«Was?»

«Man nimmt immer eines weg und legt es daneben.»

«Was?»

«Immer nur eines. Wann ist das kein Haufen mehr?»

«Nach zwölftausend Körnern.»

Claus reibt sich die Stirn. Seine Ketten klirren. An der Stirn fühlt er den Abdruck des Lederbandes. Höllisch weh getan hat es, er erinnert sich noch an jede Sekunde, die er geheult und gebettelt hat, aber Meister Tilman hat es erst gelockert, als er noch einen weiteren Hexensabbat erfunden und beschrieben hat. «Genau zwölftausend?»

«Natürlich», sagt der Mann. «Glaubst du, ich kann auch so ein Essen bekommen? Es wird doch wohl noch etwas da sein. Das ist alles eine große Ungerechtigkeit, ich sollte nicht hier sein, ich wollte dich nur verteidigen, um darüber in meinem Buch zu schreiben. Die Kristallkunde habe ich abgeschlossen, jetzt wollte ich mich auf die Rechte verlegen. Aber meine Lage hat nichts mit dir zu tun. Vielleicht bist du mit dem Teufel im Bunde, was weiß ich, vielleicht bist du es ja wirklich! Vielleicht bist du es nicht.» Er schweigt eine kurze Zeit, dann ruft er mit herrischer Stimme nach Meister Tilman.

Das geht nicht gut, denkt Claus, der den Scharfrichter inzwischen leidlich kennt. Er seufzt. Jetzt hätte er gern noch etwas Wein, damit die Traurigkeit nicht zurückkommt, aber

ihm wurde klar gesagt, mehr gibt es nicht.

Der Riegel wird zurückgeschoben, Meister Tilman blickt herein.

«Bring mir von diesem Fleisch», sagt der Mann, ohne ihn anzusehen. «Und Wein. Der Krug ist leer.»

«Bist du morgen auch tot?», fragt Meister Tilman.

«Das ist ein Missverständnis», sagt der Mann heiser und tut so, als spräche er zu Claus, denn eher noch darf man mit einem verurteilten Hexer reden als mit dem Scharfrichter. «Und eine hündische Gemeinheit ist es auch, für die einige noch büßen werden.»

«Wer morgen noch lebt, kriegt auch keine Henkersmahlzeit», sagt Meister Tilman. Er legt Claus eine Hand auf die Schulter. «Hör mal», sagt er leise. «Wenn du morgen unter dem Galgen stehst - vergiss nicht, dass du allen verzeihen musst.»

Claus nickt.

«Den Richtern», sagt Meister Tilman. «Und mir musst du auch verzeihen.»

Claus schließt die Augen. Noch spürt er den Wein - ein warmes, weiches Schwindelgefühl.

«Laut und deutlich», sagt Meister Tilman.

Claus seufzt.

«Das gehört sich», sagt Meister Tilman, «das macht man so, der Armesünder verzeiht seinem Henker laut und deutlich, sodass alle es hören können. Das weißt du?»

Claus muss an seine Frau denken. Vorhin ist Agneta da gewesen und hat durch die Ritzen zwischen den Wandbrettern

mit ihm geredet. Wie leid es ihr tue, hat sie geflüstert, und dass sie keine andere Wahl gehabt habe, als zu sagen, was sie von ihr verlangt hätten, und ob er ihr verzeihen könne.

Natürlich, hat er geantwortet, er verzeihe alles. Aber dass ihm nicht so recht klar gewesen ist, wovon sie überhaupt geredet hat, das hat er für sich behalten. Da ist nichts zu machen, seit den Befragungen ist sein Verstand nicht mehr so zuverlässig wie einst.

Dann hat sie wieder geweint und von ihrem schweren Leben gesprochen und auch von dem Jungen, der ihr Sorgen macht, und dass sie nicht weiß, wohin mit ihm.

Claus hat sich gefreut, von dem Jungen zu hören, denn an ihn hat er lange nicht gedacht, und im Grunde hat er ihn doch sehr gern. Aber es ist etwas Sonderbares an ihm, man kann es kaum erklären, der Junge scheint nicht aus dem gleichen Stoff gemacht wie andere Menschen.

«Du hast es leicht», hat sie gesagt. «Du musst dir über nichts mehr den Kopf zerbrechen. Aber ich kann hier im Dorf nicht bleiben. Das erlauben sie nicht. Und ich war doch nie woanders, was soll ich tun?»

«Ja, sicher», hat er geantwortet und dabei noch über den Jungen nachgedacht. «Das ist schon wahr.»

«Zur Schwägerin könnt ich vielleicht, nach Pfünz. Das hat der Onkel gesagt, bevor er gestorben ist, dass er gehört hat, dass die Schwägerin jetzt in Pfünz ist. Vielleicht stimmt es ja.»

«Du hast eine Schwägerin?»

«Die Frau vom Neffen des Onkels. Die Kusine vom Franz

Melker. Du hast den Onkel nicht gekannt, er ist gestorben, als ich ein Kind war. Wo soll ich sonst hin?»

«Ich weiß nicht.»

«Aber was ist mit dem Jungen? Mir hilft sie vielleicht, wenn sie sich erinnert, wer weiß. Wenn sie noch lebt. Aber zwei hungrige Leute auf einmal? Das sind zu viele.»

«Ja, das sind zu viele.»

«Vielleicht kann ich den Jungen als Taglöhner unterbringen, er ist klein und arbeitet nicht gut, aber es könnte gehen. Was soll ich sonst tun? Hierbleiben darf ich nicht.»

«Nein, darfst du nicht.»

«Du blödes Vieh, du hast es jetzt leicht. Aber sag mir doch, soll ich die Schwägerin suchen gehen? Vielleicht war es gar nicht Pfünz. Du weißt doch immer alles, sag mir, was tu ich?»

In diesem Moment ist zum Glück die Henkersmahlzeit gekommen, und Agneta hat sich zurückgezogen, damit der Scharfrichter sie nicht sieht, denn keiner darf mit einem Armesünder reden. Und dann sind der Wein und das Essen so gut gewesen, dass ihm das Schluchzen ganz vergangen ist.

«Müller!», ruft Meister Tilman. «Hörst du mir zu?»

«Jaja.»

Meister Tilmans Hand liegt schwer auf seiner Schulter. «Du musst es laut sagen morgen! Dass du mir verzeihst! Hörst du? Vor allen Menschen, hast du gehört? Das wird so gemacht!»

Claus will antworten, aber sein Kopf mag nicht bei der Sache bleiben, zumal er jetzt schon wieder an den Jungen denken muss. Neulich hat er ihn jonglieren sehen. Zwischen zwei

Befragungen ist das gewesen, in der leeren Zeit, in der die Welt aus nichts als pochendem Schmerz besteht - da hat er durch die Ritzen geblickt und seinen Sohn gesehen, wie er vorbeigegangen ist und Steine über sich hat wirbeln lassen, als hätten sie kein Gewicht, als geschähe es von selbst. Claus hat seinen Namen gerufen, um ihn zu warnen. Wer so etwas kann, muss aufpassen, auch dafür kann man der Hexerei bezichtigt werden, aber der Junge hat ihn nicht gehört - vielleicht auch deshalb, weil Claus' Stimme zu schwach war. Das ist jetzt immer so, dagegen ist er machtlos, das liegt an der Befragung.

«Hör mal», sagt Meister Tilman. «Du wirst mich nicht ins Tal Josaphat bestellen!»

«Der Fluch eines Sterbenden ist das Mächtigste», sagt der Mann im Stroh. «Der klebt an der Seele, den wirst du nicht mehr los.»

«Das wirst du nicht tun, Müller, den Scharfrichter verfluchen, das tust du mir nicht an, oder?»

«Nein», sagt Claus. «Tu ich nicht.»

«Du denkst vielleicht, dass es egal ist. Du denkst, du hängst ohnehin, aber ich bin es, der mit dir auf der Leiter steht, und ich bin der, der den Knoten anlegt, und ich muss dich an den Beinen ziehen, damit der Nacken bricht, sonst dauert es!»

«Das stimmt», sagt der Mann im Stroh.

«Du bestellt mich nicht ins Tal Josaphat? Du verfluchst mich nicht, du verzeihst dem Henker, wie es sich gehört?»

«Ja, mach ich», sagt Claus.

Meister Tilman nimmt die Hand von seiner Schulter und gibt

ihm einen freundschaftlichen Klaps. «Ob du den Richtern verzeihst, ist mir egal. Das ist nicht meine Sorge. Das kannst du halten, wie du magst.»

Plötzlich muss Claus lächeln. Das liegt sicher noch am Wein, aber es liegt auch daran, dass ihm klargeworden ist, dass er nun endlich den großen Schlüssel Salomonis ausprobieren kann. Dafür hat es nie eine Gelegenheit gegeben, er hat die vielen langen Sätze vom alten Hüttner gelernt, damals ist ihm das leichtgefallen, wahrscheinlich könnte er sie noch in seinem Gedächtnis finden. Die werden schauen, wenn er morgen auf der Leiter steht und auf einmal die Ketten reißen, als wären sie aus Papier. Glotzen werden sie, wenn er die Arme ausbreitet und aufsteigt und in der Luft schwebt über ihren dummen Gesichtern - über dem blöden Peter Steger und seiner noch blöderen Frau und seinen Verwandten und Kindern und Großeltern, einer dümmer als der andere, über den Melkers und den Homrichs und den Holtzs und den Tamms und all den anderen. Wie sie glotzen werden, wenn er nicht fällt, sondern steigt und weiter steigt, wie sie die Mäuler aufsperren werden. Für eine kurze Zeit noch sieht er sie kleiner werden, dann sind sie Punkte, und dann ist das Dorf selbst ein Fleck inmitten des dunkelgrünen Waldes, und wenn er den Kopf hebt, wird er den weißen Samt der Wolken sehen und deren Bewohner, einige mit Flügeln, einige aus weißem Feuer, einige mit zwei oder drei Köpfen, und dort ist er, der Fürst der Luft, der König der Geister und Flammen. Hab Erbarmen, mein großer Teufel, nimm mich auf in dein Reich, mach mich frei, und schon hört

Claus ihn antworten: Sieh, mein Land. Sieh, wie groß es ist, und sieh, wie weit drunten, flieg mit mir.

Claus lacht auf. Für einen Moment sieht er Mäuse, die um seine Füße wimmeln, einige haben die Schwänze von Schlangen, andere die Fühler von Raupen, und ihm ist, als fühlte er ihre Bisse, aber der Schmerz ist prickelnd und beinahe angenehm, und dann sieht er sich wieder fliegen, so leicht bin ich, wenn mein Herr es erlaubt. Nur an die Worte musst du dich erinnern, keines darf falsch sein, keines fehlen, sonst sperrt Salomons Schlüssel nicht auf, sonst ist es vergeblich. Aber wenn du die Worte findest, wird alles von dir abfallen, die schweren Ketten, die Not, das Müllersdasein aus Kälte und Hunger.

«Das liegt am Wein», sagt Meister Tilman.

«Ich bin nicht lang gefangen», sagt der Mann, ohne ihn anzusehen. «Das tut dem Tesimond noch leid.»

«Er hat gesagt, er wird mir verzeihen», sagt Meister Tilman. «Er hat gesagt, er verflucht mich nicht.»

«Sprich nicht mit mir!»

«Sag, ob du es gehört hast», sagt Meister Tilman. «Oder ich tu dir weh. Hat er's gesagt?»

Beide blicken zum Müller. Der hat die Augen geschlossen und den Kopf an die Wand gelehnt, und er hört nicht auf zu kichern.

«Ja», sagt der Mann. «Das hat er gesagt.»

Nele hat gleich gemerkt, dass er nicht gut ist. Aber erst, als sie Gottfried vor der Menschenmenge auf dem Marktflecken das Lied über den teuflischen Müller vortragen hört, wird ihr klar, dass sie an den schlechtesten Bänkelsänger von allen geraten sind.

Viel zu hoch singt er, und manchmal räuspert er sich mitten in der Zeile. Beim Sprechen klingt seine Stimme ja noch ganz gut, doch wenn er singt, wird sie brüchig und kiekst. Die Stimme allein wäre nicht schlimm, wenn er nur die Töne treffen würde. Und das falsche Singen wäre ebenfalls nicht so schlimm, wenn er wenigstens die Laute spielen könnte - Gottfried vergreift sich immer wieder, und manchmal vergisst er, wie das Lied weitergeht. Aber auch das wäre nicht so unerträglich, wären nur seine Verse besser. Sie erzählen vom gemeinen Müller und dem Dorf, das er unter der Knute gehalten hat, von seinen Hexereien und Schlichen, doch obwohl sie so reich an gräulichen Geschichten und blutigen Details sind, wie die Leute das erwarten, sind sie wirr und kaum zu verstehen, und die Reime sind derart unbeholfen, dass es sogar ein Kind stören muss.

Die Leute hören trotzdem zu. Es kommen nicht oft Bänkelsänger, und Moritaten über Hexenprozesse will man sogar dann hören, wenn sie miserabel sind. Aber nach vier Strophen kann Nele sehen, dass die Mienen sich verändern,

und als er bei der zwölften und letzten angelangt ist, sind schon viele weggegangen. Jetzt braucht es dringend etwas, das besser ankommt. Hoffentlich weiß er das, denkt Nele, hoffentlich hat er ein Gespür dafür!

Gottfried beginnt das Lied von vorne.

Er bemerkt die Unruhe in den Gesichtern, und in seiner Verzweiflung singt er lauter, wodurch seine Stimme noch schriller wird. Nele blickt hinüber zu Tyll. Der rollt mit den Augen, dann breitet er in gottergebener Geste die Arme aus. Leichtfüßig springt er neben den Sänger und beginnt, auf dem Wagen zu tanzen.

Sofort wird alles besser. Gottfried singt so schlecht wie zuvor, aber plötzlich ist das nicht mehr wichtig. Tyll tanzt, als hätte er es gelernt, er tanzt, als hätte sein Körper keine Schwere und als gäbe es kein größeres Vergnügen. Er springt und dreht sich und springt wieder, als hätte er nicht gerade erst alles verloren, und es ist so ansteckend, dass ein paar und dann noch ein paar und dann immer mehr von den Zuhörern ebenfalls zu tanzen beginnen. Schon fliegen Münzen herüber. Nele sammelt sie auf.

Auch Gottfried sieht das, und vor Erleichterung gelingt es ihm jetzt besser, den Rhythmus zu halten; so hingebungsvoll tanzt Tyll und mit solch leichter Bestimmtheit, dass Nele beim Zuschauen fast vergessen könnte, dass es in dem Lied um seinen Vater geht, Müller reimt sich auf Schüler, Teufel auf Läufel, Feuer auf Feier und Nacht auf Nacht, denn dieses Wort kommt immer wieder: Dunkelnacht, schwarze Nacht,

Hexennacht. Von der fünften Strophe an geht es um die Gerichtsverhandlung - die strengen und tugendhaften Richter, die Gnade Gottes, die Strafe, die jeden Bösewicht am Ende ereilt, während der Satan heult, sodass sein Fleisch verfäult, und den Galgen, an dem der böse Müller am Ende sein schlechtes Leben aushauchen muss, während der Teufel verfauchen muss. Tyll hört nicht zu tanzen auf bei alldem, denn sie brauchen die Münzen, sie müssen essen.

Es kommt ihr noch immer wie ein Traum vor. Dass dieses Dorf nicht ihr Dorf ist, dass hier Menschen leben, deren Gesichter sie nicht kennt, und Häuser stehen, in denen sie nie gewesen ist. Es ist ihr nicht an der Wiege gesungen worden, dass sie ihr Zuhause je verlassen würde, es war nicht vorgesehen, und halb rechnet sie damit, dass sie gleich daheim aufwachen wird, neben dem großen Ofen, aus dem in Schwaden die Brotwärme wabert. Mädchen gehen nicht anderswohin. Sie bleiben, wo sie geboren sind, so war es immer: Du bist klein, du hilfst im Haus, du wirst größer, du hilfst den Mägden, du wirst erwachsen und heiratest einen Steger-Sohn, wenn du hübsch bist, oder aber einen Verwandten des Schmieds oder, wenn es schlecht läuft, einen Heinerling. Dann bekommst du ein Kind und noch ein Kind und weitere Kinder, von denen die meisten sterben, und weiterhin hilfst du den Mägden und sitzt in der Kirche etwas weiter vorne, neben deinem Mann und hinter der Schwiegermutter, und dann, wenn du vierzig bist und deine Knochen schmerzen und deine Zähne dahin sind, sitzt du auf dem Platz der

Schwiegermutter.

Weil sie das nicht wollte, ist sie mit Tyll gegangen.

Wie viele Tage ist das jetzt her? Sie könnte es nicht sagen, im Wald ist die Zeit in Unordnung. Aber sie erinnert sich gut daran, wie Tyll vor ihr gestanden hat, am Abend nach dem Gerichtstag, dünn und etwas schief, im wogenden Korn der Steger-Wiese.

«Was geschieht jetzt mit euch?», hat sie gefragt.

«Meine Mutter sagt, ich muss Taglöhner werden. Sie sagt, es wird schwer, weil ich zu klein und schwach bin, um gut zu arbeiten.»

«Und das machst du?»

«Nein, ich gehe.»

«Wohin?»

«Weit weg.»

«Wann?»

«Jetzt. Der eine von den Jesuiten, der jüngere, hat mich so angesehen.»

«Aber du kannst nicht einfach weggehen!»

«Doch.»

«Und wenn sie dich einfangen? Du bist allein, und sie sind viele.»

«Aber ich hab zwei Füße, und ein Richter mit Robe oder ein Wächter mit Hellebarden, die haben auch nur zwei. Jeder von ihnen hat so viele Füße wie ich. Keiner hat mehr. Die können zusammen nicht schneller laufen als wir.»

Da hat sie plötzlich eine wundersame Aufregung gefühlt, und

ihre Kehle war wie zusammengeschnürt, und ihr Herz hat geklopft. «Warum sagst du wir

«Weil du mitkommst.»

«Mit dir?»

«Deshalb hab ich doch auf dich gewartet.»

Sie weiß, dass sie nicht nachdenken darf, sonst verliert sie den Mut, sonst bleibt sie hier, wie es vorgesehen ist; aber er hat recht, man kann tatsächlich gehen. Dort, wo alle denken, dass man bleiben muss, hält einen in Wahrheit nichts.

«Jetzt geh nach Hause», sagt er, «und hol so viel Brot, wie du tragen kannst.»

«Nein!»

«Du gehst nicht mit?»

«Doch, ich gehe mit, aber ich gehe vorher nicht mehr heim.»

«Aber das Brot!»

«Wenn ich meinen Vater sehe und Mama und den Ofen und die Schwester, dann gehe ich nicht mehr fort, dann bleibe ich!»

«Wir brauchen Brot.»

Sie schüttelt den Kopf. Und wirklich, denkt sie jetzt, während sie auf dem Marktplatz eines fremden Dorfes Münzen einsammelt - wäre sie noch einmal in die Bäckerei gegangen, so wäre sie geblieben und hätte bald den Steger-Sohn geheiratet, den älteren, dem vorne zwei Zähne fehlen. Es gibt nur wenige Augenblicke, in denen zweierlei möglich ist, ein Weg so gut wie ein anderer. Nur wenige Augenblicke, in denen man entscheiden kann.

«Ohne Brot können wir nicht gehen», sagt er. «Wir sollten

auch warten, bis es Morgen ist. Der Wald in der Nacht, du kennst ihn nicht. Du hast das nie erlebt.»

«Hast du Angst vor der Kalten?»

Da weiß sie, dass sie gewonnen hat.

«Ich hab keine Angst», sagt er.

«Na dann los!»

Ihr Leben lang wird sie nicht diese Nacht vergessen, ihr Leben lang nicht die kichernden Irrlichter, die Stimmen aus der Schwärze, ihr Leben lang nicht die Tierlaute und auch nicht das funkelnde Gesicht, das für einen Moment vor ihr aufgetaucht ist, um sofort wieder zu verschwinden, noch bevor sie sich sicher war, dass sie es überhaupt gesehen hat. Ihr Leben lang wird sie an die Angst denken, das bis in den Hals hinauf pochende Herz, das Klopfen des Blutes in den Ohren und das wimmernde Gemurmel des Jungen vor ihr, der entweder mit sich selbst oder mit den Wesen des Waldes gesprochen hat. Als der Morgen kommt, finden sie sich zitternd vor Kälte am Rand einer lehmigen Lichtung wieder. Der Frühtau tropft von den Bäumen, sie haben Hunger.

«Du hättest doch besser Brot holen sollen.»

«Ich kann dich aufs Gesicht hauen.»

Als sie weitergehen, in der klammen, feuchten Morgenluft, weint Tyll ein wenig, und auch Nele ist zum Schluchzen zumute. Ihre Beine sind schwer, der Hunger ist kaum auszuhalten, und Tyll hat recht gehabt, ohne Brot muss man sterben. Zwar gibt es Beeren und Wurzeln, und auch das Gras sollte essbar sein, aber das reicht nicht, man wird davon nicht

satt. Im Sommer könnte es vielleicht genügen, aber in dieser Kälte nicht.

Und da hören sie hinter sich das Rumpeln und Quietschen eines Fuhrwerks. Sie verstecken sich im Gebüsch, bis sie sehen, dass es nur der Wagen des Bänkelsängers ist. Tyll springt hervor und stellt sich mitten auf den Weg.

«Ach», sagt der Sänger. «Der Müllerssohn!»

«Nimmst uns mit?»

«Warum?»

«Einmal, weil wir sonst verrecken. Aber auch, weil wir dir helfen. Willst du keine Gesellschaft haben?»

«Wahrscheinlich suchen sie dich schon», sagt der Sänger.

«Ein Grund mehr. Oder willst du vielleicht, dass sie mich kriegen?»

«Steigt auf.»

Gottfried erklärt ihnen das Wichtigste: Wer mit einem Bänkelsänger reist, gehört zum fahrenden Volk, den schützt keine Gilde, und den beschirmt keine Obrigkeit. Bist du in einer Stadt und es brennt, musst du dich davonmachen, denn man wird denken, du hättest Feuer gelegt. Bist du in einem Dorf und etwas wird gestohlen, mach dich ebenfalls davon. Überfallen dich die Räuber, so gib ihnen alles. Meistens nehmen sie aber nichts, sondern verlangen ein Lied, dann sing für sie, so gut du kannst, denn Räuber tanzen oft besser als die stumpfen Leute in den Dörfern. Halte immer die Ohren offen, damit du weißt, wo gerade Markttag ist, denn ist kein Markttag, lassen sie dich nicht in die Dörfer. Auf einem Markt

kommen die Leute zusammen, da wollen sie tanzen, da wollen sie Lieder hören, da sitzt ihr Geld locker.

«Ist mein Vater tot?»

«Ja, der ist tot.»

«Hast du es gesehen?»

«Natürlich hab ich es gesehen, deshalb bin ich ja dort gewesen. Erst hat er den Richtern vergeben, wie es sich gehört, dann dem Henker, dann ist er auf die Leiter gestiegen, dann hat er die Schlinge um den Hals bekommen, und dann hat er zu murmeln angefangen, aber ich stand zu weit hinten, ich hab ihn nicht verstanden.»

«Und dann?»

«Ist es gegangen, wie es eben geht.»

«Also ist er tot?»

«Junge, wenn einer am Galgen hängt, was soll denn sonst sein? Natürlich ist er tot! Was glaubst denn du?»

«Ging es schnell?»

Gottfried schweigt eine Weile, bevor er antwortet: «Ja, sehr schnell.»

Eine Zeitlang fahren sie, ohne zu reden. Die Bäume stehen nicht mehr so dicht beieinander, Lichtstrahlen fallen durchs Blätterdach. Aus dem Gras der Lichtungen hebt sich feiner Dunst, die Luft füllt sich mit Insekten und Vögeln.

«Wie wird man Sänger?», fragt Nele schließlich.

«Das lernt man. Ich hatte einen Meister. Er hat mir alles beigebracht. Ihr habt schon von ihm gehört, es ist der Gerhard Vogtland.»

«Nein.»

«Der aus Trier!»

Der Junge zuckt die Schultern.

«Die Großlitanei zum Feldzug des Herzogs Ernst gegen den tückischen Sultan.»

«Was?»

«Das ist sein berühmtestes Lied. Die Großlitanei zum Feldzug des Herzogs Ernst gegen den tückischen Sultan. Kennt ihr wirklich nicht? Soll ich singen?»

Nele nickt, und so machen sie zum ersten Mal Bekanntschaft mit Gottfrieds kümmerlicher Begabung. Die Großlitanei zum Feldzug des Herzogs Ernst gegen den tückischen Sultan hat dreiunddreißig Strophen, und obwohl Gottfried sonst wenig kann, hat er doch ein hervorragendes Gedächtnis und keine einzige vergessen.

So fahren sie eine lange Zeit. Der Sänger singt, der Esel grunzt von Zeit zu Zeit, und die Räder rumpeln und quietschen, als führten sie ein Gespräch miteinander. Nele sieht aus dem Augenwinkel, dass dem Jungen die Tränen übers Gesicht laufen. Er hat den Kopf abgewendet, damit keiner es bemerkt.

Als Gottfried mit seinem Lied fertig ist, beginnt er von vorne. Danach singt er ihnen eine Moritat über den schönen Kurfürsten Friedrich und die böhmischen Stände, danach singt er über den bösen Drachen Kufer und den Ritter Robert, danach über den gemeinen König in Frankreich und den großen König in Spanien, dessen Feind. Dann erzählt er aus seinem Leben. Sein Vater ist Scharfrichter gewesen, also hätte

er auch Scharfrichter werden müssen. Aber er ist davongelaufen.

«So wie wir», sagt Nele.

«Viele tun das, mehr, als ihr denkt! Zum rechtschaffenen Leben gehört es, am Ort zu bleiben, aber das Land ist voll von Menschen, die es nicht am Ort gehalten hat. Sie haben keinen Schutz, aber sie sind frei. Sie müssen keine Leute aufknüpfen. Sie müssen niemanden töten.»

«Müssen nicht den Steger-Sohn heiraten», sagt Nele.

«Müssen nicht Taglöhner sein», sagt der Junge.

Sie erfahren, wie es Gottfried einst mit seinem Meister ergangen ist. Viel geschlagen habe ihn der Vogtland und oft getreten und einmal sogar ins Ohr gebissen, weil er die Töne nicht getroffen habe und mit seinen dicken Fingern auch die Laute kaum habe spielen können. Armer Dummkopf, habe der Vogtland gerufen, wolltest kein Henker sein, jetzt quälst du die Menschen zehnfach mit deiner Musik! Aber davongejagt habe der Vogtland ihn dann doch nicht, und so habe er es besser und besser gelernt, sagt Gottfried stolz, bis er schließlich selbst ein Meister geworden sei. Allerdings habe er entdeckt, dass die Leute von Hinrichtungen hören wollten, überall, jederzeit. Hinrichtungen seien niemandem gleichgültig.

«Bei Hinrichtungen kenn ich mich aus. Wie man das Schwert hält, wie man den Knoten setzt, wie man einen Scheiterhaufen schichtet und wo man am besten die heiße Zange ansetzt, darüber weiß ich alles. Andere Sänger haben vielleicht rundere Reime, aber ich kann sehen, welcher Henker sein Geschäft

versteht und welcher nicht, und meine Moritaten sind die akkuratesten.»

