Gedanken noch bei der Lektion vom Vormittag: Wie machst du einen Menschen nach? Wie stellst du es an, jemandem kurz ins Gesicht zu sehen und dann er zu sein - deinen Körper zu halten, wie er den seinen hält, deine Stimme klingen zu lassen wie seine, zu blicken wie er?

Nichts lieben die Leute so sehr wie das, über nichts anderes lachen sie so gerne, aber du musst es gut treffen, denn machst du es falsch, bist du armselig. Um jemanden nachzumachen, du Idiot, du dummes Kind, du verstockter, unbegabter Stein, musst du ihm nicht bloß ähnlich werden, sondern du musst ihm ähnlicher sein, als er sich selbst ist, denn er kann es sich leisten, irgendwie zu sein, aber du musst ganz und gar er werden, und wenn du das nicht kannst, dann gib auf, lass es, geh zurück zu Papas Mühle und verschwende nicht Pirmins Zeit!

Es geht ums Hinsehen, begreifst du? Das ist das Wichtigste: Schau hin! Versteh die Leute. So schwer ist das nicht. Sie sind nicht kompliziert. Sie wollen nichts Ausgefallenes, nur will jeder das, was er will, auf etwas andere Weise. Und verstehst du einmal, auf welche Weise einer etwas will, dann musst du nur wollen wie er, und dein Körper wird folgen, dann ändert die Stimme sich von selbst, dann blicken auch deine Augen richtig.

Natürlich musst du üben. Das muss man immer. Üben und üben und üben. So, wie du den Tanz auf dem Seil üben musst oder das Gehen auf Händen, oder wie du noch lange üben musst, bevor du es schaffen wirst, sechs Bälle auf einmal in der Luft zu halten: Immer und immer musst du üben, und zwar mit einem Lehrer, der dir nichts durchgehen lässt, denn sich selbst lässt man immer viel durchgehen, mit sich selbst ist man nicht streng, sodass es am Lehrer ist, dich zu treten und zu schlagen und dich auszulachen und dir zu sagen, dass du ein Wicht bist, der es nie können wird.

Und schon hat der Junge vor lauter Nachdenken darüber, wie man Leute nachmacht, fast seinen Hunger vergessen. Die Stegers stellt er sich vor und den Schmied und den Priester und die alte Hanna Krell, von der er ja nicht gewusst hat, dass sie eine Hexe ist, aber jetzt, wo er es weiß, ergibt so manches neuen Sinn. Einen nach dem anderen beschwört er sie herbei und stellt sich vor, wie jeder sich hält und spricht; er beugt die Schultern, zieht die Brust ein, bewegt lautlos die Lippen: Hilf mir mit dem Hammer, Junge, schlag den Nagel ein, und seine Hand zittert leicht, da er sie hebt, das macht das Rheuma.

Pirmin bleibt stehen und befiehlt ihnen, trockene Äste zu sammeln. Sie wissen, dass das aussichtslos ist: Nach drei Tagen Regen ist die Nässe in alles gekrochen, da ist nichts verschont geblieben, da gibt es nichts Trockenes mehr. Aber weil sie nicht wollen, dass Pirmin wütend wird, bücken sie sich und kriechen hierhin und dorthin und fassen in die Büsche und tun, als wären sie auf der Suche.

«Wie geht es denn aus?», flüstert der Junge. «Kommen sie ins Schlaraffenland?»

«Nein», flüstert sie. «Sie finden ein Schloss, in dem ein böser König regiert, den töten sie, und das Mädchen wird Königin.»

«Heiratet sie den Däumling?»

Nele lacht.

«Warum nicht?», fragt der Junge. Er ist selbst überrascht, dass er das wissen will, aber am Schluss eines Märchens muss geheiratet werden, sonst ist es nicht zu Ende, sonst liegen die Dinge falsch.

«Wie soll sie denn den Däumling heiraten?»

«Warum nicht!»

«Er ist ein Däumling.»

«Wenn er zaubern kann, macht er sich groß.»

«Na schön, dann verzaubert er sich und wird zu einem Prinzen, und sie heiraten, und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch heute. Gut?»

«Besser.»

Aber als Pirmin die feuchten Äste sieht, die sie ihm bringen, beginnt er zu schreien, zu schlagen und zu zwicken. Seine Hände sind schnell und stark, und gerade wenn man meint, einer von ihnen durch einen Satz entkommen zu sein, hat einen die andere schon erfasst.

«Ratten», schreit er, «Beutelratten, dumme, nichtsnutzige Dreckschnecken, zu nichts seid ihr nutze, kein Wunder, dass die Eltern euch weggejagt haben!»

«Stimmt nicht», sagt Nele. «Weggerannt sind wir.»

«Jaja», ruft Pirmin, «und seinen Vater hat der Henker verbrannt, ich weiß es, ich hab es oft gehört!»

«Gehängt», sagt der Junge. «Nicht verbrannt.»

«Hast du's gesehen?»

Der Junge schweigt.

«Eben streben!» Pirmin lacht. «Eben geben heben, nichts weißt du, dich beißt du! Wen man als Hexer hängt, den verbrennt man danach als Toten, so geht das, so wird es gemacht. Also ist er verbrannt worden, und gehängt hat man ihn noch dazu.»

Pirmin geht in die Hocke, fingert brummend am Holz herum, reibt Stöcke aneinander und spricht dabei leise vor sich hin - ein paar Sprüche erkennt der Junge, brenn, Feuer, Gotts Feuer, Engel, trag's herab, zünd mein Hölzlein, bring mein Flämmlein, brenne diesen Stab; es ist eine alte Formel, die auch Claus verwendet hat. Und wirklich dauert es nicht lange, bis der Junge das vertraute Aroma von brennendem Holz riecht. Er öffnet die Augen und klatscht in die Hände. Grinsend deutet Pirmin eine Verbeugung an. Er bläht die Backen und bläst Luft ins Feuer. Der Widerschein der Glut spielt auf seinem Gesicht. Hinter ihm tanzt sein Schatten, riesenhaft vergrößert, auf den Baumstämmen.

«Und jetzt spielt mir was vor!»

«Wir sind müde», sagt Nele.

«Wenn ihr essen wollt, spielt. So ist das jetzt. So bleibt das, bis ihr krepiert. Ihr gehört zum fahrenden Volk, keiner schützt euch, und wenn es regnet, habt ihr kein Dach. Kein Zuhause.

Keine Freunde außer anderen wie euch, die euch nicht sehr mögen werden, weil das Essen knapp ist. Dafür seid ihr frei. Müsst keinem gehorchen. Nur schnell genug weglaufen müsst ihr, wenn es brenzlig wird. Und wenn ihr Hunger habt, müsst ihr spielen.»

«Gibst du uns Essen?»

«Nein, Schwein, grein, nein, nein!» Pirmin schüttelt lachend den Kopf, dann lässt er sich hinter dem Feuer nieder. «Nichts mehr, kein Bröcklein, kein Stöcklein, und seid nicht zu laut, denn es gibt Söldner im Wald. Um die Zeit sind sie sehr betrunken, und wütend werden sie auch sein, weil die Bauern bei Nürnberg sich zusammengerottet haben. Wenn die uns finden, geht es uns schlecht.»

Die beiden zögern einen Moment, denn sie sind wirklich sehr müde. Aber deshalb sind sie schließlich hier, deshalb sind sie mit Pirmin gegangen - um etwas vorzuspielen, um Kunststücke zu lernen.

Zunächst führt der Junge seinen Seiltanz auf. Er spannt das Seil nicht sehr hoch, obgleich er inzwischen nicht mehr herunterfällt - aber man weiß nie, was Pirmin tun wird, er könnte plötzlich etwas nach ihm werfen oder am Seil rütteln. Der Junge macht ein paar vorsichtige Schritte, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie straff das Seil hängt, das er in der Dämmerung kaum noch sehen kann, dann gewinnt er Sicherheit und geht schneller, dann läuft er auf der Stelle. Er springt, dreht sich in der Luft, kommt auf und läuft rückwärts bis ans Ende. Er läuft wieder zurück, beugt sich vor, läuft

plötzlich auf den Händen, erreicht wieder das andere Ende, überschlägt sich, kommt auf den Füßen zu stehen, rudert nur kurz mit den Armen, findet sein Gleichgewicht und verbeugt sich. Er springt zu Boden.

Nele klatscht wild in die Hände.

Pirmin spuckt aus. «Das am Schluss war hässlich.»

Der Junge bückt sich, hebt einen Stein auf, wirft ihn hoch, fängt ihn wieder, ohne hinzusehen, und wirft ihn wieder hoch. Während der Stein in der Luft ist, hebt er einen zweiten auf und wirft ihn, fängt den ersten, wirft ihn, hebt blitzartig einen dritten auf, fängt den zweiten, wirft ihn wieder, wirft ihm den dritten nach, fängt und wirft den ersten und geht in die Knie, um einen vierten Stein zu nehmen. Schließlich hat er fünf, die um seinen Kopf wirbeln, ein Auf und Ab im Abendlicht. Nele hat den Atem angehalten. Pirmin rührt sich nicht und starrt, seine Augen sind schmale Schlitze.

Die Schwierigkeit liegt darin, dass die Steine nicht gleich geformt sind und nicht gleich schwer. Daher muss die Hand sich an jeden anpassen, muss jedes Mal etwas anders greifen. Bei den schweren muss der Arm etwas mehr nachgeben, bei den leichten kraftvoller werfen, sodass sie alle gleich schnell fliegen und auf gleicher Bahn. Das geht nur, wenn man viel geübt hat. Es geht aber auch nur, wenn man vergisst, dass man es selbst ist, der die Steine wirft. Man muss ihnen gewissermaßen nur dabei zusehen, wie sie fliegen. Sobald man zu sehr beteiligt ist, kommt alles durcheinander, und wenn man dabei denkt, gerät man aus dem Rhythmus, und schon

geht es nicht mehr.

Für eine kleine Weile schafft der Junge es noch. Er denkt nicht, er hält sich innerlich am Rand, er blickt empor und sieht die Steine über sich. Zwischen den Blättern nimmt er das letzte Licht des dunkelnden Himmels wahr, er spürt Tropfen auf der Stirn und den Lippen, er hört das Knistern der Flammen, und da fühlt er schon, dass es nicht mehr lange gehen, dass gleich alles durcheinandergeraten wird - und um dem zuvorzukommen, lässt er den ersten Stein hinter sich ins Unterholz wirbeln, dann den zweiten, den dritten, den vierten und schließlich den letzten, und er betrachtet erstaunt seine leeren Hände: Wo sind sie hin? In gespielter Ratlosigkeit verbeugt er sich.

Nele klatscht wieder, Pirmin macht eine abfällige Handbewegung - aber daran, dass er nichts Böses sagt, erkennt der Junge, dass er es gut gemacht hat. Natürlich könnte er besser jonglieren, wenn Pirmin ihm seine Jonglierbälle leihen würde. Er hat sechs davon, aus dickem Leder, glatt und handlich, jeder in einer anderen Farbe, sodass sie zu einer bunt schillernden Fontäne werden, wenn man sie schnell genug fliegen lässt. Pirmin hat sie in dem Jutesack, den er stets über der Schulter trägt und den die Kinder nicht anzurühren wagen; versucht es, greift nur hinein, ich breche euch die Finger. Der Junge hat Pirmin jonglieren sehen, auf diesem oder jenem Marktflecken; er macht es sehr geschickt, aber nicht mehr ganz so agil, wie er wohl früher gewesen ist, und wenn man aufpasst, kann man sehen, dass er durch das

viele Starkbier allmählich den Sinn fürs Gleichgewicht verliert. Mit diesen Bällen könnte der Junge es wahrscheinlich schon besser. Aber genau deshalb wird Pirmin ihm nie gestatten, sie zu benützen.

Nun ist es Zeit für das Schauspiel. Der Junge nickt Nele zu, sofort springt sie heran und beginnt zu erzählen: Zwei Armeen versammelten sich einst vorm goldenen Prag, Trompeten schmettern, es funkeln der Krieger Harnische, und da ist der junge König, voll Mut, in Begleitung seiner englischen Gemahlin. Doch den Generälen des Kaisers ist nichts heilig, sie schlagen ihre Trommeln, hörst du sie? Es zieht das Verhängnis der Christenheit auf.

Die Kinder wechseln von einer Rolle in die nächste, sie ändern Tonfall, Stimme und Sprache, und da sie weder Tschechisch noch Französisch oder Latein können, sprechen sie das schönste Kauderwelsch. Der Junge ist ein Heerführer des Kaisers, er gibt das Kommando, er hört die Kanonen hinter sich brüllen, er sieht die böhmischen Musketiere ihre Waffen auf ihn richten, er hört den Befehl zum Rückzug, doch er schlägt ihn in den Wind, mit Rückzug gewinnt man nicht! Und er rückt vor, die Gefahr ist groß, aber das Glück ist mit ihm, die Musketiere weichen dem Mut seines Regiments, die Siegesfanfaren schmettern, er kann sie deutlicher hören als den Regen, und schon befindet er sich im goldenen Thronsaal des Kaisers. Milde sitzt die Majestät auf dem Thron, mit weicher Hand legt sie ihm eine Ordensschärpe um: Heute habt Ihr mein Reich gerettet, Generalissimus! Er sieht die Gesichter der Großen des Reichs, er neigt den Kopf, sie beugen sich in Demut. Da tritt eine edle Frau auf ihn zu: Auf ein Wort, ich habe einen Auftrag! Ruhig spricht er: Was es auch sei, und koste es mein Leben, denn ich liebe Euch. Ich weiß das, edler Herr, antwortet sie, doch Ihr müsst es vergessen. Hört meinen Auftrag. Ich will, dass Ihr -

Etwas schlägt an seinen Kopf; Funken sprühen, die Beine knicken dem Jungen ein, er braucht einen Moment, um zu begreifen, dass Pirmin etwas geworfen hat. Er betastet seine Stirn, er beugt sich vor, da liegt der Stein. Wieder einmal ist er beeindruckt, wie gut Pirmin zielen kann.

«Ihr Ratten», sagt Pirmin. «Nichtskönner. Glaubt ihr, irgendwer will das sehen? Wer mag spielende Kinder anglotzen? Macht ihr das für euch? Dann geht zurück zu den Eltern, sofern die nicht verbrannt sind. Oder macht ihr's für Zuschauer? Dann müsst ihr besser sein. Bessere Geschichte, besseres Spiel, schneller, mehr Kraft, mehr Witz, mehr von allem! Dann müsst ihr's geprobt haben!»

«Seine Stirn!», schreit Nele. «Er blutet!»

«Aber nicht genug. Er soll viel mehr bluten. Wer sein Geschäft nicht kann, der soll den ganzen Tag bluten.»

«Du Schwein!», schreit Nele.

Versonnen hebt Pirmin noch einen Stein auf.

Nele duckt sich.

«Wir fangen noch mal an», sagt der Junge.

«Heute mag ich nicht mehr», sagt Pirmin.

«Doch», sagt der Junge. «Doch, doch. Einmal noch.»

«Ich will nicht mehr, lasst es sein», sagt Pirmin.

Also setzen sie sich zu ihm. Das Feuer ist zu einem schwachen Glimmen heruntergebrannt. Dem Jungen kommt eine Erinnerung, von der er nicht weiß, ob er sie erlebt oder geträumt hat: Nachtlärm aus dem Dickicht, Summen und Krachen und Knacken von überall her, und ein großes Tier, der Kopf eines Esels, die Augen aufgerissen, ein Schrei, wie er ihn noch nie gehört hat, und das heiße, strömende Blut. Er schüttelt den Kopf, schiebt es weg, fasst nach Neles Hand. Ihre Finger drücken die seinen.

Pirmin kichert. Wieder einmal fragt sich der Junge, ob dieser Mann seine Gedanken liest. So schwer ist das nicht, das hat ihm schon Claus erklärt, man muss nur die richtigen Sprüche kennen.

Eigentlich ist Pirmin kein übler Kerl. Nicht ganz übel jedenfalls, nicht so durch und durch, wie es auf den ersten Blick scheint. Manchmal ist etwas Weiches an ihm, eine Nachgiebigkeit, die zur Milde werden könnte, müsste er nicht das harte Leben des fahrenden Volkes führen. Er ist eigentlich zu alt, um noch von Ort zu Ort zu ziehen, den Regen zu ertragen und unter Bäumen zu schlafen, aber irgendwie sind durch Pech und Missgeschick alle Gelegenheiten für eine Stellung mit Kost und Bleibe an ihm vorbeigegangen, und jetzt wird sich auch keine neue mehr finden. Entweder werden seine Knie in ein paar Jahren so schmerzen, dass er nicht mehr wandern kann, dann wird er im erstbesten Dorf bleiben müssen, bei irgendeinem Bauern, der genug Mitleid hat, ihn als

Taglöhner aufzunehmen, wofür er aber viel Glück brauchen wird, denn keiner will fahrendes Volk bei sich, es bringt Unglück und schlechtes Wetter und lässt die Nachbarn übel reden. Oder aber Pirmin wird betteln müssen, vor der Mauer von Nürnberg, Augsburg oder München, denn ins Innere der Städte lässt man Bettler nicht. Leute werfen den Unglücklichen Essen hin, aber es reicht nie für alle, die Stärkeren nehmen es. Dort also wird Pirmin verhungern.

Oder aber es kommt gar nicht so weit. Zum Beispiel, weil er irgendwo auf dem Weg strauchelt - feuchte Wurzeln sind tückisch, es ist kaum zu glauben, wie rutschig nasses Holz sein kann; oder ein Stein, auf den er beim Emporklettern tritt, liegt nicht so fest, wie es scheint. Dann wird er mit gebrochenem Bein am Wegrand liegen, und wer an ihm vorbeizieht, wird angewidert einen Bogen machen um den Kerl im Dreck, denn was sollte er auch tun, ihn tragen? Ihn wärmen und nähren, ihn versorgen wie einen Bruder? So etwas passiert in Heiligenlegenden, aber in der Wirklichkeit geschieht das nicht.

Was also ist das Beste, das Pirmin passieren kann? Dass sein Herz stehenbleibt. Dass mit einem Mal ein Stechen durch seine Brust geht, dass ihm unerwartet der Schmerz durch die Eingeweide fährt, während eines Auftritts auf dem Marktplatz: Er sieht zu den Bällen auf, dann ein Augenblick der hellsten Pein, dann ist alles vorbei.

Er könnte es selbst herbeiführen. Schwer wäre es nicht. Viele fahrende Leute tun es - sie kennen die Pilze, die einen sanft in den Schlaf führen. Nur hat Pirmin ihnen in einem schwachen

Moment gestanden, dass er sich nicht traut. Gott hat sein härtestes Gebot dagegengesetzt: Wer sich tötet, entflieht zwar der Unbill dieser Welt, aber er tut es um den Preis ewiger Marter in der nächsten. Und ewig - das bedeutet nicht einfach lange Zeit. Es bedeutet, dass die längste Zeit, die du dir nur ausmalen kannst, und seien es auch tausendmal so viele Jahre, wie ein Vogel braucht, um den Blocksberg mit seinem Schnabel wegzuwetzen, bloß der allerkleinste Teil des kleinsten Teils davon ist. Und obgleich es so lange dauert, gewöhnst du dich nicht an den Schrecken, nicht an die Einsamkeit, nicht an den Schmerz. So ist das eingerichtet. Wer also kann Pirmin übelnehmen, dass er ist, wie er ist?

Dabei hätte alles anders kommen können. Er hat auch gute Zeiten gesehen. Er hatte einst eine Zukunft. Auf dem Höhepunkt seines Lebens hat er es bis nach London geschafft, und wann immer das Starkbier ihn betrunken macht, beginnt er, davon zu reden. Dann erzählt er von der Themse, so breit im Abendschein, von den Schenken und vom Gewimmel auf den Straßen - derart riesig sei die Stadt, dass man tagelang gehen könne und nicht ihr Ende erreiche! Und Theater gebe es auf Schritt und Tritt. Er habe die Sprache nicht verstanden, aber die Anmut der Schauspieler und die Wahrheit in ihren Gesichtern habe ihn ergriffen wie später nichts anderes mehr.

Er ist damals jung gewesen. Er war einer der vielen Schausteller, die mit dem Tross des jungen Kurprinzen Friedrich über den Kanal gekommen sind. Der ist nach England gereist, um Prinzessin Elisabeth zu heiraten, und da die

Engländer Schausteller schätzen, hat er alles mitgebracht, was sein Land zu bieten hat: Bauchredner, Feuerschlucker, Kunstrülpser, Puppenspieler, Schaukämpfer, Handgeher, Bucklige, malerische Krüppel und eben auch Pirmin. Am dritten Tag der Festlichkeit hat Pirmin im Haus eines gewissen Bacon vor all den großen Herren und Damen seine Bälle geworfen. Die Tische waren mit Blüten bedeckt, der Hausherr stand mit klugem, bösem Lächeln am Eingang des Saals.

«Ich sehe sie noch vor mir», sagt Pirmin. «Die steife Prinzessin, der Bräutigam, der nicht weiß, wie ihm geschieht. Wir sollten ihn suchen!»

«Was sollen wir?»

«Ihn suchen! Es heißt, dass er von Land zu Land zieht und dem protestantischen Adel die Haare vom Kopf frisst. Es heißt, er tut noch so, als wäre er König. Es heißt, er schleppt seinen eigenen kleinen Hofstaat mit. Aber hat er einen Narren? Vielleicht ist ein alter Hofnarr das, was ein König ohne Land braucht.»

Oft hat Pirmin das gesagt. Auch das macht das viele Bier: Er wiederholt sich, und es ist ihm egal. Aber jetzt am Feuer kaut er auf seinem letzten Stück Dörrfleisch, während die Kinder hungrig neben ihm sitzen und auf die Waldgeräusche horchen. Sie halten einander bei den Händen und versuchen, an Dinge zu denken, die sie vom Hunger ablenken.

Mit etwas Übung geht das ganz gut. Kennt man den Hunger wirklich, so weiß man auch, wie man es anstellt, ihn für eine Weile zu ersticken. Man muss jedes Bild von essbaren Dingen

aus sich verbannen, muss die Fäuste ballen, sich zusammennehmen, es einfach nicht erlauben. Stattdessen kann man ans Jonglieren denken, das sich nämlich auch in Gedanken üben lässt - man wird dadurch besser. Oder man stellt sich vor, wie man sich übers Seil bewegt, wundersam hoch, über Gipfel und Wolken. Der Junge blinzelt in die Glut. Der Hunger macht einen leichter. Und während er ins rote Glimmen sieht, ist ihm, als sähe er unter sich den hellen, weiten Tag, als würde die Sonne ihn blenden.

Nele legt den Kopf an seine Schulter. Mein Bruder, denkt sie. Er ist jetzt alles, was ihr bleibt. Sie denkt ans Zuhause, das sie nicht wiedersehen wird, an die Mutter, die meist traurig gewesen ist, an den Vater, der sie schlimmer geschlagen hat als Pirmin, und an die Geschwister und Knechte. Sie denkt an das Leben, das vor ihr gelegen hat: den Steger-Sohn, die Arbeit in der Bäckerei. Natürlich erlaubt sie sich nicht, an das Brot zu denken - aber jetzt, da sie daran gedacht hat, dass sie nicht daran denken darf, ist es doch passiert, und sie sieht den weichen Brotlaib vor sich, und sie kann ihn riechen, und sie spürt, wie er sich zwischen ihren Zähnen anfühlen würde.