Als es dunkel wird, entzünden sie ein Feuer. Gottfried teilt seinen Proviant mit ihnen: trockene Brotfladen, von denen Nele sofort erkennt, dass ihr Vater sie gemacht hat. Kurz kommen auch ihr die Tränen, denn ihr ist beim Anblick dieser Brote mit dem in die Mitte eingedrückten Kreuz und den zerkrümelnden Rändern klargeworden, dass sie in der gleichen Lage ist wie der Junge. Er wird seinen Vater nie wiedersehen, weil er tot ist, sie ihren aber auch nicht, weil sie nicht zurückkann, beide sind sie jetzt Waisenkinder. Aber der Moment vergeht, sie blickt ins Feuer und fühlt sich auf einmal so frei, als könnte sie fliegen.

Die zweite Nacht im Wald ist nicht mehr so schlimm wie die erste. Sie sind nun an die Geräusche gewöhnt, außerdem geht Wärme von der Glutasche aus, und der Sänger hat ihnen eine dicke Decke gegeben. Beim Einschlafen merkt sie, dass Tyll neben ihr noch munter ist. So wach ist er, so aufmerksam, so hingebungsvoll denkt er nach, dass sie es spüren kann. Sie wagt nicht, den Kopf in seine Richtung zu drehen.

«Einer, der Feuer trägt», sagt er leise.

Sie weiß nicht, ob er zu ihr gesprochen hat. «Bist du krank?»

Er scheint Fieber zu haben. Sie schmiegt sich an ihn, Wärme strahlt in Wellen von ihm ab, und das ist angenehm und lässt sie nicht so frieren. So schläft sie nach kurzem ein und träumt von einem Schlachtfeld und Tausenden Menschen, die über eine hügelige Landschaft ziehen, und da beginnen die Kanonen zu hämmern. Sie wacht auf, es ist Morgen, es regnet wieder.

Der Sänger sitzt gekrümmt unter seiner Decke, einen kleinen Schreibkalender in der einen und den Griffel in der anderen Hand. Er schreibt mit winzigen Zeichen, unlesbar fast, denn er hat nur diesen Kalender, und Papier ist teuer.

«Dichten ist das Schwerste», sagt er. «Wisst ihr ein Wort, das sich auf Schurke reimt?»

Aber schließlich ist er doch fertig geworden mit dem Lied vom bösen Müller, und nun sind sie auf dem Marktflecken, während Gottfried singt und Tyll dazu tanzt, so leicht und elegant, dass es selbst Nele überrascht.

Es stehen noch andere Wagen hier. Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes ist der Wagen eines Tuchhändlers, daneben gibt es zwei Scherenschleifer, daneben einen Obsthändler, einen Kesselflicker, noch einen Scherenschleifer, einen Heiler, der im Besitz von Theriak ist, das jede Krankheit heilen kann, einen Obsthändler, einen Gewürzhändler, einen zweiten Heiler, der leider kein Theriak und daher das Nachsehen hat, einen vierten Scherenschleifer und einen Bartscherer. All diese Leute gehören zum fahrenden Handwerk. Wer sie beraubt oder umbringt, wird nicht verfolgt. Das ist der Preis der Freiheit.

Am Rand des Platzes gibt es noch ein paar zwielichtige Gestalten. Das sind die unehrlichen Leute, Musikanten etwa mit Pfeife, Dudelsack und Geige. Sie stehen weit weg, doch Nele will es scheinen, als grinsten sie herüber und flüsterten einander Scherze über Gottfried zu. Neben ihnen sitzt ein Erzähler. Man erkennt ihn am gelben Hut und am blauen

Wams und daran, dass er ein Schild um den Hals hat, auf dem in großen Buchstaben etwas steht, was wohl Erzähler heißt, denn nur Erzähler haben Schilder - eigentlich unsinnig, da sein Publikum aus Leuten besteht, die nicht lesen können. Musiker erkennt man an ihren Instrumenten und Händler an ihrer Ware, aber um einen Erzähler zu erkennen, braucht es nun mal ein Schild. Und dann ist da noch ein kleingewachsener Mann in der weithin erkennbaren Kleidung der Gaukler: buntes Wams, geplusterte Hosen, Kragen aus Fell. Mit dünnem Lächeln sieht auch er herüber, etwas Schlimmeres als Spott ist darin, und als er bemerkt, dass Nele ihn anblickt, zieht er eine Augenbraue hoch, zeigt seine Zunge im Mundwinkel und zwinkert.

Gottfried hat zum zweiten Mal die zwölfte Strophe erreicht, zum zweiten Mal beendet er seine Ballade, überlegt einen Moment und beginnt wieder von vorn. Tyll macht Nele ein Zeichen. Sie steht auf. Natürlich hat sie schon getanzt - auf den Dorffesten, wenn Musikanten gekommen und die jungen Leute übers Feuer gesprungen sind, und oft hat sie auch mit den Mägden getanzt, einfach so, ohne Musik, in den Arbeitspausen. Aber noch nie hat sie es vor Zuschauern getan.

Doch während sie sich erst in die eine und dann in die andere Richtung dreht, stellt sie fest, dass es keinen Unterschied macht. Sie muss sich nur an Tyll halten. Jedes Mal, wenn der Junge in die Hände klatscht, klatscht auch sie, wenn er den rechten Fuß hebt, hebt sie ihren rechten, und den linken, wenn er den linken hebt, zunächst mit einer kleinen Verzögerung, doch dann schon zugleich, als wüsste sie vorher, was er tun

wird, als wären sie nicht zwei Personen, sondern beim Tanzen zu einer geworden - und jetzt auf einmal kippt er nach vorne und tanzt auf seinen Händen, und sie dreht sich um ihn, wieder und wieder und wieder, sodass der Dorfplatz zu einem Geschmier von Farben wird. Schwindelgefühl steigt in ihr auf, aber sie kämpft dagegen an und hält den Blick ins Leere gerichtet, schon wird es besser, und sie kann das Gleichgewicht halten, ohne zu schwanken, während sie sich dreht.

Für einen Augenblick ist sie verwirrt, als die Musik anschwillt und die Töne reicher werden, aber dann begreift sie, dass die Musiker eingefallen sind. Ihre Instrumente spielend, kommen sie heran, und Gottfried, der ihren Rhythmus nicht halten kann, lässt ratlos die Laute sinken, sodass nun endlich alles richtig klingt. Die Menschen applaudieren, Münzen springen über das Holz des Wagens. Tyll steht wieder auf den Füßen, Nele hört auf, sich zu drehen, zwingt ihr Schwindelgefühl nieder und sieht zu, wie er ein Seil - wo hat er es so schnell hergenommen? - am Wagen festknotet und dann von sich wirft, sodass es sich entrollt. Irgendwer fängt es, sie kann es nicht erkennen, weil alles noch schwankt, irgendwer hat es festgeknotet, schon steht Tyll auf dem Seil und springt vor und zurück und verbeugt sich, und mehr Münzen fliegen, und Gottfried kommt kaum nach mit dem Aufheben. Am Ende springt der Junge herunter und nimmt ihre Hand, die Musiker spielen einen Tusch, sie beide verbeugen sich, und die Leute klatschen und grölen, und der Obsthändler wirft ihnen Äpfel zu - sie fängt einen und beißt hinein, seit einer Ewigkeit hat sie keinen Apfel gegessen. Tyll neben ihr fängt auch einen und noch einen und noch einen und dann noch einen und jongliert mit ihnen. Wieder geht ein Jauchzen durch die Menge.

Als es Abend wird, sitzen sie auf dem Boden und hören dem Erzähler zu. Er spricht vom armen König Friedrich zu Prag, dessen Herrschaft nur einen Winter gedauert hat, bis ihn des Kaisers mächtiges Heer vertrieben hat, nun liegt sie darnieder, die stolze Stadt, und wird sich nie erholen. Er spricht in langen Sätzen in einer wiegend schönen Melodie, ohne seine Hände zu bewegen; mit der Stimme allein schafft er es, dass man nicht anderswo hinschauen mag. Das alles sei wahr, sagt er, sogar das Erfundene sei wahr. Und Nele, ohne dass sie verstünde, was das heißen soll, klatscht.

Gottfried kritzelt in seinen Kalender. Er habe nicht gewusst, murmelt er, dass Friedrich schon wieder abgesetzt sei, nun müsse er sein Lied über ihn umschreiben.

Rechts neben Nele stimmt der Geiger mit vor Aufmerksamkeit geschlossenen Augen sein Instrument. Jetzt gehören wir dazu, denkt sie. Jetzt sind wir bei den fahrenden Leuten.

Jemand tippt ihr auf die Schulter, sie fährt herum.

Hinter ihr kauert der Gaukler. Er ist nicht mehr ganz jung, und sein Gesicht ist sehr rot. Ein so rotes Gesicht hat Heinrich Tamm gehabt, kurz bevor er gestorben ist. Sogar seine Augen sind rötlich durchzogen. Sie sind aber auch scharf und wach und klug und unfreundlich.

«Ihr zwei», sagt er leise.

Nun dreht auch der Junge sich um.

«Wollt ihr mit mir gehen?»

«Ja», sagt der Junge, ohne zu zögern.

Nele starrt ihn verständnislos an. Wollten sie nicht mit Gottfried ziehen, der gut zu ihnen ist, ihnen Essen gibt, sie aus dem Wald geführt hat? Gottfried, der sie beide gut brauchen könnte?

«Zwei wie euch kann ich gut brauchen», sagt der Gaukler. «Einen wie mich könnt ihr brauchen. Ich bring euch alles bei.»

«Aber wir sind mit ihm unterwegs.» Nele zeigt auf Gottfried, dessen Lippen sich bewegen, während er in sein Büchlein schreibt. Der Stift in seiner Hand bricht, er flucht leise, kritzelt weiter.

«Da bringt ihr's nicht weit», sagt der Gaukler.

«Wir kennen dich nicht», sagt Nele.

«Ich bin Pirmin», sagt der Gaukler. «Jetzt kennt ihr mich.»

«Ich heiße Tyll. Das ist die Nele.»

«Ich frag nicht noch mal. Wenn ihr euch nicht sicher seid, lassen wir es. Dann bin ich weg. Dann könnt ihr mit dem weiter.»

«Wir kommen mit dir», sagt der Junge.

Pirmin streckt die Hand aus, Tyll ergreift sie. Pirmin kichert leise, seine Lippen verziehen sich, in seinem Mundwinkel wird wieder die dicke feuchte Zunge sichtbar. Nele möchte nicht mit ihm reisen.

Da streckt er ihr seine Hand entgegen.

Sie rührt sich nicht. Hinter ihr spricht der Erzähler von der Flucht des Winterkönigs aus der brennenden Stadt - nun fällt er Europas protestantischen Fürsten zur Last, zieht mit seinem albernen Hofstaat durchs Land, trägt noch Purpur, als wäre er einer der Großen, aber die Kinder lachen über ihn, und die weisen Männer vergießen Tränen, weil sie in ihm die Hinfälligkeit aller Größe sehen.

Jetzt hat auch Gottfried es bemerkt. Mit gerunzelter Stirn sieht er auf die ausgestreckte Hand des Narren.

«Komm», sagt der Junge. «Schlag ein.»

Aber warum soll sie tun, was Tyll sagt? Ist sie weggelaufen, um statt ihrem Vater nun ihm zu gehorchen? Was schuldet sie ihm, weshalb soll er bestimmen?

«Was ist?», fragt Gottfried. «Was geht da vor, was soll das?»

Pirmins Hand ist immer noch ausgestreckt. Auch sein Grinsen verändert sich nicht, als hätte ihr Zögern nichts zu bedeuten, als wüsste er längst, wie sie entscheiden wird.

«Ja, was soll denn das?», fragt Gottfried wieder.

Fleischig und weich ist diese Hand, Nele möchte sie nicht anfassen. Es stimmt natürlich, dass Gottfried nicht viel kann. Aber er ist gut zu ihnen gewesen. Und sie mag diesen Kerl nicht, etwas ist nicht richtig mit ihm. Andererseits stimmt es natürlich: Gottfried wird ihnen nichts beibringen können.

Einerseits, andererseits. Pirmin zwinkert, als läse er ihre Gedanken.

Tyll zuckt ungeduldig mit dem Kopf. «Komm, Nele!»

Sie müsste nur den Arm ausstrecken.

Zusmarshausen

Er habe ja nicht wissen können, schrieb der dicke Graf in seiner in den frühen Jahren des achtzehnten Jahrhunderts verfassten Lebensbeschreibung, als er schon ein sehr alter Mann war, geplagt von Gicht, Syphilis sowie der Quecksilbervergiftung, die ihm die Behandlung der Syphilis eingetragen hatte, er habe ja nicht wissen können, was ihn erwarte, als Seine Majestät ihn im letzten Jahr des Krieges ausgeschickt habe, den berühmten Spaßmacher zu finden.

Damals war Martin von Wolkenstein noch nicht fünfundzwanzig und doch schon korpulent. Als Nachfahre des Minnesängers Oswald war er aufgewachsen am Wiener Hof, sein Vater war einst Oberkämmerer unter Kaiser Matthias gewesen, sein Großvater zweiter Schlüsselbewahrer des verrückt gewordenen Rudolf. Wer Martin von Wolkenstein kannte, mochte ihn; es war etwas Helles um ihn, eine Zuversicht und eine Freundlichkeit, die vor keiner Unbill versagten. Der Kaiser selbst hatte ihm mehrmals seine Gunst bezeigt, und als Gunstbezeugung hatte er es auch verstanden, als Graf Trauttmansdorff, der Präsident des Geheimen Rates, ihn zu sich bestellt und ihm mitgeteilt hatte, dass dem Kaiser zu Ohren gekommen sei, der berühmteste Spaßmacher des Reichs habe im halbzerstörten Kloster Andechs Zuflucht

gefunden. So vieles habe man verfallen sehen, so viel Zerstörung zulassen müssen, Unschätzbares sei untergegangen, aber dass einer wie Tyll Ulenspiegel einfach verderben solle, ob Protestant oder Katholik - denn was er eigentlich sei, scheine keiner zu wissen -, das komme nicht in Frage.

«Ich gratuliere, junger Mann», sagte Trauttmansdorff. «Nützt die Occasion, wer weiß, was daraus noch werden kann.»

Dann, so beschrieb es der dicke Graf mehr als fünfzig Jahre später, habe er ihm seine behandschuhte Hand für den damals noch vom Hofzeremoniell vorgeschriebenen Handkuss gereicht - und genau so war es gewesen, nichts davon hatte er erfunden, obwohl er gerne erfand, wenn seine Erinnerung Lücken hatte, und deren gab es viele, denn all das war, als er davon schrieb, bereits ein Menschenalter her.

Gleich am nächsten Tag ritten wir los, schrieb er. Guten Mutes war ich, voll der Hoffnung, doch auch nicht frei von schwerem Mut, denn die Reise wollte mir so recht, ich kann selbst nicht sagen, weshalb, als Begegnung mit meinem Fatum erscheinen. Und doch war ich voll Neugier darauf, dem roten Gott Mars endlich unverstellt ins Antlitz zu sehen.

Das mit der Eile stimmte nicht, in Wahrheit war mehr als eine Woche vergangen. Er musste schließlich noch Briefe schreiben, in denen er berichtete, was er vorhatte, musste Abschiede vollziehen, die Eltern besuchen, sich vom Bischof segnen lassen; er musste noch einmal mit den Freunden trinken, musste seine Liebste unter den Hofdirnen noch einmal aufsuchen, die zierliche Aglaia, an die er sich noch Jahrzehnte später mit einer Reue erinnerte, deren Seelengrund ihm selbst nicht offenbar war, und natürlich musste er die richtigen Begleiter auswählen. Er entschied sich für drei kampferprobte Männer aus dem Lobkowitz'schen Dragonerregiment sowie für einen Reichshofratssecretarius namens Karl von Doder, der den berühmten Spaßmacher zwanzig Jahre zuvor auf einem Markt bei Neulengbach gesehen hatte, wo der, wie es seine Art war, einer Frau im Publikum sehr übel mitgespielt und danach eine schlimme Messerstecherei ausgelöst hatte, natürlich zur Freude der davon nicht Betroffenen, denn so war es immer, wenn er auftrat: Einigen ging es schlecht, aber die, die davonkamen, hatten großen Spaß gehabt. Zunächst wollte der Secretarius nicht mitkommen, er argumentierte und bat und bettelte und berief sich auf eine unüberwindliche Abscheu vor Gewalt und schlechtem Wetter, aber nichts verschlug, Befehl war Befehl, er musste sich fügen. Etwas über eine Woche nach Erteilung des Auftrags also brach der dicke Graf mit seinen Dragonern sowie dem Secretarius aus der Haupt- und Residenzstadt Wien gen Westen auf.

In seinem Lebensbericht, dessen Stil noch dem Modeton seiner Jugendtage, das heißt der gelehrten Arabeske und der blumigen Ausschmückung, verpflichtet war, schilderte der dicke Graf in Sätzen, die gerade ihrer exemplarischen Gewundenheit wegen den Weg in manches Schullesebuch gefunden haben, den gemächlichen Ritt durchs Wienerwaldgrün: Bei Melk erreichten wir das breite Blau der

Donau, im herrlichen Stift kehrten wir ein, um eine Nacht lang unsere müden Häupter auf Kissen zu betten.

Das stimmte wieder nicht ganz, in Wirklichkeit blieben sie einen Monat. Sein Onkel war der Prior, und so aßen sie vortrefflich und schliefen gut. Karl von Doder, der sich immer schon für Alchimie interessiert hatte, verbrachte viele Tage in der Bibliothek, versunken in ein Buch des Weltweisen Athanasius Kircher, die Dragoner spielten Karten mit den Laienbrüdern, und der dicke Graf brachte mit seinem Onkel einige Schachpartien von solch sublimer Perfektion zustande, wie er sie nie wieder erreichen sollte; fast schien es ihm später, als hätten die Erlebnisse danach seine Begabung fürs Schachspiel erstickt. Erst in der vierten Woche ihres Aufenthaltes holte ihn ein Brief von Graf Trauttmansdorff ein, der ihn schon am Ziel wähnte und fragte, ob sie den Ulenspiegel denn in Andechs vorgefunden hätten und wann mit ihrer Rückkehr zu rechnen sei.

Sein Onkel segnete ihn zum Abschied, der Abt schenkte ihm eine Phiole geweihten Öls. Sie folgten dem Donaustrom bis Pöchlarn, um sich sodann südwestlich zu wenden.

Zu Beginn ihrer Reise war ihnen noch ein steter Strom von Händlern, Vaganten, Mönchen und Reisenden aller Art entgegengekommen. Nun aber schien das Land leer. Auch die Witterung war nicht mehr freundlich. Immer öfter wehte kalter Wind, Bäume spreizten kahle Äste, fast alle Felder lagen brach. Die wenigen Menschen, die sie sahen, waren alt: gebeugte Frauen an Brunnen, Greise, die hager vor Hütten hockten,

hohlwangige Gesichter am Rand des Wegs. Nichts ließ erkennen, ob diese Leute nur rasteten oder vielmehr am Straßenrand auf ihr Ende warteten.

Als der dicke Graf Karl von Doder darauf ansprach, wollte der nur von dem Buch sprechen, das er in der Klosterbibliothek studiert hatte, Ars magna lucis et umbrae, ganz schwindlig werde einem, man blicke gleichsam in einen Abgrund der Gelehrsamkeit; und nein, er habe auch keine Ahnung, wo die jüngeren Menschen seien, aber wenn er eine Vermutung wagen dürfe, dann seien längst alle, die noch hätten rennen können, fortgerannt. In jenem Buch aber sei ständig von Linsen die Rede und davon, wie man die Dinge vergrößern könne, und dann gehe es um Engel, ihre Form, ihre Farbe, und um Musik und die Sphärenharmonien, und um Ägypten gehe es auch, es sei bei Gott ein sehr eigentümliches Werk.

Diesen Satz verwendete der dicke Graf wortwörtlich in seinem Bericht. Aber weil sich ihm die Dinge verwirrten, behauptete er dort, dass er selbst es gewesen sei, der die Ars magna gelesen habe, und zwar auf ihrer Reise. Er beschrieb, wie er das Werk in der Satteltasche mit sich getragen habe, was allerdings, wie die Fußnotenschreiber später mit spöttischer Sachlichkeit anmerkten, klar verriet, dass er dieses riesenhafte Buch nie in Händen gehalten hatte. Der dicke Graf aber beschrieb arglos, wie er an wechselnden Abenden vor notdürftigen Lagerfeuern Kirchers denkwürdige Beschreibungen von Licht, Linsen und Engeln studiert habe, wobei ihm die subtilen Überlegungen des großen Gelehrten als

der eigenartigste Kontrast zu ihrem Vorrücken in das immer stärker verwüstete Land erschienen sei.

Bei Altheim wurde der Wind so scharf, dass sie die gefütterten Mäntel anziehen und die Kapuzen tief in die Stirnen ziehen mussten. Bei Ranshofen klarte das Wetter noch einmal auf. In einem leer stehenden Bauernhaus sahen sie der Sonne beim Untergehen zu. Keine Menschen weit und breit, nur eine Gans, die wohl irgendwem davongelaufen war, stand zerrupft neben einem Brunnen.

Der dicke Graf streckte sich und gähnte. Das Land war hügelig, aber es war kein Baum mehr zu sehen, alles war abgeholzt. Man hörte ein fernes Grollen.

«Oje», sagte der dicke Graf, «auch das noch, ein Gewitter.»

Die Dragoner lachten.

Der dicke Graf begriff. Er habe das schon erkannt, sagte er verlegen, wodurch es natürlich erst richtig peinlich wurde. Er habe nur einen Scherz gemacht.

Die Gans betrachtete sie aus verständnislosen Gänseaugen. Sie öffnete und schloss den Schnabel. Der Dragoner Franz Kärrnbauer legte mit dem Karabiner an und schoss. Und obgleich der dicke Graf bald darauf noch viel mitansehen würde, sollte er sein Lebtag nicht vergessen, welch ein Schrecken ihn bis ins Innerste durchfuhr, als der Kopf des Vogels platzte. Etwas daran war fast unbegreiflich - wie schnell das ging, wie sich von einem Moment zum nächsten ein fester kleiner Kopf in ein Aufspritzen und in nichts verwandelte und wie das Tier noch ein paar Watschelschritte machte und dann zu einem weißen Gebilde zusammensank, in einer wachsenden Pfütze Blut. Während er sich die Augen rieb und versuchte, ruhig zu atmen, um nicht ohnmächtig zu werden, beschloss er, dass er es unbedingt vergessen musste. Aber natürlich vergaß er nicht, und als er sich ein halbes Jahrhundert später bei der Abfassung seines Lebensberichtes an diese Reise erinnerte, war es das Bild des zerplatzenden Gänsekopfs, das an Deutlichkeit alles andere überstrahlte. In einem ganz und gar ehrlichen Buch hätte er davon erzählen müssen, aber er brachte es nicht über sich und nahm es mit ins Grab, und keiner erfuhr, mit welch unaussprechlichem Ekel er mitangesehen hatte, wie die Dragoner den Vogel fürs Abendessen zugerichtet hatten: Fröhlich schabten sie Federn ab, schnitten und rissen, nahmen den Körper aus und brieten das Fleisch über dem Feuer.

In dieser Nacht schlief der dicke Graf schlecht. Der Wind heulte durch die Fensterhöhlen. Er schlotterte vor Kälte, der Dragoner Kärrnbauer schnarchte laut. Ein anderer Dragoner namens Stefan Purner, oder vielleicht war es auch Konrad Purner - die beiden waren Brüder, und der dicke Graf verwechselte sie so häufig, dass sie ihm später im Buch zu einer einzigen Gestalt zusammenflossen -, gab ihm einen Stoß, aber er schnarchte nur noch lauter.

Am Morgen ritten sie weiter. Das Dorf Markl war völlig zerstört: durchlöcherte Mauern, geborstene Balken, Schutt und Steine auf dem Weg, neben dem verdreckten Brunnen ein paar alte Leute, die um Essen bettelten. Der Feind sei hier gewesen

und habe alles genommen, und das Wenige, das man habe verstecken können, habe danach der Freund genommen, die Soldaten des Kurfürsten nämlich, und kaum seien die abgezogen, sei das, was man vor ihnen noch habe verbergen können, wiederum von den Feinden genommen worden.

«Welchen Feinden denn?», fragte der dicke Graf besorgt. «Schweden oder Franzosen?»

Das sei ihnen gleich, sagten sie. Sie hätten solchen Hunger.

Der dicke Graf zögerte einen Moment, dann gab er den Befehl zum Weiterreiten.

Ihnen nichts dazulassen sei schon richtig gewesen, sagte Karl von Doder. Man habe nicht genug Proviant und müsse einen Auftrag von höchster Stelle ausführen, man könne nun mal nicht jedermann helfen, das vermöge nur Gott, der sich dieser Christenmenschen bestimmt in seiner unendlichen Barmherzigkeit annehmen werde.

Alle Felder lagen brach, einige waren aschgrau, von großen Feuern. Die Hügel duckten sich unter einem bleischweren Himmel. In der Ferne standen Rauchsäulen vor dem Horizont.

Am besten, sagte Karl von Doder, ziehe man an Altötting, Polling und Tüssling südlich vorbei, fernab der Landstraße, im freien Feld. Wer jetzt noch nicht aus den Dörfern geflohen sei, sei bewaffnet und misstrauisch. Eine Gruppe von Reitern, die auf ein Dorf zuhalte, könne ohne weiteres aus der Deckung beschossen werden.

«Ja, gut», sagte der dicke Graf, der nicht begriff, wieso ein Reichshofratssecretarius plötzlich derart genaue Vorstellungen

davon hatte, wie man sich im Kriegsgebiet verhalten musste. «Einverstanden!»

«Wenn wir Glück haben und keinen Soldaten begegnen», sagte Karl von Doder, «dann schaffen wir es in zwei Tagen bis nach Andechs.»

Der dicke Graf nickte und versuchte, sich vorzustellen, dass jemand ernstlich auf ihn schießen könnte, gezielt über Kimme und Korn. Auf ihn, Martin von Wolkenstein, der noch keinem Übles getan hatte, mit einer echten Kugel aus Stahl. Er sah an sich herab. Sein Rücken tat weh, sein Gesäß war wund von den Tagen im Sattel. Er strich über seinen Bauch und stellte sich eine Kugel vor, er dachte an den geplatzten Gänsekopf, und er dachte auch an den Metallzauber, über den Athanasius Kircher in seinem Buch über die Magneten geschrieben hatte: Wen man einen Magnetstein von ausreichender Stärke in seiner Tasche trage, so könne der die Kugeln ablenken und einen Mann unverwundbar machen. Das hatte der legendäre Gelehrte selbst ausprobiert. Leider waren derart starke Magneten sehr selten und teuer.

Als er ein halbes Jahrhundert später ihre Reise zu rekonstruieren versuchte, kam ihm seines Alters wegen der Zeitlauf durcheinander. Um seine Unsicherheit zu kaschieren, findet sich an dieser Stelle des Lebensberichts eine blumige Abschweifung, siebzehneinhalb Seiten lang, über die Kameradschaft der Männer, die einer Gefahr entgegengehen im Wissen, dass ebendiese Gefahr sie entweder töten oder fürs Leben in Freundschaft verbinden wird. Die Passage wurde

berühmt, unerachtet des Umstands, dass sie erlogen war, denn in Wahrheit war keiner der Männer sein Freund geworden. Die eine oder andere Unterhaltung mit dem Reichshofratssecretarius stand ihm beim Schreiben noch in Bruchstücken im Gedächtnis, aber was die Dragoner anging, so erinnerte er sich kaum an ihre Namen und schon gar nicht an ihre Gesichter. Nur dass einer von ihnen einen breitkrempigen Hut aufgehabt hatte mit einem grauroten Federbusch, das wusste er noch. Vor allem sah er lehmige Feldwege vor sich und spürte, als wäre es gestern gewesen, das Klopfen des Regens auf seiner Kapuze. Sein Mantel war schwer von Wasser gewesen. Damals hatte er begriffen, dass nichts je so nass war, dass es nicht noch nässer werden konnte.