«Lass es!», sagt der Junge.

Und da muss sie lachen und fragt sich, woher er weiß, was sie gedacht hat. Aber es hat gewirkt, das Brot ist weg.

Pirmin ist vornübergesunken. Wie ein schwerer Sack liegt er auf dem Boden, sein Rücken hebt und senkt sich, und er schnarcht wie ein Tier.

Besorgt sehen die Kinder sich um.

Kalt ist es.

Bald wird das Feuer erloschen sein.

Die große Kunst von Licht und Schatten

Adam Olearius, der Gottorfer Hofmathematiker, Kurator des herzoglichen Kuriositätenkabinetts und Autor eines Berichts über eine strapaziöse Gesandtschaftsreise nach Russland und Persien, von der er wenige Jahre zuvor fast unbeschadet zurückgekehrt war, war eigentlich nicht auf den Mund gefallen, doch heute fiel ihm vor Unruhe das Sprechen schwer. Denn vor ihm stand, umringt von einem halben Dutzend Sekretären in schwarzen Kutten, bedächtig, aufmerksam und seine unbegreiflich reiche Bildung wie eine leichte Bürde tragend, kein anderer als Pater Athanasius Kircher, Professor des Collegium Romanum.

Obwohl es ihr erstes Treffen war, behandelten sie einander, als hätten sie sich schon ihr halbes Leben lang gekannt. So war es unter Gelehrten üblich. Olearius erkundigte sich, was den ehrwürdigen Kollegen hergeführt habe, wobei er absichtlich im Unklaren ließ, ob er damit das Heilige Römische Reich Deutscher Nation oder Holstein oder das hinter ihnen aufragende Schloss Gottorf meinte.

Kircher überlegte eine Weile, als müsste er die Antwort aus den Tiefen seines Gedächtnisses hervorholen, bevor er mit leiser und etwas zu hoher Stimme erwiderte, dass er die Ewige Stadt verschiedener Vorhaben wegen verlassen habe, deren

wichtigstes es sei, ein Heilmittel gegen die Pest zu finden.

«Gott steh uns bei», sagte Olearius, «ist sie wieder in Holstein?»

Kircher schwieg.

Es irritierte Olearius, wie jung sein Gegenüber war: Kaum vermochte man sich vorzustellen, dass dieser Kopf mit den weichen Gesichtszügen das Rätsel der Magnetkraft, das Rätsel des Lichts, das Rätsel der Musik sowie angeblich auch das Rätsel der Schrift des alten Ägypten gelöst hatte. Olearius war sich der eigenen Bedeutung bewusst und galt nicht als einer der Bescheidensten. Aber in Gegenwart dieses Mannes drohte ihm die Stimme zu versagen.

Es verstand sich von selbst, dass zwischen Gelehrten keine Religionsfeindschaft herrschte. Vor fast einem Vierteljahrhundert, als der große Krieg begonnen hatte, wäre das noch anders gewesen, aber die Dinge hatten sich geändert. In Russland hatte der Protestant Olearius sich mit französischen Mönchen angefreundet, und es war kein Geheimnis, dass Kircher mit vielen calvinistischen Gelehrten im Briefwechsel stand. Nur vorhin, als Kircher nebenher den Tod des schwedischen Königs bei der Schlacht von Lützen erwähnt und in diesem Zusammenhang von der Gnade des gütigen Herrgotts gesprochen hatte, hatte sich Olearius innerlich Gewalt antun müssen, um nicht zu antworten, dass Gustav Adolfs Tod eine Katastrophe gewesen sei, in der jeder vernünftige Mensch die Hand des Teufels habe erkennen müssen.

«Ihr sagt, dass Ihr die Pest kurieren wollt.» Olearius, noch immer ohne Antwort, räusperte sich. «Und Ihr sagt, dass Ihr dafür nach Holstein gekommen seid. Ist also die Pest zu uns zurückgekommen?»

Kircher ließ einen weiteren Moment verstreichen und betrachtete, wie es offenbar seine Gewohnheit war, seine Fingerspitzen, bevor er antwortete, dass er natürlich nicht hierhergekommen wäre, um ein Heilmittel gegen die Pest zu finden, wenn die Pest in dieser Gegend wüten würde, denn wo sie wüte, da finde man ja das Mittel, um ihre Ausbreitung zu verhindern, gerade nicht. Gottes Güte habe es so trefflich gefügt, dass der nach Abhilfe Forschende, statt sein Leben der Gefahr auszusetzen, eben die Plätze aufsuchen dürfe, an denen die Krankheit sich nicht ausgebreitet habe. Denn nur dort finde sich das, was ihr nach Naturkraft und Gotteswillen entgegenwirke.

Sie saßen auf der einzigen unzerstörten Steinbank des Schlossparks und tunkten Zuckerstangen in verdünnten Wein. Kirchers sechs Sekretäre standen in respektvollem Abstand und beobachteten sie gebannt.

Es war kein guter Wein, und Olearius wusste, dass auch Park und Schloss nicht eben beeindruckend waren. Marodeure hatten die alten Bäume gefällt, der Rasen war bedeckt von Brandflecken, und die Büsche waren so schadhaft wie die Fassade des Gebäudes, dem auch noch ein Stück des Daches fehlte. Olearius war alt genug, um sich noch an Tage zu erinnern, da das Schloss eine Zierde des Nordens gewesen war, der Stolz der jütischen Herzöge. Damals war er noch ein Kind gewesen und sein Vater ein einfacher Handwerker, aber der Herzog hatte seine Begabung erkannt und ihn studieren lassen, und später hatte er ihn als Gesandten nach Russland und ins ferne, strahlende Persien geschickt, wo er Kamele und Greife und Türme aus Jade und sprechende Schlangen gesehen hatte. Gerne wäre er dort geblieben, aber er hatte nun mal dem Herzog die Treue geschworen, und auch seine Frau wartete daheim, so meinte er wenigstens, denn dass sie inzwischen gestorben war, hatte er nicht gewusst. Also war er zurückgekommen ins kalte Reich, in den Krieg und ins traurige Dasein eines Witwers.

Kircher spitzte die Lippen, trank noch einen Schluck Wein, verzog kaum merklich das Gesicht, wischte sich mit einem rotfleckigen Tüchlein die Lippen ab und fuhr fort zu erklären, warum er hier war.

«Ein Experiment», sagte er. «Die neue Art, Gewissheit zu finden. Man macht Versuche. Man zündet etwa eine Kugel aus Schwefel, Bitumen und Kohle an, und sofort spürt man, dass der Anblick des Feuers Zorn auslöst. Ganz benommen wird man vor Ärger, wenn man sich im selben Raum aufhält. Das liegt daran, dass die Kugel Eigenschaften des roten Planeten Mars abspiegelt. In ähnlicher Weise kann man die wässrigen Eigenschaften des Neptun zur Beruhigung erregter Gemüter nutzen oder die verwirrenden des trügerischen Mondes zur Sinnesvergiftung. Ein nüchterner Mensch braucht sich nur kurze Zeit in der Nähe eines mondgleichen Magneten

aufzuhalten und wird so betrunken, als hätte er einen Schlauch Wein geleert.»

«Magneten machen betrunken?»

«Lest mein Buch. In meinem neuen Werk wird noch mehr darüber stehen. Es heißt Ars magna lucis et umbrae und beantwortet die offenen Fragen.»

«Welche?»

«Alle. Was nun die Schwefelkugel angeht: Der Versuch brachte mich darauf, einem Pestkranken einen Absud aus Schwefel und Schneckenblut verabreichen zu lassen. Denn einerseits treibt ihm der Schwefel die marsianischen Bestandteile der Krankheit aus, andererseits süßt das Schneckenblut als drakontologische Substitution das, was die Körpersäfte durchsäuert.»

«Bitte?»

Kircher betrachtete wieder seine Fingerspitzen.

«Schneckenblut substituiert Drachenblut?», fragte Olearius.

«Nein», sagte Kircher nachsichtig. «Drachengalle.»

«Und was führt Euch nun her?»

«Die Substitution hat ihre Grenzen. Der Pestkranke im Versuch ist trotz des Absuds gestorben, wodurch klar bewiesen ist, dass echtes Drachenblut ihn geheilt hätte. Also brauchen wir einen Drachen, und in Holstein lebt noch der letzte Drache des Nordens.»

Kircher blickte auf seine Hände. Sein Atem bildete Dampfwölkchen. Olearius fröstelte. Drinnen im Schloss war es nicht wärmer, es gab weit und breit keine Bäume mehr, und

das wenige Feuerholz verbrauchte der Herzog für sein Schlafzimmer.

«Ist er denn gesichtet worden, der Drache?»

«Natürlich nicht. Ein Drache, den man gesichtet hat, wäre ein Drache, der über die wichtigste Dracheneigenschaft nicht verfügt - jene nämlich, sich unauffindbar zu machen. Aus genau diesem Grund hat man allen Berichten von Leuten, die Drachen gesichtet haben wollen, mit äußerstem Unglauben zu begegnen, denn ein Drache, der sich sichten ließe, wäre a priori schon als ein Drache erkannt, der kein echter Drache ist.»

Olearius rieb sich die Stirn.

«In dieser Gegend ist offensichtlich überhaupt noch nie ein Drache bezeugt worden. Somit habe ich die Zuversicht, dass einer da sein muss.»

«Aber an vielen anderen Orten ist auch keiner bezeugt. Warum also gerade hier?»

«Erstens, weil die Pest sich aus diesem Landstrich zurückgezogen hat. Das ist ein starkes Zeichen. Zweitens habe ich ein Pendel benützt.»

«Das ist doch Magie!»

«Nicht, wenn man ein Magnetpendel nimmt.» Kircher blickte Olearius mit schimmernden Augen an. Das leicht abfällige Lächeln verschwand aus seinem Gesicht, als er sich vorbeugte und mit einer Einfachheit, die Olearius verblüffte, fragte: «Helft Ihr mir?»

«Wobei?»

«Den Drachen zu finden.»

Olearius tat so, als müsste er nachdenken. Dabei war es keine schwierige Entscheidung. Er war nicht mehr jung, er hatte keine Kinder, und seine Frau war tot. Er besuchte jeden Tag ihr Grab, und es geschah immer noch, dass er nachts aufwachte und zu weinen begann, so sehr fehlte sie ihm und so schwer lastete auf ihm die Einsamkeit. Ihn hielt hier nichts. Wenn ihn also der bedeutendste Gelehrte des Weltkreises zu einem gemeinsamen Abenteuer einlud, gab es nicht viel zu grübeln. Er holte Luft, um zu antworten.

Aber Kircher kam ihm zuvor. Er erhob sich und klopfte Staub von seiner Kutte. «Na gut, dann brechen wir morgen früh auf.»

«Ich würde gerne meinen Assistenten mitnehmen», sagte Olearius leicht verärgert. «Magister Fleming ist kundig und hilfreich.»

«Ja, bestens», sagte Kircher, der offensichtlich schon an etwas anderes dachte. «Also morgen früh, das ist gut, das bekommen wir hin. Könnt Ihr mich nun zum Herzog führen?»

«Er empfängt zurzeit nicht.»

«Keine Sorge. Wenn er erfährt, wer ich bin, wird er sich glücklich schätzen.»

Vier Kutschen holperten übers Land. Kalt war es, Morgendunst stieg bleich von den Wiesen auf. Die hinterste Kutsche war vom Boden bis zur Decke gefüllt mit Büchern, die Kircher vor kurzem in Hamburg erworben hatte, in der davor saßen drei Sekretäre und schrieben Manuskripte ab, so gut es im Fahren eben ging, in der davor waren zwei Sekretäre und schliefen, und in der vordersten führten Athanasius Kircher, Adam Olearius und dessen langjähriger Reisegefährte Magister Fleming ein Gespräch, das ein weiterer Sekretär, Feder und Papier zum Mitschreiben auf den Knien, aufmerksam verfolgte.

«Aber was tun wir, wenn wir ihn finden?», fragte Olearius.

«Den Drachen?», fragte Kircher.

Für einen Augenblick vergaß Olearius seine Verehrung und dachte: Ich halte ihn nicht mehr aus. «Ja», sagte er dann. «Den Drachen.»

Statt zu antworten, wandte sich Kircher Magister Fleming zu. «Verstehe ich richtig, Sie sind Musiker?»

«Ich bin Arzt. Vor allem schreibe ich Gedichte. Und ich habe in Leipzig die Musik studiert.»

«Lateinische Gedichte oder französische?»

«Deutsche.»

«Ja warum denn das?»

«Was tun wir, wenn wir ihn finden?», wiederholte Olearius.

«Den Drachen?», fragte Kircher, und jetzt hätte Olearius ihn am liebsten geohrfeigt.

«Ja», sagte Olearius. «Den Drachen!»

«Wir besänftigen ihn mit Musik. Ich darf voraussetzen, dass die Herren mein Buch Musurgia universalis studiert haben?»

«Musica?», fragte Olearius.

«Musurgia.»

«Warum nicht Musica

Kircher sah Olearius missbilligend an.

«Selbstverständlich», sagte Fleming. «Alles, was ich über Harmonie weiß, weiß ich von Eurem Buch.»

«Das höre ich oft. Das sagen fast alle Musiker. Es ist ein wichtiges Werk. Nicht mein wichtigstes, aber sehr wichtig zweifellos. Mehrere Fürsten wollen die von mir entworfene Wasserorgel konstruieren lassen. Und in Braunschweig plant man, mein Katzenklavier zu bauen. Mich verblüfft das ein wenig, es war doch vor allem ein Gedankenspiel, und ich bezweifle, dass die Resultate das Ohr erfreuen werden.»

«Was ist ein Katzenklavier?», fragte Olearius.

«Also habt Ihr es nicht gelesen?»

«Mein Gedächtnis. Ich bin nicht mehr der Jüngste. Seit unserer strapaziösen Reise gehorcht es mir nicht immer.»

«Weiß Gott», sagte Fleming. «Erinnerst du dich noch, wie es war, als uns in Riga die Wölfe umzingelt haben?»

«Ein Klavier, das Töne durch Tierpeinigung erzeugt», sagte Kircher. «Man schlägt einen Ton an, und statt einer Saite wird einem kleinen Tier, ich schlage Katzen vor, es würde aber auch mit Wühlmäusen funktionieren, Hunde wären zu groß, Grillen zu klein, ein gut dosierter Schmerz zugefügt, sodass das Tier ein Geräusch von sich gibt. Lässt man die Taste los, hört auch der Schmerz auf, das Tier verstummt. Ordnet man die Tiere nach ihrer Stimmhöhe, so lässt sich auf diese Art die ungewöhnlichste Musik erzeugen.»

Eine kleine Weile war es still. Olearius sah in Kirchers Gesicht, Fleming kaute an seiner Unterlippe.

«Warum schreibt Ihr Eure Gedichte denn auf Deutsch?»,

fragte Kircher schließlich.

«Ich weiß, das klingt wunderlich», sagte Fleming, der auf diese Frage gewartet hatte. «Aber es lässt sich machen! Unsere Sprache wird gerade erst geboren. Hier sitzen wir, drei Männer aus dem gleichen Land, und sprechen Latein. Warum? Jetzt mag das Deutsche noch ungelenk sein, ein kochendes Gebräu, ein Geschöpf im Werden, aber eines Tages ist es erwachsen.»

«Noch einmal zu dem Drachen», sagte Olearius, um das Thema zu wechseln. Er hatte es oft erlebt: Wenn Fleming einmal von seinem Steckenpferd anfing, kam lange kein anderer zu Wort. Und schließlich endete es stets damit, dass Fleming mit rotem Gesicht Gedichte vortrug. Sie waren gar nicht schlecht, seine Gedichte, sie hatten Melodie und Kraft. Aber wer wollte schon ohne Vorwarnung Gedichte hören, und dann noch auf Deutsch?

«Noch ist unsere Sprache eine Wirrnis aus Dialekten», sagte Fleming. «Weiß man im Satz nicht weiter, greift man sich das passende Wort aus dem Lateinischen oder Italienischen oder sogar Französischen, und die Sätze biegt man irgendwie nach lateinischer Manier zurecht. Aber das wird sich ändern! Man muss eine Sprache nähren und pflegen, man muss ihr helfen, auf dass sie gedeiht! Und ihr helfen, das heißt: dichten.» Flemings Wangen hatten sich gerötet, sein Schnurrbart sträubte sich leicht, seine Augen blickten starr. «Wer einen Satz auf Deutsch anfängt, soll sich zwingen, ihn auf Deutsch zu Ende zu führen!»

«Ist es nicht gegen Gottes Willen, Tieren Schmerz zuzufügen?», fragte Olearius.

«Warum?» Kircher runzelte die Stirn. «Es gibt keinen Unterschied zwischen Gottes Tieren und Gottes Dingen. Tiere sind fein gefügte Maschinen, die aus noch feiner gefügten Maschinen bestehen. Ob ich einer Wassersäule einen Ton entlocke oder einem Kätzchen, wo wäre der Unterschied? Sie wollen doch nicht behaupten, dass Tiere unsterbliche Seelen haben, was wäre denn das für ein Gewimmel im Paradies. Man könnte sich nicht umdrehen, ohne auf einen Wurm zu treten!»

«Ich war in Leipzig Chorknabe», sagte Fleming. «Jeden Morgen um fünf standen wir in der Thomaskirche und mussten singen. Jede Stimme sollte ihrem eigenen melodischen Punctus folgen, und wer falsch sang, bekam die Rute. Es war schwer, aber eines Morgens, ich weiß es noch, habe ich zum ersten Mal verstanden, was Musik ist. Und als ich später die Kunst des Kontrapunkts gelernt habe, habe ich verstanden, was Sprache ist. Und wie man in ihr dichtet - nämlich indem man sie walten lässt. Gehen und sehen, Schmerz und Menschenherz. Der deutsche Reim: eine Frage und eine Antwort. Pein, Sein und Schein. Reim ist kein Zufall der Laute. Es gibt ihn dort, wo Gedanken zusammenpassen.»

«Es ist gut, dass Ihr Euch mit Musik auskennt», sagte Kircher. «Ich habe Noten für Melodien dabei, mit denen sich Drachenblut kühlen und Drachensinn beruhigen lässt. Könnt Ihr das Horn spielen?»

«Nicht gut.»

«Geige?

«Leidlich. Woher habt Ihr diese Melodien?»

«Ich habe sie nach den Maßgaben strengster Wissenschaft komponiert. Macht Euch keine Sorgen, Ihr braucht dem Drachen nichts vorzufiedeln, wir werden dafür Musiker finden. Es wäre schon aus Standesgründen nicht schicklich, wenn unsereiner die Instrumente spielte.»

Olearius schloss die Augen. Für einen Moment sah er im Geiste eine Echse aus dem Feld aufsteigen, den Kopf turmhoch vor dem Himmel: So also könntest du enden, dachte er, nach all den Gefahren, die du überlebt hast.

«Euer Eifer in Ehren, junger Mann», sagte Kircher. «Aber das Deutsche hat keine Zukunft. Erstens, weil es eine hässliche Sprache ist, dickflüssig und unsauber, ein Idiom für ungelernte Leute, die nicht baden. Zweitens, es gibt für so ein langwieriges Wachsen und Werden gar keine Zeit mehr. In sechsundsiebzig Jahren endet das eiserne Zeitalter, Feuer kommt über die Welt, und unser Herr kehrt in Glorie zurück. Man braucht kein großer Sternenkenner zu sein, um das vorauszusehen. Simple Mathematik genügt.»

«Um was für einen Drachen handelt es sich eigentlich?», fragte Olearius.

«Vermutlich um einen sehr alten Tatzelwurm. Meine Expertise in der Drakontologie reicht nicht an die meines verstorbenen Mentors Tesimond heran, aber auf einer Tagesreise nach Hamburg haben mir mehrfach eingedrehte Fliegenwölkchen den nötigen Hinweis gegeben. Wart Ihr je in

Hamburg? Es ist erstaunlich, die Stadt ist gar nicht zerstört worden.»

«Wolken?», fragte Fleming. «Wie verursacht der Drache denn -»

«Nicht Verursachung, Analogie! Wie oben, so unten. Die Wolke ähnelt einer Fliege, darum der Name Fliegenwölkchen, der Tatzelwurm ähnelt einem Regenwurm, darum der Name Tatzelwurm. Wurm und Fliege sind Insekten! Seht Ihr?»

Olearius stützte den Kopf in die Hände. Ihm war etwas unwohl. In Russland hatte er Tausende Stunden in Kutschen verbracht, aber das war nun schon eine Weile her, und er war nicht mehr jung. Natürlich konnte es auch mit Kircher zu tun haben, der ihm auf eine Weise, die er zu erklären nicht vermocht hätte, schwer erträglich geworden war.

«Und wenn der Drache ruhiggestellt ist?», fragte Fleming. «Wenn wir ihn gefunden und gefangen haben, was dann?»

«Wir zapfen ihm Blut ab. So viel, wie unsere Lederschläuche fassen. Das bringe ich nach Rom und verarbeite es mit meinen Assistenten zum Heilmittel gegen den Schwarzen Tod, welches dann an den Papst und den Kaiser und die katholischen Fürsten ...» Er zögerte. «... sowie vielleicht an jene Protestanten, die es verdienen, verabreicht wird. An wen genau, das wird auszuhandeln sein. Vielleicht können wir so den Krieg beenden. Das hätte schon seine Richtigkeit, wenn ausgerechnet ich es wäre, mit Gottes Hilfe, der diesem Schlachten ein Ende setzte. Sie beide werde ich gebührend in meinem Buch erwähnen. Genau genommen habe ich das

schon.»

«Ihr habt uns schon erwähnt?»

«Um Zeit zu sparen, habe ich das Kapitel bereits in Rom verfasst. Guglielmo, habt Ihr es hier?»

Der Sekretär bückte sich und kramte ächzend unter seiner Sitzbank.

«Was die Musiker angeht», sagte Olearius. «Mein Vorschlag wäre, dass wir den Wanderzirkus in der Holsteinischen Heide aufsuchen. Von ihm wird viel gesprochen, die Leute kommen von weit her, ihn zu sehen. Dort wird es wohl Musiker geben.»

Der Sekretär richtete sich mit gerötetem Gesicht auf und brachte einen Stoß Papier zum Vorschein. Er blätterte einen Moment darin, schnäuzte sich in ein nicht mehr sauberes Taschentuch, mit dem er sich danach die Glatze abwischte, bat leise um Entschuldigung und begann vorzulesen. Sein Latein hatte eine stark italienische Melodie, und er schlug auf eine etwas gezierte Weise mit der Feder den Takt. «Sodann machte ich mich in Begleitung verdienter deutscher Gelehrter auf die Suche. Die Umstände waren ungünstig, die Witterung rau, der Krieg hatte sich aus der Region zurückgezogen, sandte aber immer noch diese und jene Sturmböe der Widrigkeit, sodass man auf Marodeure ebenso gefasst zu sein hatte wie auf Räuberbanden und verkommene Tiere. Ich ließ es mich jedoch nicht verdrießen, empfahl meine Seele dem Allmächtigen, der diesen seinen demütigen Diener noch stets beschützt hatte, und fand in Kürze den Drachen, welcher sich durch kundige Maßnahmen besänftigen und besiegen ließ. Sein warmes Blut diente mir als Basis für so manche Unternehmung, die ich andernorts in diesem Werk schildere, und die furchtbarste Seuche, die lange die Christenheit in Sorge gehalten hatte, ließ sich endlich von den großen, mächtigen und verdienten Leuten abwenden, sodass sie künftig nur noch das einfache Volk peinigen mag. Und wenn ich einst -»

«Danke, Guglielmo, das genügt. Ich setze natürlich nach den Worten Eure Namen ein. Nichts zu danken. Ich bestehe darauf. Das ist das mindeste.»