Vor einiger Zeit waren hier Wälder gewesen. Aber als er beim Reiten, mit schmerzendem Rücken und wundem Gesäß, darüber nachdachte, bemerkte er, dass dieses Wissen ihm nichts bedeutete. Der Krieg kam ihm nicht wie etwas von Menschen Gemachtes vor, sondern wie Wind und Regen, wie das Meer, wie die hohen Klippen von Sizilien, die er als Kind gesehen hatte. Dieser Krieg war älter als er. Er war manchmal gewachsen und manchmal geschrumpft, er war hierhin und dorthin gekrochen, hatte den Norden verwüstet, sich nach Westen gewendet, hatte einen Arm nach Osten und einen in den Süden ausgestreckt, dann sein volles Gewicht in den Süden gewälzt, nur um sich sodann wieder für eine Weile im Norden niederzulassen. Natürlich kannte der dicke Graf Menschen, die sich noch an die Zeit davor erinnerten, allen voran seinen

Vater, der im Tiroler Familienlandsitz Rodenegg hustend und gut gelaunt den Tod erwartete, wie ihn der dicke Graf selbst fast sechzig Jahre später hustend und schreibend erwarten sollte, am selben Ort und an demselben steinernen Tisch. Sein Vater hatte einmal mit Albrecht von Wallenstein gesprochen; der große und dunkle Mann hatte sich über das feuchte Wetter in Wien beklagt, sein Vater hatte geantwortet, dass man sich daran gewöhne, worauf Wallenstein erwidert hatte, er wolle und werde sich nicht an solches Dreckswetter gewöhnen, worauf sein Vater mit einer besonders geistreichen Bemerkung hatte parieren wollen, aber Wallenstein hatte sich schon brüsk abgewendet. Kaum ein Monat verging, in dem sein Vater nicht einen Anlass fand, davon zu sprechen, ebenso wie er nie zu erwähnen vergaß, dass er einige Jahre zuvor auch dem unglücklichen Kurfürsten Friedrich begegnet war, der kurz danach die böhmische Krone angenommen und den großen Krieg vom Zaun gebrochen hatte, nur um nach einem einzigen Winter schimpflich verjagt zu werden und schließlich irgendwo am Wegrand zu verrecken, nicht einmal ein Grab hatte er.

In dieser Nacht fanden sie keinen Unterstand. Sie rollten sich auf einem kahlen Feld zusammen und hüllten sich in ihre nassen Mäntel. Der Regen war zu stark, um Feuer zu machen. Nie hatte der dicke Graf sich so elend gefühlt. Der nasse Mantel, der immer nässer wurde, der inzwischen schon unbeschreiblich vollgesogene Mantel und der weiche Lehm, in dem sein Körper allmählich tiefer sank - konnte der Morast einen Menschen einfach schlucken? Er versuchte, sich

aufzusetzen, aber es gelang ihm nicht, der Lehm schien ihn festzuhalten.

Irgendwann hörte der Regen auf. Franz Kärrnbauer schichtete hustend ein paar Zweige und schlug die Feuersteine gegeneinander, wieder und wieder, bis endlich Funken flogen, und dann fuhrwerkte er noch eine halbe Ewigkeit und blies auf das Holz und murmelte Zauberformeln, bis kleine Flammen in die Dunkelheit zuckten. Zitternd hielten sie die Hände in die Wärme.

Die Pferde scheuten und wieherten. Einer der Dragoner stand auf, der dicke Graf konnte nicht erkennen, welcher, aber dass er den Karabiner im Anschlag hielt, sah er. Das Feuer ließ ihre Schatten tanzen.

«Wölfe», flüsterte Karl von Doder.

Sie starrten in die Nacht. Mit einem Mal erfüllte den dicken Grafen das Gefühl, dass dies alles ein Traum sein musste, mit solcher Stärke, dass es ihm in der Erinnerung scheinen sollte, als wäre es auch einer gewesen und als wäre er gleich darauf aufgewacht, am hellen Morgen, trocken und ausgeschlafen. Es konnte sich so nicht abgespielt haben, aber statt sich mit dem Erinnern abzumühen, schob er zwölf Seiten kunstvoll verschachtelter Sätze über seine Mutter ein. Das meiste war reine Erfindung, denn er verschmolz seine ferne und kaltherzige Mutter mit der Figur seiner Lieblingsgouvernante, die sanfter zu ihm gewesen war als irgendein anderer Mensch, außer vielleicht die schmale und schöne Dirne Aglaia. Als sein Bericht nach dieser langen und erlogenen Erinnerung zur

Reise zurückfand, waren sie bereits an Haar und Baierbronn vorbei, und hinter ihm führten die Dragoner ein Gespräch über Zauberformeln, die einen vor irrenden Kugeln schützten.

«Gegen eine gut gezielte kannst nichts machen», sagte Franz Kärrnbauer.

«Außer man hat einen wirklich starken Spruch», sagte Konrad Purner. «Einen von den ganz geheimen. Die können sogar was gegen Kanonenkugeln ausrichten, ich hab das selbst gesehen, bei Augsburg. Einer neben mir hat so einen verwendet, ich dachte, der ist tot, aber dann ist er wieder aufgestanden, als wäre nichts geschehen. Den Spruch habe ich nicht richtig gehört, es ist ein Jammer.»

«Ja, mit so einem Spruch geht es schon», sagte Franz Kärrnbauer. «Einem wirklich teuren. Aber die einfachen Sprüche, die man auf dem Markt kauft, die können nichts.»

«Ich hab einen gekannt», sagte Stefan Purner, «der hat für die Schweden gekämpft, und er hat ein Amulett gehabt, mit dem hat er erst Magdeburg überlebt, dann Lützen. Dann hat er sich totgetrunken.»

«Aber das Amulett», fragte Franz Kärrnbauer. «Wer hat das gekriegt, wo ist es?»

«Ja, wenn man's wüsste.» Stefan Purner seufzte. «Wenn man das hätte. Dann wäre alles anders.»

«Ja», sagte Franz Kärrnbauer andächtig. «Wenn man das hätte!»

Bei Haar fanden sie den ersten Toten. Er musste schon eine Weile da gelegen haben, denn seine Kleider waren mit einer

Erdschicht überzogen, und seine Haare schienen verflochten mit den Grashalmen. Er lag mit dem Gesicht zum Boden, die Beine gespreizt, mit nackten Füßen.

«Das ist normal», sagte Konrad Purner, «niemand lässt einer Leiche die Stiefel. Wenn man Pech hat, wird man allein wegen seiner Schuhe umgebracht.»

Der Wind trug kleine, kalte Regentropfen mit sich. Um sie herum waren Baumstümpfe, Hunderte davon, hier war ein ganzer Wald abgeholzt worden. Sie kamen durch ein bis auf die Grundmauern niedergebranntes Dorf, und da sahen sie einen Leichenhaufen. Der dicke Graf wandte den Blick ab und sah dann doch hin. Er sah geschwärzte Gesichter, einen Rumpf mit nur einem Arm, eine zur Klaue gekrampfte Hand, zwei leere Augenhöhlen über einem offenen Mund und dort etwas, das wie ein Sack aussah, aber der Überrest eines Leibes war. Ein beißender Geruch hing in der Luft.

Am späten Nachmittag kamen sie zu einem Dorf, in dem noch Menschen waren. Ja, der Ulenspiegel sei im Kloster, sagte eine alte Frau, der lebe noch. Und als ihnen kurz vor Sonnenuntergang ein verwildert aussehender Mann und ein kleiner Junge begegneten, die gemeinsam einen Karren zogen, bekamen sie die gleiche Auskunft. Der sei im Kloster, sagte der Mann und stierte am Pferd des dicken Grafen empor. Immer nach Westen, am See vorbei, dann könnten sie es nicht verfehlen. Ob die Herren Essen hätten für ihn und seinen Sohn?

Der dicke Graf griff in die Satteltasche und gab ihm eine

Wurst. Es war seine letzte, und er wusste, dass es ein Fehler war, aber er konnte nicht anders, das Kind tat ihm so leid. Benommen fragte er, warum sie den Wagen zögen.

«Er ist alles, was wir haben.»

«Aber er ist leer», sagte der dicke Graf.

«Aber er ist alles, was wir haben.»

Wieder schliefen sie im freien Feld, zur Sicherheit zündeten sie kein Feuer an. Der dicke Graf fror, aber wenigstens regnete es nicht, und der Boden war fest. Kurz nach Mitternacht hörten sie in der Nähe zwei Schüsse. Sie lauschten. Im ersten Morgenlicht schwor Karl von Doder, er habe einen Wolf gesehen, der sie aus nicht zu großer Entfernung beobachtet habe. Hastig saßen sie auf und ritten weiter.

Sie begegneten einer Frau. Es war nicht zu erkennen, ob sie alt war oder ob ihr das Leben nur übel mitgespielt hatte, so zerfurcht war ihr Gesicht, so gebeugt ging sie. Ja, im Kloster, dort sei er noch. Kaum sprach sie von dem berühmten Spaßmacher, musste sie lächeln. Und so war es immer, schrieb der dicke Graf fünfzig Jahre später, alle schienen Bescheid zu wissen; jeder, dem wir seinen Namen nannten, wies Richtung und Weg, im verödeten Land hatte die Kunde, wo er sich aufhielt, Eingang in jede verbliebene Seele gefunden.

Gegen Mittag kamen ihnen Soldaten entgegen. Zuerst eine Gruppe Pikeniere: verwilderte Menschen mit struppigen Bärten. Einige hatten offene Wunden, andere schleppten Säcke voll Beute. Ein Geruch von Schweiß, Krankheit und Blut hing über ihnen, und sie blickten aus kleinen, feindseligen Augen.

Ihnen folgten Planwagen, auf denen ihre Frauen und Kinder hockten. Ein paar der Frauen hielten Säuglinge fest. Wir sahen nur die Verheerung der Leiber, schrieb der dicke Graf später, aber ob Freund oder Feind, war nicht zu erkennen, denn sie trugen keine Feldzeichen.

Nach den Pikenieren kam ein gutes Dutzend Reiter.

«Meinen Dienst», sagte einer, der offenbar ihr Anführer war, «wohin des Wegs?»

«Zum Kloster», sagte der dicke Graf.

«Dort kommen wir gerade her. Gibt dort nichts zu essen.»

«Wir suchen nicht nach Essen, wir suchen nach Tyll Ulenspiegel.»

«Ja, der ist dort. Wir haben ihn gesehen, aber wir haben das Weite suchen müssen, als die Kaiserlichen gekommen sind.»

Der dicke Graf wurde bleich.

«Keine Angst, ich tu euch nichts. Ich bin der Hans Kloppmess aus Hamburg. Ich war auch mal kaiserlich. Und vielleicht werde ich es wieder, wer weiß? Ein Söldner hat einen Beruf, nicht anders als ein Tischler und Bäcker. Die Armee ist meine Innung, dort im Wagen hab ich Frau und Kinder, die muss ich ernähren. Im Augenblick zahlen die Franzosen nichts, aber wenn sie doch zahlen, dann wird es mehr sein, als man beim Kaiser kriegt. In Westfalen verhandeln die großen Herren über den Frieden. Wenn der Krieg aufhört, bekommen alle den ausstehenden Sold, drauf kann man sich verlassen, denn ohne den Sold würden wir uns weigern, nach Hause zu gehen, davor haben die Herren Angst. Schöne Pferde habt ihr!»

«Danke», sagte der dicke Graf.

«Könnt ich gut brauchen», sagte Hans Kloppmess.

Besorgt drehte sich der dicke Graf nach seinen Dragonern um.

«Wo kommt ihr her?», fragte Hans Kloppmess.

«Wien», sagte der dicke Graf mit belegter Stimme.

«Ich war einmal fast in Wien», sagte der Reiter neben Hans Kloppmess.

«Was, wirklich?», fragte Hans Kloppmess. «Du in Wien?»

«Nur fast. Bin nicht hingekommen.»

«Was ist passiert?»

«Passiert ist nichts, ich bin nicht nach Wien gekommen.»

«Haltet euch von Starnberg fern», sagte Hans Kloppmess. «Am besten wandert ihr südlich an Gauting vorbei, dann Richtung Herrsching, dann von dort zum Kloster, der Weg ist noch für Wanderer frei. Aber beeilt euch, Turenne und Wrangel sind schon über die Donau. Bald geht es heiß her.»

«Wir sind keine Wanderer», sagte Karl von Doder.

«Wartet's ab.»

Kein Kommando war nötig, keine Absprache. Alle gaben sie den Pferden die Sporen. Der dicke Graf beugte sich über den Hals des Tieres und hielt sich fest, halb an den Zügeln und halb an der Mähne. Er sah die Erde unter den Hufen spritzen, er hörte Rufe hinter sich, er hörte den Knall eines Schusses, er widerstand der Versuchung, sich umzusehen.

Sie ritten und ritten, und sie ritten und ritten immer noch, sein Rücken schmerzte unerträglich, er hatte keine Kraft mehr

in den Beinen, und er wagte nicht, den Kopf zu drehen. Neben ihm ritt Franz Kärrnbauer, vor ihm ritten Konrad Purner und Karl von Doder, Stefan Purner ritt hinter ihm.

Endlich hielten sie an. Die Pferde dampften vor Schweiß. Dem dicken Grafen war schwarz vor Augen, er rutschte aus dem Sattel, Franz Kärrnbauer stützte ihn und half ihm beim Absteigen. Die Soldaten waren ihnen nicht gefolgt. Es hatte zu schneien begonnen. Weißgraue Flocken trieben in der Luft. Als er eine davon auf den Finger nahm, erkannte er, dass es Asche war.

Karl von Doder tätschelte den Hals seines Pferdes. «Südlich vorbei an Gauting, hat er gesagt, dann Richtung Herrsching. Die Pferde haben Durst, sie brauchen Wasser.»

Sie stiegen wieder auf. Stumm ritten sie durch die fallende Asche. Sie begegneten keinem Menschen mehr, und am späten Nachmittag sahen sie über sich den Turm des Klosters.

Hier macht Martin von Wolkensteins Lebensbericht einen Sprung: Kein Wort verliert er über den steilen Anstieg hinter Herrsching, der den Pferden nicht leichtgefallen sein kann, auch gibt es nichts über die halbzerstörten Klostergebäude und keine Schilderung der Mönche. Natürlich lag das an seinem Gedächtnis, noch mehr aber lag es wohl daran, dass ihn beim Schreiben nervöse Ungeduld befiel. Und so finden die Leser ihn schon zwei konfuse Zeilen später dem Abt gegenüber, in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages.

Sie saßen auf zwei Hockern in einem leeren Saal. Die Möbel waren gestohlen, zerstört oder verheizt worden. Auch

Wandteppiche habe es gegeben, sagte der Abt, silberne Kerzenhalter und ein großes Kreuz aus Gold über dem Türbogen dort. Nun kam das Licht von einem einzigen Kienspan. Pater Friesenegger erzählte sachlich und knapp, dennoch fielen dem dicken Grafen einige Male die Augen zu. Immer wieder schreckte er auf, nur um festzustellen, dass der hagere Mann unterdessen weitergesprochen hatte. Der dicke Graf hätte sich gerne ausgeruht, aber der Abt wollte von den letzten Jahren erzählen, er wollte, dass der Bote des Kaisers genau wusste, was das Kloster mitgemacht hatte. Als der dicke Graf, dem mittlerweile ständig Dinge, Leute und Jahre durcheinandergerieten, in den Tagen Leopolds I. seinen Lebensbericht schrieb, sollte er sich neidvoll an Pater Frieseneggers fehlerloses Gedächtnis erinnern.

Die schweren Jahre hätten dem Geist des Abtes nichts anhaben können, schrieb er. Seine Augen seien scharf und aufmerksam gewesen, seine Worte gut gewählt, die Sätze lang und wohlgebildet, doch Wahrhaftigkeit sei nicht alles: Die Unmenge von Ereignissen hätte sich ihm nicht zu Geschichten geformt, und so sei es schwierig gewesen, ihm zu folgen. Immer wieder waren in den Jahren Soldaten ins Kloster eingefallen: Die kaiserlichen Truppen hatten genommen, was sie brauchten, dann waren die protestantischen Truppen gekommen und hatten genommen, was sie brauchten. Dann hatten die Protestanten sich zurückgezogen, und die Kaiserlichen waren wiedergekommen und hatten genommen, was sie brauchten: Tiere und Holz und Stiefel. Dann waren die

Kaiserlichen abgezogen, aber sie hatten eine Schutzgarde dagelassen, und dann waren marodierende Soldaten gekommen, die zu keiner Armee gehörten, und die Schutzgarde hatte sie vertrieben, oder sie hatten die Schutzgarde vertrieben, entweder das eine oder das andere oder vielleicht auch das eine zuerst und das andere später, der dicke Graf war sich nicht sicher, und es war ja auch egal, denn die Schutzgarde war wieder abgezogen, und entweder die Kaiserlichen oder die Schweden waren gekommen, um zu nehmen, was sie brauchten: Tiere und Holz und Kleider und vor allem natürlich Stiefel, wenn es denn noch Stiefel gegeben hätte, auch das Holz war schon dahin. Im nächsten Winter hatten die Bauern der umliegenden Dörfer sich ins Kloster geflüchtet, in allen Sälen hatten Menschen gelegen, in allen Kammern, in jedem kleinsten Korridor. Der Hunger, die verunreinigten Brunnen, die Kälte, die Wölfe!

«Wölfe?»

In die Häuser seien sie eingedrungen, erzählte der Abt, zunächst nur nachts, aber bald auch tagsüber. Die Menschen seien in die Wälder geflohen und hätten dort die kleinen Tiere erlegt und gegessen und dann die Bäume abgeholzt, um nicht zu erfrieren - dadurch hätten die Wölfe vor Hunger alle Furcht und Scheu verloren. Wie lebendig gewordene Albträume seien sie über die Dörfer gekommen, wie Schreckgestalten aus alten Märchen. Mit hungrigen Augen seien sie in Stuben und Ställen erschienen, ohne die geringste Angst vor Messern oder Mistgabeln. In den schlimmsten Wintertagen hätten sie sogar

den Weg ins Kloster gefunden, eines der Tiere habe eine Frau mit einem Säugling angefallen und ihr das Kind aus der Hand gerissen.

Nein, genau das war nun wieder nicht passiert, nur von der Angst um die kleinen Kinder hatte der Abt gesprochen. Aber aus irgendeinem Grund hatte die Vorstellung, ein Säugling könnte vor den Augen der Mutter von einem Wolf verzehrt worden sein, den dicken Grafen, der zu diesem Zeitpunkt schon fünf Enkel und drei Urenkel hatte, so sehr in Bann geschlagen, dass er meinte, der Abt habe ihm wohl auch dies erzählt, weshalb er unter eloquenten Entschuldigungen dafür, dass er dem Leser das Folgende nicht zu ersparen das Recht habe, eine zutiefst grausame Beschreibung von Schmerzensschreien, Entsetzen, Wolfsknurren, scharfen Zähnen und Blut einfügte.

Und so, sagte der Abt mit seiner ruhigen Stimme, sei es weiter- und weitergegangen, Tag um Tag, Jahr um Jahr. So viel Hunger. So viel Krankheit. Der Wechsel der Armeen und Marodeure. Das Land habe sich entvölkert. Die Wälder seien verschwunden, die Dörfer abgebrannt, die Menschen geflohen, weiß Gott, wohin. Im letzten Jahr hätten sich selbst die Wölfe davongemacht. Er beugte sich vor, legte dem dicken Grafen eine Hand auf die Schulter und fragte, ob er sich das auch alles merken könne.

«Alles», sagte der dicke Graf.

Es sei wichtig, dass der Hof davon erfahre, sagte der Abt. Der bayerische Kurfürst als Oberbefehlshaber der Kaiserlichen interessiere sich in seiner Weisheit nur fürs große Bild, nicht

für die Einzelheiten. Oft habe man ihn um Hilfe angerufen, aber die Wahrheit sei, dass seine Truppen schlimmer gewütet hätten als die Schweden. Nur wenn man sich daran erinnere, habe all das Leiden einen Sinn gehabt.

Der dicke Graf nickte.

Der Abt sah ihm aufmerksam ins Gesicht.

Haltung, sagte er, als hätte er die Gedanken seines Gegenübers gelesen. Zucht und inneres Wollen. Das Wohl des Klosters ruhe auf seinen Schultern, das Überleben der Mitbrüder.

Er bekreuzigte sich, der dicke Graf tat es ihm nach.

Das hier helfe sehr. Der Abt griff in den Aufschlag seiner Kutte, und mit einem Entsetzen, wie er es nur aus Fieberphantasien kannte, sah der dicke Graf ein Jutegeflecht, darin Dornen aus Metall sowie Glasscherben mit eingetrocknetem Blut.

Man gewöhne sich daran, sagte der Abt. Die ersten Jahre seien die schlimmsten gewesen, da habe er das Büßerhemd manchmal ausgezogen und den eiternden Oberkörper mit Wasser gekühlt. Aber dann habe er sich seiner Schwäche geschämt, und Gott habe ihm Mal für Mal die Kraft geschenkt, es wieder anzuziehen. Es habe Augenblicke gegeben, da der Schmerz so wild geworden sei, so teufelsgewaltig spitz und flammend, dass er gemeint habe, er verliere den Verstand. Aber das Beten habe geholfen. Gewohnheit habe geholfen. Und seine Haut sei dicker geworden. Ab dem vierten Jahr habe sich der ständige Schmerz in einen Freund verwandelt.

In diesem Moment, so schrieb der dicke Graf später, musste ihn der Schlaf übermannt haben, denn als er gähnte und sich die Augen rieb und einige Momente brauchte, um sich zu erinnern, wo er war, saß ihm ein anderer gegenüber.

Es war ein dürrer Mann mit hohlen Wangen und einer Narbe, die vom Haaransatz bis hinunter zur Nasenwurzel lief. Er trug eine Kutte, und doch ließ sich deutlich erkennen - auch wenn man nicht hätte sagen können, woran -, dass er kein Mönch war. Noch nie hatte der dicke Graf solche Augen gesehen. Als er es später beschrieb, wusste er nicht mehr recht, ob dieses Gespräch wirklich so stattgefunden hatte, wie er es über die Jahre hinweg Freunden, Bekannten und Fremden berichtet hatte. Aber er entschied sich, bei der Version zu bleiben, die nun schon zu viele Leute gehört hatten, als dass er davon noch hätte abgehen können.

«Da bist du endlich», habe der Mann gesagt. «Ich hab lang gewartet.»

«Bist du Tyll Ulenspiegel?»

«Einer von uns ist es. Bist hier, mich zu holen?»

«Im Auftrag des Kaisers.»

«Welcher Kaiser? Gibt viele.»

«Nein, gibt es nicht! Worüber lachst du?»

«Ich lach nicht über den Kaiser, ich lach über dich. Wieso bist du so fett? Es gibt doch nichts zu fressen, wie machst du das?»

«Halt deinen Mund», sagte der dicke Graf und wurde sofort wütend darüber, dass ihm nichts Geistreicheres eingefallen war. Und obwohl er sein Lebtag über eine bessere Antwort nachdachte und auch eine ganze Reihe davon fand, wich er in keinem Bericht von diesem blamablen Satz ab. Denn gerade er schien die Wahrheit seiner Erinnerung zu besiegeln. Würde man etwas erfinden, das einen so schlecht dastehen ließ?

«Schlägst du mich sonst? Aber das tust du nicht. Du bist weich. Sanft und weich und lieb. Das hier ist nichts für dich.»

«Krieg ist nichts für mich?»

«Nein, ist nichts für dich.»

«Aber für dich schon?»

«Ja, für mich schon.»

«Kommst du freiwillig mit, oder müssen wir dich zwingen?»

«Natürlich komm ich. Hier gibt es nichts mehr zu essen, hier fällt alles auseinander, der Abt macht's auch nicht mehr lang, drum habe ich nach dir geschickt.»

«Du hast nicht nach mir geschickt.»

«Ich hab nach dir geschickt, du fetter Knödel.»

«Seine Majestät hat gehört -»

«Na, warum hat die Majestät das denn gehört, du Riesenwanstling? Von mir gehört hat die kleine Majestät, die saublöde Majestät mit der goldenen Krone auf dem goldenen Thron, weil ich nach euch geschickt hab. Und hau mich nicht, ich darf das sagen, du kennst doch die Narrenfreiheit. Wenn ich die Majestät nicht saublöd nenne, wer soll das sonst tun? Einer muss es doch. Und du darfst nicht.»

Ulenspiegel grinste. Es war ein fürchterliches Grinsen, böse und spöttisch, und da der dicke Graf nicht mehr wusste, wie ihr

Gespräch weitergegangen war, verwandte er ein halbes Dutzend Sätze darauf, dieses Grinsen zu beschreiben, um dann eine Seite lang über den tiefen, satten und erquickenden Schlaf zu schwärmen, den er auf dem Boden einer Klosterzelle bis zur Mittagsstunde des nächsten Tages gefunden hatte: Morpheus, freundlicher Gott der Ruhe, Friedenschenker, Freudenstifter, seliger Hüter des nächtlichen Vergessens, in dieser Nacht, da ich dich nötiger brauchte denn je, warst du für mich da, bis ich erwachte - verjüngt, glücklich, beinahe gesegnet.

Diese letzte Formulierung spiegelt weniger die Gefühle des jungen Mannes als die Glaubenszweifel des alten wider, über die er sich an anderer Stelle in bewegenden Worten ausließ. Aus Scham hingegen verschwieg er ein Detail, das ihm noch aus einem Zeitabstand von fünfzig Jahren die Röte ins Gesicht trieb. Als sie nämlich gegen Mittag auf dem Hof zusammenkamen, um sich vom Abt und drei ausgemergelten Mönchen zu verabschieden, die mehr wie Gespenster aussahen als wie echte Menschen, fiel ihnen auf, dass sie vergessen hatten, für Ulenspiegel ein Pferd mitzubringen.

Tatsächlich hatte keiner von ihnen darüber nachgedacht, worauf der Mann, den sie nach Wien bringen sollten, eigentlich reiten würde. Denn natürlich gab es hier keine Pferde zu kaufen oder zu leihen, es gab nicht einmal Esel. Alle Tiere waren gegessen worden oder davongelaufen.

«Na, dann sitzt er halt hinter mir auf», sagte Franz Kärrnbauer.

«Das taugt mir nicht», sagte Ulenspiegel. Bei Tageslicht sah

er in seiner Mönchskutte noch dünner aus. Er stand vornübergebeugt, seine Wangen waren hohl, seine Augen lagen tief in den Höhlen. «Der Kaiser ist mein Freund. Ich will ein Pferd für mich.»

«Ich schlag dir die Zähne aus», sagte Franz Kärrnbauer ruhig, «und ich brech dir die Nase. Ich tu das. Schau mich an. Du weißt, dass ich's tue.»

Ulenspiegel sah einen Moment nachdenklich zu ihm auf, dann stieg er hinter Franz Kärrnbauer in den Sattel.

Karl von Doder legte dem dicken Grafen eine Hand auf die Schulter und flüsterte: «Das ist er nicht.»