Und vielleicht war sie das ja wirklich, dachte Olearius, die ihm bestimmte Unsterblichkeit - eine Erwähnung in Athanasius Kirchers Buch. Sein eigener Reisebericht würde fast so schnell wieder verschwinden wie die Gedichte, die der arme Fleming hin und wieder drucken ließ. Die gefräßige Zeit löschte fast alles, aber gegen das hier würde sie machtlos sein. An einer Sache bestand kein Zweifel: Solange die Welt bestand, würde man Athanasius Kircher lesen.

Am nächsten Morgen fanden sie den Zirkus. Der Wirt der Herberge, in der sie übernachtet hatten, hatte sie nach Westen gewiesen; immer dem Feldweg nach, hatte er gesagt, dann könne man ihn nicht verfehlen. Und da es hier keine Hügel gab und alle Bäume gerodet waren, sahen sie schon nach kurzem in der Ferne eine Fahnenstange, an der ein buntes Stück Stoff flatterte.

Bald darauf konnten sie Zelte und ein aus Holz gezimmertes Halbrund von Zuschauerbänken erkennen, darüber waren zwei

Pfähle aufgerichtet, zwischen denen der dünne Strich eines Seiles gezogen war - die Zirkusleute mussten all das Holz selbst mitgebracht haben. Zwischen den Zelten standen Planwagen, Pferde und Esel weideten, ein paar Kinder spielten, ein Mann schlief in einer Hängematte. Eine alte Frau wusch Kleider in einem Bottich.

Kircher blinzelte. Ihm ging es nicht gut. Er fragte sich, ob es am Schaukeln der Kutsche lag oder doch an diesen beiden Deutschen. Unfreundlich waren sie, überernst, beschränkt, dicke Stirnen hatten sie, und außerdem, man konnte es schwer ignorieren, rochen sie schlecht. Er war lange nicht im Reich gewesen, er hatte schon fast vergessen gehabt, wie viel Kopfschmerzen es machte, unter Deutschen zu sein.

Die beiden unterschätzten ihn, das war offensichtlich. Er war gewöhnt daran. Schon als Kind war er unterschätzt worden, von den Eltern zuerst, dann vom Lehrer in der Dorfschule, bis der Priester ihn den Jesuiten empfohlen hatte. Die hatten ihn studieren lassen, aber dann war er von seinen Mitbrüdern unterschätzt worden, die in ihm nur einen eifrigen jungen Mann gesehen hatten - keiner hatte bemerkt, wie viel mehr er vermochte, nur sein Mentor Tesimond hatte etwas in ihm erkannt und ihn aus der Menge der langsam denkenden Mönche herausgeholt. Quer durchs Land waren sie gereist, viel hatte er von Tesimond gelernt, aber auch der hatte ihn unterschätzt, hatte ihm bloß ein Dasein als Famulus zugetraut, sodass er sich von ihm hatte lösen müssen, Schritt für Schritt und mit größter Vorsicht, denn einen wie ihn durfte man nicht gegen sich aufbringen. Er hatte so tun müssen, als wären die Bücher, die er schrieb, eine harmlose Grille, aber heimlich hatte er sie mit Widmungsbriefen an die wichtigen Leute im Vatikan geschickt. Und tatsächlich hatte Tesimond es nicht verwunden, dass sein Sekretär plötzlich nach Rom berufen worden war; krank war er geworden, und er hatte sich geweigert, ihn zum Abschied zu segnen. Kircher sah es noch deutlich vor sich: das Zimmer in Wien, Tesimond, fest in die Bettdecke gewickelt. Das alte Wrack hatte irgendwas gemurmelt und getan, als verstünde er ihn nicht, und so hatte Kircher ohne seinen Segen nach Rom ziehen müssen, wo ihn die Mitarbeiter der großen Bibliothek willkommen geheißen hatten, nur um ihn ebenfalls gleich zu unterschätzen. Sie hatten gedacht, er wäre dafür gut, Bücher zu bewahren, Bücher zu pflegen, Bücher zu studieren, aber sie hatten nicht begriffen, dass er schneller ein Buch schreiben konnte, als ein anderer brauchte, um es zu lesen, und so hatte er es ihnen beweisen müssen, wieder und wieder und wieder, bis ihn der Papst endlich auf den wichtigsten Lehrstuhl seiner Universität berufen und mit allen Sondervollmachten ausgestattet hatte.

Es würde immer so sein. Die Verwirrtheit von früher lag hinter ihm, er verlor sich nicht mehr in der Zeit. Und doch erkannten die Leute nicht, welche Kraft in ihm wohnte, welche Entschlossenheit, und was für ein Gedächtnis er hatte. Selbst jetzt noch, da er berühmt war in aller Herren Länder und da niemand die Wissenschaften studieren konnte, ohne die Werke von Athanasius Kircher zu kennen, konnte er Rom nicht

verlassen, ohne es zu erleben: Kaum begegnete er Landsleuten, wurde er mit den altgewohnt abschätzigen Blicken gemessen. Was für ein Fehler, sich auf diese Reise gemacht zu haben! Man sollte an einem Ort bleiben, sollte arbeiten, seine Kräfte bündeln und hinter den Büchern verschwinden. Eine Autorität musste man sein, die keinen Körper hatte - eine Stimme, auf die die Welt hörte, ohne sich zu fragen, wie der Leib aussah, aus dem sie kam.

Er hatte wieder mal einer Schwäche nachgegeben. Eigentlich war es ihm gar nicht so sehr um die Pest gegangen, er hatte vor allem einen Grund gebraucht, den Drachen zu suchen. Sie sind die ältesten und klügsten Wesen, hatte Tesimond gesagt, und wenn du vor einem von ihnen stehst, so wirst du ein anderer sein, ja wenn du seine Stimme hörst, ist nichts mehr wie zuvor. So viel hatte Kircher über die Welt herausgefunden, aber ein Drache fehlte noch, ohne einen Drachen war sein Werk nicht vollständig, und wenn es wirklich gefährlich werden sollte, konnte er immer noch die letzte und stärkste Abwehr anwenden - jenen Zauber, auf den man nur einmal im Leben zurückgreifen durfte: Wenn die Gefahr am größten ist, hatte ihm Tesimond eingeschärft, wenn der Drache vor dir steht und nichts mehr hilft, kannst du es einmal, nur einmal, ein einziges Mal nur, also, überleg dir gut, nur einmal, tun. Erst stellst du dir das stärkste der magischen Quadrate vor.

Das ist das älteste von allen, das geheimste, das die meiste Kraft birgt. Du musst es vor dir sehen, schließ die Augen, sieh es deutlich und sprich es mit geschlossenen Lippen, ohne Stimme, Buchstabe für Buchstabe und dann sagst du laut und so deutlich, dass der Drache dich hört, eine Wahrheit, die du noch nie gestanden hast, nicht deinem engsten Freund, nicht einmal in der Beichte. Das ist das Wichtigste: dass sie noch nie ausgesprochen worden ist. Dann wird Nebel aufziehen, und du kannst fliehen. Schwäche erfasst die Glieder des Monstrums, träges Vergessen seinen Verstand, und du kannst davonlaufen, bevor es dich packen kann. Kommt es wieder zu sich, erinnert es sich nicht an dich. Aber vergiss nicht, du kannst es nur einmal tun!

Kircher betrachtete seine Fingerspitzen. Sollte die Musik den Drachen nicht besänftigen, so war er entschlossen, zu diesem letzten Mittel zu greifen und auf einem der Kutschpferde zu fliehen. Der Drache würde dann vermutlich die Sekretäre fressen - es wäre schade um sie, besonders um Guglielmo, der sehr gelehrig war - und die beiden Deutschen wohl auch. Aber er selbst würde entkommen, dank der Wissenschaft, er brauchte nichts zu fürchten.

Das hier würde seine letzte Reise sein. Noch einmal würde er es sich nicht zumuten, er eignete sich einfach nicht für solche

Strapazen. Ihm war unterwegs ständig übel, das Essen war scheußlich, immer war es kalt, und man durfte auch die Gefahren nicht unterschätzen: Zwar hatte der Krieg sich nach Süden zurückgezogen, aber das hieß nicht, dass es hier oben angenehm zuging. Wie verwüstet alles war, wie heruntergekommen die Menschen! Freilich, er hatte in Hamburg einige Bücher gefunden, nach denen er lange gesucht hatte - Hartmut Elias Warnicks Organicon, eine Ausgabe der Melusina mineralia von Gottfried vom Rosenstein und ein paar handgeschriebene Blätter, die möglicherweise von Simon von Turin stammten -, aber auch das war kein Trost für den Umstand, dass er schon seit Wochen auf sein Laboratorium verzichten musste, in dem alles überschaubar war, während überall sonst Chaos herrschte.

Warum zeigte Gottes Schöpfung sich so widerspenstig, woher ihre hartnäckige Tendenz zu Wirrnis und Widerhaken? Was dem Geist klar war, erwies sich dort draußen als Gestrüpp. Früh hatte Kircher begriffen, dass man dem Verstand folgen musste, ohne sich von den Marotten der Wirklichkeit verunsichern zu lassen. Wenn man wusste, wie ein Versuch auszugehen hatte, dann hatte der Versuch so auszugehen, und wenn man eine distinkte Vorstellung von den Dingen besaß, dann musste man, wenn man sie beschrieb, dieser Vorstellung Genüge tun und nicht dem Augenschein.

Nur weil er gelernt hatte, ganz dem Geist Gottes zu vertrauen, hatte er sein größtes Werk vollbringen können, die Entzifferung der Hieroglyphen. Mit der alten Zeichentafel, die

Kardinal Bembo einst gekauft hatte, war er dem Rätsel auf den Grund gegangen: Er hatte sich so tief in die kleinen Bilder versenkt, bis er verstanden hatte. Kombinierte man einen Wolf und eine Schlange, so musste es Gefahr bedeuten, war aber eine gepunktete Welle darunter, so kam Gott dazu und beschützte die, die seinen Schutz verdienten, und diese drei Zeichen nebeneinander bedeuteten Gnade, und Kircher war auf die Knie gefallen und hatte dem Himmel für solche Eingebung gedankt. Das nach links gedrehte Oval stand fürs Gericht, und war eine Sonne dabei, so war es der Tag des Gerichts, war da aber ein Mond, so bedeutete das die Qual des nächtlich betenden Mannes und daher die Seele des Sünders und manchmal auch die Hölle. Das kleine Männchen hieß wohl Mensch, hatte dieser Mensch aber eine Stange bei sich, so war es der arbeitende Mensch oder die Arbeit, und die Zeichen dahinter besagten, woran er arbeitete: Waren da Punkte, so war er ein Sämann, waren da Striche, war er ein Schiffer, und waren da Kreise, so war er ein Priester, und weil Priester auch schrieben, konnte er genauso gut ein Schreiber sein, das hing davon ab, ob er sich am Anfang oder am Ende der Zeile befand, denn der Priester war stets am Anfang, der Schreiber kam nach den Ereignissen, die er zu Buche nahm. Ekstatische Wochen waren das gewesen, bald hatte er die Tafel nicht mehr gebraucht; er hatte in Hieroglyphen geschrieben, als hätte er nie etwas anderes getan. Nachts hatte er nicht mehr schlafen können, weil er in Zeichen träumte, seine Gedanken bestanden aus Strichen und Punkten und Ecken und Wellen. So war es, wenn man die Gnade spürte. Sein Buch, das er in Kürze unter dem Titel Oedipus aegyptianus würde drucken lassen, war die größte seiner Leistungen: Tausende Jahre waren die Menschen ratlos vor dem Geheimnis gestanden, keiner hatte es lösen können. Nun war es gelöst.

Ärgerlich nur, dass die Leute so begriffsstutzig waren. Er bekam Briefe von Mitbrüdern aus dem Orient, die ihm von Zeichenfolgen berichteten, die sich nicht der von ihm beschriebenen Ordnung fügten, und er musste ihnen zurückschreiben, dass es keine Rolle spiele, was irgendein Tölpel vor zehntausend Jahren in Stein geritzt habe, irgendein kleiner Schreiber, der doch weniger über diese Schrift wusste als eine Autorität wie er - wozu also sich mit dessen Fehlern befassen? Hatte jener kleine Schreiber denn einen Dankbrief von Cäsar bekommen? Kircher aber konnte einen vorweisen. Er hatte dem Kaiser einen Lobgesang in Hieroglyphen übersendet; das Dankesschreiben aus Wien, gefaltet und eingenäht in einen Beutel aus Seide, trug er stets bei sich. Unwillkürlich legte er die Hand auf die Brust, spürte durch sein Wams das Pergament und fühlte sich gleich etwas besser.

Die Kutschen hatten gehalten.

«Ist Euch nicht gut?», fragte Olearius. «Ihr seid blass.»

«Mir geht es vortrefflich», sagte Kircher gereizt.

Er stieß die Tür auf und stieg aus. Der Schweiß der Pferde dampfte. Auch die Wiese war feucht. Er blinzelte und stützte sich gegen die Kutsche, ihm war schwindlig.

«Große Männer», sagte eine Stimme. «Hier bei uns!»

Drüben bei den Zelten waren Leute, und etwas näher saß die Alte vor dem Waschbottich, aber direkt neben ihnen stand nur ein Esel. Das Tier blickte auf, senkte wieder den Kopf und zupfte Halme aus.

«Habt Ihr das auch gehört?», fragte Fleming.

Olearius, der hinter ihm ausgestiegen war, nickte.

«Ich bin's», sagte der Esel.

«Dafür gibt es eine Erklärung», sagte Kircher.

«Und welche ist das?», fragte der Esel.

«Bauchrednerkunst», sagte Kircher.

«Stimmt», sagte der Esel. «Ich bin Origenes.»

«Wo versteckt sich der Bauchredner?», fragte Olearius.

«Schläft», sagte der Esel.

Hinter ihnen waren Fleming und der Sekretär ausgestiegen. Die anderen Sekretäre folgten.

«Das ist wirklich nicht schlecht», sagte Fleming.

«Er schläft selten», sagte der Esel. «Aber jetzt träumt er von euch.» Seine Stimme klang tief und so merkwürdig, als käme sie nicht aus einer Menschenkehle. «Wollt ihr die Vorstellung sehen? Übermorgen ist wieder eine. Wir haben einen Feueresser und einen Handgeher und einen Münzschlucker, der bin ich. Gebt mir Münzen, ich schluck sie. Wollt ihr sehen? Alle schluck ich. Wir haben eine Tänzerin und eine Schauspielprinzipalin, und wir haben eine Jungfrau, die wird begraben und bleibt eine Stunde drunten, und wenn man sie ausgräbt, ist sie frisch und nicht erstickt. Und eine Tänzerin haben wir, hab ich schon gesagt? Die Prinzipalin und die

Tänzerin und die Jungfrau sind dieselbe. Und den besten Seilgänger haben wir, der ist unser Prinzipal. Aber er schläft grad. Wir haben auch einen Verwachsenen, wenn ihr den anseht, wird euch gleich anders zumute. Man weiß kaum, wo sein Kopf ist, und seine Arme findet er selbst nicht.»

«Und einen Bauchredner habt ihr», sagte Olearius.

«Du bist ein ganz schlauer Mann», sagte der Esel.

«Habt ihr Musiker?», fragte Kircher, der sich des Umstands bewusst war, dass sein Ruf Schaden nehmen könnte, wenn er sich vor Zeugen mit einem Esel unterhielt.

«Freilich», sagte der Esel. «Halbes Dutzend. Der Prinzipal und die Prinzipalin tanzen, das ist der Höhepunkt, der Gipfel unserer Darbietung, wie geht das ohne Musiker?»

«Das genügt», sagte Kircher. «Der Bauchredner soll sich jetzt zeigen!»

«Bin hier», sagte der Esel.

Kircher schloss die Augen, atmete tief aus, atmete ein. Ein Fehler, dachte er, die ganze Reise, der Besuch hier, alles ein Fehler. Er dachte an die Ruhe seines Studierzimmers, an seinen steinernen Arbeitstisch, an die Bücher in den Regalen, er dachte an den geschälten Apfel, den ihm sein Gehilfe jeden Nachmittag zum dritten Stundenschlag brachte, an den Rotwein in seinem liebsten venezianischen Kristallglas. Er rieb sich die Augen und wandte sich ab.

«Brauchst einen Bader?», fragte der Esel. «Wir verkaufen auch Medizin. Musst nur sagen.»

Es ist bloß ein Esel, dachte Kircher. Aber vor Wut ballten sich

seine Fäuste. Jetzt verspotteten einen schon die deutschen Tiere! «Regelt Ihr das», sagte er zu Olearius. «Sprecht mit diesen Leuten.»

Olearius sah ihn erstaunt an.

Da stieg Kircher schon über einen Haufen Eselsdung zurück in die Kutsche, ohne ihn weiter zu beachten. Er schloss die Tür und zog die Vorhänge zu. Draußen hörte er Olearius und Fleming mit dem Esel reden - bestimmt lachten sie jetzt über ihn, alle, aber es interessierte ihn nicht. Er wollte das gar nicht wissen. Um sein Gemüt zu beruhigen, versuchte er, in ägyptischen Zeichen zu denken.

Die Alte beim Waschbottich sah Olearius und Fleming entgegen, als sie auf sie zugingen, dann steckte sie zwei Finger in den Mund und stieß einen Pfiff aus. Sofort kamen drei Männer und eine Frau aus einem der Zelte. Die Männer waren ungewöhnlich stämmig, die Frau hatte braune Haare, und sie war nicht mehr ganz jung, aber ihre Augen waren hell und kraftvoll.

«Hohe Herren bei uns», sagte die Frau. «So eine Ehre haben wir nicht oft. Wollt Ihr unsere Vorstellung sehen?»

Olearius versuchte zu antworten, doch seine Stimme gehorchte ihm nicht.

«Mein Bruder ist der beste Seiltänzer, er war Hofnarr beim Winterkönig. Wollt Ihr ihn sehen?»

Olearius' Stimme versagte immer noch.

«Redet Ihr nicht?»

Olearius räusperte sich. Er wusste, dass er sich lächerlich machte, aber da half nichts, er konnte nicht sprechen.

«Freilich wollen wir was sehen», sagte Fleming.

«Schaut, unsere Akrobaten», sagte die Frau. «Zeigt den wohlgeborenen Herren was!»

Sofort fiel einer der drei vornüber und stand auf den Händen. Der Zweite kletterte mit unmenschlicher Geschwindigkeit an ihm empor und machte einen Handstand auf den Füßen des Ersten, und jetzt kletterte auch der Dritte an ihnen beiden hinauf, aber er blieb auf den Füßen des Zweiten aufrecht stehen, die Arme weit in den Himmel gereckt, und da, ehe man sich's versah, kletterte auch die Frau hinauf, und der Dritte zog sie zu sich und hob sie über seinen Kopf. Olearius starrte nach oben, da schwebte sie über ihm, in der Höhe.

«Wollt Ihr mehr sehen?», rief sie herunter.

«Würden wir gern», sagte Fleming, «aber deshalb sind wir nicht hier. Wir brauchen Musiker, wir bezahlen gut.»

«Euer Herr Begleiter wohlgeboren ist stumm?»

«Nein», sagte Olearius, «nicht nein. Nicht stumm, meine ich.»

Sie lachte. «Ich bin Nele!»

«Ich bin Magister Fleming.»

«Olearius», sagte Olearius. «Hofmathematikus in Gottorf.»

«Kommst du wieder runter?», rief Fleming. «So redet es sich schwer!»

Wie auf Kommando zerfiel der Menschenturm. Der Mann in der Mitte sprang, der Mann ganz oben rollte vornüber ab, der

Mann ganz unten machte einen Purzelbaum, die Frau schien zu fallen, aber irgendwie ordnete sich das Gewirr im Flug, und sie kamen alle auf den Füßen auf und standen aufrecht da. Fleming klatschte in die Hände, Olearius stand starr.

«Nicht klatschen», sagte Nele, «das war kein Auftritt. Wär das ein Auftritt gewesen, müsstet Ihr zahlen.»

«Wir möchten auch zahlen», sagte Olearius. «Für deine Musiker.»

«Da müsst Ihr sie selber fragen. Alle, die bei uns sind, sind frei. Wenn sie mit euch gehen wollen, dann sollen sie gehen. Wenn sie mit uns weiterziehen wollen, ziehen sie mit uns. In Ulenspiegels Zirkus ist jeder nur dann, wenn er in Ulenspiegels Zirkus sein will, weil es keinen besseren Zirkus gibt. Sogar der Verwachsene ist freiwillig hier, anderswo hätt er's nicht so gut.»

«Tyll Ulenspiegel ist hier?», fragte Fleming.

«Wegen ihm kommen die Leute von überall», sagte einer der Akrobaten. «Ich würd nicht wegwollen. Aber fragt die Musiker.»

«Wir haben einen Flötisten und einen Trompeter und einen Trommler und einen Mann, der zwei Geigen zugleich spielt. Fragt sie, und wenn sie gehen wollen, scheiden wir als Freunde und finden andere Musiker, das wird nicht schwer, bei Ulenspiegels Zirkus will jeder mitmachen.»

«Tyll Ulenspiegel?», fragte Fleming wieder.

«Kein anderer.»

«Und du bist seine Schwester?»

Sie schüttelte den Kopf.

«Aber du hast gesagt -»

«Ich weiß, was ich gesagt hab, gnädiger Herr. Er ist wohl mein Bruder, aber ich bin nicht seine Schwester.»

«Wie geht das?», fragte Olearius.

«Da wundert Ihr Euch, gnädiger Herr!»

Sie sah ihm ins Gesicht; ihre Augen blitzten, der Wind spielte in ihren Haaren. Olearius hatte einen trockenen Hals, und seine Glieder kamen ihm so schwach vor, als hätte er sich unterwegs eine Krankheit eingefangen.

«Das versteht Ihr nicht, gelt?» Sie stieß einen der Akrobaten vor die Brust und sagte: «Holst du die Musiker?»

Der nickte, warf sich vornüber und ging auf den Händen davon.

«Eine Frage.» Fleming zeigte zu dem Esel hinüber, der ruhig Gras zupfte und dann und wann den Kopf hob und mit glanzlosen Tieraugen zu ihnen sah. «Wer hat dem Esel -»

«Bauchrednerei.»

«Aber wo versteckt sich der Bauchredner?»

«Frag den Esel», sagte die Alte.

«Wer bist denn du?», fragte Fleming. «Bist du ihre Mutter?»

«Da sei Gott vor», sagte die Alte. «Ich bin nur die Alte. Bin von niemandem Mutter, von keinem die Tochter.»

«Von irgendwem wirst du schon Tochter sein.»