«Wie bitte?»

«Das ist er nicht!»

«Wer ist was nicht?»

«Ich glaube, das ist nicht der, den ich gesehen habe.»

«Was?»

«Damals auf dem Jahrmarkt. Ich kann's nicht ändern. Ich glaube, er ist es nicht.»

Der dicke Graf sah den Secretarius einen langen Moment an. «Seid Ihr Euch sicher?»

«Nicht ganz sicher. Es ist Jahre her, und er war über mir auf einem Seil. Wie kann man sich da sicher sein!»

«Reden wir nicht mehr davon», sagte der dicke Graf.

Der Abt segnete sie mit zittrigen Händen und riet ihnen, die Städte zu meiden. Die Residenzstadt München habe wegen des Ansturms der Hilfesuchenden die Tore geschlossen, niemand dürfe mehr hinein, die Straßen quöllen über vor Hungrigen, die

Brunnen seien verdreckt. Ähnlich stehe es um Nürnberg, wo die Protestanten lagerten. Es werde behauptet, dass Wrangel und Turenne mit Verbänden aus Nordwesten kämen, daher sei es am besten, in weiter Schleife nordöstlich auszuweichen, zwischen Augsburg und Ingolstadt hindurch. Bei Rottenburg könne man geradewegs nach Osten, von dort stehe der Weg nach Niederösterreich offen. Der Abt schwieg und kratzte sich an der Brust - eine gewöhnliche Bewegung scheinbar, aber jetzt, wo der dicke Graf von dem Büßerhemd wusste, konnte er sie kaum mitansehen. Es gebe Gerüchte, dass beide Seiten es auf eine Feldschlacht anlegten, bevor in Westfalen der Waffenstillstand ausgerufen werde. Jede Seite wolle vorher noch ihre Lage verbessern.

«Vielen Dank», sagte der dicke Graf, der kaum etwas mitbekommen hatte. Geographie war nie seine Sache gewesen. In der Bibliothek seines Vaters standen mehrere Bände von Matthäus Merians Topographia Germaniae, einige Male hatte er mit Schaudern darin geblättert. Wozu sollte man sich all das merken? Wozu all diese Orte aufsuchen, wenn man doch auch in der Mitte bleiben konnte, im Zentrum der Welt, in Wien?

«Geh mit Gott», sagte der Abt zu Ulenspiegel.

«Bleib mit Gott», antwortete der Narr vom Pferd herab. Er hatte seine Arme um Franz Kärrnbauer gelegt und sah so schmal und schwach aus, dass man sich kaum vorstellen konnte, wie er sich auf dem Pferd halten sollte.

«Eines Tages bist du vor unseren Toren gestanden», sagte der Abt. «Wir haben dich aufgenommen, haben nicht gefragt, welches dein Bekenntnis ist. Über ein Jahr warst du hier, jetzt gehst du wieder.»

«Schöne Rede», sagte Ulenspiegel.

Der Abt schlug das Kreuz. Der Gaukler wollte es ihm nachtun, kam aber offenbar durcheinander - seine Arme verhakten sich, seine Hände fanden nicht dorthin, wohin sie sollten. Der Abt wandte sich ab, der dicke Graf musste das Lachen unterdrücken. Zwei Mönche öffneten das Tor.

Sie kamen nicht weit. Schon nach wenigen Stunden gerieten sie in einen Wolkenbruch, wie der dicke Graf noch keinen erlebt hatte. Eilig saßen sie ab und hockten sich unter die Pferde. Der Regen strömte, prasselte, brauste um sie, als löste der Himmel sich auf.

«Wenn es aber nicht der Ulenspiegel ist?», flüsterte Karl von Doder.

Zwei Dinge, die sich nicht unterscheiden ließen, seien dasselbe Ding, sagte der dicke Graf. Entweder sei dieser Mann Ulenspiegel, der im Kloster Andechs Zuflucht gesucht habe, oder es handle sich um einen Mann, der im Kloster Zuflucht gesucht habe und sich Ulenspiegel nenne. Gott wisse es, aber solange der sich nicht einmische, gebe es keinen Unterschied.

Da hörten sie Schüsse aus der Nähe. Hastig saßen sie auf, gaben den Pferden die Sporen und sprengten übers freie Feld. Der Atem des dicken Grafen ging pfeifend und schwer, sein Rücken schmerzte. Regentropfen schlugen ihm ins Gesicht. Es schien ihm eine Ewigkeit, bis die Dragoner ihre Pferde zügelten.

Mit unsicheren Beinen stieg er ab und tätschelte seinem Pferd den Hals. Das Tier schürzte die Lippen und schnaubte. Zu ihrer Linken war ein kleiner Fluss, auf der anderen Seite stieg der Hang zu einem Wald an, wie der dicke Graf seit Melk keinen mehr gesehen hatte.

«Das muss der Streitheimer Forst sein», sagte Karl von Doder.

«Dann sind wir zu weit im Norden», sagte Franz Kärrnbauer.

«Nie im Leben ist das der Streitheimer Forst», sagte Stefan Purner.

«Na sicher ist er das», sagte Karl von Doder.

«Nie», sagte Stefan Purner.

Da hörten sie Musik. Sie hielten den Atem an und horchten: Trompeten und Trommeln, eine fröhliche Marschmusik, die in die Beine ging. Der dicke Graf bemerkte, dass seine Schultern im Takt zuckten.

«Weg hier», sagte Konrad Purner.

«Nicht auf die Pferde», zischte Karl von Doder. «In den Wald!»

«Vorsicht», sagte der dicke Graf, um wenigstens den Anschein zu wahren, dass er es war, der hier befahl. «Der Ulenspiegel muss beschützt werden.»

«Ihr armen Deppen», sagte der dürre Mann sanft. «Ihr Rinder. Ich bin es, der euch schützen muss.»

Schon schlossen sich die Wipfel über ihnen. Der dicke Graf sah das Widerstreben seines Pferdes, aber er hielt die Zügel fest und tätschelte die feuchten Nüstern, und das Tier fügte

sich. Bald war das Unterholz so dicht, dass die Dragoner die Säbel zogen, um einen Weg freizuschlagen.

Sie horchten wieder. Ein dunkles Brummen war zu hören, wo kam das her, was war das? Allmählich begriff der dicke Graf, dass es unzählige Stimmen waren, ein Ineinander von Gesang und Rufen und Gerede aus vielen Kehlen. Er spürte die Angst seines Pferdes, er streichelte die Mähne, das Tier schnaufte.

Später konnte er nicht mehr sagen, wie lange sie so gegangen waren, also behauptete er, dass es zwei Stunden gewesen seien. Die Stimmen hinter uns erstarben, schrieb er, die laute Stille des Waldes umschloss uns, Vögel schrien, Äste brachen, und der Wind wisperte zu uns aus den Kronen.

«Wir müssen nach Osten», sagte Karl von Doder, «nach Augsburg.»

«Der Abt hat gesagt, die Städte lassen keinen mehr ein», sagte der dicke Graf.

«Aber wir sind Boten des Kaisers», sagte Karl von Doder.

Dem dicken Grafen fiel auf, dass er kein Papier mitführte, das es bewies; keinen Ausweis, keinen Freibrief, keinerlei Urkunde. Er hatte nicht danach gefragt, und offenbar hatte sich in der Verwaltung der Hofburg niemand dafür zuständig gefühlt, so etwas auszustellen.

«Wo ist Osten?», fragte Franz Kärrnbauer.

Stefan Purner zeigte irgendwohin.

«Das ist Süden», sagte sein Bruder.

«Ihr seid ja Deppen», sagte Ulenspiegel fröhlich. «Scheißzwerge seid ihr und könnt gar nichts! Westen ist, wo

wir sind, also ist Osten überall.»

Franz Kärrnbauer holte aus, aber Ulenspiegel duckte sich mit einer Schnelligkeit, die man ihm nicht zugetraut hätte, und sprang hinter einen Baumstamm. Der Dragoner folgte ihm, doch Ulenspiegel glitt wie ein Schatten um den Stamm und verschwand hinter einem anderen und war nicht mehr zu sehen.

«Kriegst mich nicht», hörten sie ihn kichernd sagen, «ich kenn den Wald. Ich bin Waldgeist geworden, als ich ein kleiner Junge war.»

«Ein Waldgeist?», fragte der dicke Graf beunruhigt.

«Ein weißer Waldgeist.» Ulenspiegel trat lachend aus dem Gebüsch. «Für den großen Teufel.»

Sie machten Rast. Ihre Vorräte waren fast aufgebraucht. Die Pferde knabberten an Baumstämmen. Sie ließen die Flasche mit dem Dünnbier herumgehen, jeder nahm einen Schluck. Als sie beim dicken Grafen ankam, war nichts mehr drin.

Müde gingen sie weiter. Der Wald lichtete sich, die Bäume standen in breiteren Abständen, das Unterholz war nicht mehr dicht, die Pferde konnten gehen, ohne dass man ihnen den Weg freischneiden musste. Dem dicken Grafen fiel auf, dass keine Vögel mehr zu hören waren: kein Spatz, keine Amsel, keine Krähe. Sie stiegen auf und ritten aus dem Wald.

«Mein Gott», sagte Karl von Doder.

«Barmherziger Herr», sagte Stefan Purner.

«Heilige Jungfrau», sagte Franz Kärrnbauer.

Als er später zu schildern versuchte, was sie gesehen hatten,

musste der dicke Graf feststellen, dass er das nicht konnte. Es überstieg seine Fähigkeiten als Schriftsteller. Es überstieg auch seine Fähigkeiten als vernünftiger Mensch: Noch aus der Distanz eines halben Jahrhunderts sah er sich nicht imstande, es in Sätze zu fassen, die wirklich etwas bedeuteten. Natürlich beschrieb er den Anblick dennoch. Es war einer der wichtigsten Momente seines Lebens, und der Umstand, dass er Zeuge der letzten Feldschlacht des Dreißigjährigen Krieges geworden war, bestimmte von nun an, wer er war und was die Menschen von ihm dachten - der Herr Oberhofmeister habe die Schlacht von Zusmarshausen miterlebt, hieß es seitdem, wenn er jemandem vorgestellt wurde, worauf er mit routinierter Bescheidenheit abwehrte: «Lassen wir das, man kann es nicht gut erzählen.»

Was wie ein Gemeinplatz klang, war die Wahrheit. Man konnte es nicht gut erzählen. Er jedenfalls konnte es nicht. Schon als er auf der Anhöhe aus dem Wald ritt und jenseits des im Tal liegenden Flusses das sich bis zum Horizont erstreckende Heer des Kaisers mit seinen ausgebauten Kanonenstellungen, eingegrabenen Musketieren und den in geordneten Hundertschaften stehenden Pikenieren sah, deren Piken ihm vorkamen wie ein zweiter Wald, war es ihm, als ob er etwas erlebte, das nicht in die Wirklichkeit gehörte. Dass so viele Menschen zusammenkommen und sich formieren konnten, schien so schwer zu wiegen, dass alles aus dem Gleichgewicht geriet. Der dicke Graf musste die Mähne des Pferdes packen, um nicht herunterzurutschen.

Dann erst wurde ihm klar, dass er nicht nur die kaiserliche Armee vor Augen hatte. Zu ihrer Rechten fiel der Hang steil ab, drunten war eine breite Straße, auf der, schweigend und ohne Musik, sodass man nur die Hufe auf dem Stein hörte, die Reiterei der vereinten Kronen Frankreichs und Schwedens heranzog: eine Reihe hinter der anderen, auf eine einzige kleine Brücke zu.

Und da geschah es, dass ebendiese Brücke, die doch eben noch so solide dagestanden hatte, sich in ein Wölkchen auflöste. Der dicke Graf musste fast lächeln ob dieses Zaubertricks. Heller Rauch stieg auf, die Brücke war weg, und jetzt erst, da der Rauch schon im Wind davontrieb, erreichte sie der Knall. Wie schön, dachte der dicke Graf und schämte sich sofort und dachte gleich darauf noch einmal, wie zum Trotz: Doch, das war schön.

«Weg hier», schrie Karl von Doder.

Zu spät. Die Zeit riss sie mit wie eine Stromschnelle. Drüben, auf der anderen Seite des Flusses, stiegen Wölkchen auf, ein paar Dutzend waren es, weiß und schillernd. Unsere Kanonen, dachte der dicke Graf, das ist sie, die Artillerie unseres Kaisers, doch noch bevor er mit dem Gedanken zu Ende war, stiegen von dort, wo die Musketiere standen, mehr Wolken auf, winzige, aber unzählige, für einen Moment noch scharf voneinander getrennt, dann schon vermischt zu einer einzigen Wolke, und da rollte auch der Lärm heran, und der dicke Graf hörte die Schüsse peitschen, deren Dampf er soeben gesehen hatte, und als Nächstes sah er, wie die Reiter des Feindes, die noch immer auf den Fluss zuhielten, das merkwürdigste Kunststück vollführten. In ihren Reihen waren mit einem Mal Schneisen, eine hier, eine gleich daneben, eine in einigem Abstand. Während er noch seine Augen anstrengte, um zu begreifen, was er sah, hörte er ein Geräusch, wie er es noch nie vernommen hatte, ein Schreien aus der Luft. Franz Kärrnbauer warf sich vom Pferd, überrascht schaute der dicke Graf zu, wie er durchs Gras rollte, und fragte sich, ob er nicht das Gleiche tun sollte, aber das Pferd war hoch und der Boden voll harter Steine. Da kam Karl von Doder ihm zuvor. Er sprang aber nicht in eine Richtung, sondern in zwei, so als hätte er sich nicht entscheiden können und von zwei Möglichkeiten beide ergriffen.

Zunächst dachte der dicke Graf, dass er wohl träumen müsse, doch dann sah er, dass Karl von Doder tatsächlich an zwei Orten lag: der eine Teil rechts, der andere links vom Pferd, und der auf der rechten bewegte sich noch. Den dicken Grafen erfasste ein Abscheu von ungeheurem Ausmaß, und da fiel ihm zu allem Überfluss die Gans ein, die Franz Kärrnbauer vor Tagen erschossen hatte; er dachte daran, wie er ihren Kopf hatte explodieren sehen, und begriff, dass er deshalb so erschrocken gewesen war, weil jenes Ereignis dieses angekündigt hatte, gegen die Stromrichtung der Zeit. Inzwischen hatte sich die Frage, ob er vom Pferd sollte oder nicht, schon erübrigt; sein Pferd hatte sich hingelegt, einfach so, und als er seitlich auf dem Boden aufschlug, bemerkte er, dass es wieder angefangen hatte zu regnen, aber es war nicht

der übliche Regen, nicht Wasser war es, das die Erde spritzen machte, sondern unsichtbare Dreschflegel bearbeiteten den Boden. Er sah Franz Kärrnbauer robben, er sah einen Pferdehuf im Gras liegen, an dem kein Pferd war, er sah Konrad Purner den Hang hinabreiten, er sah, dass sich der Rauch nun auch um die Reihen der kaiserlichen Soldaten jenseits des Flusses schlang, die er eben noch deutlich hatte erkennen können, weg waren sie, bloß an einer Stelle riss der Wind den Qualm fort und gab den Blick frei auf die zwischen ihren Piken kauernden Männer, die jetzt aufstanden, alle im gleichen Moment, und mit aufgerichteten Waffen rückwärts gingen wie ein einziger Mann, wie schafften sie es, dass ihre Bewegungen so übereinstimmten? Offenbar wichen sie vor der Reiterei zurück, die jetzt doch durchs Wasser kam. Der Fluss schien zu kochen, Pferde bäumten sich auf, Reiter fielen, aber andere Reiter erreichten das Ufer, das Wasser hatte sich rot gefärbt, und die rückwärts gehenden Lanzenträger verschwanden im Qualm.

Er sah sich um. Das Gras stand ruhig. Der dicke Graf rappelte sich auf. Seine Beine gehorchten ihm, nur seine rechte Hand spürte er nicht. Als er sie vor die Augen hielt, merkte er, dass ein Finger fehlte. Er zählte nach. Tatsächlich, vier Finger, etwas stimmte nicht, einer fehlte, es sollten fünf sein, es waren vier. Er spuckte Blut auf den Boden. Er musste wieder in den Wald. Nur im Wald war Deckung, nur im -

Formen setzten sich zusammen, farbige Flächen entstanden, und während dem dicken Grafen klarwurde, dass er wohl ohnmächtig gewesen war und gerade wieder zu sich kam, erfasste ihn eine schmerzhafte Erinnerung, aufgestiegen wie aus dem Nichts. Er dachte an ein Mädchen, das er mit neunzehn geliebt hatte; sie hatte ihn damals ausgelacht, doch hier war sie wieder, und das Wissen, dass sie nie zusammenfinden würden, erfüllte jede Faser seines Wesens mit Traurigkeit. Über sich sah er den Himmel. Fern und voller zerfaserter Wölkchen. Einer beugte sich über ihn. Er kannte ihn nicht, er kannte ihn doch, jetzt erkannte er ihn.

«Steh auf!»

Der dicke Graf blinzelte.

Ulenspiegel holte aus und schlug ihm ins Gesicht.

Der dicke Graf stand auf. Seine Wange schmerzte. Seine Hand schmerzte noch mehr. Am meisten schmerzte der Finger, der fehlte. Dort drüben lag das, was von Karl von Doder übrig war, daneben lagen zwei Pferde, und da war der tote Konrad Purner. In der Weite hing Nebel, darin zuckten Blitze. Immer noch trabten Reiter heran, eine Schneise öffnete und schloss sich wieder, das musste das Werk der Zwölfpfünder sein. Am Fluss schwärmten Reiter und behinderten einander und schwangen Peitschen, Pferde platschten ins Wasser, Männer brüllten - aber er sah es nur daran, dass ihre Münder sich bewegten, hören konnte er sie nicht. Der Fluss war voller Pferde und Menschen, mehr und mehr schafften es ans Ufer und verschwanden im Qualm.

Ulenspiegel setzte sich in Bewegung, der dicke Graf folgte ihm. Der Wald war nur ein paar Schritte entfernt. Ulenspiegel

begann zu rennen. Der dicke Graf rannte hinterher.

Neben ihm spritzte Gras. Wieder hörte er den Schrei von vorhin, gellend aus der Luft, gellend neben ihm, etwas schlug auf und rollte brüllend auf den Fluss zu. Wie lebt man, dachte er, wie hält man es aus, wenn die Luft voll Metall ist? In diesem Moment warf Ulenspiegel die Arme nach außen und schleuderte sich mit der Brust voran auf die Wiese.

Der dicke Graf beugte sich über ihn. Ulenspiegel lag reglos. Seine Kutte war am Rücken gerissen, Blut lief heraus, schon lag er in einer Pfütze. Der dicke Graf wich zurück und rannte los, aber er stolperte und schlug hin. Er raffte sich hoch, rannte weiter, jemand rannte neben ihm, wieder spritzte das Gras von Kugeln, warum schossen sie hierhin, warum nicht auf den Feind, warum so weit daneben, und wer lief hier an seiner Seite? Der dicke Graf drehte den Kopf, es war Ulenspiegel.

«Bleib nicht stehen», zischte der.

Sie liefen in den Wald, die Bäume erstickten den Donner. Der dicke Graf wollte stehen bleiben, er hatte Herzstechen, aber Ulenspiegel fasste ihn und zog ihn tiefer ins Unterholz. Dort hockten sie sich hin. Eine Weile horchten sie auf die Kanonen. Ulenspiegel zog vorsichtig die zerrissene Kutte aus. Der dicke Graf sah ihm auf den Rücken, das Hemd war mit Blut beschmiert, aber keine Wunde war zu sehen.

«Das verstehe ich nicht», sagte der dicke Graf.

«Du musst dir die Hand abbinden.» Ulenspiegel riss einen Streifen von der Kutte und wand ihn dem dicken Grafen um den Arm.

Schon damals ahnte er, dass das alles in seinem Buch einst anders berichtet werden müsste. Keine Beschreibung würde ihm gelingen, denn alles würde sich entziehen, und die Sätze, die er formen konnte, würden nicht zu den Bildern in seinem Gedächtnis passen.

Und wirklich: Das, was passiert war, tauchte nicht einmal in seinen Träumen auf. Nur manchmal erkannte er da in scheinbar ganz anderen Ereignissen ein fernes Echo jener Momente, als er am Waldrand des Streitheimer Forsts in der Nähe von Zusmarshausen ins Feuer geraten war.

Jahre später befragte er den unglücklichen Grafen Gronsfeld, den der bayerische Kurfürst nach der Niederlage kurzerhand hatte verhaften lassen. Zahnlos, müde und hustend nannte der einstige Befehlshaber der bayerischen Truppen ihm die Namen und Orte, er beschrieb die Stärke der verschiedenen Einheiten und zeichnete Aufmarschpläne, sodass es dem dicken Grafen einigermaßen gelang, sich Rechenschaft abzulegen, wo ungefähr er gewesen und was ihm und seinen Gefährten widerfahren war. Doch die Sätze wollten sich nicht fügen. Und so stahl er andere.

In einem beliebten Roman fand er eine Beschreibung, die ihm gefiel, und wenn Menschen ihn drängten, die letzte Feldschlacht des großen deutschen Krieges zu schildern, so sagte er ihnen das, was er in Grimmelshausens Simplicissimus gelesen hatte. Es passte nicht recht, weil es sich dort um die Schlacht von Wittstock handelte, aber das störte keinen, nie fragte jemand nach. Was der dicke Graf nicht wissen konnte, war aber, dass Grimmelshausen die Schlacht von Wittstock zwar selbst erlebt, aber ebenfalls nicht hatte beschreiben können und stattdessen die Sätze eines von Martin Opitz übersetzten englischen Romans gestohlen hatte, dessen Autor nie im Leben bei einer Schlacht dabei gewesen war.

In seinem Buch berichtete der dicke Graf dann auch knapp von der Nacht im Wald, in der ihm der mit einem Mal gesprächig gewordene Narr von seiner Zeit am Hof des Winterkönigs in Den Haag erzählt hatte und davon, wie er drei Jahre zuvor bei der Belagerung von Brünn verschüttet worden war. Zuerst habe er es sich mit dem Stadtkommandanten verscherzt, wegen einer Bemerkung über dessen Gesicht, sodass der ihn zu den Mineuren gesteckt habe, und dann sei der Schacht über seiner Einheit eingestürzt, hier, die Narbe an der Stirn, die habe er davongetragen. Eingesperrt in der Finsternis sei er gewesen, tief drunten, kein Ausweg, keine Luft, doch dann die wundersame Rettung. Es sei eine unglaubliche und wilde Geschichte gewesen, schrieb der dicke Graf, und der Umstand, dass er danach abrupt das Thema wechselte und nicht darauf einging, wie die Wunderrettung unter Brünn denn eigentlich vonstattengegangen war, sollte später die Ratlosigkeit und Wut so mancher Leser wecken.

Ulenspiegel jedenfalls war ein guter Erzähler, besser als der Abt und besser auch als der dicke Graf, den die Geschichten von den pochenden Schmerzen in seiner Hand ablenkten. Keine Sorge, sagte der Narr, in dieser Nacht würden die Wölfe genug zu fressen finden.

Im ersten Morgenlicht brachen sie auf. Sie umgingen das Schlachtfeld, von dem ein Geruch zu ihnen wehte, den der dicke Graf sich nie hätte vorstellen können, dann wanderten sie über Schlipsheim, Hainhofen und Ottmarshausen. Ulenspiegel kannte sich aus, und er war ruhig und besonnen und beleidigte den dicken Grafen kein einziges Mal mehr.

Die leere Landschaft hatte sich mit Menschen gefüllt. Bauern zogen ihre Habe in Leiterwagen, versprengte Soldaten suchten nach ihrer Einheit und Familie, Verletzte hockten am Wegrand, notdürftig verbunden, reglos vor sich hin starrend. Die beiden ließen das brennende Oberhausen westlich liegen und kamen nach Augsburg, wo die verbliebene Armee des Kaisers sich gesammelt hatte. Sie war nach der Niederlage nicht mehr groß.

Das Heerlager vor der Stadt stank noch schlimmer als das Schlachtfeld. Wie Höllenvisionen brannten sich die verformten Leiber, die schwärenden Gesichter, die offenen Wunden, die Kothaufen ins Gedächtnis des dicken Grafen ein. Ich werde nie mehr derselbe sein, dachte er, während sie sich den Weg zum Stadttor bahnten, und: Es sind doch nur Bilder, sie können mir nichts tun, sie fassen mich nicht an, nur Bilder. Und er malte sich aus, er wäre ein anderer, der unsichtbar neben ihnen ging und nicht sehen musste, was er sah.

Am Nachmittag erreichten sie die Tore der Stadt. Besorgt gab sich der dicke Graf den Wächtern zu erkennen, und es überraschte ihn selbst, als sie ihm alles glaubten und sie ohne Zögern einließen.

Könige im Winter

Es war November. Die Weinvorräte waren erschöpft, und weil der Brunnen im Garten verdreckt war, tranken sie nur noch Milch. Da sie sich keine Kerzen mehr leisten konnten, ging der ganze Hofstaat abends mit der Sonne schlafen. Die Dinge standen nicht gut, doch immerhin gab es noch Prinzen, die für Liz sterben wollten. Vor kurzem war einer hier in Den Haag gewesen, Christian von Braunschweig, und hatte ihr versprochen, pour Dieu et pour elle auf seine Feldzeichen sticken zu lassen, und danach, das hatte er mit Inbrunst geschworen, wollte er für sie siegen oder sterben. Er war ein aufgeregter Held, die Ergriffenheit über sich selbst trieb ihm Tränen in die Augen. Friedrich hatte ihm beruhigend auf die Schulter geklopft, und sie hatte ihm ihr Taschentuch gegeben, aber da war er von neuem in Tränen ausgebrochen, so sehr hatte der Gedanke, ein Tuch von ihr zu besitzen, ihn überwältigt. Sie hatte ihn mit königlichem Segen bedacht, und er war aufgewühlt seiner Wege gezogen.

Natürlich würde er es nicht zustande bringen, nicht für Gott und auch nicht für sie. Dieser Prinz hatte wenige Soldaten und kein Geld, und er war auch nicht besonders klug. Es brauchte andere Kaliber, um Wallenstein zu besiegen, etwa jemanden

wie den Schwedenkönig, der vor kurzem wie ein Gewitter über das Reich gekommen war und bisher alle Schlachten gewonnen hatte. Ihn hätte sie einst heiraten sollen, nach Papas Plänen, aber er hatte sie nicht gewollt.

Fast zwanzig Jahre war es her, dass sie stattdessen ihren armen Friedrich geheiratet hatte. Zwanzig deutsche Jahre, ein Wirbel von Ereignissen und Gesichtern und Lärm und schlechtem Wetter und noch schlechterem Essen und ganz miserablem Theater.

Das gute Theater hatte ihr am meisten gefehlt, von Anfang an, mehr noch als das genießbare Essen. In deutschen Landen kannte man kein richtiges Theater, da zogen armselige Komödianten durch den Regen und schrien und hüpften und furzten und prügelten einander. Wahrscheinlich lag es an der klobigen Sprache; das war keine Sprache fürs Theater, ein Gebräu von Stöhnlauten und harten Grunzern war das, es war eine Sprache, die klang, als kämpfte einer gegen das Würgen, als hätte ein Rind einen Hustenanfall, als käme jemandem sein Bier aus der Nase. Was hätte ein Dichter mit dieser Sprache anfangen sollen? Sie hatte es ja versucht mit der deutschen Literatur, einmal mit diesem Opitz und dann noch mit einem anderen, aber sie hatte den Namen vergessen; sie konnte sich diese Leute nicht merken, die immer Krautbacher oder Engelkrämer oder Kargholzsteingrömpl hießen, und wenn man mit Chaucer aufgewachsen war und John Donne einem Verse gewidmet hatte - «fair phoenix bride», hatte er sie genannt, «and from thine eye all lesser birds will take their jollity» -,

dann konnte man sich bei aller Höflichkeit nicht dazu überwinden, so zu tun, als wäre das deutsche Blöken etwas wert.