«Und wenn alle Leute, von denen ich Tochter war, schon unterm Gras liegen, von wem bin ich dann die Tochter? Ich bin die Else Kornfass aus Stangenriet. Ich saß vor meinem Haus und grub mein Gärtchen und dachte nichts, da kamen der Ulenspiegel und sie, die Nele, und der Origenes mit dem Karren, und ich hab gerufen, Gott zum Gruß, Tyll, weil ich ihn erkannt hab, jeder erkennt ihn, und er zieht plötzlich an den Zügeln, dass der Wagen steht, und sagt: Grüß nicht Gott, der braucht dich nicht, sondern komm. Ich wusste nicht, was er will, und ich sagte ihm noch: Mit alten Frauen treibt man keinen Scherz, erstens sind die arm und schwach, und zweitens können sie dich verhexen, dass du krank wirst, aber er sagt: Du gehörst nicht hierher. Du bist eine von uns. Und ich: Das wär ich mal gewesen, das kann schon sein, aber jetzt bin ich alt! Drauf er: Alt sind wir alle. Und ich: Aber ich fall bald tot um. Und er: Wie wir alle. Und ich: Wenn ich euch am Weg umfalle, was macht ihr? Drauf er: Dann lassen wir dich liegen, denn wer tot ist, ist nicht mehr mein Freund. Drauf hab ich nichts mehr zu sagen gewusst, gnädiger Herr, und drum bin ich hier.»

«Frisst uns die Haare vom Kopf», sagte Nele. «Arbeitet wenig, schläft viel, hat immer eine Meinung.»

«Stimmt alles», sagte die Alte.

«Aber sie kann sich was merken», sagte Nele. «Sie spricht die längsten Balladen, vergisst nie eine Zeile.»

«Deutsche Balladen?», fragte Fleming.

«Freilich», sagte die Alte. «Hab Spanisch nie gelernt.»

«Lass hören», sagte Fleming.

«Wenn Ihr zahlt, lass ich was hören.»

Fleming kramte in der Tasche. Olearius blickte zum Seil empor, für einen Moment hatte er gemeint, dort oben

jemanden zu sehen, aber es schwankte leer im Wind. Der Akrobat kam zurück, ihm folgten drei Männer mit Instrumenten.

«Das wird kosten», sagte der Erste.

«Wir kommen mit», sagte der Zweite, «aber wir wollen Geld.»

«Geld und Gold», sagte der Erste.

«Und viel davon», sagte der Dritte. «Wollt Ihr was hören?»

Und ohne dass Olearius ihnen ein Kommando gegeben hätte, stellten sie sich in Positur und begannen zu spielen. Einer schlug die Laute, ein anderer blies die Backen an der Sackpfeife auf, der Dritte wirbelte zwei Trommelschlägel, und Nele warf die Haare zurück und begann zu tanzen, während die Alte im Rhythmus der Musik eine Ballade rezitierte: Sie sang nicht, sie sprach auf einem Ton, und ihr Rhythmus fügte sich in den der Melodie. Es ging um zwei Liebende, die nicht zueinanderkonnten, weil ein Meer sie trennte, und Fleming hockte sich neben der Alten ins Gras, um nur ja kein Wort zu versäumen.

In der Kutsche hielt Kircher seinen Kopf und fragte sich, wann dieser grausige Lärm endlich aufhören würde. Er hatte das wichtigste Buch über Musik geschrieben, aber gerade deshalb war sein Gehör zu fein, um an solchem Volksgeplärr Gefallen zu finden. Auf einmal kam die Kutsche ihm eng vor, die Bank hart, und diese vulgäre Musik kündete von einer Heiterkeit, an der alle Welt Anteil hatte, nur er nicht.

Er seufzte. Das Sonnenlicht warf dünne, kalte Flammen durch die Vorhangritzen. Für einen Moment schien ihm das, was er sah, eine Ausgeburt seines Kopfwehs und seiner schmerzenden Augen zu sein, dann erst begriff er, dass er sich nicht irrte. Ihm gegenüber saß jemand.

War es jetzt so weit? Er hatte immer gewusst, dass ihm einmal der Satan selbst erscheinen würde, aber seltsamerweise fehlten die Zeichen. Es roch nicht nach Schwefel, der Kerl hatte zwei Menschenfüße, und das Kreuz, das Kircher um den Hals trug, war nicht warm geworden. Der da saß, auch wenn Kircher nicht verstand, wie er so lautlos hatte hereinkommen können, war ein Mensch. Enorm hager war er, und seine Augen lagen tief in den Höhlen. Er trug ein Wams mit Fellkragen, und seine Füße in spitzen Schuhen hatte er auf die Sitzbank gelegt, was eine grobschlächtige Frechheit war. Kircher wandte sich zur Tür.

Der Mann beugte sich vor, legte ihm mit fast zärtlicher Geste eine Hand auf die Schulter und zog mit der anderen den Riegel zu.

«Ich möcht was fragen», sagte er.

«Ich habe kein Geld», sagte Kircher. «Nicht hier in der Kutsche. Das hat einer der Sekretäre draußen.»

«Das ist schön, dass du hier bist. So lang habe ich gewartet, ich dachte, die Gelegenheit kommt nie, aber du musst wissen: Jede Gelegenheit kommt, das ist das Schöne, jede kommt irgendwann, und ich dachte, als ich dich gesehen hab, jetzt erfahre ich's endlich. Sie sagen, dass du heilen kannst, ich

kann das auch, weißt du? Das Sterbehaus zu Mainz. Voll Pestkranker, das war ein Husten, ein Ächzen, ein Jammern, und ich hab gesagt: Ich hab ein Pulver, ich verkauf es euch, das macht euch gesund, und die armen Schweine riefen voll Hoffnung: Gib es uns, gib uns das Pulver! Ich muss es erst anfertigen, hab ich gesagt, und sie haben gerufen: Mach das Pulver, mach es, mach dein Pulver! Und ich hab gesagt: So leicht ist das nicht, mir fehlt eine Zutat, für die muss einer sterben. Da war es still. Da waren sie erstaunt. Da hat erst mal keiner was gesagt. Und ich hab gerufen: Einen muss ich töten, es tut mir leid, von nichts kommt nichts. Ich bin nämlich auch Alchimist, weißt du! Genau wie du, ich kenn die geheimen Kräfte, und die Heilgeister gehorchen auch mir.»

Er lachte. Kircher starrte ihn an, dann streckte er die Hand nach der Tür aus.

«Tu das nicht», sagte der Mann mit einer Stimme, die Kircher sofort die Hand zurückziehen ließ. «Also, ich hab gesagt, einer muss sterben, und wer das sein soll, bestimme nicht ich, das müsst ihr unter euch ausmachen. Und sie haben gesagt: Wie sollen wir das tun? Und ich hab gesagt: Der am kränksten ist, um den ist es am wenigsten schade, also seht zu, wer noch laufen kann, nehmt eure Krücken, rennt los, und wer als Letzter im Haus ist, den weide ich aus. Und hast du nicht gesehen, gleich war das Haus leer. Drei Tote waren noch drin. Kein Lebender. Seht ihr, hab ich gesagt, ihr könnt gehen, ihr liegt nicht im Sterben, ich hab euch geheilt. Kennst mich gar nicht mehr, Athanasius?»

Kircher starrte ihn an.

«Lang her», sagte der Mann. «Viele Jahre, viel Wind im Gesicht, viel Frost, die Sonne brennt einen, der Hunger brennt auch, da sieht man schon anders aus. Obwohl du doch noch ganz genauso aussiehst mit deinen roten Wangen.»

«Ich weiß, wer du bist», sagte Kircher.

Von draußen dröhnte die Musik. Kircher fragte sich, ob er um Hilfe rufen sollte, aber die Türe war verriegelt. Selbst wenn sie ihn hörten, was unwahrscheinlich war, würden sie die Tür erst aufbrechen müssen, und man mochte sich nicht ausdenken, was der Kerl ihm in dieser Zeit antun konnte.

«Was in dem Buch stand. Er hätt es so gerne gewusst. Sein Leben hätt er dafür gegeben. Und hat es auch. Und hat es doch nie erfahren. Aber ich könnt es jetzt rauskriegen. Ich hab immer gedacht, vielleicht seh ich den jungen Doktor wieder, vielleicht erfahr ich's noch, und hier bist du. Also? Was stand drin in dem lateinischen Buch?»

Kircher begann, lautlos zu beten.

«Es hatte keinen Umschlag, aber Bilder hatte es. Auf einem war eine Grille, auf einem ein Tier, das es nicht gibt, mit zwei Köpfen und Flügeln, oder vielleicht gibt es das ja, was weiß ich. Auf einem war ein Mann in einer Kirche, aber die hatte kein Dach, es waren Säulen drüber, das weiß ich noch, über den Säulen waren andere Säulen. Claus hat es mir gezeigt und gesagt: Schau, das ist die Welt. Ich hab es nicht verstanden, ich glaub, er auch nicht. Aber wenn er es schon nicht wissen konnte, will wenigstens ich es wissen, und du hast dir seine

Sachen angeschaut, und Latein verstehst du auch, also sag es mir - was war das für ein Buch, wer hat es geschrieben, wie heißt es?»

Kirchers Hände zitterten. Der Junge von damals war klar und deutlich in seinem Gedächtnis aufbewahrt, klar und deutlich auch der Müller, dessen krächzende letzte Laute am Galgen er nie vergessen würde, klar und deutlich auch das Geständnis der weinenden Müllerin, aber er hatte in seinem Leben so viele Bücher in Händen gehabt, so viele Seiten durchgeblättert und so viel Gedrucktes gesehen, dass er es nicht mehr auseinanderhalten konnte. Es ging wohl um ein Buch, das der Müller besessen hatte. Aber es half nichts, seine Erinnerung versagte.

«Erinnerst du dich ans Verhör?», fragte der dünne Mann sanft. «Der ältere Mann, der Pater, er hat immer gesagt: Keine Angst, wir tun dir nicht weh, wenn du sagst, was wahr ist.»

«Das hast du ja getan.»

«Und er hat mir auch nicht weh getan, aber er hätte mir weh getan, wär ich nicht weggerannt.»

«Ja», sagte Kircher, «daran hast du gut getan.»

«Ich hab nie erfahren, was aus meiner Mutter geworden ist. Ein paar Leute haben sie fortgehen sehen, aber keiner hat gesehen, dass sie anderswo angekommen ist.»

«Wir haben dich gerettet», sagte Kircher. «Der Teufel hätte auch dich ergriffen, man kann nicht ungeschoren in seiner Nähe leben. Indem du wider deinen Vater gesprochen hast, hat er seine Macht über dich verloren. Dein Vater hat gestanden

und bereut. Gott ist barmherzig.»

«Ich will es ja nur wissen. Das Buch. Das musst du mir sagen. Und lüg nicht, denn das merke ich. Das hat er immer gesagt, dein alter Pater: Lüg nicht, denn das merke ich. Dabei hast du ihn ständig angelogen, und er hat's nicht gemerkt.»

Der Mann beugte sich vor. Seine Nase war jetzt nur eine Handbreit von Kirchers Gesicht entfernt; er schien ihn nicht so sehr anzusehen, als vielmehr an ihm zu riechen. Seine Augen waren halb geschlossen, und Kircher kam es vor, als hörte er ihn schnüffelnd die Luft einziehen.

«Ich weiß es nicht mehr», sagte Kircher.

«Das glaub ich nicht.»

«Ich habe es vergessen.»

«Aber wenn ich es doch nicht glaub.»

Kircher räusperte sich. «Sator», sagte er leise, dann verstummte er. Seine Augen schlossen sich, aber sie zuckten unten den Lidern, als ob er hier- und dorthin blickte, dann öffnete er sie wieder. Eine Träne lief ihm über die Wange. «Du hast recht», sagte er tonlos. «Ich lüge viel. Doktor Tesimond habe ich angelogen, aber das ist nichts. Ich habe auch Seine Heiligkeit angelogen. Und Seine Majestät, den Kaiser. Ich lüge in den Büchern. Ich lüge immer.»

Der Professor sprach noch weiter, mit brüchiger Stimme, aber Tyll konnte ihn nicht verstehen. Eine sonderbare Schwere war über ihn gekommen. Er wischte sich über die Stirn, kalter Schweiß lief ihm übers Gesicht. Die Sitzbank vor ihm war leer, er war allein in der Kutsche, die Tür stand offen. Gähnend stieg

er aus.

Draußen war dichter Nebel. Schwaden rollten vorbei, die Luft war vollgesogen mit Weiß. Die Musiker hatten zu spielen aufgehört, schemenhafte Gestalten zeichneten sich ab, das waren die Begleiter des Professors, und der Schatten da musste Nele sein. Irgendwo wieherte ein Pferd.

Tyll setzte sich auf den Boden. Der Nebel wurde schon wieder dünner, ein paar Sonnenstrahlen brachen hindurch. Man konnte bereits die Kutschen und ein paar Zelte und die Umrisse der Zuschauerbänke erkennen. Einen Moment später herrschte heller Tag, Feuchtigkeit dampfte vom Gras, der Nebel war fort.

Die Sekretäre sahen einander verwirrt an. Eines der zwei Kutschpferde war nicht mehr da, die Deichsel ragte in die Luft. Während alle sich fragten, wo plötzlich der Nebel hergekommen war, während die Akrobaten Räder schlugen, weil sie es nicht aushielten, das eine Weile nicht zu tun, während der Esel Halme zupfte, während die Alte wieder für Fleming zu rezitieren begann und während Olearius und Nele miteinander sprachen, saß Tyll reglos da, mit schmalen Augen und in den Wind gehobener Nase. Und er stand auch nicht auf, als einer der Sekretäre herankam und zu Olearius sagte, dass Seine Exzellenz Professor Kircher offenbar ohne Abschied weggeritten sei. Er habe nicht einmal eine Nachricht hinterlassen.

«Den Drachen finden wir nicht ohne ihn», sagte Olearius.

«Sollen wir warten?», fragte der Sekretär. «Vielleicht kommt er zurück.»

Olearius warf einen Blick in Neles Richtung. «Das wäre wohl das Beste.»

«Was ist mit dir los?», fragte Nele, die zu Tyll gegangen war.

Er sah auf. «Ich weiß es nicht.»

«Was ist geschehen?»

«Ich hab's vergessen.»

«Jonglier für uns. Dann wird es wieder gut.»

Tyll stand auf. Er tastete nach dem Beutel, der ihm an der Seite hing, und holte erst einen gelben und dann einen roten und dann einen blauen und dann einen grünen Lederball hervor. Nachlässig begann er, sie in die Luft zu werfen, und er holte noch mehr Bälle hervor, immer noch einen und noch einen, bis es Dutzende zu sein schienen, die über seine ausgebreiteten Hände sprangen. Alle sahen den steigenden, fallenden, steigenden Bällen zu, und sogar die Sekretäre mussten lächeln.

Es war früh am Morgen. Nele hatte eine ganze Weile vor dem Zelt gewartet. Sie hatte nachgedacht, war auf und ab gegangen, hatte gebetet, Gras ausgerissen, still geweint, die Finger geknetet und sich schließlich gefasst.

Jetzt schlüpfte sie ins Zelt. Tyll schlief, doch als sie ihn an der Schulter berührte, war er sofort hellwach.

Sie sagte ihm, dass sie die Nacht mit Herrn Olearius verbracht habe, dem Höfling aus Gottorf, draußen im Feld.

«Ja, und?»

«Diesmal ist es anders.»

«Hat er dir nichts Schönes geschenkt?»

«Doch, hat er.»

«Dann ist es ja wie immer.»

«Er möchte, dass ich mit ihm komme.»

Tyll zog in gespieltem Erstaunen die Brauen hoch.

«Er will mich heiraten.»

«Nein.»

«Doch.»

«Heiraten?»

«Ja.»

«Dich?»

«Mich.»

«Warum?»

«Er meint es ernst. Er wohnt in einem Schloss. Es ist kein schönes Schloss, sagt er, und im Winter ist es kalt, aber er hat genug zu essen und einen Herzog, der für ihn sorgt, und er muss dafür nichts anderes tun als die Kinder vom Herzog unterrichten und manchmal etwas ausrechnen und auf Bücher aufpassen.»

«Laufen die sonst weg, die Bücher?»

«Ich sag ja, er hat es gut.»

Tyll rollte von seinem Strohsack, kam auf die Füße, stand auf. «Dann musst du mit ihm gehen.»

«Ich mag ihn nicht sehr gern, aber er ist ein guter Mensch. Und sehr allein. Seine Frau ist gestorben, da war er in Russland. Ich weiß nicht, wo Russland ist.»

«Bei England.»

«Jetzt sind wir doch nicht nach England gekommen.»

«In England ist es wie hier.»

«Und als er zurückgekommen ist aus Russland, da war sie tot, und Kinder hatten sie nicht, und seither ist er traurig. Er ist noch einigermaßen gesund, das hab ich gemerkt, und ich glaube, dass man ihm glauben kann. So einer kommt nicht noch mal zu mir.»

Tyll setzte sich neben sie und legte den Arm um ihre Schultern. Draußen hörte man die Alte eine Ballade rezitieren. Offenbar saß Fleming noch immer bei ihr und ließ sie wieder und wieder vortragen, um es sich einzuprägen.

«So einer ist schon besser als ein Steger», sagte sie.

«Wahrscheinlich wird er dich auch nicht schlagen.»

«Kann schon sein», sagte Nele nachdenklich. «Und wenn, schlag ich zurück. Da wird er sich wundern.»

«Sogar Kinder kannst du noch haben.»

«Ich mag Kinder nicht. Und er ist schon alt. Aber er wird dankbar sein, mit Kindern oder ohne.»

Sie schwieg. Der Wind ließ die Zeltplane knattern, und die Alte begann von vorn.

«Ich will eigentlich nicht.»

«Aber du musst.»

«Warum?»

«Weil wir nicht mehr jung sind, Schwester. Und wir werden nicht jünger. Um keinen Tag. Niemand hat es gut, der alt und heimatlos ist. Er wohnt in einem Schloss.»

«Aber wir gehören zusammen.»

«Ja.»

«Vielleicht nimmt er dich auch mit.»

«Das geht nicht. Ich kann nicht im Schloss bleiben. Ich würd's nicht aushalten. Und selbst wenn ich's aushalten würde, sie würden mich da nicht lang haben wollen. Entweder sie jagen mich davon, oder ich brenn das Schloss ab. Das eine oder das andere. Aber es würde dein Schloss sein, also darf ich's nicht abbrennen, also wird das nichts.»

Eine Weile waren sie still.

«Ja, das wird nichts», sagte sie dann.

«Warum will er dich eigentlich?», fragte Tyll. «So schön bist du gar nicht.»

«Gleich hau ich dir auf den Mund.»

Er lachte.

«Ich glaube, er liebt mich.»

«Was?»

«Ich weiß, ich weiß.»

«Liebt dich?»

«So was gibt es.»

Draußen gab der Esel ein Eselsgeräusch von sich, und die Alte begann eine andere Ballade.

«Wenn die Marodeure nicht gewesen wären», sagte Nele. «Damals im Wald.»

«Red nicht davon.»

Sie schwieg.

«Leute wie er nehmen Leute wie dich sonst nicht», sagte er.

«Er muss ein guter Mann sein. Und selbst wenn er kein guter Mann ist - er hat ein Dach überm Kopf, und er hat Münzen im Beutel. Sag ihm, dass du mitkommst, und sag es ihm, bevor er sich's anders überlegt.»

Nele begann zu weinen. Tyll nahm seine Hand von ihrer Schulter und sah sie an. Nach kurzem beruhigte sie sich.

«Kommst mich besuchen?», fragte sie.

«Ich glaub nicht.»

«Warum nicht?»

«Schau, wie soll das gehen. Er wird nicht wollen, dass man ihn dran erinnert, wo er dich gefunden hat. Im Schloss wird es keiner wissen, und du selbst wirst nicht wollen, dass man es weiß. Die Jahre werden vergehen, Schwester, bald ist alles nicht mehr wahr, nur deine Kinder werden sich wundern, dass du so gut tanzen und singen und alles auffangen kannst.»

Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Zögernd schlüpfte sie aus dem Zelt, stand auf und ging zu den Kutschen hinüber, um dem Hofmathematiker mitzuteilen, dass sie sein Angebot annehmen und mit ihm nach Gottorf ziehen werde.

Als sie zurückkam, fand sie Tylls Zelt leer. Blitzschnell war er aufgebrochen und hatte nichts mitgenommen außer den Jonglierbällen, einem langen Seil und dem Esel. Nur Magister Fleming, der ihm draußen auf der Wiese begegnet war, hatte noch mit ihm gesprochen. Aber was Tyll gesagt hatte, wollte er nicht verraten.

Der Zirkus verlief sich in alle Richtungen. Die Musiker zogen

mit den Akrobaten nach Süden, der Feuerschlucker ging mit der Alten nach Westen, die anderen wandten sich nach Nordosten, in der Hoffnung, sich so von Krieg und Hunger zu entfernen. Der Verwachsene fand Aufnahme in der Kuriositätenkammer des Kurfürsten von Bayern. Die Sekretäre erreichten drei Monate später die Stadt Rom, wo Athanasius Kircher sie schon ungeduldig erwartete. Er verließ die Stadt nie mehr, führte Tausende Versuche durch und schrieb Dutzende Bücher, bis er vierzig Jahre später in hohen Ehren starb.

Nele Olearius überlebte Kircher um drei Jahre. Sie bekam Kinder und begrub ihren Gatten, den sie nie geliebt, aber immer geschätzt hatte, weil er sie gut behandelte und nicht mehr von ihr erwartete als etwas Freundlichkeit. Vor ihren Augen erblühte Schloss Gottorf zu neuem Glanz, sie sah ihre Enkel heranwachsen und wiegte noch den ersten Urenkel auf ihrem Schoß. Keiner ahnte, dass sie einst mit Tyll Ulenspiegel durchs Land gezogen war, aber genau wie der vorhergesagt hatte, wunderten sich ihre Enkel darüber, dass sie selbst als alte Frau noch alles fangen konnte, was man ihr zuwarf. Beliebt und angesehen war sie, keiner hätte vermutet, dass sie einmal etwas anderes gewesen war als eine ehrbare Frau. Und sie erzählte auch keinem, dass sie immer noch die Hoffnung hatte, der Junge, mit dem sie einst aus dem Dorf ihrer Eltern aufgebrochen war, würde wiederkommen und sie mitnehmen.

Erst als der Tod nach ihr griff und mit ihm die Verwirrung der letzten Tage, war ihr plötzlich, als ob sie ihn sehen könnte.

Dünn und lächelnd stand er am Fenster, dünn und lächelnd kam er in ihr Zimmer, und lächelnd setzte sie sich auf und sagte: «Das hat ja gedauert!»

Und der Herzog von Gottorf, ein Sohn jenes Herzogs, der ihren Mann damals angestellt hatte, war an ihr Sterbebett gekommen, um vom ältesten Mitglied seines Haushalts Abschied zu nehmen. Er begriff, dass jetzt nicht der Moment war, Irrtümer zu berichtigen, nahm die starre kleine Hand, die sie ihm entgegenstreckte, und sein Instinkt gab ihm die Antwort ein: «Ja, aber jetzt bin ich hier.»

Im selben Jahr starb in der Holsteinischen Ebene der letzte Drache des Nordens. Er war siebzehntausend Jahre alt, und er war es müde, sich zu verstecken.

Also bettete er den Kopf ins Heidekraut, legte den Körper, der sich so vollständig seinem Untergrund anpasste, dass selbst Adler ihn nicht hätten ausmachen können, flach in die Weichheit der Gräser, seufzte und bedauerte kurz, dass es nun vorbei war mit Duft und Blumen und Wind und dass er die Wolken im Sturm nicht mehr sehen würde, nicht den Aufgang der Sonne und nicht die Kurve des Erdschattens auf dem kupferblauen Mond, der ihn immer besonders erfreut hatte.