Sie dachte oft ans Hoftheater in Whitehall zurück. An die kleinen Gesten der Schauspieler dachte sie, an die langen Sätze, deren Rhythmus ständig wechselte wie Musik, mal schnell und klappernd, mal lang ausschwingend, mal fragend, mal scharf befehlend. Wann immer sie an den Hof gekommen war, um die Eltern zu besuchen, hatten dort Theatervorstellungen stattgefunden. Leute standen auf der Bühne und verstellten sich, aber sie hatte sofort begriffen, dass das gar nicht stimmte und dass auch die Verstellung bloß eine Maske war, denn falsch war nicht das Theater, nein, alles andere war Getue, Verkleidung und Firlefanz, alles, was nicht Theater war, war falsch. Auf der Bühne waren die Menschen sie selbst, ganz wahr, völlig durchsichtig.

Im wirklichen Leben sprach keiner Monologe. Da behielt jeder seine Gedanken für sich, da konnte man nicht in Gesichtern lesen, da schleppte jeder das tote Gewicht seiner Geheimnisse. Niemand stand allein in seinem Zimmer und redete laut darüber, was er wollte und fürchtete, aber wenn Burbage das auf der Bühne tat, mit seiner knarrenden Stimme, die sehr dünnen Finger auf Augenhöhe, kam es einem unnatürlich vor, dass alle immerzu versteckten, was in ihnen vorging. Und was für Wörter er gebrauchte! Reiche Wörter, seltene, die schimmerten wie wertvolle Stoffe - Sätze, so perfekt gefügt, wie man es selbst nie fertig gebracht hätte. So sollte es sein, sagte einem das Theater, so solltest du reden, so dich halten, so fühlen, so wäre es, ein wahrer Mensch zu sein.

Wenn die Vorstellung vorbei war und der Applaus verklungen, kehrten die Schauspieler in den Stand der Armseligkeit zurück. In der Verbeugung standen sie wie verloschene Kerzen. Dann kamen sie tief gebückt heran, Alleyn und Kemp und der große Burbage selbst, um Papas Hand zu küssen, und fragte Papa etwas, so antworteten sie wie Leute, denen die Sprache widerstand und keine klaren Sätze einfielen. Burbages Gesicht war wächsern und müde, und an seinen nun eher hässlichen Händen war nichts Besonderes mehr. Kaum zu glauben, wie schnell der Geist der Leichtigkeit ihn verlassen hatte.

Jener Geist war selbst in einem der Stücke vorgekommen, zu Allerheiligen hatten sie es gespielt. Es ging um einen alten Herzog auf einer Zauberinsel, er fing seine Feinde ein, nur um sie dann plötzlich zu verschonen. Damals hatte sie nicht verstehen können, warum er Milde walten ließ, und wenn sie heute darüber nachdachte, verstand sie es immer noch nicht. Würde sie Wallenstein oder den Kaiser in ihre Gewalt bekommen, sie würde das anders halten! Am Schluss des Stücks hatte der Herzog seinen dienstbaren Geist einfach entlassen, auf dass er in die Wolken, die Luft, das Sonnenlicht und die Meeresbläue eingehen konnte, und war zurückgeblieben wie ein alter Mehlsack, ein runzeliger Schauspieler, der sich noch kurz dafür entschuldigte, dass er keinen Text mehr hatte. Der Prinzipal der King's Men hatte die

Rolle damals selbst übernommen. Er war keiner der großen Darsteller, kein Kemp und schon gar kein Burbage, man merkte ihm sogar an, dass es ihm nicht leichtfiel, sich den Text zu merken, den kein anderer als er geschrieben hatte. Nach der Vorstellung hatte er ihr mit weichen Lippen die Hand geküsst, und weil man ihr eingeschärft hatte, dass sie in solchen Momenten immer irgendeine Frage stellen müsse, hatte sie sich erkundigt, ob er Kinder habe.

«Zwei Töchter. Und einen Sohn. Aber der ist gestorben.»

Sie wartete, denn jetzt wäre es an Papa gewesen, etwas zu sagen. Aber Papa schwieg. Der Prinzipal sah sie an, sie sah ihn an, ihr Herz begann zu klopfen. Alle Menschen im Raum warteten, all die Herren mit ihren Seidenkragen, all die Frauen mit Diademen und Fächern, sie blickten zu ihr. Und sie begriff, dass sie weitersprechen musste. So war Papa eben. Wenn man auf ihn rechnete, ließ er einen allein. Sie räusperte sich, um Zeit zu gewinnen. Aber man gewinnt nur wenig Zeit, indem man sich räuspert. Man kann sich nicht sehr lange räuspern, es hilft kaum weiter.

Also sagte sie, dass es ihr sehr leidtue, vom Tod seines Sohnes zu hören. Gott nehme so unversehens, wie er gebe, seine Prüfungen seien rätselhaft, doch weise, und hätten wir sie würdig überstanden, machten sie uns stärker.

Für die Dauer eines Wimpernschlags war sie stolz auf sich gewesen. So etwas musste man erst einmal zustande bringen vor dem gesamten Hofstaat, da musste man gut erzogen sein und auch schnell im Kopf.

Der Prinzipal hatte gelächelt und das Haupt geneigt, und plötzlich hatte sie das Gefühl, dass sie sich auf eine schwer zu beschreibende Weise blamiert hatte. Sie spürte, dass sie rot wurde, und weil sie sich auch dafür schämte, wurde sie noch röter. Sie räusperte sich erneut und fragte ihn nach dem Namen seines Sohnes. Nicht, dass es sie interessiert hätte. Aber ihr fiel sonst nichts ein.

Mit leiser Stimme antwortete er.

«Wirklich?», fragte sie überrascht. «Hamlet?»

«Hamnet.» Er holte Luft, dann sagte er nachdenklich und wie zu sich selbst, dass er zwar nicht wisse, ob er diese Prüfung Gottes so würdig überstanden habe, wie sie es ihm zugutehalte, dass er sich aber in einem Augenblick wie diesem, da er das Glück genieße, der Zukunft ins mädchenhafte Antlitz zu blicken, ganz sicher sei, dass ein Dasein, dessen Strom ihn zur Mündung eines solchen Meeres geführt habe, das schlechteste nicht gewesen sein könne, weshalb er, bestärkt von diesem Moment der Gnade, gesonnen sei, alle Qual und Lebensmüh, die hinter ihm und wohl auch noch vor ihm lägen, mit Dank hinzunehmen.

Da war ihr erst einmal nichts mehr eingefallen.

Schön und gut, sagte Papa endlich. Auf der Zukunft lägen Schatten. Es gebe mehr Hexen denn je. Der Franzose sei tückisch. Die junge Einheit Englands und Schottlands sei noch unerprobt, Verhängnis lauere überall. Aber am schlimmsten seien die Hexen.

Verhängnis lauere immer, antwortete der Prinzipal, das sei

das Wesen des Verhängnisses, doch die Hand eines großen Herrschers halte es zurück, wie die Luft die Schwere der Wolken halte, bevor diese sich in sanften Regen wandle.

Jetzt fiel wiederum Papa nichts ein. Das war lustig, weil das nicht oft passierte. Papa sah den Prinzipal an, alle sahen Papa an, keiner sagte etwas, und die Stille dauerte schon zu lange.

Schließlich wandte Papa sich ab - einfach so, ohne ein Wort. So machte er es oft, das war einer seiner Tricks, um Leute zu verunsichern. Normalerweise überlegten sie danach wochenlang, was sie falsch gemacht hatten und ob sie in Ungnade gefallen waren. Aber der Prinzipal schien es zu durchschauen. Gebeugt rückwärts gehend, entfernte er sich, auf dem Gesicht ein feines Lächeln.

«Glaubst du, du bist was Besseres, Liz?», hatte ihr Narr sie vor kurzem gefragt, als sie davon erzählt hatte. «Hast mehr gesehen, weißt mehr, kommst aus einem bessren Land als wir?»

«Ja», hatte sie gesagt. «Das glaube ich.»

«Und glaubst du, dein Vater wird dich retten? An der Spitze eines Heeres, glaubst du das?»

«Nein, das glaube ich nicht mehr.»

«Doch, das glaubst du. Du meinst immer noch, dass er eines Tages auftauchen wird und dich wieder zur Königin macht.»

«Ich bin eine Königin.»

Da lachte er hämisch, und sie musste schlucken und die Tränen zurückdrängen und sich daran erinnern, dass genau das seine Aufgabe war - ihr zu sagen, was kein anderer zu

sagen wagte. Deshalb hatte man Narren, und selbst wenn man keinen Narren wollte, musste man einen zulassen, denn ohne Hofnarr war ein Hof kein Hof, und da sie und Friedrich kein Land mehr hatten, musste zumindest ihr Hof in Ordnung sein.

Es hatte eine seltsame Bewandtnis mit diesem Narren. Das hatte sie sofort gespürt, damals, als er aufgetaucht war, letzten Winter, als die Tage besonders kalt gewesen waren und das Leben noch ärmlicher als sonst. Da waren die beiden mit einem Mal vor ihrer Tür gestanden, der dürre junge Mann im bunten Wams und die großgewachsene Frau.

Erschöpft und mitgenommen hatten sie ausgesehen, krank vom Reisen und von den Fährnissen der Wildnis. Aber als sie ihr vorgetanzt hatten, war da eine Harmonie gewesen, ein Gleichklang der Stimmen und der Leiber, wie sie es nie erlebt hatte, seit sie nicht mehr in England war. Dann hatte er jongliert, und sie hatte die Flöte hervorgeholt, und dann hatten die beiden ein Stück über einen Vormund und sein Mündel gespielt, und sie hatte ihren Tod vorgetäuscht, und er hatte sie leblos vorgefunden, und vor Gram hatte er sich getötet, worauf sie erwacht war und mit vor Entsetzen verzerrtem Gesicht sein Messer gepackt hatte, um sich nun auch das Leben zu nehmen. Liz kannte die Geschichte, sie war aus einem Stück der King's Men. Gerührt von der Erinnerung an etwas, was einst groß gewesen war in ihrem Leben, hatte sie die beiden gefragt, ob sie nicht bleiben wollten. «Wir haben noch keinen Hofnarren.»

Zum Einstand hatte er ihr ein Bild geschenkt. Nein, ein Bild war es nicht, es war eine weiße Leinwand mit nichts darauf.

«Lass es rahmen, kleine Liz, häng es auf. Zeig es den anderen!» Nichts gab ihm das Recht, sie so anzureden, aber wenigstens sprach er ihren Namen richtig aus, mitsamt dem englischen Z, er machte es so gut, als wäre er drüben gewesen. «Zeig es auch deinem Mann, das schöne Bild, lass es den armen König sehen! Und alle anderen!»

Das hatte sie getan. Sie hatte ein grünes Landschaftsbild, das sie ohnehin nicht mochte, aus seinem Rahmen nehmen und durch die weiße Leinwand ersetzen lassen, und dann hatte der Narr das Bild im großen Raum, den sie und Friedrich ihren Thronsaal nannten, aufgehängt.

«Es ist magisch, kleine Liz. Wer unehelich geboren ist, kann es nicht sehen. Wer dumm ist, sieht es nicht. Wer Geld gestohlen hat, sieht es nicht. Wer Übles im Schild führt, wer ein Kerl ist, dem man nicht trauen kann, wer ein Galgenvogel ist oder ein Stehlvieh oder ein Arsch mit Ohren, der sieht es nicht, für den ist da kein Bild!»

Da hatte sie lachen müssen.

«Nein, wirklich, kleine Liz, sag's den Leuten! Unehelich Geborene und Dumme und Diebe und Galgenvögel mit bösen Absichten, die alle sehen nichts, weder den Blauhimmel noch das Schloss, noch die wundervolle Frau auf dem Balkon, die ihr Goldhaar runterlässt, und auch nicht den Engel hinter ihr. Sag es ihnen, schau, was passiert!»

Was passiert war, erstaunte sie immer noch, jeden einzelnen Tag, und es würde nie aufhören, sie zu erstaunen. Ratlos standen die Besucher vor dem weißen Bild und wussten nicht, was sie sagen sollten. Denn es war ja kompliziert. Natürlich verstanden sie, dass da nichts war, aber sie waren sich nicht sicher, ob Liz es auch verstand, und somit war es doch denkbar, dass sie jemanden, der ihr sagte, dass da nichts war, für unehelich, dumm oder diebisch halten würde. Sie waren alle so verwirrt, zermarterten sich die Köpfe. War das Bild verzaubert, oder hatte einer Liz hereingelegt, oder hielt sie jedermann zum Besten? Der Umstand, dass inzwischen fast jeder, der an den Hof der Winterkönige kam, entweder unehelich oder dumm oder ein Dieb oder ein Mensch mit bösen Absichten war, machte die Sache nicht leichter.

Viele Besucher kamen ohnehin nicht mehr. Früher waren Leute gekommen, um Liz und Friedrich mit eigenen Augen zu sehen, und manche waren auch gekommen, um Versprechungen zu machen, denn wenn auch kaum jemand glaubte, dass Friedrich wieder über Böhmen herrschen würde, so war es doch auch nicht ganz unmöglich. Etwas zu versprechen kostete wenig; solange einer entmachtet war, musste man es nicht einlösen, stieg er aber wieder auf, so würde er sich an jene erinnern, die in dunklen Zeiten zu ihm gehalten hatten. Aber Versprechungen waren inzwischen das Einzige, was sie bekamen, keiner brachte mehr Geschenke, die wertvoll genug waren, um sie zu Geld zu machen.

Auch Christian von Braunschweig hatte sie mit unbewegtem Gesicht die weiße Leinwand gezeigt. Dumme, Hinterhältige und Uneheliche, hatte sie erklärt, könnten das herrliche Gemälde nicht sehen, und dann hatte sie mit schwer

beschreibbarem Vergnügen mitverfolgt, wie ihr in Tränen aufgelöster Verehrer immer wieder ratlos hinüber zur Wand geblickt hatte, wo das Bild spöttisch und leer seinem Pathos widerstand.

«Das ist das beste Geschenk, das mir je einer gemacht hat», sagte sie zu ihrem Narren.

«Das würde nicht viel heißen, kleine Liz.»

«John Donne hat mir eine Ode geschenkt. Fair phoenix bride hat er mich -»

«Kleine Liz, er wurde bezahlt, er hätte dich auch einen stinkenden Fisch genannt, wenn man ihm dafür Geld gegeben hätte. Was glaubst du, wie ich dich nennen würde, wenn du mich besser bezahlst!»

«Und vom Kaiser habe ich eine Rubinkette bekommen, vom König von Frankreich ein Diadem.»

«Kann ich's sehen?»

Sie schwieg.

«Hast du's verkaufen müssen?»

Sie schwieg.

«Und wer ist überhaupt Schonn Tonn? Was ist das für einer, und was ist ein Verwöhnix?»

Sie schwieg.

«Hast es dem Pfandleiher geben müssen, dein Diadem? Und die Kette vom Kaiser, kleine Liz, wer trägt die jetzt?»

Auch ihr armer König hatte nicht gewagt, etwas über das Bild zu sagen. Und als sie ihn kichernd darüber aufgeklärt hatte, dass es nur ein Scherz und die Leinwand nicht

verzaubert war, da hatte er bloß genickt und sie verunsichert betrachtet.

Sie hatte immer gewusst, dass er nicht der Klügste war. Von Anfang an war das offensichtlich gewesen, aber bei einem Mann seines Ranges war es nicht wichtig. Ein Fürst tat nichts, und wäre er ungewöhnlich klug, so wäre das nahezu ehrenrührig. Klug hatten Untergebene zu sein. Er war er selbst, das reichte, mehr war nicht nötig.

So war die Welt eingerichtet. Es gab ein paar wirkliche Menschen, und es gab den Rest: eine schattenhafte Armee, das Heer von Gestalten im Hintergrund, ein Volk von Ameisen, die über die Erde wimmelten und miteinander gemeinsam hatten, dass ihnen etwas fehlte. Sie wurden geboren und starben, waren wie die Flecken flatternden Lebens, aus denen ein Vogelschwarm bestand - verschwand einer, bemerkte man es kaum. Die Menschen, auf die es ankam, waren wenige.

Dass ihr armer Friedrich nicht der Klügste war und außerdem etwas kränklich, mit einer Neigung zu Magenweh und Ohrenschmerzen, hatte sich schon gezeigt, als er mit sechzehn nach London gekommen war, in weißem Hermelin, mit einem Hofstaat von vierhundert Leuten. Er war gekommen, weil die anderen Freier sich davongestohlen oder im entscheidenden Moment kein Angebot gemacht hatten; zuerst hatte der junge König von Schweden abgelehnt, dann Moritz von Oranien, dann Otto von Hessen. Dann hatte es für eine Weile den geradezu tollkühnen Plan gegeben, sie mit dem Prinzen von Piemont zu verheiraten, der zwar kein Geld hatte,

aber der Neffe des spanischen Königs war - Papas alter Traum von einer Versöhnung mit Spanien, aber die Spanier waren skeptisch geblieben, und auf einmal war nur mehr der deutsche Kurprinz Friedrich mit der großen Zukunft übrig gewesen. Monatelang war der pfälzische Kanzler zum Verhandeln in London gewesen, bis sie sich geeinigt hatten: vierzigtausend Pfund Mitgift von Papa nach Deutschland, dafür zehntausend Pfund jedes Jahr aus der Pfalz nach London.

Nach der Vertragsunterzeichnung war Friedrich selbst angereist, ganz starr vor Unsicherheit. Er hatte sich bei seiner Begrüßungsrede sofort verhaspelt; man merkte, wie erbärmlich sein Französisch war, und bevor die Peinlichkeit noch größer werden konnte, war Papa kurzerhand auf ihn zugetreten und hatte ihn umarmt. Dann hatte der arme Kerl ihr mit spitzen, trockenen Lippen den vom Protokoll vorgeschriebenen Begrüßungskuss gegeben.

Am nächsten Tag hatten sie eine Bootsfahrt mit der größten Barke des Hofes gemacht, nur Mama hatte nicht mitkommen wollen, weil sie einen pfälzischen Prinzen nicht standesgemäß fand. Zwar hatte der pfälzische Kanzler mit Hilfe läppischer Gutachten seiner Hofjuristen behauptet, dass ein Kurfürst im Rang eines Königs stand, aber jeder wusste, dass das blanker Unsinn war. Nur ein König war ein König.

Auf der Bootsfahrt hatte Friedrich an der Reling gelehnt und versucht, sich die Seekrankheit nicht anmerken zu lassen. Ganz kindliche Augen hatte er gehabt, aber er hatte so aufrecht gestanden, wie nur die besten Hofmeister es einem beibringen

können. Du bist sicher ein guter Fechter, hatte sie gedacht, und: Du bist nicht hässlich. Mach dir keine Sorgen, hätte sie ihm am liebsten zugeflüstert, ich bin jetzt bei dir.

Und jetzt, so viele Jahre später, konnte er noch immer perfekt dastehen. Was auch geschehen war, wie sehr man ihn erniedrigt und zum Gespött Europas gemacht hatte - aufrecht zu stehen, das vermochte er noch wie zuvor, den Kopf leicht in den Nacken gelegt, das Kinn erhoben, die Arme auf dem Rücken verschränkt, und auch seine schönen Kälberaugen hatte er noch.

Sie mochte ihren armen König gern. Sie konnte gar nicht anders. All die Jahre hatte sie mit ihm verbracht, ihm mehr Kinder geboren, als sie zählen konnte. Ihn nannte man den Winterkönig, sie die Winterkönigin, ihrer beider Schicksale waren unauflöslich verbunden. Damals auf der Themse hatte sie davon nichts geahnt, da hatte sie bloß gedacht, dass sie dem armen Jungen ein paar Dinge beibringen müsse, denn wenn man miteinander vermählt war, musste man auch miteinander sprechen. Mit dem da konnte das schwierig werden, der hatte von gar nichts eine Ahnung.

Ganz überwältigt musste er gewesen sein, so weit weg von seinem Heidelberger Schloss, fern von den Kühen der Heimat, von den spitzen Häusern und deutschen Leutchen, zum ersten Mal in einer Stadt. Und da stand er gleich vor all den schlauen, furchteinflößenden Herren und Damen und zu allem Überfluss vor Papa, der ohnehin jedem Angst machte.

Am Abend nach der Bootsfahrt hatten Papa und sie die

längste Unterredung ihres Lebens gehabt. Sie kannte ihren Vater kaum. Sie war nicht bei ihm, sondern bei Lord Harington auf Combe Abbey aufgewachsen, Familien von Rang erzogen ihre Kinder nicht selbst. Ihr Vater war ein Schatten in ihren Träumen gewesen, eine Gestalt auf Gemälden, eine Figur, die in Märchen vorkam - der Herr der zwei Königreiche England und Schottland, der Verfolger der gottlosen Hexer, der Schrecken Spaniens, der protestantische Sohn der hingerichteten katholischen Königin. Wenn man ihn traf, war man jedes Mal überrascht davon, dass er eine so lange Nase hatte und so geschwollene Tränensäcke. Seine Augen sahen immer aus, als blickte er nach innen und dächte nach, stets gab er einem das Gefühl, etwas Falsches gesagt zu haben. Aber das machte er absichtlich, das hatte er sich angewöhnt.

Es war ihr erstes richtiges Gespräch gewesen. Wie geht es dir, liebe Tochter? So war es sonst gegangen, wenn sie nach Whitehall gekommen war. Danke, mir geht es vortrefflich, lieber Vater. Deine Mutter und ich freuen uns, dich wohl zu sehen. Schwerlich so sehr, wie es mich freut, Euch, Vater, gesund zu sehen. Im Geist nannte sie ihn Papa, aber ihn so anzusprechen hätte sie sich nie getraut.

An diesem Abend waren sie zum ersten Mal miteinander allein gewesen. Papa stand am Fenster, die Arme auf dem Rücken. Eine ganze Weile sagte er kein Wort. Und weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte, schwieg auch sie.

«Der Tölpel hat eine große Zukunft», sagte er schließlich.

Wieder schwieg er. Er nahm irgendein Marmording vom

Regal, betrachtete es und stellte es zurück.

«Drei protestantische Kurfürsten gibt es», sagte er so leise, dass sie sich vorbeugen musste, «und der pfälzische, also deiner, ist der höchste im Rang, das Haupt der Protestantischen Union im Reich. Der Kaiser ist krank, bald gibt es in Frankfurt eine neue Kaiserwahl. Wenn unsere Seite bis dahin noch stärker wird ...» Er musterte sie. Seine Augen waren so klein und lagen so tief in ihren Höhlen, dass es einem vorkam, als blickte er einen gar nicht an.

«Ein calvinistischer Kaiser?», fragte sie.

«Nie. Undenkbar. Aber ein ehemals calvinistischer Kurfürst, der zum katholischen Glauben gefunden hat. So wie Frankreichs Heinrich einst katholisch geworden ist oder» - er tippte sich mit sanfter Geste an die Brust - «wie wir zu Protestanten. Das Haus Habsburg verliert an Einfluss. Spanien hat Holland fast schon eingebüßt, der böhmische Adel hat dem Kaiser die Religionstoleranz abgepresst.» Er schwieg erneut, dann fragte er: «Gefällt er dir denn?»

Die Frage kam so überraschend, dass sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Mit feinem Lächeln neigte sie den Kopf. Diese Geste funktionierte meist, die Leute waren dann zufrieden, ohne dass man sich auf etwas hätte festlegen müssen. Aber bei Papa verfing das nicht.

«Es ist ein Risiko», sagte er. «Du hast sie nicht gekannt, meine Tante, die Jungfrau, den alten Lindwurm. Als ich jung war, dachte niemand, dass ich ihr Nachfolger werden würde. Meine Mutter hatte sie köpfen lassen, und mich mochte sie

nicht sehr. Man dachte, dass sie auch mich umbringen lassen würde, aber es ist nicht passiert. Sie war deine Taufpatin, du trägst ihren Namen, aber zur Taufe ist sie nicht gekommen, ein Zeichen ihrer Abneigung gegen uns. Und trotzdem kam ich nach ihr in der Thronfolge. Niemand dachte, dass sie einen Stuart-König zulassen würde. Auch ich habe es nicht gedacht. Ich sterbe, bevor das Jahr vorbei ist, das dachte ich jedes Jahr, aber dann, am Ende jedes Jahres, war ich noch am Leben. Und hier bin ich, und sie fault im Grab. Also, scheu nicht das Risiko, Liz. Und vergiss nie, dass der arme Kerl tun wird, was du ihm sagst. Er ist dir nicht gewachsen.» Er überlegte, dann fügte er wie aus dem Nichts hinzu: «Das Schießpulver unterm Parlament, Liz. Wir könnten alle tot sein. Aber wir sind noch hier.»

Das war die längste Rede, die sie ihn je hatte halten hören. Sie wartete, doch anstatt weiterzusprechen, verschränkte er die Hände wieder auf dem Rücken und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.

Und sie blieb allein zurück. Sie blickte aus dem Fenster, aus dem eben noch er geblickt hatte, als könnte sie ihren Vater auf diese Art besser verstehen, und dachte ans Schießpulver. Es war erst acht Jahre her, dass die Meuchelmörder versucht hatten, Papa und Mama zu töten und das Land wieder katholisch zu machen. Tief in der Nacht hatte Lord Harington sie wach gerüttelt und gerufen: «Sie kommen!»

Sie hatte erst nicht gewusst, wo sie war und wovon er sprach, und als ihr Bewusstsein sich langsam aus den Nebeln

des Schlafs gelöst hatte, fiel ihr nur ein, wie ungehörig es war, dass dieser erwachsene Mann in ihrem Schlafzimmer stand. So etwas war noch nie passiert.

«Wollen sie mich töten?»

«Schlimmer. Erst müsst Ihr konvertieren, und dann setzen sie Euch auf den Thron.»

Dann waren sie gereist, eine Nacht, einen Tag, noch eine Nacht. Liz hatte neben ihrer Zofe in einer Kutsche gesessen, die so geruckelt hatte, dass sie sich mehrmals aus dem Fenster übergeben musste. Hinter der Kutsche ritt ein halbes Dutzend bewaffneter Männer, Lord Harington ritt vorneweg. Als sie in den frühen Morgenstunden rasteten, erklärte er ihr flüsternd, dass er selbst fast nichts wisse. Ein Bote sei gekommen und habe berichtet, dass eine Mörderbande, die ein Jesuit befehlige, nach Maria Stuarts Enkelin suche. Man wolle sie entführen und zur Königin machen. Ihr Vater sei wahrscheinlich tot, ihre Mutter ebenso.

«Es gibt doch keine Jesuiten in England. Meine Großtante hat sie fortgejagt!»

«Ein paar gibt es noch. Sie verstecken sich. Einer der schlimmsten heißt Tesimond, wir suchen ihn schon lange, aber immer ist er entkommen, und jetzt sucht er Euch.» Lord Harington stand stöhnend auf. Er war nicht mehr der Jüngste, und es fiel ihm schwer, stundenlang zu reiten. «Wir müssen weiter!»

Dann hatten sie sich in einem kleinen Haus bei Coventry versteckt, und Liz hatte das Zimmer nicht verlassen dürfen. Sie hatte nur eine Puppe dabeigehabt, keine Bücher, und vom zweiten Tag an war die Langeweile so quälend gewesen, dass sie sogar den Jesuiten Tesimond der Ödnis des Zimmers vorgezogen hätte: Immer dieselbe Kommode, dieselben Bodenfliesen, die sie so oft schon durchgezählt hatte, die dritte in der zweiten Reihe, vom Fenster aus gezählt, war gesprungen, ebenso wie die siebte in der sechsten Reihe, und dann das Bett und der Nachttopf, den zweimal täglich einer der Männer draußen leerte, und die Kerze, die sie nicht anzünden durfte, damit man das Licht nicht durchs Fenster sah, und auf einem Stuhl neben dem Bett die Zofe, die ihr schon dreimal ihr ganzes Leben erzählt hatte, in dem aber nie etwas Interessantes geschehen war. So schlimm konnte der Jesuit nicht sein. Er wollte ihr doch nichts antun, er wollte sie zur Königin machen!

«Eure Königliche Hoheit verstehen das falsch», sagte Harington. «Ihr wärt nicht frei. Ihr müsstet tun, was der Papst sagt.»

«Und jetzt muss ich tun, was Ihr sagt.»

«Richtig, und später werdet Ihr dankbar sein.»

Zu diesem Zeitpunkt hatte schon keine Gefahr mehr bestanden. Aber das hatte keiner von ihnen gewusst. Das Pulver unter dem Parlament war gefunden worden, bevor die Verschwörer es hatten anzünden können, ihre Eltern hatten unverletzt überlebt, die Katholiken waren gefangen, und die glücklosen Entführer waren nun selbst Gejagte und versteckten sich in den Wäldern. Aber weil sie das nicht wussten, blieb Liz noch sieben unendliche Tage in dem Raum mit den zwei gesprungenen Kacheln, sieben Tage neben der Zofe, die von ihrem uninteressanten Leben erzählte, sieben Tage ohne Bücher, sieben Tage mit nur einer Puppe, die sie schon ab dem dritten Tag mehr hasste, als sie je den Jesuiten hätte hassen können.

Sie hatte nicht gewusst, dass Papa sich unterdessen der Verschwörer annahm. Er ließ nicht nur die besten Folterer seiner zwei Königreiche kommen, sondern auch drei Schmerzexperten aus Persien und den versiertesten Quäler des Kaisers von China. Alle Arten von Pein, von denen bekannt war, dass ein Mensch sie anderen Menschen antun kann, befahl er den Gefangenen anzutun, und dazu ließ er Torturen erfinden, die man bisher nicht erahnt hatte. An alle Fachleute erging die Aufforderung, Foltern zu ersinnen, feiner und fürchterlicher, als die größten Maler des Infernos sie erträumt hatten, Bedingung war bloß, dass das Seelenlicht dabei nicht erlöschen und dass man davon nicht verrückt werden durfte: Die Täter mussten schließlich noch ihre Mitwisser nennen, und sie sollten Zeit haben, Gott um Vergebung zu bitten und zu bereuen. Denn Papa war ein guter Christ.

Inzwischen hatte der Hof eine Hundertschaft Soldaten geschickt, um Liz zu beschützen. Aber ihr Versteck war so gut, dass die Soldaten es ebenso wenig finden konnten, wie die Verschwörer es gefunden hätten. So vergingen die Tage. Und noch mehr Tage vergingen und dann noch mehr, und mit einem Mal hatte die Langeweile nachgelassen, und Liz in ihrem

Zimmer kam es vor, als ob sie nun etwas vom Wesen der Zeit verstehen würde, das sie zuvor nicht begriffen hatte: Es verging ja nichts. Alles war. Alles blieb. Und selbst wenn die Dinge sich änderten, so geschah es immer in dem einen, gleichen, sich nie verändernden Jetzt.

Auf den Fluchten, die später kamen, dachte sie oft an diese erste Flucht zurück. Nach der Niederlage am Weißen Berg schien es ihr, als hätte sie sich früh darauf vorbereitet und als wäre ihr das Fliehen von alters her vertraut. «Faltet die Seide», rief sie, «lasst das Geschirr liegen, nehmt lieber das Leinen, das ist unterwegs mehr wert. Und was die Bilder angeht, so nehmt die spanischen und lasst die böhmischen da, die Spanier malen besser!» Und zu ihrem armen Friedrich sagte sie: «Mach dir nichts draus. Man läuft weg, man hockt eine Weile im Versteck, und dann kommt man zurück.»

Denn damals in Coventry war es ja so gewesen. Sie hatten irgendwann erfahren, dass die Gefahr gebannt war, und waren gerade rechtzeitig zum großen Dankgottesdienst zurück nach London gekommen. Die Straßen zwischen Westminster und Whitehall waren gefüllt mit Jubelnden. Dann führten die King's Men ein Theaterstück auf, das der Prinzipal eigens für den Anlass geschrieben hatte. Es handelte von einem Schottenkönig, den ein Schurke tötet, ein Mann mit schwarzer Seele, angetrieben von Hexen, die lügen, indem sie die Wahrheit sagen. Ein schwarzes Stück war es, voller Feuer und Blut und Teufelskraft, und als es zu Ende war, wusste sie, dass sie es nie wieder sehen wollte, obgleich es vielleicht das beste

Stück ihres Lebens gewesen war.

Aber ihr armer dummer Mann wollte ihr nicht zuhören, damals auf der Flucht aus Prag. Er war zu entsetzt über den Verlust seiner Armee und seines Thrones und murmelte nur wieder und wieder, dass es ein Fehler gewesen sei, die böhmische Krone anzunehmen. Alle, auf die es ankam, hätten ihm gesagt, dass es ein Fehler sei, alle und immer wieder, aber in seiner Dummheit habe er auf die Falschen gehört.

Damit meinte er natürlich sie.

«Ich habe auf die Falschen gehört!», sagte er wieder, gerade laut genug, dass sie es verstehen konnte, während die Kutsche - die unauffälligste, die sie hatten - die Hauptstadt verließ.

Da begriff sie, dass er ihr das nicht verzeihen würde. Aber er würde sie trotzdem lieben, wie sie ihn ja auch liebte. Das Wesen der Ehe bestand nicht nur darin, dass man Kinder hatte, es bestand auch aus all den Verwundungen, die man einander zugefügt, all den Fehlern, die man miteinander gemacht hatte, all den Dingen, die man einander für immer übel nahm. Er würde ihr nicht verzeihen, dass sie ihn dazu gebracht hatte, die Krone anzunehmen, wie sie ihm nicht verzeihen würde, dass er von Anfang an zu dumm für sie gewesen war. Alles wäre einfacher gewesen, wäre er nur etwas schneller im Kopf gewesen. Am Anfang hatte sie gedacht, sie würde es ändern können, aber dann hatte sie eingesehen, dass da nichts zu machen war. Der Schmerz darüber war nie ganz abgeklungen, und wann immer er mit seinen wohlgelernt festen Schritten

einen Raum betrat oder wenn sie in sein schönes Gesicht blickte, spürte sie zugleich mit der Liebe einen kleinen Stich.

Sie lüftete den Vorhang und sah aus dem Kutschenfenster. Prag: die zweite Hauptstadt der Welt, das Zentrum der Gelehrsamkeit, der alte Kaisersitz, das östliche Venedig. Trotz der Dunkelheit erkannte man die Umrisse des Hradschin, erhellt vom Abglanz unzähliger Feuerzungen.

«Wir werden zurückkommen», sagte sie, obwohl sie es schon jetzt nicht mehr glaubte. Aber sie wusste, dass man eine Flucht nur ertragen konnte, wenn man sich an einem Versprechen festhielt. «Du bist der König von Böhmen, Gott will es so. Du kommst zurück.»

Und so schlimm es auch war, so gab es doch etwas an diesem Moment, das ihr gefiel. Er erinnerte sie ans Theater: Staatsaktionen, eine Krone, die von einem Haupt zum anderen wechselte, eine große verlorene Schlacht. Was fehlte, war ein Monolog.

Denn auch da hatte Friedrich versagt. Als er sich hastig von den vor Sorge bleichen Gefolgsleuten verabschiedet hatte, wäre der Augenblick für eine Ansprache gewesen, da hätte er auf einen Tisch steigen und reden müssen. Irgendwer hätte es sich gemerkt, irgendwer es mitgeschrieben und weitererzählt. Eine große Rede hätte ihn unsterblich gemacht. Aber natürlich war ihm nichts eingefallen, er hatte etwas Unverständliches gemurmelt, und schon waren er und sie zur Tür hinaus, auf dem Weg ins Exil. Und all die edlen böhmischen Herren, deren Namen sie nie hatte aussprechen können, all die

Wrschwitschky, Prtschkatrt und Tschrrkattrr, die ihr der für die tschechische Sprache zuständige Hofmeister bei jedem Empfang ins Ohr geflüstert hatte, ohne dass sie sie je hätte wiederholen können, würden den Anbruch des neuen Jahres nicht mehr erleben. Der Kaiser verstand keinen Spaß.

«Ist schon gut», flüsterte sie in der Kutsche, ohne es zu meinen, denn es war nicht gut. «Ist schon gut, ist gut, es ist schon gut!»

«Ich hätte die verfluchte Krone nicht annehmen dürfen!»

«Ist schon gut.»

«Auf die Falschen hab ich gehört.»

«Es ist schon gut!»

«Kann man noch zurück?», flüsterte er. «Es irgendwie ändern, kann man das? Ein Astrologe? Es müsste doch gehen, mit Hilfe der Sterne, was denkst du?»

«Ja, vielleicht», antwortete sie, ohne zu wissen, was er sagen wollte. Und als sie ihm übers tränennasse Gesicht strich, fiel ihr seltsamerweise ihre Hochzeitsnacht ein. Nichts hatte sie gewusst, niemand hatte es für nötig erachtet, einer Prinzessin so etwas zu erklären, während ihm offenbar irgendwer gesagt hatte, dass es doch ganz einfach sei, man müsse die Frau nur nehmen, sie werde erst scheu sein, aber dann begreife sie; mit Kraft und Bestimmtheit müsse man ihr kommen wie dem Gegner in der Schlacht. An diesen Rat hatte er sich wohl halten wollen. Aber als er sie plötzlich packte, dachte sie, er wäre verrückt geworden, und da er einen Kopf kleiner war als sie, schüttelte sie ihn ab und sagte: «Lass den Unsinn!» Er

versuchte es wieder, und sie stieß ihn so heftig weg, dass er gegen die Anrichte taumelte: Eine Karaffe zerbrach, und zeit ihres Lebens erinnerte sie sich an die Pfütze auf den steinernen Intarsien, auf der drei Rosenblätter schwammen wie kleine Schiffchen. Es waren drei gewesen, das wusste sie noch genau.

Er richtete sich auf und versuchte es wieder.

Und da sie gemerkt hatte, dass sie stärker war, rief sie nicht um Hilfe, sondern hielt nur seine Handgelenke fest. Er konnte sich nicht befreien. Keuchend zerrte er, keuchend hielt sie ihn, mit vor Schreck geweiteten Augen starrten sie einander an.

«Lass es», sagte sie.

Er begann zu weinen.

Und wie später in der Kutsche flüsterte sie: «Ist schon gut, ist gut, es ist schon gut!», und setzte sich auf den Bettrand und strich ihm über den Kopf.

Er fasste sich, probierte es ein letztes Mal und griff an ihre Brust. Sie gab ihm eine Ohrfeige, fast erleichtert ließ er ab. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. Er seufzte. Dann rollte er sich zusammen, schlüpfte so tief unter die Decke, dass auch sein Kopf nicht mehr zu sehen war, und schlief sofort ein.

Nur ein paar Wochen später zeugten sie ihren ersten Sohn.

Er war ein freundliches Kind, wach und wie durchstrahlt, er hatte helle Augen und eine klare Stimme, und er war schön wie sein Vater und klug wie Liz, und sie erinnerte sich deutlich an sein Schaukelpferd und an ein kleines Schloss, das er aus hölzernen Klötzchen errichtet hatte, und daran, wie er mit hoher fester Stimme englische Lieder sang, angeleitet von ihr.

Mit fünfzehn Jahren ertrank er unter einem gekenterten Fährschiff. Ihr waren schon vorher Kinder gestorben, aber noch keines so spät. Wenn sie klein waren, erwartete man es fast täglich, aber an dieses hatte sie sich fünfzehn Jahre lang gewöhnt, er war vor ihren Augen herangewachsen, und dann, auf einmal, war er dahin. Immer musste sie an ihn denken, immer an die Momente, in denen er unter dem umgedrehten Kahn gefangen gewesen war, doch wenn sie es fertigbrachte, eine kurze Weile nicht an ihn zu denken, dann träumte sie nur umso deutlicher von ihm.

Aber davon wusste sie noch nichts in der Hochzeitsnacht, und sie wusste es auch nicht später in der Kutsche, als sie aus Prag flohen; erst jetzt wusste sie es, in dem Haus bei Den Haag, das sie ihre Residenz nannten, obwohl es nur eine Villa mit zwei Stockwerken war: unten das Wohnzimmer, das sie den Empfangs- und manchmal auch Thronsaal nannten, und eine Küche, die sie den Gesindetrakt nannten, und den kleinen Anbau, den sie die Stallungen nannten, und ihr Schlafzimmer im ersten Stock, das sie die Wohnräume nannten. Davor war ein Garten, den sie den Park nannten, umgeben von einer zu selten geschnittenen Hecke.

Sie hatte nie den Überblick, wie viele Leute gerade bei ihnen wohnten. Es gab Zofen, es gab einen Koch, es gab den Grafen Hudenitz - ein alter Dummkopf, der mit ihnen aus Prag geflohen war und den Friedrich kurzerhand zum Kanzler ernannt hatte -, es gab einen Gärtner, der auch Stallmeister war, was nicht viel hieß, da sie im Stall kaum Tiere hatten, und

es gab einen Lakaien, der mit lauter Stimme die Gäste ankündigte und danach das Essen servierte. Eines Tages fiel ihr auf, dass der Lakai und der Koch einander nicht etwa ähnelten, wie sie bisher gedacht hatte, sondern ein und derselbe waren, wieso hatte sie das nicht vorher bemerkt? Das Gesinde lebte im Gesindetrakt, außer dem Koch, der in der Halle schlief, und dem Gärtner, der mit seiner Frau im Thronsaal übernachtete, wenn es denn seine Frau war, Liz war sich nicht sicher, es war unter der Würde einer Königin, sich mit derlei Dingen zu befassen, aber die Frau war rundlich und liebenswürdig und eine zuverlässige Aufpasserin für die Kinder. Nele und der Narr wiederum schliefen oben im Korridor, oder vielleicht schliefen sie auch gar nicht, schlafen sah Liz sie nie. Haushaltsführung war nicht ihre Stärke, das überließ sie dem Haushofmeister, der übrigens auch kochte.

«Kann ich den Narren mit nach Mainz nehmen?», fragte Friedrich.

«Was willst du mit dem Narren?»

Er müsse dort wie ein Herrscher auftreten, erklärte er in seiner umständlichen Art. Zu einem Hofstaat gehöre nun mal ein Narr.

«Na, wenn du glaubst, dass das hilft.»

Und so reisten sie ab, ihr Mann und der Narr und Graf Hudenitz und dann auch noch, damit das Gefolge nicht zu klein aussah, der Koch. Sie sah sie davonziehen vor dem grauen Novemberhimmel. Vom Fenster aus sah sie ihnen nach, bis sie außer Sicht waren. Einige Zeit verging, die Bäume bewegten

sich kaum merklich im Wind. Sonst rührte sich nichts.

Sie setzte sich auf ihren alten Lieblingsplatz, den Stuhl zwischen Fenster und Kamin, in dem es schon lang kein Feuer mehr gegeben hatte. Gern hätte sie die Zofe um noch eine Decke gebeten, aber leider war die Zofe vorgestern fortgelaufen. Es würde sich eine neue finden. Immer gab es irgendwelche Bürgerlichen, die wollten, dass ihre Tochter einer Königin diente - sogar wenn es eine Spottkönigin war, von der lustige Bildchen kursierten. In katholischen Landen behauptete man, dass sie mit jedem Edelmann von Prag geschlafen hatte, das wusste sie schon lange, und sie konnte nichts anderes dagegen tun, als besonders würdig und freundlich und königlich zu sein. Sie und Friedrich waren mit der Reichsacht belegt worden, und wer sie töten wollte, durfte das, ohne dass irgendein Priester ihm dafür Segen und Seligkeit versagt hätte.

Es begann zu schneien. Sie schloss die Augen und pfiff leise vor sich hin. Die Leute nannten ihren armen Friedrich den Winterkönig, aber wenn es kalt wurde, fror er ganz fürchterlich. Bald würde der Schnee im Garten kniehoch liegen, und niemand würde den Weg freischaufeln, denn auch ihr Gärtner hatte sich davongemacht. Sie würde Christian von Braunschweig schreiben und pour Dieu et pour elle um ein paar Männer zum Schneeschaufeln bitten.

Sie dachte an den Tag, der alles geändert hatte. Der Tag, an dem der Brief gekommen war und mit ihm das Verhängnis. All die Unterschriften: weit ausschwingend, ein Name so

unaussprechlich wie der andere. Herren, von denen sie nie gehört hatte, boten dem Kurfürsten Friedrich die Krone Böhmens an. Sie wollten ihren alten König nicht mehr, der in Personalunion auch der Kaiser war; ihr neuer Herrscher sollte Protestant sein. Um ihren Entschluss zu besiegeln, hatten sie die kaiserlichen Statthalter aus dem Fenster des Prager Schlosses geworfen.

Nur waren die in einen Haufen Scheiße gefallen und hatten überlebt. Unter Schlossfenstern gab es immer viel Scheiße, das lag an all den Nachttöpfen, die täglich geleert wurden. Das Dumme war bloß, dass daraufhin im ganzen Land die Jesuiten predigten, ein Engel habe die Statthalter aufgefangen und sanft zu Boden gesetzt.

Kaum war der Brief gekommen, schrieb Friedrich an Papa.

Liebster Schwiegersohn, antwortete Papa per reitendem Kurier, mach es auf keinen Fall.

Dann fragte Friedrich die Fürsten der Protestantischen Union. Tagelang kamen Boten, atemlose Männer auf dampfenden Pferden, und in jedem Brief stand das Gleiche: Seid nicht dumm, kurfürstliche Durchlaucht, macht es nicht.

Friedrich fragte jeden, den er finden konnte. Man müsse es genau durchdenken, erklärte er immer wieder. Böhmen sei nicht Teil des Reichsgebietes, die Krone anzunehmen sei also nach Meinung maßgeblicher Rechtsgelehrter kein Verstoß wider den Gefolgschaftseid gegenüber der Kaiserlichen Majestät.

Mach es nicht, schrieb Papa wieder.

Jetzt erst fragte er Liz. Sie hatte schon darauf gewartet, sie war vorbereitet.

Es war später Abend, und sie waren im Schlafzimmer, umgeben von reglos in der Luft stehenden Flämmchen - nur die teuersten Wachskerzen brannten so still.

«Sei nicht dumm», sagte auch sie. Dann ließ sie einen langen Augenblick verstreichen und fügte hinzu: «Wie oft wird einem eine Krone angeboten?»

Das war der Moment, der ihr Leben verändert hatte, der Moment, den er ihr nie verzieh. Ein Leben lang sollte sie es vor sich sehen: ihr Himmelbett mit dem Wappen der Wittelsbacher auf dem Baldachin, die Kerzenflammen, die sich in der Karaffe auf dem Nachttisch spiegelten, das gewaltige Gemälde von einer Frau mit kleinem Hund an der Wand. Später wusste sie nicht mehr, wer es gemalt hatte, es war auch egal, sie hatten es nicht mitgenommen nach Prag, es war verloren.

«Wie oft wird einem eine Krone angeboten? Wie oft passiert es, dass es ein gottgefälliges Werk ist, sie anzunehmen? Man hat den böhmischen Protestanten den Toleranzbrief gegeben, dann hat man ihn zurückgenommen, immer enger zieht sich die Schlinge. Nur du kannst ihnen helfen.»

Auf einmal war ihr, als wäre dieses Schlafzimmer mit Himmelbett, Wandgemälde und Karaffe eine Bühne und als spräche sie vor einem Saal voll gebannt schweigender Zuschauer. Der Prinzipal fiel ihr ein, die schwebende Zaubergewalt seiner Sätze; ihr war, als umgäben sie die Schatten künftiger Geschichtsschreiber, als wäre es nicht sie, die sprach, sondern die Schauspielerin, die später, in einem Stück, in dem dieser Moment vorkam, die Aufgabe hatte, Prinzessin Elisabeth Stuart darzustellen. In dem Stück ging es um die Zukunft der Christenheit und um ein Königtum und einen Kaiser. Wenn sie ihren Mann überzeugte, würde der Lauf der Welt eine Richtung nehmen, und wenn sie ihn nicht überzeugte, so würde es eine andere Richtung sein.

Sie stand auf, ging mit gemessenen Schritten auf und ab und hielt ihren Monolog.

Sie sprach von Gott und von Pflichten. Sie sprach vom Glauben der einfachen Menschen und vom Glauben der Weisen. Sie sprach von Calvin, der allen Menschen beigebracht hatte, das Leben nicht leichtzunehmen, sondern als Prüfung, vor der man jeden Tag versagen konnte, und hatte man versagt, so war man ein Versager in Ewigkeit. Sie sprach davon, dass man Wagnisse mit Stolz und Mut eingehen müsse, sie sprach von Julius Cäsar, der mit den Worten, nun seien die Würfel in der Luft, den Rubikon überschritten hatte.

«Cäsar?»

«Lass mich ausreden!»

«Aber ich wäre nicht Cäsar, ich wäre sein Feind. Ich wäre bestenfalls Brutus. Der Kaiser ist Cäsar!»

«In diesem Vergleich bist du Cäsar.»

«Der Kaiser ist Cäsar, Liz. Cäsar heißt Kaiser! Es ist das gleiche Wort.»

Vielleicht sei es das gleiche Wort, rief sie, aber das ändere nichts daran, dass in diesem Vergleich Cäsar nicht der Kaiser

sei, auch wenn Cäsar Kaiser heiße, sondern es sei der Mann, der den Rubikon überschritten und die Würfel geworfen habe, und wenn man das so sehe, dann sei Cäsar er, Friedrich, weil er seine Feinde besiegen werde, und nicht der Kaiser in Wien, auch wenn der den Titel Cäsar trage!

«Aber Cäsar hat seine Feinde nicht besiegt. Seine Feinde haben ihn erstochen!»

«Jeder kann jeden erstechen, das heißt nichts! Aber sie sind vergessen, und Cäsars Name lebt fort!»

«Ja, und weißt du, wo? Im Wort Kaiser!»

«Wenn du König von Böhmen bist und ich Königin, schickt Papa uns Hilfe. Und wenn die Union der protestantischen Fürsten sieht, dass die Engländer Prag schützen, werden sie sich um uns sammeln. Die Krone Böhmens ist der Tropfen, der den Ozean -»

«Das Fass! Ein Tropfen lässt das Fass überlaufen. Ein Tropfen im Ozean, das steht für Vergeblichkeit. Du meinst einen Tropfen ins Fass!»

«Herrgott, diese Sprache!»

«Das hat nichts mit Deutsch zu tun, das ist Logik.»

Da hatte sie die Geduld verloren und geschrien, dass er still sein und zuhören solle, und er hatte eine Entschuldigung gemurmelt und war verstummt. Und sie hatte alles noch einmal gesagt: Rubikon, Würfel, Gott mit uns, und sie merkte mit Stolz, dass es beim dritten Mal besser klang, jetzt hatte sie die richtigen Sätze beisammen.

«Dein Vater wird Soldaten schicken?»

Sie sah ihm in die Augen. Das war der Augenblick, jetzt lag alles bei ihr: Alles, was ab jetzt geschehen würde, all die Jahrhunderte, die ganze unermessliche Zukunft, alles hing ab von ihrer Antwort.

«Er ist mein Vater, er lässt mich nicht im Stich.»

Und obwohl sie wusste, dass sie das gleiche Gespräch am nächsten und übernächsten Tag wieder führen würden, so wusste sie doch auch, dass die Entscheidung getroffen war und dass man sie in Prags Kathedrale krönen und dass sie ein Hoftheater haben würde mit den besten Schauspielern der Welt.

Sie seufzte. Dahin hatte sie es leider nie gebracht. Sie hatte die Zeit nicht gehabt, dachte sie zwischen Fenster und kaltem Kamin, während sie die Flocken fallen sah. Der eine Winter hatte nicht genügt. Ein Hoftheater aufzubauen brauchte Jahre. Ihrer beider Krönung immerhin war so erhebend gewesen, wie sie es sich vorgestellt hatte, und danach hatte sie sich von den besten Malern Böhmens, Mährens und Englands ins Bild setzen lassen, und sie hatte von goldenen Tellern gegessen und Umzüge durch die Stadt angeführt, und als Cherubim verkleidete Jungen hatten ihre Schleppe getragen.

Unterdessen hatte Friedrich Briefe an Papa geschickt: Der Kaiser wird kommen, lieber Vater, er wird ohne Zweifel kommen, wir brauchen Schutz.

Papa hatte zurückgeschrieben und ihnen Kraft und Stärke gewünscht, er hatte Gottes Segen auf sie herabbeschworen, er hatte ihnen Ratschläge zur Gesundheit, zur Dekoration des

Thronsaals und zur guten Regentschaft gegeben, er hatte sie seiner ewigen Liebe versichert, er hatte versprochen, immer für sie da zu sein.

Aber Soldaten hatte er keine geschickt.

Und als Friedrich ihm endlich flehend geschrieben hatte, dass er Hilfe brauche, um Gottes und Christi willen, da hatte Papa geantwortet, dass niemals auch nur eine Sekunde vergehen werde, in denen seine liebsten Kinder nicht Inhalt seines ganzen Hoffens und Bangens seien.

Weil er aber keine Soldaten geschickt hatte, hatte auch die Protestantische Union keine geschickt, und so war ihnen nur das Heer Böhmens geblieben, das sich in Prunk und Stahl vor der Stadt gesammelt hatte.

Vom Hradschin aus sah sie es marschieren, und mit kaltem Schrecken wurde ihr klar, dass diese blitzenden Lanzen, diese Schwerter und Hellebarden nicht einfach bloß irgendwelche glänzenden Dinge waren, sondern Klingen. Es waren Messer, geschliffen zu dem einzigen Zweck, Menschenfleisch zu schneiden, Menschenhaut zu durchstoßen und Menschenknochen zu zersplittern. Die Leute, die dort drunten so schön im Gleichschritt gingen, würden diese langen Messer anderen in die Gesichter stoßen, und selbst würden sie Messer in Bäuche und Hälse gestoßen bekommen, und so mancher von ihnen würde von gegossenen Stahlklumpen getroffen werden, die so schnell flogen, dass sie Köpfe abrissen, Glieder zerschmetterten, Bäuche durchschlugen. Und Hunderte Eimer Blut, das noch in diesen Männern floss, würde bald nicht mehr

in ihnen sein, es würde verspritzen, verrinnen, schließlich versickern; was machte eigentlich die Erde mit all dem Blut, wusch der Regen es aus, oder war es ein Düngemittel, das besondere Pflanzen wachsen ließ? Ein Arzt hatte ihr gesagt, dass der letzte Samen der Sterbenden kleine Alraunenmännchen zeugte, lebendig zitternde Wurzelwesen, die wie Säuglinge schrien, wenn man sie aus dem Boden zog.