Er schloss seine vier Augen und brummte noch leise, als er spürte, dass ein Spatz sich auf seine Nase setzte. Es war ihm alles recht, denn er hatte so viel gesehen, aber was mit einem wie ihm nach dem Tod geschehen würde, wusste er noch immer nicht. Seufzend schlief er ein. Sein Leben hatte lang

gedauert. Nun war es Zeit, sich zu verwandeln.

Im Schacht

«Gott, Allmächtiger, Herr Jesu Christ, steh uns bei», hat der Matthias vorhin noch gesagt, und der Korff hat geantwortet: «Aber Gott ist hier nicht!», und der Eisenkurt hat gesagt: «Gott ist überall, du Schwein», und der Matthias hat gesagt: «Hier unten nicht», und dann haben alle gelacht, doch dann hat es einen Knall gegeben und einen Luftstoß so scharf und heiß, dass er sie zu Boden geworfen hat. Tyll ist auf den Korff gefallen, der Matthias auf den Eisenkurt, und dann ist es stockdunkel gewesen. Eine Weile hat sich keiner gerührt, alle haben die Luft angehalten, jeder hat nachgedacht, ob er gestorben ist, und allmählich erst haben alle begriffen, weil man so was einfach nie gleich begreift, dass der Schacht eingestürzt ist. Sie wissen, dass sie kein Geräusch machen dürfen, denn wenn die Schweden durchgebrochen sind, wenn die im Dunkeln über ihnen stehen, die Messer blank, dann keinen Mucks, nicht den allerkleinsten, nicht atmen, nur kein Schnüffeln, kein Keuchen, kein Husten.

Dunkel ist es. Aber anders dunkel als droben. Wenn es dunkel ist, sieht man ja sonst immer noch etwas. Man weiß nicht recht, was man sieht, aber da ist nicht nichts; du bewegst den Kopf, das Dunkel ist nicht überall gleich, und wenn du dich daran gewöhnt hast, entstehen Umrisse. Hier aber nicht. Das

Dunkel bleibt. Zeit vergeht, und als mehr Zeit vergangen ist und sie schon nicht mehr die Luft anhalten können und vorsichtig wieder Atemzüge machen, ist es immer noch so dunkel, als hätte Gott alles Licht der Welt ausgelöscht.

Schließlich, weil wohl doch keine Schweden mit Messern über ihnen stehen, sagt der Korff: «Meldung machen!»

Und der Matthias: «Seit wann bist du der Chef, du versoffenes Vieh?»

Und der Korff: «Du Drecksloch, der Leutnant ist gestern krepiert, jetzt hab ich Anciennität.»

Drauf der Matthias: «Ja, oben vielleicht, aber nicht hier.»

Drauf der Korff: «Ich bring dich um, wenn du jetzt nicht Meldung machst. Ich muss wissen, wer noch lebt.»

Drauf Tyll: «Ich glaube, ich leb noch.»

Die Wahrheit ist, dass er sich nicht sicher ist. Wenn man flach liegt und alles schwarz ist, wie soll man das wissen. Aber jetzt, da er seine Stimme gehört hat, merkt er, dass es stimmt.

«Dann geh von mir runter», sagt der Korff. «Du liegst auf mir, du Gerippe!»

Wo er recht hat, hat er recht, denkt Tyll, es ist wirklich nicht so gut, hier auf dem Korff zu liegen. Also rollt er sich zur Seite.

«Matthias, du machst jetzt auch Meldung», sagt der Korff.

«Dann mach ich halt Meldung.»

«Kurt?»

Sie warten, aber der Eisenkurt, den sie alle so nennen wegen seiner eisernen rechten Hand, oder vielleicht ist es auch die linke gewesen, so genau erinnert sich keiner, es ist dunkel,

man kann nicht nachsehen, macht keine Meldung.

«Kurt?»

Still ist es, jetzt sind nicht mal mehr die Explosionen zu hören. Eben hat man sie noch gehört, ferne Donnerschläge von droben, die die Steine zittern ließen; das waren die Schweden vom Torstensson, die versuchen, die Bastionen zu sprengen. Aber jetzt hört man nur Atmen. Tyll hört man atmen, und den Korff hört man und den Matthias, aber den Kurt hört man nicht.

«Bist du tot?», ruft der Korff. «Kurt, bist verreckt?»

Aber der Kurt sagt noch immer nichts, was überhaupt nicht seine Art ist, sonst kann man ihn kaum zum Schweigen bringen. Tyll hört den Matthias tasten. Er fühlt wohl nach dem Hals vom Kurt, des Herzschlags wegen, dann nach der Hand - erst der eisernen, dann der echten. Tyll muss husten. Staubig ist es, kein Durchzug mehr, die Luft fühlt sich an wie dicke Butter.

«Doch, der ist tot», sagt der Matthias schließlich.

«Sicher?», fragt der Korff. Man hört ihm an der Stimme an, wie es ihn fuchst - jetzt hat er seit gestern Anciennität, weil es den Leutnant erwischt hat, und schon sind da nur noch zwei Untergebene.

«Er atmet nicht», sagt der Matthias, «und sein Herz schlägt nicht, und reden will er auch nicht, und hier, du kannst es fühlen, die Hälfte vom Kopf ist weg.»

«Scheißdreck», sagt der Korff.

«Ja», sagt der Matthias, «eine Scheiße ist das schon. Obwohl,

schau, gemocht hab ich ihn nicht. Gestern hat er mein Messer genommen, und als ich gesagt hab, gib's zurück, hat er gesagt, gern, aber nur zwischen deine Rippen. Geschieht ihm recht.»

«Ja, geschieht ihm recht», sagt der Korff, «Gott sei seiner Seele gnädig.»

«Die kommt hier nicht raus», sagt Tyll. «Seine Seele, wie soll die hier rausfinden?»

Eine Weile schweigen sie beklommen, weil alle daran denken, dass die Seele vom Kurt noch hier sein könnte, kalt und glitschig und wahrscheinlich wütend. Dann ist ein Scharren zu hören, ein Schieben, ein Wetzen.

«Was machst du da?», fragt der Korff.

«Ich such mein Messer», sagt der Matthias. «Ich lass das der Sau nicht.»

Tyll muss wieder husten. Dann fragt er: «Was ist geschehen? Ich bin ja nicht lang dabei, warum ist es dunkel?»

«Weil keine Sonne durchkommt», sagt der Korff. «Zu viel Erde zwischen ihr und uns.»

Geschieht mir recht, denkt Tyll, soll er spotten, das ist wirklich keine schlaue Frage gewesen. Und um etwas Besseres zu fragen, sagt er: «Müssen wir sterben?»

«Ja freilich», sagt der Korff. «Wir und jeder andere.»

Auch da hat er recht, denkt Tyll, obwohl, wer weiß, ich zum Beispiel bin bisher nie gestorben. Dann, denn das Dunkel kann einen sehr verwirren, versucht er, sich zu erinnern, wie es ihn in den Schacht verschlagen hat.

Zunächst einmal, weil er nach Brünn gekommen ist. Er hätte

anderswohin gehen können, aber nachher weiß man es immer besser, und nach Brünn ist er gekommen, weil es geheißen hat, die Stadt wäre reich und sicher. Und es hat doch keiner geahnt, dass der Torstensson mit der halben Schwedenarmee hierherzieht, es hat immer geheißen, er wird nach Wien gehen, wo der Kaiser hockt, nur weiß man eben nicht, was die Herren sich so denken unter ihren großen Hüten.

Und dann ist es wegen dem Stadtkommandanten gewesen, mit seinen buschigen Brauen, dem Spitzbärtchen, den schmalzglänzenden Backen und diesem Stolz in jedem gespreizten Fingerchen. Auf dem Hauptplatz hat er Tyll zugesehen, mit Mühe anscheinend, weil seine Lider so adlig tief hängen und weil einer wie er wohl glaubt, dass er einen besseren Anblick verdient hätte als einen Narren im gescheckten Wams.

«Kannst nichts Besseres zeigen?», hat er gebrummt.

Oft passiert es ja nicht, dass Tyll sich ärgert, aber wenn es passiert, dann ist er besser im Beleidigen als jeder, dann sagt er etwas, was so einer nie vergessen wird. Was war es eigentlich? Die Dunkelheit bringt einem wirklich das Gedächtnis durcheinander. Das Dumme war, dass sie gerade Männer rekrutiert haben, zur Verteidigung der Festung Brünn.

«Na warte. Du hilfst mit, du kommst zu den Soldaten! Kannst dir deine Einheit aussuchen. Nur passt auf, dass er nicht abhaut!»

Dann hat er gelacht, der Stadtkommandant, als wäre es ein guter Scherz gewesen, und so ein schlechter war es auch gar

nicht, das muss man zugeben, denn darum geht es ja bei einer Belagerung, dass keiner abhauen kann; könnte man von einer Belagerung abhauen, wäre es keine.

«Was machen wir jetzt?», hört Tyll den Matthias fragen.

«Die Hacke finden», antwortet der Korff. «Die muss hier liegen. Ich sag dir gleich, ohne Hacke brauchen wir's gar nicht zu versuchen. Haben wir die nicht, ist's vorbei.»

«Der Kurt hat sie gehabt», sagt Tyll. «Sie muss unterm Kurt liegen.»

Er hört die beiden im Dunkeln scharren und schieben und tasten und fluchen. Er bleibt sitzen, er möchte ihnen nicht im Weg sein, und vor allem will er nicht, dass sie sich daran erinnern, dass nicht der Kurt die Spitzhacke gehalten hat, sondern er. Ganz sicher ist er sich nicht, weil einem immer wirrer zumute wird hier, an die fernen Ereignisse erinnert man sich noch klar, aber je näher etwas an dem Knall von vorhin dran war, desto mehr versuppt und zerläuft es im Kopf. Mit einiger Sicherheit hat er die Hacke gehabt, aber weil sie schwer gewesen und ihm immer zwischen die Beine geraten ist, steht sie jetzt irgendwo im Schacht. Davon sagt er allerdings kein Wort, es ist besser, wenn die beiden meinen, dass die Hacke beim Eisenkurt ist, denn der hat es schließlich hinter sich, egal, wie wütend sie werden, dem ist es egal.

«Hilfst du mit, Gerippe?», fragt der Matthias.

«Sicher helf ich», sagt Tyll, ohne sich zu rühren. «Ich suche und suche! Wie verrückt suche ich, wie ein Maulwurf, hörst du's nicht?»

Und weil er gut lügen kann, genügt ihnen das. Dass er sich nicht rühren mag, liegt an der Luft. Todesstickig ist sie, nichts fließt herein, nichts hinaus, da wird man schnell ohnmächtig und erwacht nicht mehr. In so einer Luft bewegt man sich lieber nicht und atmet nur so viel wie unbedingt nötig.

Zu den Mineuren hätte er sich besser nicht gemeldet. Das war ein Irrtum. Die Mineure sind tief unten, hat er gedacht, und die Kugeln fliegen oben. Die Mineure schützt die Erde, hat er gedacht. Der Feind hat Mineure, um unsere Mauern zu sprengen, und wir haben Mineure, um die Schächte zu sprengen, die der Feind unter unseren Mauern gräbt. Mineure graben, hat er gedacht, während droben gehauen und gestochen wird. Und wenn ein Mineur aufmerksam ist, hat er gedacht, und den Moment nützt, dann kann er auch einfach weitergraben und gräbt einen Tunnel nur für sich und gelangt irgendwo draußen ins Freie, jenseits der Befestigungen, so hat er gedacht, und macht sich davon, eh du dich's versiehst. Und weil Tyll das gedacht hat, hat er dem Offizier, der ihn am Kragen gehalten hat, gesagt, dass er zu den Mineuren will.

Und der Offizier: «Was?»

«Der Kommandant hat gesagt, ich kann es mir aussuchen!»

Und der Offizier: «Ja, aber. Wirklich? Zu den Mineuren?»

«Ihr habt es gehört.»

Ja, das ist dumm gewesen. Mineure sterben fast immer, aber das haben sie ihm erst unter der Erde erzählt. Von fünf Mineuren sterben vier. Von zehn sterben acht. Von zwanzig sterben sechzehn, von fünfzig siebenundvierzig, von hundert

sterben alle.

Immerhin gut, dass der Origenes davongekommen ist. Wegen ihres Streits ist das gewesen, letzten Monat erst, auf dem Weg nach Brünn.

«Im Wald sind die Wölfe», hat der Esel gesagt, «die haben Hunger, lass mich hier nicht stehen.»

«Keine Angst, die Wölfe sind weit weg.»

«Ich kann sie riechen, so nah sind sie. Du kletterst auf einen Baum, aber ich steh hier unten, und was tu ich, wenn sie kommen?»

«Du tust, was ich sage!»

«Aber wenn du was Blödes sagst?»

«Dann auch. Weil ich der Mensch bin. Ich hätte dir nie das Reden beibringen sollen.»

«Dir hätt man's auch nicht beibringen sollen, du sagst kaum was, das Sinn hat, und du jonglierst nicht mehr sicher. Demnächst rutscht dir noch der Fuß vom Seil. Du hast mir gar nichts zu befehlen!»

Und da ist Tyll eben wütend auf den Baum, und der Esel ist wütend unten geblieben. Tyll hat so oft auf Bäumen geschlafen, dass ihm das nicht mehr schwerfällt - man braucht einen dicken Ast und ein Seil, um sich festzubinden, und ein gutes Gefühl für Gleichgewicht, und wie bei allem anderen im Leben braucht man Übung.

Die halbe Nacht hat er den Esel schimpfen gehört. Bis der Mond aufgegangen ist, hat er gebrummt und gemurrt, und er hat Tyll ja leidgetan, aber es ist spät gewesen, und in der Nacht kann man nicht weiterziehen, was hätte man tun sollen. So ist Tyll eben eingeschlafen, und als er wieder aufgewacht ist, ist der Esel nicht mehr da gewesen. Die Wölfe sind nicht schuld, das hätte er schon gemerkt, wenn die gekommen wären; offenbar hat der Esel beschlossen, dass er es auch allein zu etwas bringen kann und keinen Bauchredner braucht.

Und mit dem Jonglieren hat Origenes recht gehabt. Hier in Brünn, vor dem Dom, hat Tyll danebengegriffen, und ein Ball ist auf den Boden gefallen. Er hat so getan, als wäre es Absicht gewesen, hat ein Gesicht gezogen, dass alle gelacht haben, aber so etwas ist kein Spaß, es kann wieder passieren, und wenn es nächstes Mal wirklich der Fuß auf dem Seil ist, was dann?

Das Gute ist, dass er sich darum wohl keine Sorgen mehr machen muss. Es sieht nicht danach aus, als würden sie hier rauskommen.

«Es sieht nicht danach aus, als würden wir hier rauskommen», sagt der Matthias.

Dabei ist das wohl Tyll gewesen, das waren seine Gedanken, die sich in der Dunkelheit in den Kopf vom Matthias verirrt haben, aber vielleicht war es auch umgekehrt, wer weiß das schon. Auch sieht man jetzt kleine Lichter, wie Glühwürmchen schwirrend, die aber nicht wirklich da sind, das weiß Tyll, denn obwohl er die Lichter sieht, sieht er auch, dass es nach wie vor ganz dunkel ist.

Der Matthias stöhnt, und dann hört Tyll ein Klatschen, als ob jemand mit der Faust an die Wand geschlagen hätte. Dann

stößt der Matthias einen tollen Fluch aus, den Tyll noch nicht kennt. Muss ich mir merken, denkt er, aber dann hat er ihn trotzdem gleich vergessen und fragt sich, ob er ihn sich nur ausgedacht hat, aber was eigentlich, was hat er sich ausgedacht? Auf einmal weiß er es nicht mehr.

«Wir kommen hier nicht mehr raus», sagt der Matthias wieder.

«Halt dein blödes Maul», sagt der Korff, «wir finden die Hacke, wir graben uns frei, Gott wird helfen.»

«Warum sollte er?», fragt der Matthias.

«Dem Leutnant hat er auch nicht geholfen», sagt Tyll.

«Ich hau euch die Schädel ein», sagt der Korff, «dann kommt ihr sicher nicht raus.»

«Warum bist du überhaupt bei den Mineuren?», fragt der Matthias. «Du bist doch der Ulenspiegel!»

«Sie haben mich gezwungen. Glaubst du, ich meld mich freiwillig? Und warum bist du hier?»

«Ich wurde auch gezwungen. Brot gestohlen, in Ketten gelegt, so schnell ist das gegangen. Aber du? Wie ist das passiert? Du bist doch berühmt! Warum zwingen sie einen wie dich?»

«Hier unten ist keiner berühmt», sagt der Korff.

«Wer hat denn dich gezwungen?», fragt Tyll den Korff.

«Mich zwingt keiner zu was. Wer den Korff zwingen will, den bringt der Korff um. Ich war bei den Trommlern beim Christian von Halberstadt, dann bin ich als Musketier zu den Franzosen, dann zu den Schweden, aber als die keinen Sold bezahlt haben,

bin ich als Artillerist wieder zu den Franzosen. Dann ist meine Batterie getroffen worden, so was hast du nicht gesehen, Volltreffer mit der Glühkugel, alles Pulver geht hoch, Feuer wie der Weltuntergang, aber der Korff hat sich schnell genug in die Büsche geworfen und überlebt. Dann bin ich zu den Kaiserlichen rüber, aber die haben keine Kanoniere gebraucht, und Pikenier wollt ich nicht mehr sein, also bin ich nach Brünn, und weil ich kein Geld mehr hatte und niemand so guten Sold bekommt wie die Mineure, hab ich eben gegraben. Bin schon drei Wochen dabei. Die meisten überleben nicht so lang. Grad war ich noch bei den Schweden, jetzt töte ich die Schweden, und ihr zwei Drecksäcke habt Glück, dass ihr mit dem Korff verschüttet seid, weil der Korff kratzt nicht so schnell ab.» Er will noch mehr sagen, aber jetzt wird ihm die Luft knapp, und er hustet, und dann ist er eine Weile still. «Du, Gerippe», sagt er schließlich, «hast Geld?»

«Nichts hab ich», sagt Tyll.

«Aber wo du doch berühmt bist. Kann einer berühmt sein und kein Geld haben?»

«Wenn er dumm ist, kann er.»

«Und du bist dumm?»

«Bruder, wenn ich klug wär, wär ich hier?»

Der Korff muss lachen. Und weil Tyll weiß, dass keiner es sehen kann, tastet er sein Wams ab. Die Goldstücke im Kragen, das Silber in der Knopfleiste, die zwei Perlen, fest eingenäht unten im Aufschlag, alles noch da. «Ehrlich. Ich würd's dir geben, wenn ich was hätte.»

«Bist auch nur eine arme Sau», sagt der Korff.

«In Ewigkeit, amen.»

Alle drei müssen sie lachen.

Tyll und der Korff hören wieder mit dem Lachen auf. Der Matthias lacht weiter.

Sie warten, aber er lacht noch immer.

«Der hört nicht auf», sagt der Korff.

«Wird halt verrückt», sagt Tyll.

Sie warten. Der Matthias lacht weiter.

«Ich war vor Magdeburg dabei», sagt der Korff. «Ich war bei den Belagerern, das war, bevor ich bei den Schweden gewesen bin, da war ich noch bei den Kaiserlichen. Als die Stadt gefallen ist, haben wir alles genommen, alles verbrannt, alle getötet. Macht, was ihr wollt, hat der General gesagt. Man schafft das nicht gleich, weißt du, muss sich erst dran gewöhnen, dass man das wirklich darf. Dass das geht. Mit Menschen machen, was man will.»

Plötzlich ist Tyll, als wären sie wieder draußen, als säßen sie zu dritt auf einer Wiese, der Himmel blau über ihnen, die Sonne so hell, dass man die Augen zukneifen muss. Aber während er blinzelt, weiß er doch auch, dass das nicht stimmt, und dann weiß er nicht mehr, was es eigentlich ist, von dem er gerade noch gewusst hat, dass es nicht stimmt, und da muss er husten, der schlechten Luft wegen, und die Wiese ist fort.

«Ich glaube, der Kurt hat was gesagt», sagt der Matthias.

«Nichts hat er gesagt», sagt der Korff.

Da hat er recht, denkt Tyll, der auch nichts gehört hat. Das bildet der Matthias sich ein, der Kurt hat nichts gesagt.

«Ich hab es auch gehört», sagt Tyll. «Der Kurt hat was gesagt.»

Sofort hört man den Matthias am toten Eisenkurt rütteln. «Lebst noch», ruft er, «bist noch da?»

Tyll erinnert sich an gestern, oder war es vorgestern? Der Angriff, bei dem der Leutnant getötet worden ist. Plötzlich das Loch in der Wand des Schachts, plötzlich Messer und Schreien und Knallen und Krachen, ganz tief in den Dreck hat er sich gedrückt, einer ist ihm auf den Rücken getreten, und als er wieder den Kopf gehoben hat, ist es schon vorbei gewesen: Ein Schwede hat dem Leutnant das Messer ins Auge gestochen, der Korff hat dem Schweden den Hals durchgeschnitten, der Matthias hat dem zweiten Schweden mit der Pistole in den Bauch geschossen, dass der geschrien hat wie ein Schwein nach dem Abstechen, denn nichts tut weh wie ein Bauchschuss, und der dritte Schwede hat einem der ihren, dessen Name Tyll nie erfahren hat, denn er ist ja neu gewesen, und jetzt ist es egal, jetzt braucht er den Namen nicht mehr zu kennen, mit dem Säbel den Kopf abgeschlagen, sodass es aus ihm gespritzt ist wie quellend rotes Wasser, aber der Schwede hat sich nicht lang freuen können, denn der Korff, dessen Pistole noch geladen gewesen ist, hat nun ihm in den Kopf geschossen, klipp-klapp, zipp-zapp, länger hat das nicht gedauert.

Solche Sachen dauern nie lang. Selbst damals im Wald ist es schnell gegangen, Tyll kann nicht anders, er muss daran denken, der Dunkelheit wegen. In der Dunkelheit kommt alles durcheinander, und das, was man vergessen hat, ist plötzlich wieder da. Damals im Wald ist er dem Gevatter am nächsten gewesen, da hat er seine Hand gespürt, deshalb weiß er so gut, wie sie sich anfühlt, darum erkennt er sie jetzt. Er hat nie davon gesprochen, hat auch nicht mehr daran gedacht. Denn das kann man tun: einfach nicht an etwas denken. Dann ist es wie nicht geschehen.

Aber jetzt, im Dunkeln, da steigt alles auf. Das Augenschließen hilft so wenig, wie die Augen weit zu öffnen, und um es abzuwehren, sagt er: «Wollen wir singen? Vielleicht hört uns wer!»

«Ich sing nicht», sagt der Korff.

Dann beginnt der Korff zu singen: Ist ein Schnitter, der heißt Tod. Der Matthias singt mit, dann stimmt auch Tyll mit ein, und sogleich verstummen die zwei anderen und hören ihm zu. Tylls Stimme ist hoch, klar und kraftvoll. Hat Gewalt vom höchsten Gott. Heut wetzt er das Messer, es schneidt schon viel besser, bald wird er drein schneiden, wir müssen's nur leiden.

«Singt mit!», sagt Tyll.

Und sie tun es, aber der Matthias hört gleich wieder auf und lacht vor sich hin. Hüte dich, schöns Blümelein. Was heut noch grün und frisch da steht, wird morgen schon hinweggemäht. Nun kann man hören, dass auch der Kurt mitsingt. Er schafft es nicht sehr laut und ist heiser und trifft die Töne schlecht, aber da darf man nicht streng sein; wenn einer tot ist, kann ihm schon auch das Singen schwerfallen. Die edlen Narzissen, die Zierden der Wiesen, die schön' Hyazinthen, die türkischen

Binden. Hüte dich, schöns Blümelein.

«Donnerwetter», sagt der Korff.

«Ich hab dir gesagt, dass er berühmt ist», sagt der Matthias. «Es ist eine Ehre. Ein angesehener Mann krepiert mit uns.»

«Berühmt bin ich schon», sagt Tyll, «aber angesehen war ich mein Lebtag nicht. Glaubt ihr, das hat einer gehört, das Singen, glaubt ihr, es kommt wer?»

Sie horchen. Die Explosionen haben wieder angefangen. Ein Grollen, ein Zittern im Boden, Stille. Ein Grollen, ein Zittern, Stille.

«Der Torstensson sprengt uns die halbe Stadtmauer weg», sagt der Matthias.

«Schafft er nicht», sagt der Korff. «Unsere Mineure sind besser als seine. Die finden die schwedischen Schächte, die räuchern sie aus. Du hast den langen Karl noch nicht wütend gesehen.»

«Der lange Karl ist immer wütend, aber auch immer besoffen», sagt der Matthias. «Den erwürg ich mit einer Hand auf dem Rücken.»

«Dir hat's das Hirn versumpft!»

«Soll ich's dir zeigen? Du denkst, dass du ein großer Herr bist wegen Magdeburg und was weiß ich, wo du warst!»

Der Korff ist kurz still, dann sagt er leise: «Du, ich hau dich tot.»

«Ja?»

«Ich mach's.»

Dann schweigen sie eine Zeitlang, und man hört die Schläge

der Sprengsätze von oben, auch hört man Steine rieseln. Der Matthias sagt nichts, weil er verstanden hat, dass der Korff es ernst meint; und der Korff sagt nichts, weil ihn auf einmal die Sehnsucht übermannt, das weiß Tyll genau, denn der Dunkelheit wegen bleiben die Gedanken nicht bei einem allein, da bekommt man die der anderen mit, ob man will oder nicht. Der Korff spürt die Sehnsucht nach Luft und Licht und der Freiheit, sich zu bewegen, wohin man mag. Und dann, weil ihn das an was anderes erinnert, sagt er: «Die dicke Hanne!»

«O ja», sagt der Matthias.

«Die fetten Schenkel», sagt der Korff. «Der Hintern.»

«Mein Gott», sagt der Matthias. «Hintern. Arsch. Der Arsch hinten.»

«Du hast sie auch gehabt?»

«Nein», sagt der Matthias. «Ich kenn sie nicht.»

«Und ihre Brust», sagt der Korff. «Bei Tübingen hab ich noch eine gekannt mit so einer Brust. Die hättest sehen sollen. Die hat einem alles gemacht, was man will, als gäb's keinen Gott.»

«Hast viele Frauen gehabt, Ulenspiegel?», fragt der Matthias. «Du hast mal Geld gehabt, da hast du dir doch was gegönnt, erzähl.»

Gerade will Tyll antworten, aber auf einmal ist nicht mehr der Matthias neben ihm, sondern der Jesuit auf seinem Schemel, den er so deutlich sieht wie damals: Du musst die Wahrheit sagen, du musst uns erzählen, wie der Müller den Teufel gerufen hat, du musst sagen, dass du Angst hattest. Warum musst du's sagen? Weil es wahr ist. Weil wir das

wissen. Und wenn du lügst, schau, da steht Meister Tilman, schau, was er in der Hand hat, er wird es benützen, also sprich. Deine Mutter hat auch gesprochen. Sie wollte erst nicht, sie musste es spüren, aber dann hat sie es gespürt und hat gesprochen, so ist es immer, alle sprechen, wenn sie es spüren. Wir wissen schon, was du sagen wirst, weil wir wissen, was wahr ist, aber wir müssen es von dir hören. Und dann sagt er noch, flüsternd, vorgebeugt, freundlich fast: Dein Vater ist verloren. Ihn wirst du nicht retten. Aber dich kannst du retten. Er würde das wollen.

Doch der Jesuit ist nicht hier, Tyll weiß das, nur die zwei Mineure sind hier, und der Pirmin drüben auf dem Waldweg, gerade haben sie ihn liegen gelassen. Bleibt da, ruft der Pirmin, ich find euch, ich tu euch weh! Und das ist ein Fehler, denn da wissen sie, dass sie ihm nicht helfen dürfen, und der Junge läuft noch einmal zurück und holt den Beutel mit den Bällen. Wie am Spieß schreit und wie ein Kutscher flucht der Pirmin da, nicht bloß, weil die Bälle sein Wertvollstes sind, sondern weil er begreift, was es heißt, dass der Junge sie mitnimmt: Ich verwünsch euch, ich find euch, ich geh nicht rüber, ich bleib, um euch zu suchen! Man kriegt Angst, wenn man ihn so liegen sieht, so verdreht in sich, also rennt der Junge und hört ihn noch von weitem und rennt und rennt, Nele neben ihm, und immer noch hören sie ihn, er ist ja selbst schuld, keucht sie, aber der Junge spürt, dass Pirmins Verwünschungen wirken und dass etwas Schlimmes auf sie zukommt, mitten im hellen Vormittag, hilf doch, König, hol

mich heraus, mach es ungeschehen, damals im Wald.

«Na erzähl schon», sagt jemand, Tyll kennt die Stimme, er erinnert sich, es ist der Matthias. «Sag was von Hintern, von Brüsten sag was. Wenn wir schon sterben, wollen wir von Brüsten hören.»

«Wir sterben nicht», sagt der Korff.

«Aber erzähl», sagt der Matthias.

Erzähl, sagt auch der Winterkönig. Was war dort im Wald, erinnere dich, was war?

Aber der Junge sagt es nicht. Ihm nicht und keinem andern und schon gar nicht sich selbst, denn wenn man nicht dran denkt, ist es, als hätte man es vergessen, und hat man es vergessen, ist es nicht passiert.

Erzähl, sagt der Winterkönig.

«Du Zwerg», sagt Tyll, weil er langsam wütend wird. «Du König ohne Land, du Nichts, und außerdem bist du tot. Lass mich, kriech weg.»

«Kriech selbst», sagt der Matthias. «Ich bin nicht tot, der Kurt ist tot. Erzähl!»

Aber der Junge kann das nicht erzählen, er hat es ja vergessen. Den Weg im Wald hat er vergessen, und Nele und sich selbst dort auf dem Weg hat er vergessen, die Stimmen in den Blättern hat er vergessen, geh nicht weiter, aber das war ja auch nicht so, das haben sie nicht geflüstert, die Stimmen, sonst hätten Nele und er doch auf sie gehört, und auf einmal stehen die drei vor ihnen, an die er sich nicht mehr erinnert, er sieht sie nicht mehr, er hat sie vergessen, wie sie da vor ihnen

stehen.

Marodeure. Zerzaust, wütend, ohne zu wissen, worüber. Na so etwas, sagt einer, Kinder!

Und Nele denkt dran, zum Glück. An das, was der Junge ihr gesagt hat: Wir sind sicher, solange wir schneller sind. Wenn du schneller läufst als die anderen, kann dir nichts passieren. Also schlägt sie einen Haken und rennt. Später weiß der Junge nicht mehr, und wie sollte er es auch wissen, denn er hat alles vergessen, warum er nicht auch losgerannt ist; aber so ist es nun mal, ein Fehler reicht - einmal was nicht verstanden, einmal zu lang geglotzt, schon legt er einem die Hand auf die Schulter. Er beugt sich über ihn. Er riecht nach Branntwein und Pilzen. Der Junge will laufen, aber es ist zu spät, die Hand bleibt, wo sie ist, und der andere steht daneben, und der Dritte ist Nele nachgelaufen, aber er kommt schon zurück, keuchend, natürlich hat er sie nicht erwischt.

Der Junge versucht noch, die drei zum Lachen zu bringen. Das hat er ja vom Pirmin gelernt, der eine Stunde von hier liegt und vielleicht noch lebt und sie besser geführt hätte, denn mit ihm sind sie nie Wölfen oder bösen Leuten begegnet, kein einziges Mal in der langen Zeit. Er versucht also, sie zum Lachen zu bringen, aber es geht nicht, sie wollen nicht lachen, sie sind zu wütend, sie haben Schmerzen, einer ist verletzt, der fragt: Hast du Geld? Und ein bisschen Geld hat er ja wirklich und gibt es. Er sagt ihnen, dass er für sie tanzen oder auf Händen gehen oder Bälle werfen könnte, und fast werden sie neugierig, doch dann merken sie, dass man ihn dafür loslassen

müsste, und so dumm, sagt der, der ihn hält, sind wir nicht.

Und da begreift der Junge, dass er nichts tun kann, nur vergessen, was passiert; es vergessen, noch bevor es zu Ende passiert ist: ihre Hände vergessen, die Gesichter, alles. Nicht da sein, wo er jetzt ist, sondern lieber neben Nele, während sie läuft und endlich stehen bleibt und sich an einen Baum lehnt und wieder zu Atem kommt. Dann schleicht sie zurück, mit angehaltenem Atem und darauf bedacht, dass ihr kein Ast knackt unter den Füßen, und sie duckt sich ins Gebüsch, denn die drei kommen und torkeln an ihr vorbei und bemerken sie nicht und sind schon fort; aber sie wartet trotzdem noch eine Weile, bevor sie sich hervortraut und den Weg entlanggeht, den sie eben noch mit dem Jungen gegangen ist. Und sie findet ihn und kniet bei ihm, und beide begreifen, dass sie es vergessen müssen und dass das Bluten aufhören wird, denn einer wie er stirbt nicht. Ich bin aus Luft gemacht, sagt er. Mir passiert nichts. Kein Grund zum Jammern. Alles noch ein Glück. Hätte schlimmer sein können.

Hier im Schacht stecken zum Beispiel, das ist wahrscheinlich schlimmer, denn hier hilft nicht mal das Vergessen. Wenn man den Schacht vergisst, in dem man steckt, ist man immer noch im Schacht.

«Ich geh ins Kloster», sagt Tyll. «Wenn ich hier rauskomme. Ich mein's ernst.»

«Melk?», fragt der Matthias. «Da bin ich mal gewesen. Da ist es herrschaftlich.»

«Andechs. Die haben feste Mauern. Wenn es wo sicher ist, dann in Andechs.»

«Nimmst mich mit?»

Gerne, denkt Tyll. Wenn du uns rausbringst, gehen wir zusammen. Und er sagt: «Dich Galgenvogel lassen sie sicher nicht rein.»

Ihm wird klar, dass das verkehrt herum war, wegen der Dunkelheit. Hab nur Spaß gemacht, denkt er, natürlich lassen sie dich rein. Und er sagt: «Ich kann gut lügen!»

Tyll steht auf. Es ist wohl besser, er hält den Mund. Sein Rücken schmerzt, auf dem linken Bein kann er nicht stehen. Die Füße muss man schützen, man hat ja nur zwei, und wenn man einen davon verletzt, kann man nicht mehr aufs Seil.

«Wir haben zwei Kühe gehalten», sagt der Korff. «Die ältere hat gut Milch gehabt.» Er hat sich wohl auch in eine Erinnerung verstrickt. Tyll kann es vor sich sehen: das Haus, die Wiese, Rauch über dem Schornstein, ein Vater und eine Mutter, alles arm und dreckig, aber eine andere Kindheit hat der Korff nicht gehabt.

Tyll tastet an der Wand entlang. Hier ist der Holzrahmen, den sie vorher eingesetzt haben, oben ist ein Stück abgebrochen, oder ist das unten? Er hört den Korff leise weinen.

«Sie ist weg», jammert der Korff. «Weg, weg! Die ganze gute Milch.»

Tyll ruckelt an einem Felsstück in der Decke, es sitzt locker und löst sich, Steine rieseln.

«Hör auf», ruft der Matthias.

«Das bin ich nicht gewesen», sagt Tyll. «Ich schwör's.»

«Vor Magdeburg hab ich meinen Bruder verloren», sagt der Korff. «Kopfschuss.»

«Ich hab meine Frau verloren», sagt der Matthias. «Bei Braunschweig, sie war mit dem Tross, die Pest hat sie erwischt, die zwei Kinder auch.»

«Wie hat sie geheißen?»

«Johanna», sagt der Matthias. «Die Frau. Von den Kindern die Namen, die weiß ich nicht mehr.»

«Ich hab meine Schwester verloren», sagt Tyll.

Der Korff stolpert herum, Tyll hört ihn neben sich und weicht zurück. Besser, man stößt nicht gegen ihn. So einer wie der Korff hält das nicht aus, wenn man ihn rempelt, der schlägt gleich zu. Wieder eine Explosion, wieder rieseln Steine, lange trägt die Decke nicht mehr.

Wirst sehen, sagt der Pirmin, so schlimm ist Totsein nicht. Du gewöhnst dich.

«Aber ich sterb nicht», sagt Tyll.

«So ist es gut», sagt der Korff, «so ist es richtig, Gerippe!»

Tyll tritt auf etwas Weiches, das ist wohl der Kurt, dann stößt er gegen eine Wand aus grobem Geröll, hier ist der Schacht eingestürzt. Er will mit den Händen graben, denn jetzt ist es gleichgültig, jetzt muss man keine Luft mehr sparen, aber sofort muss er husten, und das Gestein will sich nicht bewegen, der Korff hat recht gehabt, ohne Hacke geht es nicht.

Keine Angst, du merkst es kaum, sagt der Pirmin. Dein Verstand ist schon halb blöd, gleich lässt dich noch der Rest im

Stich, dann wirst du ohnmächtig, und wenn du aufwachst, bist du tot.

Ich werd an dich denken, sagt Origenes. Ich bring es noch zu was, als Nächstes lern ich schreiben, und wenn du magst, schreib ich ein Buch über dich, für Kinder und alte Leute. Was hältst du davon?

Und willst du gar nicht wissen, wie's mir ergangen ist?, fragt Agneta. Du und ich und ich und du, wie lang ist's her? Du weißt ja nicht mal, ob ich noch lebe, Söhnchen.

«Ich will's gar nicht wissen», sagt Tyll.

Du hast ihn verraten wie ich. Du brauchst mir nicht böse zu sein. Hast ihn einen Teufelsknecht genannt wie ich. Einen Hexer, wie ich. Was ich gesagt habe, hast du auch gesagt.

Da hat sie wieder recht, sagt Claus.

«Vielleicht, wenn wir doch die Hacke finden», sagt der Matthias stöhnend. «Vielleicht mit der Hacke können wir's locker machen.»

Lebendig oder tot, du legst dem Unterschied zu viel Gewicht bei, sagt Claus. Es gibt so viele Kammern dazwischen. So viele staubige Winkel, in denen du das eine nicht mehr bist und das andre noch nicht. So viele Träume, aus denen du nicht mehr aufwachen kannst. Einen Kessel Blut habe ich gesehen, kochend über heißen Flammen, und die Schatten tanzen drum herum, und wenn der große Schwarze auf einen davon zeigt, aber er tut es nur alle tausend Jahre, dann ist des Brüllens kein Ende, dann tunkt der den Kopf ins Blut und säuft, und weißt du, das war noch lange nicht die Hölle, das war noch nicht mal der Eingang zu ihr. Ich habe Orte gesehen, wo die Seelen brennen wie Fackeln, nur heißer und heller und in Ewigkeit, und sie hören nicht auf zu schreien, weil auch ihr Schmerz nicht aufhört, und das ist sie immer noch nicht. Du denkst, dass du es ahnst, mein Sohn, aber du ahnst nichts. Im Schacht eingesperrt sein ist fast wie der Tod, denkst du, der Krieg ist fast die Hölle, aber die Wahrheit ist, dass alles, alles besser ist, hier unten ist es besser, draußen im Blutgraben ist es besser, auf dem Folterstuhl ist es besser. Also lass nicht los, bleib am Leben.

Tyll muss lachen.

«Warum lachst du?», fragt der Korff.

«Dann verrat mir halt einen Spruch», sagt Tyll. «Du bist kein guter Zauberer gewesen, aber vielleicht hast du dazugelernt.»

Mit wem redest du, fragt der Pirmin. Hier ist kein Geist außer mir.

Wieder eine Explosion, dann kracht und donnert es, der Matthias heult auf, ein Teil der Decke muss eingestürzt sein.

Bete, sagt der Eisenkurt. Mich hat's zuerst erwischt, jetzt ist der Matthias dran.

Tyll hockt sich hin. Er hört den Korff rufen, aber der Matthias antwortet nicht mehr. Ihm krabbelt etwas über die Wange, den Hals, die Schulter, es fühlt sich an wie eine Spinne, aber es gibt hier keine Tiere, also muss es Blut sein. Er tastet und findet eine Wunde an seiner Stirn, sie beginnt oben bei den Haaren und geht bis zur Nasenwurzel. Ganz weich fühlt es sich an, und das Rinnsal Blut wird immer größer. Aber er spürt

nichts.

«Gott, vergib mir», sagt der Korff. «Herr Jesus Christ, vergib. Heiliger Geist. Ich hab einen Kameraden umgebracht wegen der Stiefel. Meine haben Löcher gehabt, er hat fest geschlafen, das war im Lager bei München, was hätt ich tun sollen, ich brauch doch Stiefel! Also hab ich zugegriffen. Ich hab ihn erwürgt, er hat die Augen noch aufgemacht, aber er hat nicht mehr schreien können. Ich hab halt Stiefel gebraucht. Und er hat ein Medaillon gehabt, das die Kugeln abwehrt, das hab ich auch gebraucht, wegen dem Medaillon bin ich nie getroffen worden. Gegen das Erwürgen hat's ihm nicht geholfen.»

«Seh ich wie ein Pfaffe aus?», fragt Tyll. «Deiner Großmutter kannst du beichten, mich lass in Ruh.»

«Lieber Herr Jesu», sagt der Korff. «In Braunschweig hab ich eine Frau vom Pfahl befreit, eine Hexe, früher Morgen war es, zu Mittag sollte sie brennen. Sie war ganz jung. Ich bin vorbeigekommen, keiner hat's gesehen, weil es noch dunkel war, ich hab die Fesseln durchgeschnitten, hab gesagt: Schnell, lauf mit mir! Sie hat es gemacht, sie war so dankbar, und dann hab ich sie genommen, sooft ich wollte, und ich wollte oft, und dann hab ich ihr die Kehle durchgeschnitten und sie vergraben.»

«Ich vergebe dir. Heut noch bist du mit mir im Paradies.»

Wieder eine Explosion.

«Warum lachst du?», fragt der Korff.

«Weil du nicht ins Paradies kommst, nicht heute und auch später nicht. Einen Galgenvogel wie dich fasst nicht mal der

Satan an. Und außerdem lache ich, weil ich nicht sterbe.»

«Doch», sagt der Korff. «Ich hab's nicht glauben wollen, aber wir kommen nicht mehr raus. Mit dem Korff ist's vorbei.»

Wieder ein Knall, wieder bebt alles. Tyll hält seine Hände über den Kopf, als könnte das etwas nützen.

«Vorbei ist es vielleicht mit dem Korff. Aber nicht mit mir. Ich sterbe heut nicht.»

Er macht einen Sprung, als stünde er auf dem Seil. Sein Bein schmerzt, aber er steht fest auf den Füßen. Ein Stein fällt ihm auf die Schulter, mehr Blut läuft über seine Wange. Wieder kracht es, wieder fallen Steine. «Und ich sterbe auch nicht morgen und an keinem andren Tag. Ich will nicht! Ich mach's nicht, hörst du?»

Der Korff antwortet nicht, aber vielleicht kann er noch hören.

Also ruft Tyll: «Ich mach's nicht, ich geh jetzt, mir gefällt es hier nicht mehr.»

Ein Knall, ein Zittern, noch ein Stein fällt und streift seine Schulter.

«Ich geh jetzt. So hab ich's immer gehalten. Wenn es eng wird, gehe ich. Ich sterbe hier nicht. Ich sterbe nicht heute. Ich sterbe nicht!»

Westfalen

Sie ging noch aufrecht wie früher. Ihr Rücken schmerzte fast immer, aber sie ließ es sich nicht anmerken und hielt den Stock, auf den sie sich stützen musste, wie ein modisches Accessoire. Den Gemälden von einst sah sie noch ähnlich, ja es war genug von ihrer Schönheit übrig, um Menschen, die sich ihr unerwartet gegenüberfanden, in Verwirrung zu versetzen - so wie jetzt, als sie die Pelzkapuze zurückschlug und sich mit festem Blick im Vorzimmer umsah. Auf das verabredete Zeichen hin verkündete die Zofe hinter ihr, dass Ihre Majestät, die Königin von Böhmen, mit dem kaiserlichen Botschafter zu sprechen wünsche.

Sie sah, wie die Lakaien einander Blicke zuwarfen. Offenbar hatten die Spione diesmal versagt, keiner war auf ihr Kommen vorbereitet. Unter falschem Namen hatte sie ihr Haus bei Den Haag verlassen; der Passierschein, ausgestellt von den Generalständen der vereinigten holländischen Provinzen, wies sie als Madame de Cournouailles aus. In Begleitung nur des Kutschers und ihrer Zofe war sie über Bentheim, Oldenzaal und Ibbenbüren nach Osten gefahren, über brachliegende Felder und durch verbrannte Dörfer, gerodete Wälder, die immer gleichen Landschaften des Krieges. Es gab keine

Herbergen, also hatten sie in der Kutsche übernachtet, ausgestreckt auf der Sitzbank, was gefährlich war, doch weder Wölfe noch Marodeure hatten sich für die kleine Kutsche einer alten Königin interessiert. Und so hatten sie unbehelligt die Straße von Münster nach Osnabrück erreicht.

Sogleich war alles anders gewesen. Die Wiesen wuchsen hoch, die Häuser hatten intakte Dächer. Ein Bach drehte das Rad einer Mühle. Am Straßenrand gab es Wachthäuschen, vor denen wohlgenährte Männer mit Hellebarden standen. Das neutrale Gebiet. Hier herrschte kein Krieg.

Vor den Mauern von Osnabrück war ein Wächter ans Kutschenfenster getreten und hatte nach ihrem Begehr gefragt. Wortlos hatte Fräulein von Quadt, die Zofe, den Passierschein hinübergereicht, und ohne großes Interesse hatte er darauf gesehen und sie weitergewinkt. Bereits der erste Bürger am Straßenrand, er war sauber gekleidet und sein Bart wohlgestutzt, hatte ihnen den Weg zum Quartier des kaiserlichen Botschafters gewiesen. Dort hatte der Kutscher sie und die Zofe aus dem Verschlag gehoben, über den kotigen Boden getragen und mit unversehrter Kleidung vor dem Portal abgesetzt. Zwei Hellebardenträger hatten ihnen die Türen geöffnet. Mit einer Sicherheit, als hätte sie hier Hausrecht - nach dem in ganz Europa geltenden Zeremoniell war auch ein besuchender König überall der Hausherr -, war sie ins Vorzimmer getreten, und die Zofe hatte nach dem Botschafter verlangt.

Die Lakaien flüsterten und machten einander Zeichen. Liz

wusste, dass sie die Überraschung nutzen musste. In keinem dieser Köpfe durfte sich der Gedanke formen, dass es möglich war, sie abzuweisen.