Und plötzlich wusste sie, dass diese Armee verlieren würde. Sie wusste es mit einer Sicherheit, die sie schwindeln machte; noch nie hatte sie in die Zukunft gesehen, und es gelang ihr auch später nicht mehr, aber in diesem Augenblick war es keine Vorahnung, sondern die klarste Gewissheit: Diese Männer würden sterben, fast alle von ihnen, bis auf jene, die verkrüppelt und die, die einfach davonlaufen würden, und dann würden Friedrich und sie und die Kinder nach Westen fliehen, und ein Leben im Exil läge vor ihnen, denn auch nach Heidelberg könnten sie nicht zurück, der Kaiser würde es nicht erlauben.

Und genauso war es gekommen.

Von einem protestantischen Hof zogen sie zum nächsten, mit immer weniger Gefolge und immer weniger Geld, unter dem Schatten der Reichsacht und der aberkannten Kurwürde, denn Friedrichs katholischer Cousin in Bayern war nach des Kaisers Willen nun Kurfürst statt seiner. Das hätte der Kaiser laut der Goldenen Bulle gar nicht anordnen dürfen, aber wer hätte ihn hindern sollen, des Kaisers Feldherren gewannen jede Schlacht. Papa hätte wohl helfen können, und tatsächlich schrieb er voller Wohlwollen und Sorge, regelmäßig und in schönstem Stil. Aber Soldaten schickte er nicht. Auch riet er ihnen, nicht nach England zu kommen, die Lage sei wegen der Verhandlungen mit Spanien gerade nicht günstig, immerhin stünden spanische Truppen jetzt in der Pfalz, um von dort aus den Krieg gegen Holland fortzusetzen - wartet noch zu, meine Kinder, Gott ist mit den Gerechten und das Glück mit den Anständigen, verliert nicht den Mut, kein Tag vergeht, an dem nicht für Euch betet Euer Vater Jakob.

Und weiterhin gewann der Kaiser Schlacht um Schlacht. Er besiegte die Union, er besiegte den König von Dänemark, und zum ersten Mal schien es möglich, dass der Protestantismus wieder verschwinden würde aus Gottes Welt.

Aber dann landete der Schwede Gustav Adolf, der Liz nicht hatte heiraten wollen, und gewann. Jede Schlacht gewann er, und jetzt stand er vor Mainz im Winterquartier, und nach langem Zögern hatte Friedrich ihm geschrieben, in schwungvollen Zügen und mit königlichem Siegel, und nur zwei Monate später war ein Brief mit ebenso großem Siegel zurück nach Den Haag gekommen: Wir freuen uns, Euch wohl zu wissen, und hoffen auf Euren Besuch.

Der Augenblick war nicht der beste. Friedrich war erkältet, sein Rücken schmerzte. Aber es gab nur einen Menschen, der sie zurück in die Pfalz und vielleicht sogar zurück nach Prag bringen konnte, und wenn der einen zu sich beschied, so musste man gehen.

«Muss ich wirklich?»

«Ja, Fritz.»

«Er hat mir aber keine Befehle zu geben.»

«Natürlich nicht.»

«Ich bin König wie er.»

«Natürlich, Fritz.»

«Aber muss ich gehen?»

«Ja, Fritz.»

Und so war er losgezogen, mit dem Narren, dem Koch und Hudenitz. Es war auch wirklich Zeit, dass die Dinge sich änderten, vorgestern hatte es Grütze zu Mittag gegeben und Brot zu Abend und gestern Brot zu Mittag und abends nichts. Die holländischen Generalstaaten waren ihrer so überdrüssig, dass sie ihnen kaum noch genug Geld zum Überleben gaben.

Sie blinzelte ins Schneegestöber. Kalt war es geworden. Da sitze ich, dachte sie, Königin von Böhmen, Kurfürstin der Pfalz, Tochter des Königs von England, Nichte des Königs von Dänemark, Großnichte der jungfräulichen Elisabeth, Enkelin der Maria von Schottland, und kann mir kein Feuerholz leisten.

Sie bemerkte, dass Nele neben ihr stand. Für einen Moment überraschte sie das. Warum war die denn nicht mit ihrem Mann gegangen, falls er überhaupt ihr Mann war?

Nele machte einen Knicks, stellte einen Fuß spitz vor den anderen, breitete die Arme aus und spreizte die Finger.

«Heute wird nicht getanzt», sagte Liz. «Heute reden wir.»

Nele nickte ergeben.

«Wir erzählen. Ich dir, du mir. Was willst du wissen?»

«Madame?»

Sie war etwas ungepflegt, und sie hatte die grobe Statur und das derbe Gesicht ihres niederen Standes, aber sie war doch hübsch: klare, dunkle Augen, seidiges Haar, geschwungene Hüften. Nur ihr Kinn war zu breit, und die Lippen waren ein wenig zu wulstig.

«Was willst du wissen?», wiederholte Liz. Sie spürte ein Stechen in der Brust, halb Furcht, halb Erregung. «Frag, was du willst.»

«Das steht mir nicht zu, Madame.»

«Wenn ich es sage, steht es dir zu.»

«Mich stört es nicht, dass die Leute über mich und den Tyll lachen. Denn das ist unser Beruf.»

«Das ist keine Frage.»

«Die Frage ist, tut es Eurer Majestät weh?»

Liz schwieg.

«Dass alle lachen, Madame, tut das weh?»

«Ich verstehe dich nicht.»

Nele lächelte.

«Du hast dich entschlossen, mich etwas zu fragen, das ich nicht verstehe. Wie du willst, ich habe dir eine Antwort gegeben, jetzt bin ich an der Reihe. Ist der Narr dein Mann?»

«Nein, Madame.»

«Wieso nicht?»

«Braucht es einen Grund?»

«Das braucht tatsächlich einen, ja.»

«Wir sind zusammen weggelaufen. Sein Vater wurde als Hexer verurteilt, und ich wollte nicht bleiben, ich wollte nicht

einen Steger heiraten, drum bin ich mit ihm weg.»

«Warum wolltest du nicht heiraten?»

«Immer Dreck, Madame, und abends kein Licht. Kerzen sind zu teuer. Man sitzt im Dunkeln und isst Grütze. Immer Grütze. Und den Steger-Sohn hab ich auch nicht gemocht.»

«Aber den Tyll?»

«Ich sag doch, er ist nicht mein Mann.»

«Jetzt bist du wieder dran mit Fragen», sagte Liz.

«Ist es schlimm, wenn man nichts hat?»

«Woher soll ich das wissen! Sag du es mir!»

«Es ist nicht leicht», sagte Nele. «Kein Schutz, heimatlos durchs Land, kein Haus gegen den Wind. Jetzt habe ich eines.»

«Wenn ich dich fortschicke, hast du keines mehr. Also, ihr seid zusammen geflohen, aber warum ist er nicht dein Mann?»

«Ein Bänkelsänger hat uns mitgenommen. Auf dem nächsten Marktflecken haben wir einen Gaukler getroffen, den Pirmin. Von ihm haben wir das Geschäft gelernt, aber er war gemein und hat uns nicht genug zu essen gegeben, und geschlagen hat er uns auch. Wir sind nach Norden gezogen, weg vom Krieg, sind fast bis zum Meer gekommen, aber dann sind die Schweden gelandet, und wir sind in den Westen ausgewichen.»

«Du und Tyll und Pirmin?»

«Da waren wir wieder zu zweit.»

«Seid ihr dem Pirmin davongelaufen?»

«Der Tyll hat ihn umgebracht. Darf jetzt wieder ich fragen, Madame?»

Liz schwieg einen Augenblick. Neles Deutsch war bäuerlich

und seltsam, vielleicht hatte sie etwas falsch verstanden. «Ja», sagte sie dann, «jetzt darfst wieder du fragen.»

«Wie viele Dienerinnen hattet Ihr früher?»

«Gemäß meinem Ehevertrag hatte ich dreiundvierzig Bediente nur für mich, darunter sechs adelige Kammerfrauen, von denen jede vier Zofen hatte.»

«Und heute?»

«Jetzt bin ich wieder dran. Warum ist er nicht dein Mann? Magst du ihn nicht?»

«Er ist wie ein Bruder und Eltern. Er ist alles, was ich habe. Und ich bin alles, was er hat.»

«Aber du willst ihn nicht zum Mann?»

«Bin ich wieder dran, Madame?»

«Ja, bist du.»

«Habt Ihr ihn zum Mann gewollt, Madame?»

«Wen?»

«Seine Majestät. Haben Eure Majestät Seine Majestät zum Mann für Eure Majestät gewollt, als Eure Majestät ihn geheiratet haben?»

«Das ist was anderes, Mädchen.»

«Warum?»

«Es war eine Staatsangelegenheit, mein Vater und die beiden Außenminister haben monatelang verhandelt. Und deshalb wollte ich ihn, noch bevor ich ihn gesehen hatte.»

«Und als Eure Majestät ihn gesehen haben?»

«Da wollte ich ihn erst recht», sagte Liz mit gerunzelter Stirn. Dieses Gespräch gefiel ihr nicht mehr.

«Seine Majestät ist ja auch ein sehr majestätischer Herr.»

Liz blickte ihr scharf ins Gesicht.

Nele erwiderte ihren Blick mit weit offenen Augen. Es war nicht zu erkennen, ob sie sich über sie lustig machte.

«Jetzt kannst du tanzen», sagte Liz.

Nele machte einen Knicks, dann begann sie. Ihre Schuhe klickerten auf dem Parkett, ihre Arme schwangen, ihre Schultern drehten sich, ihre Haare flogen. Es war einer der schwierigen Tänze nach neuester Mode, und sie machte es so anmutig, dass Liz bedauerte, keinen Musiker mehr zu haben.

Sie schloss die Augen, hörte dem Klappern von Neles Schuhen zu und überlegte, was sie als Nächstes verkaufen sollte. Ein paar Bilder waren noch da, darunter ihr Porträt, gemalt von jenem freundlichen Mann aus Delft, und das von dem eingebildeten Wicht mit dem großen Schnurrbart, der mit solchem Pomp seine Pinsel geschwungen hatte; sie fand sein Bild etwas unbeholfen, aber es war vermutlich viel wert. Ihren Schmuck hatte sie bereits weggegeben, doch es gab noch ein Diadem und zwei oder drei Ketten, die Lage war nicht aussichtslos.

Das Klappern hatte aufgehört, sie öffnete die Augen. Sie war allein im Raum. Wann war Nele gegangen? Wieso nahm sie sich das heraus? Niemand durfte sich aus der Gegenwart eines Souveräns entfernen, ohne entlassen worden zu sein.

Sie blickte nach draußen. Auf dem Rasen lag bereits eine dicke Schicht Schnee, die Äste der Bäume bogen sich. Aber hatte es nicht gerade erst zu schneien begonnen? Auf einmal

war sie sich nicht mehr sicher, wie lange sie schon hier saß, in diesem Stuhl beim Fenster neben dem kalten Kamin, die geflickte Decke auf den Knien. War Nele eben noch da gewesen, oder war das eine Weile her? Und wie viele Leute hatte Friedrich nach Mainz mitgenommen, wer war ihr geblieben?

Sie versuchte nachzuzählen: Der Koch war bei ihm, der Narr auch, die zweite Zofe hatte um eine Woche Urlaub gebeten, um ihre kranken Eltern aufzusuchen, wahrscheinlich würde sie nicht zurückkommen. Vielleicht gab es in der Küche noch jemanden, vielleicht nicht, wie sollte man das wissen, sie war noch nie in der Küche gewesen. Einen Nachtwächter gab es auch - so vermutete sie, aber da sie nachts nicht aus dem Schlafzimmer ging, hatte sie ihn nie gesehen. Der Mundschenk? Er war ein feiner älterer Herr, sehr distinguiert, aber jetzt kam es ihr auf einmal so vor, als wäre er seit langer Zeit schon nicht mehr aufgetaucht, entweder war er in Prag geblieben oder irgendwo auf ihrem Weg von Exil zu Exil gestorben - wie ja auch Papa gestorben war, ohne dass sie ihn noch einmal gesehen hatte, und plötzlich regierte in London ihr Bruder, den sie kaum kannte und von dem erst recht nichts zu erwarten war.

Sie horchte. Nebenan knisterte und klickte etwas, aber als sie die Luft anhielt, um besser zu hören, konnte sie es nicht mehr ausmachen. Es war ganz still.

«Ist jemand da?»

Keiner antwortete.

Irgendwo gab es eine Glocke. Wenn sie die läutete, tauchte jemand auf, so war es immer, so gehörte es sich, ihr ganzes Leben war es so gewesen. Aber wo war sie, diese Glocke?

Vielleicht würde sich alles bald ändern. Wenn Gustav Adolf und Friedrich, also der Mann, den sie fast, und der, den sie dann wirklich geheiratet hatte, sich einigen würden, dann würde es wieder Feste in Prag geben, dann könnten sie zurückkehren ins hohe Schloss, am Ende des Winters, wenn der Krieg wieder begann. Denn so war es jedes Jahr: Wenn Schnee fiel, machte der Krieg Pause, und wenn die Vögel zurückkamen und die Blumen sprossen und das Eis die Bäche freigab, ging auch der Krieg wieder los.

Ein Mann stand im Zimmer.

Das war merkwürdig - zum einen, weil sie nicht geläutet, und zum anderen, weil sie diesen Mann noch nie gesehen hatte. Einen Augenblick fragte sie sich, ob sie sich fürchten sollte. Meuchelmörder waren durchtrieben, überall konnten sie sich einschleichen, nirgendwo war man sicher. Aber dieser Mann sah nicht gefährlich aus, und er verbeugte sich, wie es sich gehörte, und dann sagte er etwas, das allzu befremdlich war für einen Mörder.

«Madame, der Esel ist weg.»

«Was für ein Esel? Und wer ist Er?»

«Wer der Esel ist?»

«Nein, wer Er ist. Wer ist ... Er.» Sie zeigte auf ihn, aber der Idiot verstand nicht. «Wer bist du?»

Er redete eine Weile. Es fiel ihr schwer, ihn zu verstehen,

denn ihr Deutsch war noch immer nicht gut, und das seine war besonders grob. Erst allmählich kam sie darauf, dass er ihr zu erklären versuchte, dass er für den Stall zuständig sei und dass der Narr den Esel gleich nach seiner Rückkehr mitgenommen habe. Den Esel und Nele, die hatte er auch mitgenommen. Zu dritt seien sie abgereist.

«Nur einen Esel? Die anderen Tiere sind noch da?»

Er antwortete, sie verstand ihn nicht, er antwortete noch einmal, und sie begriff, dass es keine anderen Tiere gab. Der Stall war jetzt leer. Deshalb, erklärte der Mann, stehe er ja vor ihr, er brauche eine neue Aufgabe.

«Aber wieso ist der Narr überhaupt zurückgekommen, was ist mit Seiner Majestät? Ist Seine Majestät auch zurückgekommen?»

Bloß der Narr sei zurückgekommen, sagte der Mann, der des leeren Stalles wegen kein Stallmeister mehr war, und dann sei er wieder gegangen, mit Frau und Esel. Den Brief habe er dagelassen.

«Einen Brief? Zeig her!»

Der Mann griff in die rechte Hosentasche, griff in die linke, kratzte sich, griff wieder in die rechte, fand ein gefaltetes Stück Papier. Um den Esel tue es ihm leid, sagte er. Der sei ein ungewöhnlich kluges Tier gewesen, der Narr habe kein Recht gehabt, ihn mitzunehmen. Er habe ja versucht, ihn daran zu hindern, aber der Kerl habe ihm einen abscheulichen Streich gespielt. Es sei sehr peinlich, und er wolle nicht darüber reden.

Liz entfaltete den Zettel. Er war zerknittert und fleckig, die

Buchstaben waren schwarz verschmiert. Aber sie erkannte die Handschrift auf den ersten Blick.

Für einen Moment, in dem sie ihn mit einem Teil ihres Verstandes schon überflogen hatte und mit einem anderen Teil noch nicht, war ihr danach, den Brief zu zerreißen und einfach zu vergessen, dass sie ihn bekommen hatte. Aber natürlich ging das nicht. Sie nahm ihre Kraft zusammen, ballte die Fäuste und las.

Gustav Adolf hatte kein Recht, ihn warten zu lassen. Nicht nur, weil es nicht die feine Art war. Nein, er durfte es buchstäblich nicht. Wie man sich anderen königlichen Personen gegenüber benahm, stand einem nicht frei, da gab es strenge Regeln. Die Wenzelskrone war älter als die Krone Schwedens, und Böhmen war das ältere und reichere Land, also genoss der Herrscher über Böhmen einem Schwedenkönig gegenüber Seniorität - gar nicht zu reden davon, dass ein Kurfürst ebenfalls Königsrang hatte, darüber hatte der pfälzische Hof einst ein Gutachten erstellen lassen, das war erwiesen. Nun war er zwar mit der Reichsacht belegt, aber der schwedische König hatte dem Kaiser, der die Acht verhängt hatte, den Krieg erklärt, und die Protestantische Union hatte die Aberkennung der Kurwürde nie akzeptiert, daher musste der Schwedenkönig ihn als Kurfürsten behandeln, und als solcher war er ihm gleichgestellt - eine Gleichstellung im allgemeinen Fürstenrang, und wenn man die Anciennität der Familie gelten ließ, war das pfälzische Haus zweifellos mehr wert als das Haus Wasa. Wie man es also wendete, es ging nicht an, dass Gustav Adolf ihn warten ließ.

Dem König schmerzte der Kopf. Ihm fiel das Atmen schwer. Auf den Geruch des Lagers war er nicht vorbereitet gewesen. Er hatte gewusst, dass es nicht sauber zuging, wenn Abertausende Soldaten mitsamt ihrem Tross an einem Ort

lagerten, und er erinnerte sich noch an den Geruch seiner eigenen Armee, die er vor Prag befehligt hatte, bevor sie verschwunden war, versickert im Boden, verflogen wie Rauch, aber so wie das hier war es damals nicht gewesen, so etwas hatte er sich nicht vorgestellt. Man hatte das Lager schon gerochen, als es noch gar nicht in Sichtweite gewesen war, eine Ahnung von Schärfe und Bitternis über der entvölkerten Landschaft.

«Gott, wie das stinkt», hatte der König gesagt.

«Schlimm», hatte der Narr geantwortet. «Schlimm, schlimm, schlimm. Solltest dich waschen, Winterkönig.»

Der Koch und die vier Soldaten, die ihm die holländischen Generalstände widerstrebend zum Schutz mitgegeben hatten, hatten dumm gelacht, und der König hatte für einen Moment überlegt, ob er sich das bieten lassen durfte, aber dafür waren Narren schließlich da, so gehörte es sich, wenn man König war. Die Welt behandelte einen mit Respekt, aber dieser eine durfte alles sagen.

«Waschen soll sich der König», sagte der Koch.

«An den Füßen», rief ein Soldat.

Der König sah den neben ihm reitenden Grafen Hudenitz an, aber da dessen Gesicht unbewegt blieb, konnte er so tun, als hätte er es nicht gehört.

«Auch hinter den Ohren», sagte ein anderer Soldat, und wieder lachten alle außer dem Grafen und dem Narren.

Der König wusste nicht, was er tun sollte. Richtig wäre es gewesen, nach dem unverschämten Kerl zu schlagen, aber er fühlte sich nicht gut, seit Tagen hatte er Husten, und was, wenn dieser Mensch zurückschlug? Der Soldat unterstand schließlich den Generalständen, nicht ihm. Andererseits konnte er sich doch nicht von Leuten beleidigen lassen, die nicht seine Hofnarren waren.

Dann hatten sie von einer Hügelkuppe aus das Lager gesehen, und der König hatte seine Wut vergessen, und die Soldaten hatten nicht mehr daran gedacht, ihn zu verspotten. Wie eine weiße, im Wind wabernde Stadt hatte es zu ihren Füßen gelegen - eine Stadt, durch deren Häuser eine sanfte Bewegung ging, ein Hin und Her, ein Gleiten und Wogen. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte man, dass die Stadt aus Zelten bestand.

Der Geruch wurde stärker, je näher sie kamen. Er biss in die Augen, er stach in der Brust, und wenn man sich ein Tuch vors Gesicht hielt, drang er durch das Gewebe. Der König kniff die Augen zusammen, es würgte ihn. Er versuchte, flach zu atmen, aber umsonst, man entkam dem Geruch nicht, es würgte ihn stärker. Er bemerkte, dass es Graf Hudenitz ebenso ging, und auch die Soldaten pressten die Hände vor die Gesichter. Der Koch war leichenblass. Selbst der Narr hatte nicht mehr seinen üblichen frechen Ausdruck.

Das Erdreich war aufgewühlt, die Pferde sanken ein, sie stapften wie durch tiefen Morast. Unrat häufte sich dunkelbraun am Wegesrand, der König versuchte, sich zu sagen, dass es wohl nicht das sei, was er vermutete, aber er wusste, es war genau das: der Kot von hunderttausend

Menschen.

Nicht nur danach stank es. Es stank auch nach Wunden und Geschwüren, nach Schweiß und nach allen Krankheiten, welche die Menschheit kannte. Der König blinzelte. Ihm schien, als könnte man den Geruch sogar sehen, eine giftige gelbe Verdichtung der Luft.

«Wohin?»

Ein Dutzend Kürassiere versperrte ihnen den Weg - große, beherrscht wirkende Männer mit Helmen und Brustharnisch, wie der König sie seit seinen Tagen in Prag nicht gesehen hatte. Er sah Graf Hudenitz an. Graf Hudenitz sah die Soldaten an. Die Soldaten sahen den König an. Irgendwer musste sprechen, musste ihn ankündigen.

«Seine böhmische Majestät und Kurfürstlich-Pfalzgräfische Durchlaucht», sagte der König schließlich selbst. «Auf dem Weg zu eurem obersten Herrn.»

«Wo ist Seine böhmische Majestät?», fragte einer der Kürassiere. Er sprach sächsischen Dialekt, und der König musste sich in Erinnerung rufen, dass auf schwedischer Seite nur wenige Schweden kämpften - wie auch im dänischen Heer kaum Dänen waren und damals vor Prag bloß ein paar hundert Tschechen gestanden hatten.

«Hier», sagte der König.

Der Kürassier sah ihn belustigt an.

«Ich bin es. Seine Majestät. Das bin ich.»

Auch die anderen Kürassiere grinsten.

«Was gibt's zu lachen?», fragte der König. «Wir haben einen

Geleitbrief, eine Einladung des Königs von Schweden. Bringt mich sofort zu ihm.»

«Ist ja schon gut», sagte der Kürassier.

«Ich dulde keine Respektlosigkeit», sagte der König.

«Alles recht», sagte der Kürassier. «Komm einfach mit, Majestät.»

Und dann hatte er sie durch die äußeren Kreise des Lagers in die inneren geführt. Während der Gestank, der doch schon derart pestilenzhaft gewesen war, dass man hätte glauben mögen, er könne nicht noch stärker werden, immer stärker wurde, kamen sie an den Planwagen des Trosses vorbei: Deichseln ragten in die Luft, kranke Pferde lagen auf dem Boden, Kinder spielten im Dreck, Frauen stillten Säuglinge oder wuschen Kleider in Zubern mit braunem Wasser. Das waren die käuflichen Soldatenbräute, aber es waren auch die Ehefrauen, mit denen so mancher Söldner reiste. Wer eine Familie hatte, brachte sie mit in den Krieg, wo sonst hätte sie bleiben sollen?

Da sah der König etwas Grausiges. Er blickte darauf, erkannte es erst nicht, es widersetzte sich gleichsam, aber wenn man länger darauf blickte, ordnete es sich, und man verstand. Schnell blickte er woandershin. Neben sich hörte er Graf Hudenitz stöhnen.

Es waren tote Kinder. Wohl keines älter als fünf, die meisten noch kein Jahr alt. Da lagen sie aufgehäuft und verfärbt, blonde, braune und rote Haare, und wenn man genau hinsah, stand manches Augenpaar offen, vierzig oder mehr, und die

Luft dunkel von Fliegen. Als sie vorbei waren, verspürte der König den Drang, sich umzudrehen, denn obgleich er das nicht sehen wollte, wollte er es doch sehen, aber er widerstand.

Jetzt waren sie im inneren Lager, bei den Soldaten. Zelte standen neben Zelten, Männer saßen um Feuer, brieten Fleisch, spielten Karten, schliefen auf dem Boden, tranken. Alles wäre normal gewesen, hätte man nicht so viele Kranke gesehen: Kranke im Schlamm, Kranke auf Strohsäcken, Kranke auf Wagen - nicht bloß Verwundete, sondern Männer mit Geschwüren, Männer mit Beulen im Gesicht, Männer mit tränenden Augen und sabbernden Mündern, nicht wenige lagen reglos und verkrümmt da, man hätte nicht sagen können, ob sie schon tot waren oder im Sterben lagen.

Der Gestank war kaum mehr erträglich. Der König und seine Begleiter pressten sich die Hände vor die Nasen; alle versuchten sie, nicht zu atmen, nur wenn es anders nicht ging, schnappten sie hinter den Handflächen Luft. Den König würgte es wieder, er nahm alle Kraft zusammen, aber es würgte ihn noch stärker, und dann musste er sich vom Pferd hinab übergeben. Sofort ging es Graf Hudenitz und dem Koch und dann auch einem der holländischen Soldaten genauso.

«Fertig?», fragte der Kürassier.

«Das heißt, Eure Majestät», sagte der Narr.

«Eure Majestät», sagte der Kürassier.

«Er ist fertig», sagte der Narr.

Als sie weiterritten, schloss der König die Augen. Das half ein wenig, denn tatsächlich roch man weniger, wenn man nichts

sah. Aber man roch noch genug. Er hörte jemanden etwas sagen, dann hörte er Rufe, dann hörte er Lachen von allen Seiten, aber es war ihm egal; mochten sie sich über ihn lustig machen. Er wollte nur diesen Gestank nicht mehr ertragen müssen.

Und so hatte man ihn mit geschlossenen Augen zum königlichen Zelt gebracht, im Zentrum des Lagers, bewacht von einem Dutzend Schweden in voller Montur, der Leibwache des Königs, die hier stand, um unzufriedene Soldaten abzuwehren. Die schwedische Krone kam immer wieder mit dem Sold in Rückstand. Selbst wenn man alle Schlachten gewann und alles nahm, was das gewonnene Land bot, war der Krieg kein Geschäft, das sich trug.

«Ich bring einen König», sagte der Kürassier, der sie geführt hatte.

Die Wächter lachten.

Der König hörte seine eigenen Soldaten in das Lachen einfallen. «Graf Hudenitz!», sagte er mit schärfster Kommandostimme. «Dass das insolente Verhalten ein Ende hat!»

«Zu Befehl, Eure Majestät», murmelte der Graf, und merkwürdigerweise wirkte es, und die dummen Schweine verstummten.

Der König stieg vom Pferd. Ihm war schwindlig, er beugte sich vornüber und hustete eine Weile. Einer der Wächter schlug die Zeltplane zurück, und der König trat mit seinen Begleitern ein.