Sie war lange nicht als Monarchin aufgetreten. Wer in einem kleinen Haus lebte und nur mehr von Kaufleuten besucht wurde, die geliehenes Geld zurückwollten, hatte nicht oft dazu Gelegenheit. Aber sie war die Großnichte der jungfräulichen Elisabeth, die Enkelin der Maria von Schottland, die Tochter von Jakob, dem Herrscher beider Königreiche, und sie war als Kind schon darin ausgebildet worden, wie eine Königin zu stehen, zu gehen und dreinzublicken. Auch dies war ein Handwerk, und wer es gelernt hatte, vergaß es nicht.

Das Wichtigste: nicht nachfragen und nicht zögern. Keine Geste der Ungeduld, keine Regung, die nach Zweifel aussah. Sowohl ihre Eltern als auch ihr armer Friedrich, der nun schon so lange tot war, dass sie Porträts ansehen musste, um sich an sein Gesicht zu erinnern, hatten so gerade gestanden, als könnte kein Rheuma, keine Schwäche und keine Sorge sie je berühren.

Nachdem sie also eine kleine Weile gerade gestanden hatte, umgeben von Getuschel und Staunen, tat sie einen und dann noch einen Schritt auf die zwei goldbeschlagenen Türflügel zu. Solch eine Tür gab es sonst nicht in der westfälischen Provinz, jemand musste sie von weit her gebracht haben, ebenso wie die Gemälde an den Wänden und die Teppiche auf dem Boden und die Gardinen aus Damast und die seidenen Tapeten und die vielarmigen Kerzenleuchter und die zwei Luster,

kristallschwer an der Decke, an denen, obgleich es heller Tag war, jede einzelne Kerze brannte. Kein Herzog und kein Fürst, ja nicht einmal Papa hätte ein Bürgerhaus in einer kleinen Stadt in solch einen Palast verwandelt. So etwas taten nur der König von Frankreich und der Kaiser.

Ohne innezuhalten, ging sie auf die Tür zu. Jetzt durfte sie nicht zögern. Der kürzeste Anflug von Unsicherheit würde ausreichen, um die zwei Lakaien, die links und rechts von der Tür standen, daran zu erinnern, dass es durchaus auch denkbar war, ihr nicht aufzumachen. Wenn das geschehen sollte, war ihr Vormarsch abgewehrt. Dann würde sie sich auf einen der Plüschstühle setzen müssen, und irgendwer würde auftauchen und ihr sagen, dass der Botschafter leider keine Zeit habe, dass aber sein Secretarius sie in zwei Stunden würde sehen können, und sie würde protestieren, und der Lakai würde kühl sagen, es tue ihm leid, und sie würde laut werden, und der Lakai würde es unbeeindruckt wiederholen, und sie würde noch lauter werden, und mehr Lakaien würden zusammenlaufen, und so wäre sie mit einem Mal keine Königin mehr, sondern eine klagende alte Dame im Vorzimmer.

Deshalb musste es gelingen. Einen zweiten Versuch würde es nicht geben. Man musste sich bewegen, als wäre die Tür nicht da, man durfte davon nicht langsamer werden; man musste so gehen, dass man, falls keiner aufmachte, mit voller Wucht dagegen prallte, und da die Quadt ihr in zwei Schritten Abstand folgte, würde die Zofe dann gegen ihren Rücken prallen, und die Blamage wäre unerträglich - genau deshalb

würden sie öffnen; das war der ganze Trick.

Er gelang. Mit verwirrten Mienen griffen die Lakaien nach den Klinken und wuchteten die Türflügel auf. Liz trat ins Empfangszimmer. Sie wandte sich um und wies die Quadt mit einem Handzeichen an, ihr nicht weiter zu folgen. Das war ungewöhnlich. Eine Königin machte keine Besuche ohne Begleitung. Aber dies war auch keine normale Situation. Verblüfft blieb die Zofe stehen, und die Lakaien schlossen vor ihr die Tür.

Der Raum schien riesig. Vielleicht lag es an den geschickt gruppierten Spiegeln, vielleicht war es ein Kunststück der Wiener Hofmagier. Der Raum schien so groß, dass man nicht recht begriff, wie das Haus ihn fassen konnte. Wie ein Saal in einem Palast erstreckte er sich, und eine Flut von Teppichen trennte Liz von einem fernen Schreibtisch. Weit hinten gaben geöffnete Damastvorhänge den Blick auf eine Zimmerflucht frei, noch mehr Teppiche, noch mehr goldene Kerzenhalter, noch mehr Luster und Gemälde.

Hinter dem Schreibtisch erhob sich ein kleingewachsener Herr mit grauem Bart, der so unauffällig aussah, dass Liz einen Moment brauchte, um ihn zu bemerken. Er nahm seinen Hut ab und machte eine höfische Verbeugung.

«Willkommen», sagte er. «Darf ich hoffen, Madame, die Reise war keine beschwerliche?»

«Ich bin Elisabeth, Königin -»

«Verzeihen die Unterbrechung, es ist nur, um Hoheit Mühe zu ersparen. Erklärungen nicht vonnöten, ich bin im Bilde.»

Es kostete sie eine Weile, bis sie verstand, was er gesagt hatte. Sie holte Luft, um ihn zu fragen, woher er wusste, wer sie war, aber wieder war er schneller.

«Weil es meine Profession ist, Madame, Dinge zu wissen. Und meine Aufgabe, sie zu verstehen.»

Sie runzelte die Stirn. Ihr wurde heiß, was zum Teil an dem dicken Pelzmantel lag und zum Teil daran, dass sie es nicht gewohnt war, unterbrochen zu werden. Er stand nun vornübergebeugt, eine Hand auf dem Tisch, die andere auf dem Rücken, als hätte ihn ein Hexenschuss ereilt. Schnell ging sie auf einen der Stühle vor dem Schreibtisch zu. Aber wie in einem Traum war der Raum so groß und der Tisch so weit weg, dass es dauern würde, bis sie ihn erreichte.

Dass er sie mit Hoheit angesprochen hatte, bedeutete, dass er zwar ihre Stellung als Mitglied der englischen Königsfamilie würdigte, sie aber nicht als Königin von Böhmen anerkannte, denn sonst hätte er sie mit Majestät anreden müssen; ja nicht einmal als Kurfürstin erkannte er sie an, denn dann hätte er Kurfürstliche Durchlaucht zu ihr gesagt, was zwar daheim in England nur wenig, aber hier im Reich mehr wert war als selbst die Hoheit eines Königskindes. Und gerade weil dieser Mann sein Geschäft verstand, kam es darauf an, dass sie sich hinsetzte, bevor er sie dazu aufforderte, denn während er natürlich einer Prinzessin einen Stuhl anzubieten hatte, so stand ihm dies bei einer Königin nicht zu. Monarchen setzten sich unaufgefordert, und alle anderen standen, bis der Monarch ihnen das Sitzen gestattete.

«Wollen Eure Hoheit -»

Aber da der Stuhl noch weit war, unterbrach sie ihn. «Ist Er der, von dem ich vermute, dass Er er ist?»

Das brachte ihn für einen Moment zum Schweigen. Zum einen, weil er nicht erwartet hatte, dass ihr Deutsch so gut war. Sie hatte ihre Zeit genützt, sie war in den Jahren nicht müßig gewesen, sie hatte Stunden bei einem liebenswürdigen jungen Deutschen genommen, der ihr gut gefallen hatte und in den sie sich fast hätte verlieben können - oft hatte sie von ihm geträumt und einmal sogar einen Brief an ihn aufgesetzt, aber so etwas war nicht möglich, sie durfte sich keinen Skandal leisten. Zum anderen schwieg er, weil sie ihn gekränkt hatte. Ein kaiserlicher Botschafter musste Exzellenz genannt werden - von jedem, außer von einem König. Er hatte ihr gegenüber also auf einer Anrede zu bestehen, die sie ihm auf keinen Fall gewähren konnte. Für dieses Problem gab es nur eine einzige Lösung: Eine wie sie und einer wie er durften sich niemals begegnen.

Als er zu sprechen anhob, schlug sie einen Haken, ging auf einen Schemel zu und setzte sich; sie war ihm zuvorgekommen. Sie genoss diesen kleinen Sieg, lehnte den Gehstock an die Wand und verschränkte die Finger im Schoß. Dann sah sie seinen Blick.

Ihr wurde eiskalt. Wie hatte sie nur so einen Fehler machen können? Es musste daran liegen, dass sie seit Jahren aus der Übung war. Natürlich konnte sie weder stehen bleiben noch sich von ihm zum Sitzen auffordern lassen, aber ein Stuhl ohne

Lehne, das hätte ihr auf keinen Fall passieren dürfen. Als Königin hatte sie selbst in Gegenwart des Kaisers Anrecht, auf einem Stuhl mit Rücken- und Armlehnen zu sitzen, schon ein Fauteuil wäre eine Erniedrigung, aber ein Schemel war unmöglich. Und mit Bedacht hatte er überall im Besuchszimmer Schemel aufgestellt, doch nirgendwo außer hinter seinem Tisch gab es einen Lehnstuhl.

Was sollte sie machen? Sie lächelte auch und beschloss, so zu tun, als spielte es keine Rolle. Aber er war nun im Vorteil: Er brauchte nur die Leute aus dem Vorzimmer hereinzurufen, und die Kunde davon, dass sie vor ihm auf einem Schemel gesessen hatte, würde wie ein Lauffeuer durch Europa gehen. Selbst daheim in England würde man lachen.

«Das hängt davon ab», sagte er, «was Eure Hoheit zu vermuten geruhen, aber da es Eurer Hoheit bescheidenem Diener nicht zusteht anzunehmen, Hoheit könnten anderes annehmen als das Richtige, stehe ich wiederum nicht an, Eurer Hoheit Frage mit Ja zu beantworten. Ich bin es, Johann von Lamberg, des Kaisers Botschafter, zu Eurer Hoheit Diensten. Eine Erfrischung? Wein?»

Das war eine weitere geschickte Verletzung ihrer Königswürde, denn man bot einem Monarchen nichts an - er hatte Hausrecht, es lag bei ihm zu verlangen, was er haben wollte. Solche Dinge waren nicht unwichtig. Drei Jahre hatten die Botschafter nur darüber verhandelt, wer sich vor wem zu verneigen hatte und wer vor wem zuerst den Hut abnehmen musste. Wer bei der Etikette einen Fehler machte, konnte nicht

gewinnen. Also ignorierte sie sein Angebot, was ihr nicht leichtfiel, weil sie großen Durst hatte. Sie saß reglos auf ihrem Schemel und betrachtete ihn. Das konnte sie gut. Ruhig dasitzen hatte sie gelernt, darin hatte sie Übung, wenigstens darin übertraf sie niemand.

Lamberg wiederum stand noch immer vorgebeugt, eine Hand auf dem Tisch, die andere auf dem Rücken. Das tat er offensichtlich, um sich nicht entscheiden zu müssen, ob er sich hinsetzen oder stehen bleiben sollte: Vor einer Königin hätte er nicht sitzen dürfen, gegenüber einer Prinzessin aber wäre es für einen kaiserlichen Botschafter ein Verstoß gegen die Etikette gewesen, zu stehen, wenn sie saß. Da er als Botschafter des Kaisers Liz' Königstitel nicht anerkannte, wäre es schlüssig gewesen, sich zu setzen - aber zugleich auch eine drastische Beleidigung, die er auf diese Art, aus Höflichkeit und weil er noch nicht wusste, welche Waffen und Angebote sie in der Hand hatte, vermied.

«Halten zu Gnaden, eine Frage.»

Auf einmal war ihr seine Art zu reden genauso unangenehm wie seine österreichische Intonation.

«Wie Eure Hoheit allerbestens wissen, findet hier ein Gesandtenkongress statt. Seit Beginn der Verhandlungen hat kein fürstliches Haupt Münster und Osnabrück betreten. Sosehr Eurer Hoheit ergebener Diener sich auch freut, den gnädigen Besuch Eurer Hoheit in seiner armen Bleibe begrüßen zu dürfen, so sehr fürchtet er doch ...» Er seufzte, als bereitete es ihm tiefen Kummer, das auszusprechen, «... dass es sich nicht schickt.»

«Er meint, wir hätten ebenfalls einen Botschafter entsenden sollen.»

Er lächelte wieder. Sie wusste, was er dachte, und sie wusste, dass er wusste, dass sie es wusste: Du bist niemand, du lebst in einem kleinen Haus, deine Schulden wachsen dir über den Kopf, du entsendest keine Botschafter zu Kongressen.

«Ich bin gar nicht hier», sagte Liz. «So können wir doch miteinander sprechen, oder? Er kann es sich als Selbstgespräch vorstellen. Er redet in Gedanken, und in seinen Gedanken antworte ich Ihm.»

Sie spürte etwas, womit sie nicht gerechnet hatte. So lange hatte sie Vorbereitungen getroffen, nachgedacht, Furcht gehabt vor dieser Begegnung, und jetzt, da es so weit war, geschah etwas Merkwürdiges: Es machte Spaß! All die Jahre im kleinen Haus, fernab von namhaften Leuten und wichtigen Ereignissen - mit einem Mal saß sie wieder wie auf einer Bühne, umgeben von Gold und Silber und Teppichen, und sprach mit einem schlauen Menschen, vor dem jedes Wort zählte.

«Wir wissen alle, dass die Pfalz ein ewiger Streitpunkt ist», sagte sie. «Wie auch die pfälzische Kurwürde, die mein verstorbener Mann innegehabt hat.»

Er lachte leise auf.

Das brachte sie aus dem Konzept. Aber darauf legte er es ja an, und genau deshalb durfte sie sich nicht beirren lassen.

«Die Kurfürsten des Reichs», sagte sie, «werden nicht

akzeptieren, dass die bayerischen Wittelsbacher die Kurwürde behalten, die der Kaiser meinem Mann unrechtmäßigerweise aberkannt hat. Wenn Cäsar einen von uns enteignen kann, so werden sie sagen, dann kann er es mit allen tun. Und wenn wir -»

«Halten zu Gnaden, sie haben es längst akzeptiert. Eurer Hoheit Gemahl stand, wie auch Eure Hoheit selbst, unter der Reichsacht, was mich übrigens an jedem anderen Ort verpflichten würde, Eure Hoheit festnehmen zu lassen.»

«Deshalb haben wir Ihn auch hier und nicht an jedem anderen Ort aufgesucht.» «Halten zu Gnaden -»

«Halte ich, aber vorher hört Er mir zu. Der Herzog von Bayern, der sich Kurfürst nennt, trägt wider alles Recht den Titel meines Mannes. Es steht dem Kaiser nicht zu, eine Kurwürde abzuerkennen. Die Kurfürsten wählen den Kaiser, der Kaiser wählt nicht die Kurfürsten. Aber wir verstehen die Lage. Der Kaiser schuldet den Bayern Geld, die Bayern haben wiederum die katholischen Stände fest in der Hand. Deshalb machen wir ein Angebot. Wir sind die gekrönte Königin Böhmens, und die Krone -» «Halten zu Gnaden, für einen einzigen Winter vor dreißig -» «... wird auf meinen Sohn übergehen.» «Böhmens Krone ist nicht erblich. Wäre sie es, hätten die böhmischen Stände nicht dem Pfalzgrafen Friedrich, Eurer Hoheit Gemahl, den Thron anbieten können. Dass er die Krone angenommen hat, bedeutet, dass er wusste, dass Eurer Hoheit

Sohn keinen Anspruch geltend machen kann.»

«So kann man es sehen, aber muss man das? England wird es vielleicht nicht so sehen. Wenn er Ansprüche geltend macht, wird England diese unterstützen.»

«In England herrscht Bürgerkrieg.»

«Richtig, und falls mein Bruder vom Parlament abgesetzt wird, bietet man die englische Krone meinem Sohn an.»

«Das ist zum mindesten unwahrscheinlich.»

Draußen schmetterten Posaunen: ein blecherner Ruf, der anstieg, eine Weile in der Luft hing und verklang. Liz hob fragend die Augenbrauen.

«Longueville, der französische Kollege», sagte Lamberg. «Er lässt Vivat blasen, wenn er sich zum Essen setzt. Jeden Tag. Er ist mit sechshundert Mann Gefolge hier. Allein vier Porträtmaler malen ihn ständig. Drei Holzschnitzer fertigen Büsten von ihm. Was er mit denen anfängt, bleibt ein Staatsgeheimnis.»

«Hat Er ihn danach gefragt?»

«Wir sind nicht autorisiert, miteinander zu reden.»

«Ist das nicht hinderlich beim Verhandeln?»

«Wir sind nicht als Freunde hier, und auch nicht, um Freunde zu werden. Der Botschafter des Vatikans vermittelt zwischen uns, so wie der Botschafter von Venedig zwischen mir und den Protestanten vermittelt, denn der Botschafter des Vatikans ist wiederum nicht autorisiert, mit Protestanten zu reden. Ich muss jetzt meinen Abschied nehmen, Madame, die Ehre dieses Gesprächs ist so groß wie unverdient, aber dringende

Aufgaben erheben Anspruch auf meine Zeit.»

«Eine achte Kurwürde.»

Er sah auf. Sein Blick begegnete nur für einen Moment dem ihren. Dann sah er wieder auf den Tisch.

«Der Bayer soll seine Kurwürde behalten», sagte Liz. «Wir verzichten formell auf Böhmen. Und wenn -»

«Halten zu Gnaden, Hoheit können nicht verzichten auf etwas, das Hoheit nicht gehört.»

«Die schwedische Armee steht vor Prag. Die Stadt ist bald wieder in den Händen der Protestanten.»

«Schweden wird Euch die Stadt, falls Schweden sie einnimmt, gewiss nicht geben.»

«Der Krieg ist bald vorbei. Dann gibt es eine Amnestie. Dann wird auch der Bruch ... der angebliche Bruch des Reichsfriedens durch meinen Mann verziehen.»

«Die Amnestie ist längst ausgehandelt. Alle Taten des Krieges werden verziehen mit Ausnahme derer einer einzigen Person.»

«Ich kann mir denken, wer das ist.»

«Dieser endlose Krieg hat mit Eurer Hoheit Gemahl angefangen. Mit einem Pfalzgrafen, der zu hoch hinauswollte. Ich sage nicht, dass Hoheit Schuld tragen, aber ich kann mir doch vorstellen, dass die Tochter des großen Jakob nicht eben versucht hat, den ehrgeizigen Gemahl zur Bescheidenheit anzuhalten.» Lamberg schob langsam seinen Stuhl zurück und richtete sich auf. «Der Krieg dauert schon so lange, dass die meisten, die heute leben, keinen Frieden gesehen haben. Dass

nur die Alten sich noch an Frieden erinnern. Ich und meine Kollegen - ja, auch der Dummkopf, der Fanfaren blasen lässt, wenn er sich zum Essen setzt - sind die Einzigen, die ihn beenden können. Jeder will Gebiete, die der andere auf keinen Fall hergeben möchte, jeder verlangt Subsidien, jeder will, dass Beistandsverträge gekündigt werden, die andere für unkündbar halten, damit stattdessen neue Verträge zustande kommen, von denen andere meinen, sie seien unannehmbar. Das hier geht über die Fähigkeiten jedes Menschen weit hinaus. Und dennoch müssen wir es schaffen. Ihr habt diesen Krieg angefangen, Madame. Ich beende ihn.»

Er zog an einem seidenen Strang über dem Tisch. Von nebenan hörte Liz den Ton einer Glocke. Jetzt ruft er einen Secretarius, dachte sie, irgendeinen grauen Zwerg, der mich hinauskomplimentiert. Ihr war schwindlig. Der Raum schien sich zu heben und zu senken, als wäre sie auf einem Schiff. Noch nie hatte jemand so mit ihr gesprochen.

Ein Lichtstrahl fesselte ihre Aufmerksamkeit. Er fiel durch einen dünnen Spalt zwischen den Gardinen, Staubkörnchen wirbelten darin, ein Spiegel an der gegenüberliegenden Wand fing ihn auf und warf ihn zur anderen Wand, wo er eine Stelle an einem Bilderrahmen aufglänzen ließ. Das Gemälde war von Rubens: eine hochgewachsene Frau, ein Mann mit einer Lanze, über ihnen ein Vogel im Himmelsblau. Eine schwebende Heiterkeit ging davon aus. Sie erinnerte sich gut an Rubens, einen traurigen Mann, dem hörbar das Atmen schwergefallen war. Sie hatte ein Bild von ihm kaufen wollen, aber es war zu

teuer für sie gewesen; nichts schien ihn zu interessieren außer Geld. Wieso nur hatte er so malen können?

«Prag ist nie für uns gewesen», sagte sie. «Prag war ein Fehler. Aber die Pfalz gebührt meinem Sohn nach dem Recht des Reichs. Dem Kaiser stand es nicht zu, uns die Kurwürde abzuerkennen. Deshalb bin ich nicht nach England zurück. Mein Bruder hat mich immer wieder eingeladen, aber Holland ist formell weiterhin Teil des Reichs, und solange ich dort lebe, besteht unser Anspruch fort.»

Eine Tür öffnete sich, und ein fülliger Mann mit freundlichem Gesicht und klugen Augen kam herein. Er nahm den Hut ab und verbeugte sich. Obwohl er jung war, hatte er kaum mehr Haare auf dem Kopf.

«Graf Wolkenstein», sagte Lamberg. «Unser Cavalier d'Ambassade. Er wird Euch eine Unterkunft besorgen. Es gibt keine Herbergszimmer mehr, jeder Winkel ist vollgestopft mit den Gesandten und ihrem Gefolge.»

«Wir wollen Böhmen nicht», sagte Liz, «aber die Kurwürde geben wir nicht auf. Mein Erstgeborener, der klug und liebenswert war und auf den alle sich hätten einigen können, ist gestorben. Das Boot ist umgekippt. Er ist ertrunken.»

«Das tut mir leid», sagte Wolkenstein mit einer Schlichtheit, die sie berührte.

«Mein zweiter Sohn, der nächste in der Thronfolge, ist weder klug noch liebenswert, aber die Kurwürde der Pfalz gebührt ihm, und wenn der Bayer sie nun mal nicht hergibt, muss eine achte geschaffen werden. Die Protestanten werden es anders

nicht dulden. Ich werde sonst zurück nach England gehen, wo das Parlament meinen Bruder absetzen und meinen Sohn zum König machen wird, und der wird vom englischen Thron herab dann Prag verlangen, und der Krieg endet nicht. Ich verhindere es. Ich ganz allein.»

«Wir brauchen uns nicht zu echauffieren», sagte Lamberg. «Ich werde Seiner Kaiserlichen Majestät Eurer Hoheit Botschaft übermitteln.»

«Und mein Mann muss in die Amnestie mit einbezogen werden. Wenn alle Taten des Krieges verziehen werden, dann müssen auch seine verziehen sein.»

«Nicht in diesem Leben», sagte Lamberg.

Sie stand auf. Ärger kochte in ihr empor. Sie spürte, dass sie rot angelaufen war, aber sie schaffte es doch, die Mundwinkel hochzuziehen, ihren Stock auf den Boden zu setzen und sich zur Tür zu wenden.

«Eine große und unverhoffte Ehre. Ein Glanz in diesem armen Haus.» Lamberg nahm den Hut ab und verbeugte sich. Keinerlei Spott klang in seiner Stimme.

Sie hob die Hand zum nachlässigen Winken der Könige und ging wortlos weiter.

Wolkenstein überholte sie, erreichte die Tür und gab ein Klopfzeichen - sofort zogen die Lakaien draußen die Flügel auf. Liz trat ins Vorzimmer, Wolkenstein folgte ihr. Vor der Zofe gingen sie zum Ausgang.

«Was Eurer Königlichen Hoheit Unterkunft angeht», sagte Wolkenstein, «so könnten wir anbieten -»

«Er soll sich nicht bemühen.»

«Es ist keine Mühe, sondern eine große -»

«Glaubt Er im Ernst, ich wünsche irgendwo zu logieren, wo es von kaiserlichen Spionen wimmelt?»

«Um ehrlich zu sein: Egal, wo Königliche Hoheit unterkommen, der Ort wird voller Spione sein. Wir haben so viele davon. Wir verlieren auf den Schlachtfeldern, und viele Geheimnisse sind nicht mehr übrig. Was sollen unsere armen Spione den ganzen Tag tun?»

«Der Kaiser verliert auf den Schlachtfeldern?»

«Ich war selbst gerade dabei, unten in Bayern. Mein Finger ist noch dort!» Er hob die Hand und bewegte seinen Handschuh, um ihr zu zeigen, dass die Hülle des rechten Zeigefingers leer war. «Wir haben die halbe Armee verloren. Königliche Hoheit haben keinen schlechten Moment gewählt. Wir machen nie Zugeständnisse, solange wir stark sind.»

«Die Zeit ist günstig?»

«Die Zeit ist immer günstig, wenn man es richtig anfängt. Vergnüge dich an dir und acht' es für kein Leid, hat sich gleich wider dich Glück, Ort und Zeit verschworen.»

«Wie bitte?»

«Das ist von einem deutschen Dichter. So etwas gibt es jetzt. Deutsche Dichter! Paul Fleming heißt er. Seine Werke sind zum Weinen schön, leider ist er jung gestorben, krank an der Lunge. Man wagt nicht auszudenken, was aus ihm hätte werden können. Seinetwegen schreibe ich auf Deutsch.»

Sie lächelte. «Gedichte?»

«Prosa.»

«Wirklich, auf Deutsch? Ich habe es mal mit Opitz versucht -»

«Opitz!»

«Ja, Opitz.»

Beide lachten.

«Ich weiß, es klingt nach einer Torheit», sagte Wolkenstein. «Aber ich glaube, es geht, und ich habe beschlossen, eines Tages auf Deutsch mein Leben aufzuschreiben. Deshalb bin ich hier. Einmal wird man wissen wollen, wie das war beim großen Kongress. Ich habe einen Gaukler aus Andechs nach Wien gebracht, oder eigentlich hat er mich nach Wien gebracht, ohne ihn wäre ich tot. Aber als Seine Kaiserliche Majestät ihn dann geschickt hat, um vor den Gesandten aufzutreten, habe ich die Occasion ergriffen und bin mit ihm hergekommen.»

Liz gab ihrer Zofe ein Zeichen. Die lief hinaus, um die Kutsche vorfahren zu lassen. Es war ein schönes Gefährt, schnell und einigermaßen standesgemäß, Liz hatte es mitsamt zwei starken Pferden und einem zuverlässigen Kutscher von ihren letzten Ersparnissen für zwei Wochen gemietet. Das bedeutete, dass sie drei Tage in Osnabrück bleiben konnte, danach musste sie sich auf den Heimweg machen.

Sie trat ins Freie und schlug sich die Pelzkapuze über den Kopf. War das nun eigentlich gut gelaufen? Sie wusste es nicht. So viel mehr hätte sie noch sagen, so viel anderes ins Feld führen wollen, aber das war wohl immer so. Papa hatte einmal gesagt, dass man stets nur einen kleinen Teil seiner Waffen

einsetzen könne.

Rumpelnd fuhr die Kutsche vor. Der Fahrer stieg ab. Sie blickte sich um und erkannte mit eigentümlichem Bedauern, dass der dicke Cavalier d'Ambassade ihr nicht weiter gefolgt war. Sie hätte gern noch ein wenig mit ihm gesprochen.

Der Kutscher fasste sie um die Hüfte und trug sie zum Gefährt.

Am nächsten Vormittag suchte Liz den schwedischen Botschafter auf. Diesmal hatte sie ihren Besuch angekündigt, Schweden war eine befreundete Macht und Überrumpelung nicht notwendig. Der Mann würde sich freuen, ihr zu begegnen.

Die Nacht war furchtbar gewesen. Nach langem Suchen hatten sie ein Zimmer in einer besonders verdreckten Herberge gefunden: kein Fenster, Reisig auf dem Boden, statt eines Bettes ein schmaler Strohsack, den sie sich mit der Zofe teilen musste. Als sie nach Stunden endlich in unruhigen Schlaf gefallen war, hatte sie von Friedrich geträumt. Sie waren wieder in Heidelberg gewesen, wie damals, bevor Leute mit unaussprechlichen Namen ihnen Böhmens Krone aufgedrängt hatten. Nebeneinander waren sie durch einen der steinernen Gänge des Schlosses gegangen, und sie hatte bis ins Innerste ihrer Seele gespürt, wie es war, wenn man zusammengehörte. Als sie aufgewacht war, hatte sie dem Schnarchen des draußen vor der Tür schlafenden Kutschers gelauscht und darüber nachgedacht, dass sie jetzt schon fast so lange ohne ihn lebte, wie sie einst mit ihm verheiratet gewesen war.

Als sie ins Vorzimmer des Gesandten trat, musste sie ein Gähnen unterdrücken; sie hatte viel zu wenig geschlafen. Auch hier lagen Teppiche, aber die Wände waren protestantisch kahl, nur an der Längsseite hing ein mit Perlen besetztes

Kreuz. Das Zimmer war voller Menschen: Einige studierten Akten, andere gingen unruhig auf und ab, sie warteten offenbar schon seit geraumer Zeit. Wie kam es eigentlich, dass Lambergs Vorzimmer leer gewesen war? Hatte er noch ein anderes, vielleicht sogar mehrere?

Alle Augen wandten sich ihr zu. Es wurde still. Wie am Vortag ging sie festen Schrittes auf die Tür zu, während die Quadt hinter ihr mit lauter, wenn auch etwas zu schriller Stimme ausrief, die Königin von Böhmen sei hier. Plötzlich stieg die nervöse Furcht in ihr auf, dass es diesmal nicht gutgehen würde.

Und wirklich, der Lakai griff nicht nach dem Türknauf.

Mit einem unschönen Halbschritt kam sie zum Stehen, so abrupt, dass sie sich mit der Hand an der Tür abstützen musste. Sie hörte, wie die Zofe hinter ihr beinahe stolperte. Ihr wurde heiß. Sie hörte Murmeln, sie hörte Tuscheln, und ja, Kichern hörte sie auch.

Langsam wich sie zwei Schritte zurück. Zum Glück hatte die Zofe die Geistesgegenwart, ebenfalls zurückzuweichen. Liz krampfte die linke Hand um den Gehstock und sah den Lakaien mit ihrem liebenswürdigsten Lächeln an.

Der Kerl glotzte blöd. Natürlich, ihm hatte keiner gesagt, dass es eine Königin von Böhmen gab, er war jung, er wusste von nichts, und er wollte nicht riskieren, einen Fehler zu machen. Wer konnte es ihm verdenken?

Aber sie konnte sich auch nicht einfach hinsetzen. Eine Königin hockte nicht im Vorzimmer, bis man Zeit für sie hatte.

Es gab schon gute Gründe dafür, dass gekrönte Häupter nicht zu einem Gesandtenkongress reisten. Aber was hätte sie anderes tun sollen? Ihr Sohn, für dessen Kurwürde sie kämpfte, war viel zu herrisch und unbedarft, er hätte mit Sicherheit alles verdorben. Und Diplomaten hatte sie nicht.

Sie stand so unbeweglich wie der Lakai. Das Murmeln schwoll an. Sie hörte lautes Lachen. Nicht rot werden, dachte sie, nur das nicht. Nur nicht rot werden!

Sie dankte Gott von ganzem Herzen, als jemand die Tür von der anderen Seite öffnete. Ein Kopf schob sich durch den Spalt. Ein Auge stand höher als das andere, die Nase war seltsam schräg daruntergesetzt, die Lippen waren voll, schienen sich aber nicht recht zusammenzufügen. An seinem Kinn hing ein strähniger Spitzbart.

«Eure Majestät», sagte das Gesicht.

Liz trat ein, und der ungerade Mann schloss schnell wieder die Tür, als wollte er vermeiden, dass andere nachdrängten.

«Alvise Contarini, zu Euren Diensten», sagte er auf Französisch. «Botschafter der Republik Venedig. Ich bin der Vermittler hier. Kommt weiter.»

Er führte sie durch einen schmalen Korridor. Auch hier waren die Wände kahl, aber der Teppich war auserlesen und - Liz erkannte es, schließlich hatte sie zwei Schlösser eingerichtet - unbezahlbar.

«Ein Wort vorab», sagte Contarini. «Die größte Schwierigkeit ist nach wie vor die, dass Frankreich fordert, die kaiserliche Linie des Hauses Österreich solle die spanische Linie nicht

mehr unterstützen. Schweden wäre das egal, aber wegen der hohen Subsidienzahlungen, die Schweden aus Frankreich bekommen hat, müssen sich die Schweden die Forderung zu eigen machen. Der Kaiser ist immer noch kategorisch dagegen. Solange das nicht gelöst ist, bekommen wir keine Unterschrift von einer der drei Kronen.»

Liz neigte den Kopf und lächelte unergründlich, wie sie es ihr Leben lang getan hatte, wenn sie etwas nicht verstand. Wahrscheinlich, dachte sie, wollte er ja überhaupt nichts Bestimmtes von ihr und war nur einfach ans Reden gewöhnt. Solche Leute gab es an jedem Hof.

Sie erreichten das Ende des Korridors, Contarini öffnete die Tür und ließ ihr mit einer Verbeugung den Vortritt. «Eure Majestät, die schwedischen Botschafter. Graf Oxenstierna und Doktor Adler Salvius.»

Sie sah sich irritiert um. Da saßen sie, der eine in der rechten, der andere in der linken Ecke des Empfangszimmers, in gleich großen Lehnstühlen, wie platziert von einem Maler. In der Mitte des Raumes stand ein weiterer Stuhl mit Armlehnen. Als Liz auf ihn zutrat, erhoben sich die beiden Männer und verbeugten sich tief. Liz setzte sich, die Männer blieben stehen. Oxenstierna war ein schwerer Mann mit vollen Wangen, Salvius war schmal und hoch gewachsen und wirkte vor allem sehr müde.

«Eure Majestät waren bei Lamberg?», fragte Salvius auf Französisch.

«Das wisst Ihr?»

«Osnabrück ist klein», sagte Oxenstierna. «Eure Majestät wissen, dass dies ein Gesandtenkongress ist? Keine Fürsten, keine Herrscher und -»

«Ich weiß das», sagte sie. «Ich bin auch eigentlich nicht hier. Und der Grund, dessentwegen ich nicht hier bin, ist die Kurwürde, die meiner Familie zusteht. Wenn ich richtig informiert bin, unterstützt Schweden unseren Anspruch auf eine Restitution des Titels.» Es tat gut, Französisch zu sprechen; die Worte kamen schneller, die Wendungen fügten sich, es kam ihr vor, als ob die Sprache selbst die Sätze bildete. Am liebsten hätte sie ja Englisch gesprochen, die reiche, weiche und singende Sprache ihrer Heimat, die Sprache des Theaters und der Gedichte, aber fast niemand hier verstand sie. Es gab auch keinen englischen Botschafter in Osnabrück, schließlich hatte Papa sie und Friedrich geopfert, um sein Land aus dem Krieg herauszuhalten.

Sie wartete. Keiner sprach.

«Das ist doch richtig?», fragte sie schließlich. «Dass Schweden unseren Anspruch unterstützt, das stimmt doch?»

«Im Prinzip», sagte Salvius.

«Wenn Schweden auf einer Restitution unseres Königstitels besteht, wird mein Sohn anbieten, auf ebendiese Restitution von seiner Seite aus zu verzichten, sofern der kaiserliche Hof uns in einem Geheimabkommen dafür die Schaffung einer achten Kurwürde zusichert.»

«Der Kaiser kann keine neue Kurwürde schaffen», sagte Oxenstierna. «Er hat kein Recht dazu.»

«Wenn die Stände es ihm geben, hat er es», sagte Liz.

«Aber das dürfen sie nicht», sagte Oxenstierna. «Außerdem wollen wir viel mehr, nämlich die Rückgabe von allem, was unserer Seite im Jahr dreiundzwanzig fortgenommen wurde.»

«Eine neue Kurwürde wäre im katholischen Interesse, weil Bayern die Kurwürde behielte. Und sie wäre im protestantischen Interesse, weil unsere Seite einen protestantischen Kurfürsten dazubekäme.»

«Vielleicht», sagte Salvius.

«Nie», sagte Oxenstierna.

«Die Herren haben beide recht», sagte Contarini.

Liz sah ihn fragend an.

«Geht nicht anders», sagte Contarini auf Deutsch. «Sie müssen beide recht haben. Der eine steht seinem Vater, dem Kanzler, nahe und will weiter Krieg führen, den anderen hat die Königin geschickt, damit er Frieden schließt.»

«Was sagt Ihr?», fragte Oxenstierna.

«Ich habe ein deutsches Sprichwort zitiert.»

«Böhmen ist nicht Teil des Reichs», sagte Oxenstierna. «Wir können Prag nicht in die Verhandlungen einbeziehen. Darüber müssten wir zuvor verhandeln. Man muss immer erst aushandeln, worüber man eigentlich verhandeln wird, bevor man verhandelt.»

«Andererseits», sagte Salvius, «hat Ihre Majestät, die Königin -»

«Ihre Majestät ist unerfahren, und mein Vater ist ihr Vormund. Und er meint, dass -»

«War.»

«Wie?»

«Die Königin ist volljährig.»

«Gerade erst geworden. Mein Vater, der Kanzler, ist Europas erfahrenster Staatenlenker. Seit unser großer Gustav Adolf in Lützen sein Leben ausgehaucht hat -»

«Seither haben wir kaum mehr gewonnen. Ohne die Hilfe der Franzosen wären wir verloren gewesen.»

«Wollt Ihr sagen -»

«Wer wäre ich, die Verdienste des Herrn Reichskanzlers Hochgräflicher Exzellenz Eures Vaters zu schmälern, ich bin aber der Meinung -»

«Aber vielleicht zählt Eure Meinung nicht so viel, Herr Doktor Salvius, vielleicht ist die Meinung des zweiten Botschafters nicht -»

«Des Verhandlungsführers.»

«Ernannt von der Königin. Deren Vormund aber ist mein Vater!»

«War. Euer Vater war ihr Vormund!»

«Vielleicht können wir uns darauf einigen, dass der Vorschlag Ihrer Majestät es wert ist, bedacht zu werden», sagte Contarini. «Wir müssen nicht sagen, dass wir ihm folgen, wir müssen nicht einmal versprechen, den Vorschlag zu bedenken, aber wir können uns doch alle darauf einigen, dass der Vorschlag es wert sein könnte, von uns bedacht zu werden.»

«Das reicht nicht», sagte Liz. «Sobald Prag erobert ist, muss

eine offizielle Forderung an Graf Lamberg ergehen, meinem Sohn den böhmischen Thron zurückzugeben. Dann wird ihm mein Sohn sofort in einem Geheimabkommen zusagen, dass er darauf verzichtet, soweit er wiederum mit Schweden und Frankreich ein Geheimabkommen über die achte Kurwürde schließt. Das muss schnell gehen.»

«Nichts geht schnell», sagte Contarini. «Ich bin seit Beginn der Verhandlungen hier. Ich dachte, dass ich keinen Monat in dieser grässlichen Regenprovinz aushalte. Inzwischen sind fünf Jahre vergangen.»

«Ich weiß, wie es ist, wenn man beim Warten alt wird», sagte Liz. «Und ich warte nicht länger. Wenn Schweden nicht die böhmische Krone fordert, damit mein Sohn dann im Austausch gegen die Kurwürde auf sie verzichten kann, werden wir auf die Kurwürde verzichten. Dann habt Ihr nichts mehr in der Hand, um eine achte Kurwürde zu bekommen. Es wäre das Ende unserer Dynastie, aber ich würde einfach zurück nach England gehen. Ich wäre gern wieder daheim. Ich würde gern wieder ins Theater gehen.»

«Ich wäre auch gern daheim in Venedig», sagte Contarini. «Ich möchte noch Doge werden.»

«Eure Majestät erlauben mir nachzufragen», sagte Salvius. «Damit ich verstehe. Ihr kommt hierher, um etwas zu verlangen, das wir von selbst nie betrieben hätten. Und Eure Drohung ist: Wenn wir nicht tun, was Ihr wollt, dann zieht Ihr Eure Forderung zurück? Wie soll man solch ein Manöver nennen?»

Liz lächelte ihr geheimnisvollstes Lächeln. Nun tat es ihr wirklich leid, dass kein Bühnenrand vor ihr war und nicht das Halbdunkel eines Zuschauerraums mit gebannt lauschendem Publikum. Sie räusperte sich, und obwohl sie ihre Antwort schon wusste, tat sie wegen des größeren Effektes auf die Zuschauer, die nicht da waren, als müsste sie nachdenken.

«Ich schlage vor», sagte sie schließlich, «Ihr nennt es Politik.»

Am nächsten Tag, dem letzten ihres Aufenthalts in Osnabrück, verließ Liz am frühen Nachmittag ihr Herbergszimmer, um sich auf den Empfang des Bischofs zu begeben. Keiner hatte sie eingeladen, aber sie hatte gehört, dass alle, die etwas zählten, dort sein würden. Morgen um diese Zeit würde sie schon auf dem Rückweg sein, durch verheerte Landschaften, zu ihrem kleinen Haus bei Den Haag.

Sie konnte es nicht in die Länge ziehen. Sie musste abreisen, nicht bloß des Geldmangels wegen, sondern auch, weil sie die Regeln eines guten Dramas kannte: Eine abgesetzte Königin, die plötzlich auftauchte und wieder verschwand, so etwas machte Eindruck. Eine abgesetzte Königin aber, die auftauchte und blieb, bis man sich an sie gewöhnte und anfing, über sie Witze zu machen, das ging nicht. Das hatte sie in Holland gelernt, wo man sie und Friedrich einst so freundlich willkommen geheißen hatte und wo inzwischen die Mitglieder der Generalstände immer gerade verhindert waren, wenn sie um ein Treffen bat.

Dieser Empfang würde ihr letzter Auftritt sein. Sie hatte ihre Vorschläge gemacht, hatte gesagt, was sie zu sagen hatte. Mehr konnte sie für ihren Sohn nicht tun.

Leider kam er nach ihrem Bruder und war ein rechter Klotz. Beide sahen ihrem Großvater ähnlich, aber sie hatten nichts von dessen lauernder Klugheit; sie waren raumgreifende, wichtigtuerische Männer mit tiefen Stimmen und breiten Schultern und ausholenden Bewegungen, die für ihr Leben gern jagen gingen. Ihr Bruder drüben in der Heimat würde seinen Krieg gegen das Parlament wohl verlieren, und ihr Sohn, falls er wirklich Kurfürst werden sollte, würde kaum als großer Herrscher in die Geschichte eingehen. Dreißig Jahre alt war er schon, also nicht mehr jung, und zurzeit trieb er sich irgendwo in England herum, wahrscheinlich jagte er gerade, während sie für ihn in Westfalen verhandelte. Seine seltenen Briefe an sie waren kurz und von einer Kühle, nicht weit entfernt von Feindseligkeit.

Und wie immer, wenn sie an ihn dachte, formte sich das Bild des anderen in ihr: ihres schönen Sohnes, ihres klugen und strahlenden Erstgeborenen, der die freundliche Seele seines Vaters gehabt hatte und ihren Verstand - ihr Stolz, ihre Freude und Hoffnung. Wenn sein Bild in ihr aufstieg, trug es verschiedene Gesichter, alle zur gleichen Zeit: Sie sah ihn, wie er mit drei Monaten gewesen war, mit zwölf Jahren, mit vierzehn. Und da fühlte sie jenes andere Bild herandringen, das jeder Gedanke an ihn mit sich brachte und dessentwegen sie sich bemühte, so wenig an ihn zu denken wie möglich: das kenternde Boot, der schwarze Schlund des Flusses. Sie wusste, wie es sich anfühlte, beim Schwimmen aus Versehen Wasser zu schlucken, aber ertrinken? Sie konnte es sich nicht vorstellen.

Osnabrück war winzig, und sie hätte von der Herberge aus zu Fuß gehen können. Doch die Straßen waren sogar für deutsche Verhältnisse schmutzig, und außerdem: Wie hätte das

ausgesehen?

Also ließ sie sich wieder in die Kutsche heben, lehnte sich zurück und sah die schmalen Giebelhäuser vorbeiruckeln. Die Zofe saß schweigend neben ihr, sie war es gewohnt, von Liz ignoriert zu werden, niemals sprach sie sie an; sich wie ein Möbelstück zu verhalten war das Einzige, was eine Zofe wirklich können musste. Kalt war es, und feiner Nieselregen fiel, dennoch ließ sich die Sonne als bleicher Fleck hinter den Wolken ausmachen. Der Regen reinigte die Luft vom Geruch der Gassen. Kinder liefen vorbei, sie sah eine Gruppe Stadtsoldaten auf Pferden, dann einen Eselskarren mit Mehlsäcken. Schon schwenkten sie auf den Hauptplatz ein. Dort drüben war die Residenz des kaiserlichen Botschafters, in der sie vorgestern gewesen war; in der Mitte des Platzes stand ein mannshoher Block mit Löchern für Kopf und Arme. Letzten Monat erst, so hatte ihr die Herbergswirtin erzählt, hatte hier eine Hexe gestanden. Der Richter war milde gewesen, man hatte ihr das Leben geschenkt und sie nach zehn Tagen am Pranger aus der Stadt gejagt.

Der Dom war klobig und deutsch, ein verunglücktes Ungetüm, der eine Turm dicker als der andere. Seitlich daran gebaut war ein längliches Haus mit wuchtigen Simsen und einem spitzen Dach. Mehrere Kutschen verstellten den Platz, sodass Liz nicht vorfahren konnte. Ihr Kutscher musste in einiger Entfernung halten und sie zum Eingangsportal tragen. Er roch schlecht, und der Regen machte ihren Pelzmantel nass, aber immerhin ließ er sie nicht fallen.

Etwas unsanft setzte er sie ab; sie stützte sich auf ihren Gehstock, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. In solchen Momenten spürte sie ihr Alter. Sie schlug die Fellkapuze zurück und dachte: Mein letzter Auftritt. Eine prickelnde Aufregung erfüllte sie, wie seit Jahren nicht. Der Kutscher ging zurück, um die Zofe zu holen, aber Liz wartete nicht, sondern trat alleine ein.

Schon in der Eingangshalle hörte sie die Musik. Sie blieb stehen und horchte.

«Seine Kaiserliche Majestät hat uns die besten Streicher des Hofes geschickt.»

Lamberg trug einen Umhang in dunklem Purpur. Um den Hals hatte er die Kette des Ordens vom Goldenen Vlies. Neben ihm stand Wolkenstein. Die beiden nahmen die Hüte ab und verneigten sich. Liz nickte Wolkenstein zu, der lächelte sie an.

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