Das war vor einer halben Ewigkeit gewesen. Zwei Stunden, vielleicht drei, warteten sie schon, auf niedrigen Bänkchen ohne Lehne, und der König wusste nicht mehr, wie er den Umstand, dass man ihn hier sitzen ließ, weiterhin übersehen sollte; aber er musste ihn unbedingt übersehen, denn eigentlich hätte er aufstehen und gehen müssen, doch niemand außer diesem Schweden konnte ihn zurück nach Prag bringen. Ob es wohl damit zu tun hatte, dass der Kerl Liz hatte heiraten wollen? Dutzende Briefe hatte er geschrieben, Liebesschwüre ohne Zahl, wieder und wieder hatte er sein Porträt geschickt, aber sie hatte ihn nicht gewollt. Daran lag es wohl. Das war seine kleinliche Rache.

Immerhin, vielleicht würde sein Vergeltungsbedürfnis nun gestillt sein. Vielleicht war das ein gutes Zeichen. Womöglich bedeutete das Warten, dass Gustav Adolf ihm helfen würde. Er rieb sich die Augen. Wie immer, wenn er aufgeregt war, fühlten seine Hände sich weich an, und in seinem Magen war ein Brennen, das kein Kräutertee lindern konnte. Damals, während des Kampfes vor Prag, war es so stark geworden, dass er sich seiner Koliken halber vom Schlachtfeld hatte entfernen müssen; daheim, umgeben von Dienern und Höflingen, hatte er auf den Ausgang gewartet, die schlimmste Stunde seines bisherigen Lebens - nur dass alles, was danach kommen sollte, jede einzelne Stunde, jeder Moment, noch viel schlimmer gewesen war.

Er hörte sich seufzen. Der Wind über ihnen ließ die Zeltplane knattern, draußen hörte er Männerstimmen, irgendwo schrie

jemand, entweder ein Verwundeter oder ein Mann, der an der Pest starb, in allen Lagern gab es Pestkranke. Davon sprach keiner, denn keiner wollte daran denken, man konnte nichts dagegen tun.

«Tyll», sagte der König.

«König?», sagte der Narr.

«Mach etwas.»

«Wird dir die Zeit lang?»

Der König schwieg.

«Weil er dich so lang warten lässt, weil er dich wie seinen Abdecker behandelt, wie seinen Friseur, wie seinen Scheißstuhlputzer, deshalb langweilst du dich, und ich soll dir etwas bieten, richtig?»

Der König schwieg.

«Das mach ich gern.» Der Narr beugte sich vor. «Sieh mir in die Augen.»

Zweifelnd blickte der König den Narren an. Die spitzen Lippen, das dünne Kinn, das gescheckte Wams, die Kappe aus Kälberfell; einmal hatte er ihn gefragt, warum er diesen Aufzug trage, ob er sich wohl als Tier verkleiden wolle, worauf der Narr geantwortet hatte: «O nein, als Mensch!»

Dann tat er wie geheißen und sah ihm in die Augen. Er blinzelte. Unangenehm war es, denn er war es nicht gewohnt, den Blick eines anderen Menschen auszuhalten. Aber alles war besser, als darüber sprechen zu müssen, dass der Schwede ihn warten ließ, und er hatte den Narren schließlich um Unterhaltung gebeten, und ein wenig war er jetzt auch

neugierig darauf, was er im Schilde führte. Er unterdrückte den Wunsch, die Augen zu schließen, er sah den Narren an.

Ihm fiel die weiße Leinwand ein. Sie hing in seinem Thronsaal und hatte ihm zunächst viel Freude gemacht. «Sag den Leuten, dass dumme Menschen das Bild nicht sehen, sag ihnen, nur Hochwohlgeborene sehen es, sag es einfach, und du wirst ein Wunder erleben!» Es war zum Brüllen gewesen, wie die Besucher sich verstellt und das weiße Bild kennerisch angeschaut und genickt hatten. Natürlich hatten sie nicht behauptet, das Bild tatsächlich zu sehen, niemand war so ungeschickt, und fast allen war sehr wohl klar, dass da bloß eine weiße Leinwand hing. Aber erstens waren sie sich eben doch nicht ganz sicher, ob nicht irgendeine Magie wirkte, und zweitens wussten sie ja nicht, ob Liz und er womöglich daran glaubten - und von einem König der Dummheit oder der niederen Abkunft verdächtigt zu werden, war letztlich genauso schlimm, wie dumm oder von niederer Abkunft zu sein.

Selbst Liz hatte nichts gesagt. Selbst sie, seine wunderbare, schöne, aber letztlich nicht immer sehr kluge Gemahlin, hatte das Bild angesehen und geschwiegen. Selbst sie war sich nicht sicher gewesen, natürlich nicht, sie war nur eine Frau.

Er hatte sie darauf ansprechen wollen. Liz, hatte er sagen wollen, lass den Unsinn, spiel mir nichts vor! Aber plötzlich hatte er es nicht gewagt. Denn wenn sie daran glaubte, ein klein wenig nur, wenn auch sie dachte, die Leinwand wäre verzaubert, was würde sie dann von ihm denken?

Und wenn sie zu anderen davon sprach? Wenn sie etwa

sagte: Seine Majestät, mein Gemahl, der König, er hat auf der Leinwand kein Bild gesehen, wie stand er dann da? Sein Status war fragil, er war ein König ohne Land, ein Vertriebener, ganz und gar angewiesen darauf, was man von ihm dachte, was sollte er tun, wenn sich herumsprach, dass in seinem Thronsaal ein magisches Bild hing, das nur Hochwohlgeborene sehen konnten, er aber nicht? Natürlich war da kein Bild, es war ein Scherz des Narren gewesen, aber jetzt, wo die Leinwand dort hing, hatte sie ihre eigene Macht entfaltet, und der König hatte mit Schrecken gemerkt, dass er sie weder abhängen noch irgendetwas darüber sagen konnte - weder konnte er behaupten, dass er ein Gemälde sah, wo kein Gemälde war, denn einen sichereren Weg, sich als Hohlkopf auszuweisen, gab es nicht, noch konnte er aussprechen, dass die Leinwand weiß war, denn wenn die anderen glaubten, dass dort ein verzaubertes Bild hing, dessen Macht die Niederen und Dummen entlarvte, so reichte das schon, ihn vollends zu blamieren. Nicht einmal zu seiner armen, lieben, beschränkten Frau konnte er davon sprechen. Es war vertrackt. Das alles hatte ihm der Narr angetan.

Wie lange starrte der Narr ihn jetzt schon an? Er fragte sich, was der Kerl wohl vorhatte. Ganz blau waren Tylls Augen. Sehr hell waren sie, fast wässrig, sie schienen schwach aus sich heraus zu leuchten, und in der Mitte des Augapfels war ein Loch. Dahinter war - ja, was? Dahinter war Tyll. Dahinter war die Seele des Narren, das, was er war.

Wieder wollte der König die Augen schließen, aber er hielt

dem Blick stand. Ihm wurde klar, dass das, was nach einer Seite hin passierte, auch auf der anderen geschah: So, wie er ins Innerste des Narren sah, so sah der jetzt in ihn.

Völlig unpassenderweise fiel ihm der Moment ein, als er zum ersten Mal seiner Gemahlin ins Auge gesehen hatte, am Abend nach ihrer Vermählung. Wie schüchtern sie gewesen war, wie furchtsam. Sie hatte sich die Hände vor das Mieder gehalten, das er eben aufschnüren wollte, aber dann hatte sie aufgeblickt, und er hatte ihr Gesicht im Kerzenschein gesehen, zum ersten Mal aus der Nähe, und da hatte er geahnt, wie es ist, wirklich eins zu sein mit einem anderen; aber als er die Arme ausgebreitet hatte, um sie an sich zu ziehen, war er gegen die Karaffe mit Rosenwasser auf dem Nachttisch gestoßen, und das Klirren der Scherben hatte den Bann gebrochen: Die Pfütze auf dem Ebenholzparkett, er sah sie noch vor sich, und darauf treibend, wie kleine Schiffchen, die Rosenblätter. Es waren fünf gewesen. Das wusste er noch genau.

Dann hatte sie zu weinen begonnen. Offenbar hatte ihr niemand erklärt, was in einer Hochzeitsnacht zu geschehen hatte, und so hatte er von ihr abgelassen, denn obgleich ein König stark sein musste, war er vor allem stets sanftmütig gewesen, und sie waren nebeneinander eingeschlafen wie Geschwister.

In einem anderen Schlafzimmer, daheim in Heidelberg, hatten sie später über die große Entscheidung beraten. Nacht für Nacht, wieder und wieder, hatte sie gezaudert und

abgeraten, wie es Frauenart war von alters her, und immer von neuem hatte er ihr erklärt, dass man ein solches Angebot nicht ohne den Willen Gottes bekomme und dass man sich dem Schicksal fügen müsse. Aber der Kaiser, hatte sie immer wieder gerufen, was denn mit dessen Zorn sei, niemand stehe gegen den Kaiser auf, und er hatte ihr geduldig erklärt, was ihm seine Juristen so überzeugend dargelegt hatten: dass die Annahme der böhmischen Krone kein Bruch des Reichsfriedens sei, weil Böhmen nicht zum Reich gehöre.

Und so hatte er sie schließlich überzeugt, wie er alle anderen überzeugt hatte. Er hatte ihr klargemacht, dass Böhmens Thron dem gebühre, den Böhmens Stände zum König wollten, und deshalb hatten sie Heidelberg verlassen und waren in Prag eingezogen, und nie würde er den Tag der Krönung vergessen, die gewaltige Kathedrale, den riesigen Chor, und bis heute hallte es in seinem Inneren wider: Du bist jetzt ein König, Fritz. Du bist einer der Großen.

«Nicht die Augen schließen», sagte der Narr.

«Mach ich nicht», sagte der König.

«Sei still», sagte der Narr, und der König fragte sich, ob er es durchgehen lassen durfte, Narrenfreiheit hin oder her, das ging zu weit.

«Was ist eigentlich mit dem Esel», fragte er, um den Narren zu ärgern. «Kann der schon was?»

«Der spricht bald wie ein Prediger», sagte der Narr.

«Und was sagt er?», fragte der König. «Was kann er schon?»

Vor zwei Monaten hatte er in Gegenwart des Narren über die

wundersamen Vögel des Orients gesprochen, die ganze Sätze bilden könnten, sodass man vermeine, Menschen redeten zu einem. Er hatte davon in Athanasius Kirchers Buch über die Tierwelt Gottes gelesen, und seither ließ der Gedanke an sprechende Vögel ihn nicht los.

Aber der Narr hatte gesagt, dass nichts dazugehöre, einen Vogel das Reden zu lehren; wenn man nur ein wenig geschickt sei, könne man jedes Tier zum Schwatzen bringen. Tiere seien klüger als Menschen, deswegen verhielten sie sich still, sie seien darauf bedacht, nicht wegen jedem Unsinn in Schwierigkeiten zu geraten. Sobald man einem Vieh aber gute Gründe biete, gebe es die Stille auf, das könne er jederzeit beweisen im Austausch gegen gute Speise.

«Gute Speise?»

Nicht für sich selbst, hatte der Narr beteuert, sondern für das Tier. So mache man es, man stecke Essen in ein Buch, und das lege man dem Tier wieder und wieder und wieder vor, mit Geduld und Stärke. Aus Gier blättere es die Seiten um und bekomme dabei mehr und mehr von der Menschensprache mit, nach zwei Monaten habe man Resultate.

«Welchem Tier denn?»

«Es lässt sich mit jedem machen. Nur zu klein darf es nicht sein, sonst hört man seine Stimme nicht. Mit Würmern kommt man nicht weit. Auch Insekten sind nicht gut, sie fliegen immer weg, bevor sie einen Satz zu Ende haben. Katzen widersprechen immer, und bunte Orientvögel, wie der weise Herr Jesuit sie beschreibt, gibt es hier nicht. Bleiben also

Hunde, Pferde und Esel.»

«Wir haben kein Pferd mehr, und der Hund ist weggelaufen.»

«Ist nicht schade um ihn. Aber der Esel im Stall. Ich brauche ein Jahr, dann kann ich ihm -»

«Zwei Monate!»

«Das ist nicht viel.»

Nicht ohne Häme hatte der König den Narren daran erinnert, dass er selbst gerade von zwei Monaten gesprochen habe. Das sei die Zeit, die er bekomme, mehr nicht, und wenn in zwei Monaten kein Resultat zu sehen sei, so könne er sich auf eine Tracht Prügel von biblischem Ausmaß gefasst machen.

«Ich brauche aber Essen, um es ins Buch zu legen», hatte der Narr fast kleinlaut geantwortet. «Und zwar nicht wenig.»

Zwar wusste der König, dass sie immer zu wenig Essen hatten. Aber er hatte die elende weiße Leinwand an der Wand betrachtet und seinem Narren, der schon seit einer Weile größeren Raum in seinem Geiste einnahm, als es vernünftig war, mit tückischer Vorfreude zugesagt, dass er so viel Essen haben könne, wie er für das Vorhaben brauche, wenn nur der Esel in zwei Monaten sprechen würde.

Tatsächlich hatte der Narr den Anschein gewahrt. Jeden Tag war er mit Hafer, Butter und einer Schale honiggesüßter Grütze sowie einem Buch im Stall verschwunden. Einmal hatte den König die Neugier überwältigt, und gegen alle Schicklichkeit war er nachsehen gegangen und hatte den Narren auf dem Boden sitzend vorgefunden, das offene Buch auf den Knien, während der Esel gutmütig neben ihm ins

Nichts starrte.

Es gehe ganz fein voran, hatte der Narr sofort beteuert, das I und das A hätten sie schon, und bereits übermorgen sei mit dem nächsten Laut zu rechnen. Dann hatte er meckernd gelacht, und der König, der sich nun doch seines Interesses für diesen ganzen Unsinn geschämt hatte, hatte sich wortlos zurückgezogen, um sich den Staatsgeschäften zu widmen, was in der tristen Wirklichkeit bedeutete, dass er eine erneute Bitte um militärischen Beistand an seinen Schwager in England und eine erneute Bitte um Geld an die holländischen Generalstände aufgesetzt hatte, wie immer ohne Hoffnung.

«Also, was sagt er jetzt», wiederholte der König, während er in die Augen des Narren sah, «was kann er schon sagen?»

«Der Esel spricht gut, aber er spricht ohne rechten Sinn. Er weiß wenig, er hat nichts gesehen von der Welt, gib ihm noch Zeit.»

«Keinen Tag mehr als ausgemacht!»

Der Narr kicherte. «In die Augen, König, sieh mir in die Augen, und jetzt sag allen, was du siehst!»

Der König räusperte sich, um zu antworten, aber da fiel ihm das Sprechen schwer. Dunkel war es, Farben und Formen setzten sich zusammen, er sah sich wieder vor der englischen Familie stehen: der bleiche Jakob, sein gefürchteter Schwiegervater, die dänische Schwiegermutter Anna, ganz starr vor Dünkel, und seine Braut, die er kaum anzusehen wagte. Dann wurde ein Wirbeln und Schwanken stärker und ließ wieder nach, und er wusste nicht mehr, wo er war.

Er musste husten, und als er wieder Luft bekam, stellte er fest, dass er auf dem Boden lag. Männer umstanden ihn. Er sah sie nur verschwommen. Etwas Weißes war über ihnen, es war die Zeltplane, gehalten von Stangen, die im Wind leichte Wellen schlug. Jetzt erkannte er Graf Hudenitz, den Federhut gegen die Brust gedrückt, das Gesicht faltig vor Sorge, neben ihm der Narr, daneben der Koch, daneben einer der Soldaten, daneben ein grinsender Kerl in schwedischer Uniform. War er ohnmächtig geworden?

Der König streckte die Hand aus, Graf Hudenitz packte zu und half ihm auf die Beine. Er schwankte, seine Beine gaben wieder nach, der Koch hielt ihn von der anderen Seite, bis er stand. Ja, ohnmächtig war er geworden. Im unpassendsten Moment, im Zelt von Gustav Adolf, den er mit Stärke und Schlauheit davon überzeugen musste, dass ihrer beider Geschicke verknüpft waren, war er umgefallen wie eine Frau im engen Mieder.

«Meine Herren!», hörte er sich sagen. «Applaudiert dem Narren!»

Er bemerkte, dass seine Hemdbrust verdreckt war, der Kragen, die Jacke, die Orden an der Brust. Hatte er sich auch noch besudelt?

«Klatscht für Tyll Ulenspiegel!», rief er. «Was für ein Kunststück! Was für ein tolles Ding.» Er fasste dem Narren ans Ohr, es fühlte sich weich und spitz und unangenehm an, er ließ es wieder los. «Aber pass auf, dass wir dich nicht den Jesuiten geben, das grenzt an Hexerei, was für ein Trick!»

Der Narr schwieg. Sein Lächeln stand schief in seinem Gesicht. Wie immer konnte der König den Ausdruck nicht deuten.

«Er ist ein Zauberer, mein Narr. Holt Wasser, säubert mir das Gewand, steht nicht herum.» Der König lachte gequält.

Graf Hudenitz machte sich mit einem Tuch an seiner Hemdbrust zu schaffen; während er wischte und rieb, schwebte sein faltiges Gesicht viel zu nahe vor dem des Königs.

«Man muss sich vorsehen bei dem Kerl», rief der König. «Schneller putzen, Hudenitz. Vorsehen muss man sich! Kaum schaut er mir in die Augen, schon bin ich umgefallen, was für ein Zauberer, was für ein Trick!»

«Du bist von allein umgefallen», sagte der Narr.

«Den Trick musst du mir beibringen!», rief der König. «Gleich wenn der Esel das Reden gelernt hat, will ich auch den Trick lernen.»

«Du bringst einem Esel das Reden bei?», fragte einer der Holländer.

«Wenn einer wie du reden kann und wenn auch der dumme König dauernd redet, warum soll dann ein Esel nicht reden?»

Der König hätte dem Narren gern eine Ohrfeige gegeben, aber er fühlte sich zu schwach, also fiel er ins Gelächter der Soldaten ein, und da wurde ihm wieder schwindlig. Der Koch stützte ihn.

Und genau in diesem gänzlich ungeeigneten Moment schlug jemand die Plane zum angrenzenden Raum zurück, und ein Mann im roten Ornat des Haushofmeisters trat heraus und maß

den König mit einem Blick herablassender Neugier.

«Seine Majestät lassen bitten.»

«Endlich», sagte der König.

«Wie?», fragte der Zeremonienmeister. «Was war das?»

«Es wurde auch Zeit», sagte der König.

«So spricht man nicht im Vorzimmer Seiner Majestät.»

«Dass die Kreatur mich nicht anredet!» Der König stieß ihn weg und betrat mit festem Schritt den Nachbarraum.

Er sah einen Kartentisch, er sah ein nicht gemachtes Bett, er sah abgenagte Knochen und angebissene Äpfel auf dem Boden. Er sah einen kleinen feisten Mann - runder Kopf mit runder Nase, runder Bauch, struppiger Bart, ausgedünntes Haar, schlaue, kleine Äuglein. Schon kam er auf den König zu, packte ihn mit der einen Hand am Arm und schlug ihm mit der anderen so kräftig gegen die Brust, dass er umgefallen wäre, hätte der Mann ihn nicht an sich gezogen und umarmt.

«Lieber Freund», sagte er. «Alter lieber guter Freund!»

«Bruder», keuchte der König.

Gustav Adolf roch streng, und seine Kraft war erstaunlich. Jetzt stieß er den König weg und betrachtete ihn.

«Ich freue mich, dass wir uns endlich kennenlernen, lieber Bruder», sagte der König.

Er konnte sehen, dass Gustav Adolf die Anrede nicht gefiel, und das bestätigte seine Befürchtungen: Der Schwede sah ihn nicht als seinesgleichen an.

«Nach all den Jahren», wiederholte der König so würdevoll, wie er konnte, «nach all den Briefen, all den Botschaften,

endlich von Angesicht zu Angesicht.»

«Ich freu mich auch», sagte Gustav Adolf. «Wie geht's dir, wie hältst dich? Was macht das Geld? Hast genug zu essen?»

Der König brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er geduzt wurde. Geschah das tatsächlich? Es musste wohl am schlechten Deutsch dieses Mannes liegen, vielleicht war es auch eine schwedische Marotte.

«Die Sorge um die Christenheit lastet schwer auf mir», sagte der König. «Wie auch auf ...» Er schluckte. «Wie auch auf dir.»

«Ja, ist recht», sagte Gustav Adolf. «Willst was trinken?»

Der König überlegte. Der Gedanke an Wein verursachte ihm Übelkeit, aber vermutlich war es nicht klug abzulehnen.

«So ist es gut!», rief Gustav Adolf und ballte die Faust, und noch während der König hoffte, dass er sie diesmal nicht zu spüren bekommen würde, schlug Gustav Adolf zu.

Der König bekam keine Luft mehr. Gustav Adolf reichte ihm einen Becher. Er nahm ihn und trank. Der Wein schmeckte widerlich.

«Ist scheußlicher Wein», sagte Gustav Adolf. «Haben wir aus irgendeinem Keller, können nicht wählerisch sein, so ist der Krieg.»

«Ich glaube, er ist verdorben», sagte der König.

«Besser verdorben als keiner», sagte Gustav Adolf. «Was willst haben, mein Freund, warum bist du hier?»

Der König sah in das bärtige, schlaue, runde Gesicht. Das war er also, der Retter der protestantischen Christenheit, die große Hoffnung. Und das war doch einst er selbst gewesen, wie war es passiert, dass das jetzt der da war, dieser Fettwanst mit den Speiseresten im Bart?

«Wir gewinnen», sagte Gustav Adolf. «Bist du deshalb da? Weil wir sie besiegen, bei jedem Treffen? Oben im Norden haben wir sie besiegt und dann beim Vorrücken und dann unten in Bayern. Jedes Mal haben wir gesiegt, weil sie schwach sind und keine Ordnung haben. Weil sie nicht wissen, wie man die Leute drillt. Ich weiß das aber. Wie ist das mit deinen Leuten, ich meine, wie war es, als du welche hattest, hatten sie dich gern, deine Soldaten, dort vor Prag, bevor der Kaiser sie getötet hat? Gestern erst hab ich einem, der mit der Kasse desertieren wollte, die Ohren abgerissen.»

Der König lachte unsicher.

«Wirklich. Das hab ich gemacht, es ist nicht so schwer. Man greift zu, dann reißt man, so etwas spricht sich herum. Die Soldaten finden das lustig, weil es ja einem anderen passiert, aber zugleich hüten sie sich von da an, was Ähnliches zu versuchen. Ich hab kaum Schweden dabei, die meisten da draußen sind Deutsche, ein paar Finnen auch, dazu Schotten und Iren und was weiß ich. Alle lieben mich, deshalb gewinnen wir. Willst du mit mir ziehen? Bist du deshalb hier?»

Der König räusperte sich. «Prag.»

«Was ist mit Prag? Trink doch!»

Der König blickte angeekelt in den Becher. «Ich benötige deinen Beistand, Bruder. Gib mir Truppen, dann wird Prag fallen.»

«Ich brauch Prag nicht.»

«Der alte Kaisersitz, wiederhergestellt für den rechten Glauben. Es wäre ein großes Zeichen!»

«Ich brauch keine Zeichen. Wir hatten immer gute Zeichen und gute Worte und gute Bücher und gute Lieder, wir Protestanten, aber dann haben wir im Feld verloren, und alles war für nichts. Siege brauch ich. Ich muss gegen den Wallenstein gewinnen. Hast du den mal getroffen, kennst du ihn?»

Der König schüttelte den Kopf.

«Ich brauch Berichte. Ich denk immer an ihn, manchmal träum ich von ihm.» Gustav Adolf ging zur anderen Seite des Zeltes, bückte sich, kramte in einer Truhe und hielt eine Wachsfigur hoch. «So sieht er aus! Der Friedland, das ist er, ich schau ihn immer an und denk mir: Dich werde ich besiegen, du bist schlau, ich bin schlauer, du bist stark, ich bin stärker, deine Truppen lieben dich, meine lieben mich mehr, du hast den Teufel auf deiner Seite, aber ich hab Gott. Jeden Tag sag ich ihm das. Manchmal antwortet er.»

«Er antwortet?»

«Er hat Teufelskräfte. Natürlich antwortet er.» Mit plötzlich mürrischer Miene zeigte Gustav Adolf auf das weißliche Gesicht der Wachsfigur. «Dann bewegt sich sein Mund, und er verspottet mich. Er hat eine leise Stimme, weil er klein ist, aber ich versteh alles. Dummer Schwede nennt er mich, Schwedenarsch, gotisches Vieh, und er sagt, dass ich nicht lesen kann. Ich kann lesen! Soll ich es dir zeigen? In drei Sprachen les ich. Ich werd das Schwein besiegen. Ich reiß ihm

die Ohren ab. Ich schneid seine Finger weg. Ich verbrenn ihn.»

«Dieser Krieg hat in Prag angefangen», sagte der König. «Nur wenn wir Prag -»

«Machen wir nicht», sagte Gustav Adolf. «Ist entschieden, wir sprechen nicht mehr davon.» Er setzte sich auf einen Stuhl, trank aus seinem Becher und sah den König mit feucht schimmernden Augen an. «Aber die Pfalz.»

«Was ist mit der Pfalz?»

«Musst du wiederkriegen.»

Der König brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, was er gehört hatte. «Lieber Bruder, Ihr helft mir, mein Erbland zurückzubekommen?»

«Die spanischen Truppen in der Pfalz, das geht nicht, die müssen fort. Entweder der Wallenstein ruft sie weg, oder ich bring sie um. Die sollen sich nichts einbilden, die haben vielleicht ihre unbesiegbaren Infanteriequadrate, aber weißt du, was? So unbesiegbar sind die gar nicht, die unbesiegbaren Quadrate, und ich gewinn doch.»

«Lieber Bruder!» Der König griff nach Gustav Adolfs Hand.

Der stand sofort auf, presste dem König die Finger so fest zusammen, dass der einen Aufschrei unterdrücken musste, legte ihm die Hand auf die Schulter, zog ihn an sich. Die beiden umarmten einander. Und sie taten es immer noch, und jetzt, da es immer noch dauerte, dauerte es schon so lange, dass die Ergriffenheit des Königs verschwunden war. Endlich ließ Gustav Adolf von ihm ab und begann, im Zelt auf und ab zu gehen.

«Wenn der Schnee weg ist, kommen wir über Bayern und zugleich von oben, ein Zangenangriff, und pressen sie zusammen. Dann machen wir den Vorstoß nach Heidelberg und treiben sie hinaus. Wenn es gutgeht, brauchen wir nicht mal eine große Feldschlacht, schon haben wir die Kurpfalz, und dann geb ich sie dir als Lehen, und dann beißt sich der Kaiser in den Hintern.»

«Als Lehen?»

«Ja, wie sonst?»

«Ihr wollt mir die Pfalz als Lehen geben? Mein eigenes Erbland?»

«Ja.»

«Das geht nicht.»

«Sicher geht das.»

«Die Pfalz gehört Euch nicht.»

«Wenn ich sie erobere, gehört sie mir.»

«Ich dachte, Ihr seid ins Reich gekommen für Gott und die Sache des Glaubens!»

«Ich pfeif dir gleich eine, natürlich bin ich das! Was glaubst du denn, du Maus, du Steinchen, du Forelle! Aber ich will auch was davon haben. Wenn ich dir die Pfalz einfach geb, was krieg dann ich?»

«Ihr wollt Geld?»

«Ich will auch Geld, aber ich will nicht nur Geld.»

«Ich bringe Euch den Beistand Englands.»

«Wegen deiner Frau? Hat dir bisher nichts genützt. Die haben dich im Regen stehen lassen. Glaubst du, ich bin blöd?

Seh ich aus wie einer, der denkt, jetzt kommen die Engländer auf einmal gelaufen, nur weil du rufst?»

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